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Full text of "Jahrbuch für geschichte, sprache und literatur Elsass-Lothringens;"

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JAHRBUCH 


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GESCHICHTE.  SPRACHE  UND  LITTERATUR  1' 


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Y-  JAHRGANG. 


STRASSBURG 

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JAHRBUCH 


FÜR 


GESCHICHTE,  SPRACHE  UND  LITTERATUR 


ELSASS-LOTHRINGENS 


HERAUSGEGEBEN 


VON    DEM 


H ISTÜRISCH-LITTERARISCHEN  ZWEIGVEREIN 


DES 


VOGESEN-CLUBS. 


V.  JAHRGANG. 


STRASSBURG 

J.   H.  ED.   HEITZ  (HEITZ  &  MÜNDEL) 

1889. 


THE  NEW  YORK 

füBUC  LIBRARY 

1T8SI8 

AÖTOU,  L€NOX  AND 

TILDEN  FOUNDATION«. 

"  19C6  L 


Strassburg,  Druck  von  J.  U.  E«l.  Hi»ilz  (Heilz  u.  Mündel). 


Inhalt. 


Seite 
1.  Günthers  von  Pairis  Historia  Constantinopolitana  oder  die 

Erobenmg  Constantinopels  1205  Yon  wo,  unter  anderen 

Reliquien,    ein    grosses    Stück    des   heiligen    Kreuzes 

nach  Deutschland  gebracht  worden    ist.    Deutsch  Ton 

Theodor  Yulpinus     l 

n.  Das  Elsass  bei   dem   Ausbruch   der  französischen    Revo- 
lution, von  J.  Rathgeber 57 

IIL  Landsknechte  und   Hofleute    in   elsässischen  Dramen  des 

16.  Jahrhunderts,  Auszüge  von  E.  Martin    .     .     .     .      90 

IV.  Die  zwei  Schlösser  Bilstein,  von  Ed.  Ensfelder       .     .     107 
V.  «Das  Vateininser  so  im  Elsass  anno  1610  ist  gebetet  worden 

von  den  Bauem,>  von  Alcuin    Hollaender     .     .     112 

VI  Gedichte,  von  Adolf  Stöber 115 

VII.  Münsterthäler  Anekdoten,  von  J.  Spie s er 127 

Vin.  Zillinger  Sprachproben,  von  J.  Spie  s  er 133 

IX.  Drei  Mitforschern  zum  Gedächtnis,  von  £.  M  a  r  t  i  n    .     .  141 

X.  Volkstümliche   Feste,    Sitten   und   Gebräuche    in   Elsass- 

Lothringen  1888 151 

XI.  Chronik  für  1888 161 

XII.  Sitzungsprotokolle      .     .  ' 162 


/ 


I. 


Günthers  von  Pairis 

Historia  Constantinopolitana 

oder 

Die    Eroberung    Gonstantinopels    1205 

von  "WO,  unter  anderen  Reliquien, 

ein  enrosses  Stück  des  heiligen  Kreuzes  nach 

Deutschland  gebracht  worden  ist. 

Deutsch  Yon 

Theodor  Vulpinus. 


Vorwort. 

Um  das  Jahr  1216  trat  in  die  berühmte  Cistercienserabtei 
Pairis  bei  (Jrbeis  (Kreis  Rappoltsweiler)  ein  Mann  ein,  der  die 
Blute  der  Jahre  längst  hinter  sich  hatte  und  in  der  Stille  des 
Klosters  Trost  suchte  für  manche  Enttäuschung  des  Lebens.  Er 
nannte  sich  Günther  (Guntherus)^  stammte  aus  dem  Elsass 
oder  doch  aus  den  oberrheinischen  Landen  und  war  in  seiner 
Jugend  Weltgeistlicher  und  Schulmann^  ja  Prinzenerzieher 
gewesen. 

Um  1185  hatte  er  sein  lateinisches  Erstlingsgedicht  ge- 
schrieben ;  es  trug  den  Titel  «Solimarius»  (das  Buch  von 
Jeioisalem)^  schilderte  den  ersten  Kreuzzug  und  war  seinem 
fürstlichen  Zögling  K  o  n  r  a  d,  dem  vierten  Solme  Kaiser  Rot- 
barts, gewidmet.  Von  diesem  Gedichte  sind  nur  232  Verse 
erhalten;  Wattenbach  hat  sie  1876  in  der  Bibliothek  des 
Gynmasiums  zu  Köln  entdeckt ;  vorher  galt  das  Werk  als  ver- 

1 


—    2    — 

loren.  Dagegen  ist  das  Hauptiverk  Günthers,  der  Ligurinus 
(das  Buch  von  Ligurien=Oberitalien),  ein  Epos  in  10  Büchern, 
welches  (dem  Kaiser  Friedrich  und  seinen  fünf  Söhnen 
zugeeignet)  die  Thaten  Barbarossas  in  den  Jahren  1152  bis  1160 
feiert  und  schon  fünf  Monate  nach  dem  Solimarius  vollendet 
war,  bereits  1507  von  dem  Humanisten  Konrad  Geltis  in  dem 
fränkischen  Kloster  Ebrach  aufgefunden  und  seitdem  wieder- 
holt herausgegeben  worden.  Dieses  Buch  hat  die  merkwürdigsten 
Schicksale  durchgemacht ;  in  der  Blütezeit  des  Humanismus 
wurde  es  wegen  seines  dichterischen  Wertes  und  um  des 
vaterländischen  Stoffes  willen  hoch  gepriesen  und  in  allen 
gelehrten  Schulen  gelesen  ;  bald  stritt  man  dann  um  Namen 
und  Heimat  des  Verfassers  und  kam  schliesslich  dahin,  es  als 
—  eine  Fälschung  des  Geltis  zu  erklären.  Erst  in  unserer  Zeit 
ist  das  Buch  wieder  zu  Ehren  gekommen  ;  Dr.  Pannenborg  in 
Göttingen  hat  anerkannt  siegreich  seine  Echtheit  und  die 
Verfasserschaft  Günthers  nachgewiesen,  i 

Aber  zu  seinen  Lebzeiten  hatte  der  arme  Günther  offenbar 
keinen  Pannenborg,  der  ihn  zu  Ehren  gebracht  hätte.  Der 
Kaiser  scheint  sich  um  den  Dichter  nicht  gekümmert  und 
auch  der  «Alumnus»  Konrad  den  Lehrer  seiner  Jugend  ver- 
gessen zu  haben.  Ob  Günther  vielleicht  selbst  schuld  daran 
war,  muss  dahingestellt  bleiben.  In  seiner  letzten  Schrift  («:  de 
oratione,  jejunio  et  elemosyna »  :  vom  Beten,  Fasten  und 
Almosengeben,  um  1222)  erzählt  er,  dass  ihn  schon  zehn  Jahre 
vor  dem  Eintritt  ins  Kloster  (also  um  1206)  der  heilige  Geist 
ermahnt  habe,  die  Welt  zu  verlassen.  Wo  er  von  1186  bis  1216 
gewesen,  und  was  er  in  dieser  Zeit  geschrieben  hat,  wissen 
wir  nicht.  Es  werden  für  ihn  wohl  zum  Teil  Jahre  allmäh- 
lichen Verzichtes  auf  weltliche  Ehren  und  dichterischen  Ruhm 
gewesen  sein. 

Auch  das  nachstehend  ins  Deutsche  übertragene  Werk 
Günthers,  seine  «historia  Gonstantinopolitana», 
ist,  wie  das  eben  erwähnte  « de  oratione  etc. »  bereits  im 
Kloster  entstanden  und  zwar  um  das  Jahr  1218.  Es  wurde 
zuerst  1604  von  Ganisius  herausgegeben,  aber  ohne  die  zu 
jedem  Abschnitte  gehörigen  Verse,  welche  zumeist  gereimte, 
sogar  oft  mehrfach  gereimte  Hexameter  sind.  Eine  voll- 
ständige Ausgabe  verdanken  wir  dem  Grafen  P,  Riant  (1875), 


i  Eine  deutsche  metrische  Uebersetzang  des  Ligorinas  wird 
demnächst  im  Verlag  von  Heitz  and  Mündel  erscheinen.  —  Eine 
zusammenfassende  Darstellung  des  gelehrten  Streites  über  den  Ligu- 
rinus giebt  Wattenbach  im  zweiten  Bande  von  « Deutschlands  Ge- 
schichtsquellen im  Mittelalter  »,  S.  2ö6  £F. 


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—     3    — 

der  dazu  drei  Handschriften  benützte  :  1.  eine  Münchener 
(ohne  die  Verse  :  die  Vorlage  des  Canisius),  2.  eine  gleichfalls 
auf  der  K.  Bibliothek  in  München  befindliche^  die  sich  als 
Abschrift  eines  dem  Kloster  Pairis  selbst  gehörigen  Codex  giebt, 
und  3.  die  der  C  o  l  m  a  r  e  r  Stadtbibliothek  (beendigt  am 
3.  September  1460). 

Mit  der  Sprache  des  Ligurinus  verglichen  ist  die  historia 
Gonstantinopolitana  das  Werk  eines  alten  Mannes  ;  auch  die 
Verse  zeigen  meist  mehr  Künstlichkeit  als  Kunst,  und  in  der 
Verherrhchung  des  Abtes  Martinas  ist  ohne  Zweifel  des  Guten 
zu  viel  gethan.  Aber  das  Buch  gilt  als  eine  der  besten  Quellen 
der  Geschichte  des  vierten  Kreuzzuges  und  wird 
von  den  Freunden  dieser  Blätter  als  ein  ehrwürdiges  Alsaticum 
gewiss  mit  Anteil  gelesen  werden.  Mich  selbst  hat  die  Beschäf- 
tigung mit  ihm  ausserordentlich  angesprochen.  Es  war  mir 
dabei  zu  Mute  wie  einem  Maler  etwa^  der  ein  gutes  alt- 
deutsches Bild  fand  und  nun  kunstbehaglich  es  nachmalt. 
Ueberdies  hatte  ich  in  meinem  Berufe  oft  genug  den  Boden 
des  alten  Pairis  besucht  und  fühlte  mich  dadurch  gewisser- 
uiassen  als  einen  conf rater  Günthers^  nicht  freilich  des  Mönches^ 
sondern  des  weiland  <!Cscholasticus9. 

In  seiner  Schrift  de  oratione  klagt  Günther  sehr  über 
Kränklichkeit  und  Gebrechen  des  Alters.  Er  wird  auch  schwer- 
lich das  Jahr  1222  lange  überlebt  haben.  Sein  Todesjahr  ist 
nioht  zu  ermitteln.  In  einem  auf  dem  Colmarer  Bezirks- 
archiv befindlichen  Totenbuch  der  Abtei  Pairis  (tabulae  mor- 
tuorum  Parisiensium  Christi  fidelium  a  Fr.  Bernardino 
Abbat.  Mulbr.  et  Parisiensi,  1650),  welches  die  Namen  der 
verstorbenen  Wohlthäter  des  Klosters,  darunter  auch  die  einiger 
einfacher  Mönche,  enthält,  steht  der  Name  Günthers  nicht 
verzeichnet.  Er  scheint  also  zu  den  unbemittelten  Brüdern 
gehört  zu  haben  und  als  solcher  gestorben  zu  sein.     Th.  V. 


I. 

Alles,  was  in  der  Krafl  Gottes  geschieht,  verdient  volle 
Bewunderung;  doch  muss  es  wunderbar  sein,  wenn  wir  es 
als  göttlich  anerkennen  sollen.  Namentlich  pflegen  wir  Helden- 
tbaten  zu  bewundein,  welche  die  Kraft  Gottes  durch  demü- 
tige Personen  zu  offenbaren  geruht,  durch  Menschen,  die 
in  sich  selbst  tief  demütig  sind  und  bei  den  anderen  als 
weniger  geeignet  gelten  für  grosse  Dinge.  Deshalb  ist  es  auch 
weit  wunderbarer,  dass  die  Kinder  Israel  durch  Moses,  den 
stillen,  demütigen  Mann,  der  die  Schafe  seines  Schwiegervaters 


—     4    — 

Jethro  weidete,  aus  der  Tyrannei  Pharaos  und  dem  eisernen 
Schmelztiegel  der  ägyptischen  Knechtschaft   erlöst  wurden,  als 
wenn  das  Volk  durch  einen   tapferen  König  mit  starker  Hand 
und  vielen  tausend  Gewappneten  gerettet  worden  wäre.  Ebenso 
erfasst   uns  grösseres   Staunen,  dass  die  Welt  durch  thörichte 
Leute  und  arme,   ungebildete  Fischer  den  ganz  neuen,  unbe- 
kannten christlichen   Glauben    empfing,    als   wenn    durch    das 
Ansehen  des  Kaisers  Augustus  oder  die  Wissenschaft  P 1  a t o s 
oder  die  Beredsamkeit   eines  Demosthenes   und    Cicero 
die  christliche  Religion  die  Greister  gewonnen  und  sich  fortge- 
pflanzt hätte.    Je  weniger   Platz   eben   die  Werke  Gottes  der 
menschlichen   Kraft  einräumen,    um    so  herrlicher  strahlt  aus 
ihnen  die  Erhabenheit  göttlicher  Macht   hervor.     Eben  darum 
möge  es  auch  gestattet  sein,  in  anspruchslos  einfacher  Schreib- 
weise, in  gleichsam    handgreiflicher   Sprache  Heldenthaten  zu 
schildern,  welche  Grott  in  unseren  Tagen  durch  einen  beschei- 
denen, demütigen  Mann  zu  vollbringen  geruhte,   zum  Lob  und 
Preis  seines  heiligen   Namens,   zum  frommen  Gedächtnis  eben 
jenes  Mannes,  zum  ewigen  Heil  unseres  Klosters,  zur  Ehre  und 
Freude  der  ganzen   deutschen  Nation  oder  —  was  noch  mehr 
sagen  will  —  zum  Trost  und  Schutz  der  gesamten  abendlän- 
dischen Kirche.    Und  dies  Buch   unserer   Erzählung  soll  nichts 
enthalten,  was  falsch   oder   auch  nur  unsicher  wäre,    sondern 
dem  wahrhaftigen  und  verbürgten  Gang  der  Ereignisse  folgen, 
ganz  so,  wie  uns  der  Mann,  von  welchem  wir  so  viel  zu  sagen 
haben  werden,   bescheiden   und   ehrwürdig  zugleich,    die   Ge- 
schichte lauter  und  einfach  erzählt    hat.   Wir  wagen  es  nicht, 
das  Lob  und  den  Ruhm  dieses  Mannes  so  zu  schildern,  wie  er 
es   verdiente;    denn    er,    der  Alles   nur   Gott    zuschreibt    und 
nichts  sucht,  was  seiner  eigenen  Person  zugeschrieben  werden 
könnte,    würde  durch  solche   Lobeserhebungen    sich  gekränkt 
fühlen.  Und  doch  werden  wir  nicht  alles  verschweigen  können, 
weil  wir  uns  sonst  offenbar  an  Gott  versündigten,  durch  dessen 
Wirkung  ja  die  Thaten  vollbracht  worden   sind   und  der  seine 
Demütigen  zu  erhöhen  pflegt.    Deshalb  wollen  wir  nach  beiden 
Richtungen  hin  unserer  Feder   Mass  gebieten  und   darauf  be- 
dacht sein,  dass  einerseits  die   Grossthaten  Gottes,    die    durch 
unseren  Helden  geschehen  sind,  offenbar  werden,  und  anderer- 
seits dieser  selbst  in  seiner  Demut  ungekränkt  bleibe.  —  Wem 
also  dies  Büchlein  in  die  Hand  und   unter  die  Augen  kommt, 
der  möge  es  eifrig  lesen   und  den   Ereignissen,  von  denen   es 
handelt  und  die  man  genau   betrachten   muss,  ein  geschicktes, 
empfangliches  Herz  entgegenbringen.   Er  wird  grosse,  herrliche 
Dinge  darinnen  finden,  die  nur  auf  göttliches  Geheiss  und  auf 
keine  andere  Weise  vollbracht  werden  oder  sich  zutragen  konnten. 


—    5    — 

Eben  deshalb  wollen  wir  auch  den  Leser  zum  voraus  er- 
mahnen, wenn  er  hier  und  dort  auf  Seiten  unseres  Volkes 
Thaten  erschauen  wird,  die  gegen  die  Frömmigkeit  sind,  trotz- 
dem nicht  zu  zweifeln,  dass  auch  derartiges  mit  dem  Willen 
Gottes  geschehen  ist,  der  doch  immer  ein  gerechter  Wille  bleibt. 

Männiglich  höre  die  Fülle  der  Frende,  die  jetzt  ich  enthülle ; 
Möge  zur  Ehre  allein  Gottes  die  Arbeit  gedeihen! 
Herrliche  Gottesgeschenke,  Trophäen  des  Himmels,  ich  denke, 
Freude  benenn*  ichsmitFng,  dass  man  nach  Pairis  sie  trag!  — 
Von  dir  ward  es  vollendet,  du  hast  das  Gelingen  gespendet, 
Dir,  nach  deinem  Geheiss,  sagen,  o  Christas,  wir  Preis! 
HeOger  Erinnerung  Zeichen  vom  Kreuz,  du  lässt  sie  ans  reichen 
Und  hast  jeglicher  Zeit  Altes  ans  Neuen  bereit! 
Was  vor  Jahren  geschehen,  wie  neu  stets  sollen  wir's  sehen, 
Und  kein  Dunkel  der  Nacht  hülle,  was  hell  du  vollbracht! 
Unsere  Zeit  darf  sagen :  «Was  kein  Jahrhundert  getragen, 
Und  kein  kommendes  trägt,  ward  in  den  Schoss  mir  gelegt!» 
Glücklich,    fürwahr,    ist    hienieden   der   Mann,   dem    zu    schauen 

beschieden, 
Was  hier,  lauter  bewährt,  unseren  Augen  bescheert! 
Unsere  Herzen  erbeben  und  dürfen  in  Wonne  doch  schweben. 
Fröhlichen  Lichtglanz  schauen  mitten  in  heiligem  Grauen !  — ' 
Nicht  grossartig  zu  schreiben  es  gilt,  doch,  redlich  zu  bleiben 
Nor  auf  der  Wahrheit  Bahn,  wie  ich  es  immer  gethan ! 
Sei  die  erhabene  Stärke  der  Wahrheit  günstig  dem  Werke, 
Und  der  Alles  verlieh,  lasse  verkünden  mich  sie! 

IL 

Um  die  Zeit,  als  der  berühmte  Prediger  F  u  1  k  o  aus  Paris  12(X) 
alle  Völker  der  Franken  und  ganz  Flandern,  die  Normandie 
und  Biitannien  und  die  übrigen  Provinzen  durch  seine  Predigten 
anfeuerte,  dem  heiligen  Land  und  der  herrlichen  Stadt  Jeru- 
salem, die  schon  lange  im  Besitz  der  Heiden  war,  zur  Hilfe 
zukommen,  lebte  in  Oberdeutschland  ein  Mann,  namens  Mar- 
tinus,  der  Abt  eines  Cistercienserklosters,  das  im  Bistum 
Basel  liegt  und  Paris  heisst.  So  schien  also  die  Sache  gleich 
von  vornherein  etwas  Wunderbares  zu  haben :  beide  Männer, 
jener,  der  das  Kreuz  bereits  öffentlich  predigte,  und  dieser,  der 
bald  darauf  ein  Prediger  desselben  werden  sollte,  trugen,  wie 
sie  des  gleichen  Amtes  warteten,  so  auch  die  gleiche  Bezeich- 
nung cParisienses}»,  der  eine  vom  Namen  der  Stadt,  aus  der 
er  dem  Fleische  nach  abstammte,  der  andere  von  dem  Kloster, 
dem  er,  wie  gesagt,  als  geistlicher  Vater  vorstand.  Denn  beide 
Orte,  das  ebengenannte  Kloster,  wie  die  berühmte  Stadt  der 
Franken,  heissen  ja  P  a  r  i  s ,  ein  Name,  der  in  der  gallischen 
Sprache  seine  eigene  Ableitung  hat,  in  der  deutschen  aber  daher 


—    6    — 

zu  kommen  scheint,  dass  die  ersten  Mönche,  welche  vom  Kloster 
L  ü  t  z  e  i  *  zur  Urbarmachung  der  Gegend  abgesandt  worden 
waren,  nichts  fanden  als  einen  öden,  kalten  Ort,  das  ccbaare 
Eis»  (=  Bareis,  Paris).  Jetzt  aber  steht  dort  durch  die  Gnade 
Gottes,  der  seine  Armen  erhöht  und  vorwärts  bringt,  eine  be- 
rühmte Kirche,  mit  Besitzungen  und  Lehen  begabt,  von  schmucken 
Gebäuden  umgeben  und,  was  wichtiger  ist  als  dies  alles,  Tag 
und  Nacht  dem  göttlichen  Dienste  geweiht.  —  Der  genannte 
Abt  war  ein  Mann  von  gereifter  Gesinnung,  aber  freundlichem 
Antlitz,  klug  im  Rat,  leutsehg  im  Umgang,  anmutig  beredt, 
mild  und  demütig  unter  seinen  Mitbrüdern,  so  dass  er  ihnen 
allen,  wie  auch  den  Laien,  bei  denen  er  in  hohem  Ansehen 
stand,  lieb  und  wert  galt.  Von  dem  Papst  Innocenz,  der 
damals  als  der  dritte  dieses  Namens  auf  dem  heiligen  Stuhle 
sass,  erhielt  er  den  Auftrag,  unverzüglich  selbst  das  Zeichen 
des  Kreuzes  zu  nehmen  und  es  auch  den  Leuten  jener  Gegend 
öffentlich  zu  predigen.  Er  kam  diesem  doppelten  päpstlichen 
Auftrag  nach  und  ergriff  das  Wort  unverdrossen  und  voll  Ver- 
trauens, zur  allgemeinen  Verwunderung,  weil  er  für  einen 
Mann  von  zarter  Körperbeschaffenheit  galt,  der  so  grossen  An- 
strengungen nicht  gewachsen  sei.  So  hielt  er  auch  in  seiner 
Vaterstadt  Basel  (ein  griechischer  Name,  zu  deutsch:  die 
Königsstadt)  in  der  berühmten  Kirche  der  allerseligsten  Jungfrau 
Maria  eine  Rede  an  Klerus  und  Volk.  Eine  grosse  Menge, 
Geistliche  und  Laien,  war  dort  zusammengeströmt,  aufgeregt 
durch  die  umlaufenden  Neuigkeiten.  Sie  hatten  zwar  längst 
gehört,  dass  in  den  anderen  Landen  umher  das  Volk  durch 
häufige  Predigten  zum  Kriegsdienst  für  Christus  ermuntert 
werde ;  aber  in  diesen  Gegenden  hatte  noch  niemand  die  Sache 
in  die  Hand  genommen,  weshalb  eben  Unzählige,  die  innerlich 
bereit  waren,  den  Fahnen  Christi  zu  folgen,  voll  Sehnsucht  auf 
eine  Kreuzpredigt  warteten.  So  standen  sie  denn  alle  gespannten 
Ohres,  den  Blick  auf  den  Redner  geheftet,  und  harrten  begierig, 
was  er  in  der  Sache  verlangen  oder  ermahnen,  und  was  er 
den  Willigen  von  der  göttlichen  Gnade  versprechen  werde. 

Als  er  gewahrte  das  Volk  in  der  Kirche,  die  zahllose  Menge, 
Priester  und  Lai^n,  in  dem  heiligen  Baum  ein  dichtes  Gedränge, 
Ward  es  ihm  fröhlich  zu  Mat,  als  ob  er  die  Sichel  «chon  schwänge 
Goss  er  sich  ans  in  Gebet  und  Gelübden,  dass  alles  gelänge, 
Was  er  als  nötig  erkannt,  und  der  Herr  die  Gemüter  ihm  zwänge. 
Dann  Hess  gleiten  die  Augen  er  rings  mild,  wie  sich  gebührte, 
Ueber  die  ganze,  vom  Wunsch,  ihn  zu  hören,  hieher  nur  geführte 

'  Im  Kreise  Altkirch   Lützel  war  das   Mutterkloster   von  Pairis. 


—    7     - 

Tapfre  Versammlung,  die,  lauschend  gespannt,  nun  Verlangen  ver- 
spürte, 
fleisses  Verlangen,  wie  Durst,  und  zum  Labquell  ihn  sich  erkürte, 
Der  doch  im  Antlitz  die  Freude  verbarg,  die  den  Büsen  ihm  rührte, 
und  jetzt,  wägend  im  Qeiste  der  Zukunft  sichere  Zeichen, 
Hoffaungen  hegend  im  Herzen,  vor  denen  die  Sorgen  erbleichen, 
Fühlt  durchflammt  er  sich   gänzlich  von   Glut,  mit  der  Sonn^  zu 

vergleichen, 
Und,  von  dem  Wunsehe  beseelt,  dass  dem  Herrn  sie  sich  geben  zu  eigen. 
Ruft  ihn  herzlich  er  an,  dem  als  Führer  sie  sollen  sich  neigen. 
Dann,  nachfolgend  dem  Meister,  der  einst  mit  freundlichem  Munde 
Weise  die  Zungen  der  Stummen  gelöst,  der  den  Blöden  die  Kunde 
Göttlichen  Willens  gepredigt  und  wirkt   bis  zur  heutigen  Stunde, 
Sagte  dem  Vater  er  Dank  und  sprach,  mit  Christus  im  Bunde, 
Seiner  Erhörung  gewiss,  etwa  so  zu  dem  Volk  in  der  Runde: 

III. 

Kich  soll  das  Wort  an  euch  richten,  hocheille  Herren,  ge- 
liebte Bruder  I  Ich  soll  das  Wort  an  euch  richten,  doch  nicht 
ich  rede,  sondern  Christus!  E r  ist  der  Urheber  der  Worte, 
ich  bin  sein  schwaches  Werkzeug;  Christus  selbst  redet  zu 
euch  in  dieser  Stunde  durch  meinen  Mund  und  klagt  euch  sein 
Unrecht.  Vertrieben  ist  Christus  aus  seinem  Heiligtum,  aus 
seinem  Wohnhaus,  Verstössen  aus  jener  Stadt,  die  er  selbst 
geweiht  hat  durch  sein  Blut !  Welch  ein  Jammer !  Dort,  wo 
einstens  der  Sohn  Cottes,  seine  Zukunft  im  Fleisch,  von  den 
heiligen  Propheten  geweissagt  worden,  wo  er  geboren  ward  und 
als  Kindlein  sich  darstellen  Hess  im  Tempel,  wo  er  wandelte 
und  predigte  und  lehrte  und  Wunder  that,  wo  er  mit  seinen 
Jüngern  zu  Tische  sass  und  das  Sakrament  einsetzte  seines  hei- 
ligen Leibes  und  Blutes,  wo  er  litt  und  starb  und  begraben 
lag  und  auferstanden  ist  nach  dreien  Tagen,  wo  er  gen  Himmel 
fuhr  vor  den  Augen  seiner  Junger  und  am  zehnten  Tage  her- 
nach den  heiligen  Geist  über  sie  ausgoss  in  feurigen  Zungen, 
dort  herrscht  heute  die  Roheit  eines  unheiligen  Volkes !  Welch 
Elend !  welch  Herzeleid !  Welch  ein  Abgrund  des  Unglücks ! 
Das  heilige  Land,  das  Christi  Fösse  betraten,  wo  er  die  Kranken 
heilte,  die  Blinden  sehend,  die  Aussätzigen  rein  machte,  die 
Toten  erweckte,  es  ist  in  die  Hand  der  Gottlosen  gegeben ; 
zerstört  sind  die  Kirchen,  besudelt  das  Allerheiligste,  Haus  und 
Ehre  des  Himmelreichs  den  Heiden  anheimgefallen !  Das  hoch- 
heilige, anbetungswürdige  Holz  des  Kreuzes,  das  Christi  Blut 
in  sich  gesogen,  wird  schmählich  verborgen  gehalten  von  Men- 
schen, denen  das  Wort  vom  Kreuz  eine  Thorheit  ist,  und  kein 
Christ  mag  wissen,  was  damit  geschehen  ist  oder  wo  man  es 
suchen    soll !     Unsere    Glaubensbrüder,    die    in   jenem    Lande 


-    8    — 

heimisch  waren,  sind  nahezu  ausgetilgt,  teils  durch  das  Schwert 
des  Feindes,  teils  durch  lange  Gefangenschaft !  Die  wenigen , 
welche  dem  Blutbad  zu  entrinnen  vermochten,  haben  bei  A  k  k  o 
oder  in  anderen  festen  Plätzen  eine  Zuflucht  gefunden  und 
erdulden  dort  fortwährende  Einfalle  der  Heiden !  Das  ist  die 
Notlage  Christi,  das  zwingt  ihn,  heut  euch  um  Beistand  an  zu 
flehen  durch  meinen  Mund !  Auf  also,  ihr  tapferen  Krieger, 
helft  dem  Herrn  Christus,  weiht  eure  Namen  dem  christlichen 
Waffendienst,  eilet  in  Haufen  zum  Lager  des  Heiles!  Euch 
vertraue  ich  heute  die  Sache  Christi,  euch  gebe  ich,  so  zu 
sagen,  ihn  selbst  in  die  Hände,  dass  ihr  ihn  wieder  einsetzen 
sollt  in  sein  Erbe,  daraus  er  grausam  Verstössen  ward !  Und 
damit  ihr  nicht  erschreckt  vor  der  Ue hermacht  heidnischer 
Wut  in  unseren  Tagen,  lasst  mich  euch  erinnern  an  die  Ver- 
gangenheit !  In  der  Zeit,  da  der  berühmte  Heereszug  stattfand 
unter  der  Führung  Gottfrieds  und  anderer  Fürsten  aus 
Frankreich  und  Deutschland,  hatte  das  Volk  der  Ungläubigen, 
just  so  wie  heute,  nach  der  Ermordung  oder  Einkerkerung 
sämtlicher  Christen  das  ganze  Land  in  seiner  Gewalt  und  die 
heilige  Stadt  Jerusalem  und  Tyrus  und  Sidon  und  Antiochien 
und  andere  feste  Städte,  ja  das  sämtliche  Land  bis  Konstan- 
tinopel in  ungestörtem  Besitz  seit  vierzig  Jahren !  Und  doch 
wurde  das  alles  damals  nach  dem  Willen  des  Herrn  in  kürzester 
Frist,  gleichsam  im  Vorbeigehn,  wiedergewonnen  durch  jenes 
Heer,  Nicäa,  Ikonium,  Antiochien,  Tripolis  und  die  anderen 
Städte  erobert,  ja  Jerusalem  selbst,  die  Hauptstadt  des  Reiches, 
unserem  Volke  zurückgegeben !  Heute  dagegen,  obgleich  ja  das 
gottlose  Gesindel  die  Hauptstadt  und  den  grössten  Teil  des 
Landes  mit  Zähigkeit  festhält,  ist  doch  A  k  k  o  unser,  ist  An- 
tiochien unser,  sind  ausserdem  unser  etliche  wohlbefestigte 
Plätze,  und  mit  ihrer  Hilfe,  mit  Gottes  Gnade  und  unserer 
eigenen  Kraft,  ihr  rühmlichen  Helden,  muss  es  möglich  sein, 
auch  die  heilige  Stadt  samt  allen  übrigen  wieder  in  unsere 
Gewalt  zu  bringen !  Wenn  ihr  aber  fragt,  welch  sicheren  Lohn 
ihr  von  Gott  erwarten  dürft  für  so  grosse  Leistung,  so  höret, 
was  ich  fest  euch  verheisse :  Wer  das  Zeichen  des  Kreuzes 
genommen  und  aufrichtig  gebeichtet  hat,  soll  alsobald  rein  sein 
von  aller  Sunde  und  empfangen  das  ewige  Leben,  gleichviel 
wo  und  wann  und  wie  er  das  zeitliche  verlieren  wird !  —  Nicht 
will  ich  jetzt  davon  reden,  dass  dies  Land,  nach  dem  ihr  ver- 
langt, bei  weitem  reicher  und  fruchtbarer  ist  als  das  hiesige. 
Gar  mancher  unter  euch  könnte  dort  also  auch  in  irdischen 
Dingen  ein  günstigeres  Glück  finden,  als  er  hier  erfahren,  so 
weit  er  zurückdenkt !  Wollel  daraus  erkennen,  liebe  Brüder, 
wie  herrlich  die  Aussichten   sind   auf  dieser  W^allfahrt :  nicht 


—    9    — 

nur  die  feste  Verheissung,  den  Himmel  zu  erben,  sondern  auch 
steigende  Hoffnung  auf  zeitliches  G<^eiben !  Ich  selbst  gelobe, 
mit  euch  zu  ziehen  und,  wie  es  Gott  gefallt,  Glück  und  Un- 
glück mit  euch  zu  teilen.  Kommt,  liebe  Brüder,  und  nehmet 
mit  fröhlichem  Herzen  das  siegreiche  Zeichen  des  Kreuzes ! 
Führet  die  Sache  Christi  treulich  zum  Ziele,  damit  ihr  für 
kurze  und  kleine  Mühsal  grossen  und  ewigen  Lohn  empfangt!» 
So  sprach  der  ehrwürdige  Mann,  und  wer  zugegen  war, 
fühlte  sich  mächtig  erschüttert.  Auf  seinem  Antlitz,  wie  auf 
aller  Wangen  sah  man  Ströme  von  Thränen;  Seufzen  und 
Schluchzen  vernahm  man  und  andere  Merkmale  gewaltiger 
innerer  Erregung.  Wir  aber  haben  diese  Rede  des  Abtes  des- 
halb so  soi^faltig  wiedergegeben,  weil  wir  nun,  obgleich  er.  ja 
später  noch  oft  zu  diesen  und  jenen  mannhaft  gesprochen  hat,' 
keine  seiner  Predigten  mehr  mitteilen  werden.  Wolle  man  des- 
halb aus  dieser  einen  Probe  ermessen,  wie  tüchtig  er  sich 
auch  bei  anderer  Gelegenheit  gezeigt  haben  wird. 

Als  nun  der  heilige  Mann  stillschwieg   mit  geschlossenem   Munde 
Stürzte  die  Menge  heran  yoU  freudigem  Ernst  aus  der  Runde,. 
Alle  bereit,  zu  empfangen  das  Kreuz  und  darunter  zu  streiten 
Willig  für  den,  der  gehangen  am  Kreuz,  uns  zum  Himmel  zu  leiten ! 
Alle  begehren,  zu  schmücken  sich  jetzt  mit  dem  heiligen  Zeichen 
Beides :  die  Brust  und  den  Rücken;  es  schien  e  i  n  Kreuz  nicht 

zu  reichen.  — 
Sehet,  ein  tieferer  Sinn,  ein  verborgener,  lag  dem  zu  Grunde; 
Weil  unterrichtet  ich  bin,  so  vernehmt  von  der  Sache  die  Kunde : 
«Wer's  auf  der  Brust   nur  trägt,   nach   der  Heimkehr  steht  ihm 

der  Willen, 
«Wer  auf  dem  Rücken  nur,  hegt  just  eben  die  Hoffnung  im  Stillen.» 
Das  war  damals  der  Grund.  Nur  Wenige  wissen  es  heute. 
Wie  der  Gebrauch  entstand;  der    Vergessenheit  fiel   es   zur  Beute 
Früher,  bevor  man  gewusst  die  Bedeutung,  von  welcher  wir  sagen. 
Pflegte  man  bald  auf  der   Brust,   bald   hinten  das  Zeichen  zu 

tragen.  — 
Und  nun  wurde  verliehen  dem  Dienstmann  Christi  die  Ehre, 
Selbst  an  der  Spitze  zu  ziehen,  ein  Führer  und  Vater  dem  Heere. 
Schweren  Beruf  zu  verwalten  im  Zuge:  die  Sorge  der  Seelen, 
Hatte  er  Weisung  erhalten  vom  Papst   schon   in  eignen  Befehlen. 
Aber  es  war  ihm  im  Stillen  doch  lieb  auch  die  doppelte  Bürde, 
Mehr  um  der  Arbeit  willen  des  Amtes,  als  wegen  der  Würde. 

IV. 

Unser  Held  gab  zuletzt  den  an  ihn  gerichteten  Bitten  nach    1200-1202 
und  übernahm,  nachdem  ihm,  wie  erwähnt,  der  oberste  Bischof 
schon  die   Pflicht  der  Seel  sorge  zugewiesen  hatte,  nun  auch 
noch  das   Amt  der  weltlichen  Fuhrunsr.  Dann  ermunterte  und 


—    10    — 

stärkte  er  die  Mannen  im  Glauben  an  Christus,  zu  dessen 
Dienst  sie  sich  gelobt  hatten,  und  setzte  den  Zeitpunkt  fest,  an 
welchem  sie  alle  nach  Ordnung  ihrer  häuslichen  Angelegen- 
heiten sich  hier  wieder  um  ihn  scharen  und  mit  ihm  den 
Weg  der  heiligen  Pilgerfahrt  antreten  sollten.  Auch  ermahnte 
er  die  Heimkehrenden  noch  eindringlich,  mittlerweile  keusch 
und  unbefleckt  zu  leben  und  sich  als  taugliche  Streiter  Christi 
zu  zeigen,  der  die  Reinheit  lieb  hat  in  allen  Stücken.  Er 
selbst  aber  zog  mit  erlesener  Begleitung  in  den  grössten  und 
volkreichsten  Orten  des  Landes  umher^  machte  häufig  Halt, 
um  zu  predigen,  und  bekehrte  eine  grosse  Zahl  zum  Waffen- 
dienst Christi.  Auch  diesen  schärfte  er  ein,  wenn  irgend 
möglich  zu  der  angegebenen  Zeit  mit  den  anderen  am  Sammel- 
platz zusammen  zu  treffen,  um  miteinander  aufzubrechen ; 
wer  aber  wegen  der  Kurze  der  Zeit  sich  von  seinen  Geschäften 
nicht  losmachen  könne,  der  solle,  so  schnell  als  möglich,  den 
übrigen  nachfolgen.  —  Als  nun  die  Zeit  des  Aufbruchs  nahe 
war,  wünschte  M  a  r  t  i  n  u  s ,  obgleich  er  ja  schon  durch  das 
Ansehen  eines  päpstlichen  Auftrages  unantastbar  dastand,  doch 
noch  seiner  Achtung  vor  der  Ordenspflicht  gebührenden  Aus- 
druck zu  geben.  Deshalb  zog  er  nach  Citeaux,  in  das 
Stammhaus  der  Cistercienser,  und  kehrte  erst,  nachdem  er  vom 
dortigen  Abt  und  etlichen  anderen  hervorragenden  Aebten  die 
Zustimmung  und  den  Segen  zur  Pilgerfahrt  erhalten  hatte, 
noch  seinem  Kloster  zurück.  Auch  hier  empfahl  er  sich  dann 
dem  Gebet  seiner  Mitbrüder,  übergab  sie  als  in  Liebe  verbunden 
veilrauensvoll  der  göttlichen  Barmherzigkeit  und  eilte  gen 
Basel,  wo  bereits  eine  grosse  Menge  Kreuzfahrer  zusammen- 
gekommen war,  von  denen  er  mit  Jubel  empfangen  wurde. 
Wiederum  hielt  er  daselbst  eine  aufmunternde  Predigt  und 
empfahl  sich  und  die  Genossen  der  allerseligsten  Jungfrau, 
demütig  flehend,  sie  möge  selbst  das  neue  Heer  ihrem  Sohne 
versöhnen.  Dann  nahm  er  Abschied  von  Klerus  und  Volk 
dieser  Stadt,  wo  er  überaus  geliebt  wurde,  und  trat,  heiteren 
Antlitzes  und  unerschrockenen  Mutes,  mit  den  Gefährten  die 
Mühsal  des  heiligen  Zuges  an.  Hieraus  können  wir  wohl 
schliessen,  dass  der  Mann  Gottes  schon  damals  irgend  etwas 
Grosses  im  Sinn  getragen  und  mit  sicherem  Seherblick  voraus- 
geschaut hat,  was  Gott  durch  ihn  thun  wollte. 

Volk  nnd  Führer  sodann,  erst  nen,  doch  treulich  verbunden, 
Traten  die  Pilgerschaft  an,  ernst,  wie  die  Gesichter  bekunden, 
Schreitend  im  Kreuzheerbann.  Du  hättest,  sie  zähletid,  gefunden 
Rund  zwölfhundert  Mann,  die  bedächtigen  Marsches  die  Stunden 
Zogen  des  Weges  voran,  und  die  Mannszucht  niemals  geschwunden. 
Mutig  ein  Rösslein  schritt,  an  der  Spitze   des  Zugs   zu   gewahren. 


—    41    — 

Welches  Martinas  ritt;  dann  kamen  die  Andern  gefahren, 
Hier,  wie  bei  Pilgern  es  Sitt^,  fasswandelnd  die  ärmeren  Scharen, 
Dort,  wo  der  Beatel  es  litt,  aach  Reiter.   Doch  neidisch  Gebahren 
Zog  in  dem  Heer  nicht  mit,  weil  alle  zufrieden  sie  waren 
Da  ward  Keinem  es  bang,  kein  Klagwort  hörte  man  fallen, 
Sondern  nar  frohen  Gesang  in  des  Heilands  Namen  erschallen. 
Da,  Herr,  wolltest  den  Gang,  der  da  Weg  and  Führer  ans   allen. 
Da,  Herr,  schafest  den  Drang  des  Gelübdes  in  heiligen  Hallen, 
Nähmest  es  selbst  in  Empfang  and  siehst  jetzt  gläabig  sie  wallen  l 
Hofbiang  erqaicket  das  Herz  der  Gefährten  and  stärket  die  Glieder, 
Treibt  aas  den  Seelen  den  Schmerz  and  belebt  die  Ermatteten  wieder. 
Alles  begehrt  vorwärts  in  den  heiligen  Kampf  nar,  and  Lieder 
Tönen  and  manterer  Scherz  in  den  Reihen.  Hoch  spüret  and  Nieder 
Farchtfrei  schlagen   das  Herz;  denn   der  Lohn  winkt  wieder   and 

wieder.  — 

V. 

Als  das  Kreuzheer  von  der  Stadt  Basel  aufgebrochen 
war,  schlug  es,  alle  anderen  Wege  bei  Seite  lassend,  die 
Strasse  ein,  welche  durch  die  Engen  des  Thaies  von  Trient 
nach  Verona  führt,  weniger  Mühsal  bot  und  darum  die 
zwecknoässigste  schien.  Es  war  aber  das  Gerücht  vorausgeeilt 
und  hatte  so  viel  Gutes  und  Schönes  von  den  Pilgern  verbreitet, 
dass  ihnen  die  Leute  nicht  bloss,  wo  sie  durchzogen,  sondern 
auch  aus  anderen  Städten  und  Dörfern  in  Scharen  entgegen- 
kamen, sie  mit  der  grössten  Freundlichkeit  aufnahmen  und  zu 
billigen  Preisen  den  nötigen  Unterhalt  lieferten.  Vor  allen 
bewunderten  .sie  Mart  inus  :  ein  Mann  in  Ordenstracht,  ein 
Mann  von  geistlichem  Berufe  an  der  Spitze  eines  bewaffneten 
Heeres,  der  sich  selbst  tapfer  einem  so  mühseligen  Amt  unter- 
zogen hatte !  Deshalb  führten  sie  auch  seinen  Namen  am 
häußgsten  im  Mund  und  nannten  ihn,  da  auch  eine  gewis^'e 
Aehnlichkeit  mitspielte,  nach  dem  berühmten  Manne  von  Tou  r  s, 
der  im  Verzeichnis  der  heiligen  Bekenner  fast  den  ersten  und 
hervorragendsten  Platz  einnimmt,  den  zweiten  heiligen 
Mart  in  US.  Und  in  der  That,  wenn  man  genauer  zusieht, 
die  beiden  sind  sich,  wenn  nicht  in  vielen,  so  doch  in  einigen 
Punkten  ähnlich.  Gleichwie  jener  Heilige  vor  Zeiten  ein  Kriegs- 
mann war  und  als  solcher  (wie  von  ihm  geschrieben  steht) 
derart  fromm  und  tugendhaft  lebte,  dass  man  ihn  schon  damals 
mehr  für  einen  Mönch  als  für  einen  Ritter  hielt,  so  führte 
auch  unser  Martinus  als  wirklicher  Mönch,  ja  als  ein  Vater 
von  Mönchen,  ein  Heer  in  das  Feld  und  gestaltete  unter  den 
Kriegsleuten  sein  Leben  so,  dass  er  sich  nicht  das  Mindeste 
nachliess  von  der  Strenge  der  Ordensregel,  soweit  es  die 
Mühsal   des   Marsches   und    die    Sorge   des   ihm  aufgebürdeten 


—    12    — 

Amtes  gestatteten.  Ferner,  wie  jener  voll  herzlichen  Erbarmens 
lar  die  Bedürftigen  war,  so  dass  er  einmal  bei  grimmiger 
Kälte  seinen  einzigen  Mantel  für  einen  nackten  Armen  zer- 
schnitt, so  teilte  auch  dieser  von  dem,  was  er  bei  sich 
trug  oder  später  durch  Gottes  Fugung  reichlich  erwarb,  mit 
vollen  Händen  seinen  bedürftigen  (Gefährten  aus.  (Einmal  z.  B. 
gab  er  an  zwei  Tagen  grossmütig  120  Mark  Silber  zu  solchem 
Zweck  her  und  am  dritten  Tag  70  Mark.)  Und  endlich,  wie 
jener  aus  einem  Mönch  Bischof  wurde  und  trotzdem  allezeit 
demütig  im  Stande  der  Armut  verblieb,  so  zeigte  auch  dieser 
die  gleiche  Gesinnung,  als  er  (wir  wissen  das  aus  bester 
Quelle)  ein  Bistum  oder,  je  nach  Wunsch,  andere  kirchliche 
Würden,  ja  ungeheure  Geldsummen  angeboten  erhielt.  Aus 
Liebe  zum  Orden  und  zu  seinem  Kloster,  dem  Gott  durch  ihn 
und  er  durch  (Jottes  Gnade  hervorragend  wohlzuthun 
gedachten,  wies  er  das  Anerbieten  ab  und  kehrte  nach  voll- 
endeter Pilgerfahrt  zu  seinen  Mitbrüdem  zurück,  arm  an  hoch- 
fliegenden  Gedanken,  aber  reich,  überreich  an  Gaben  des 
himmlischen  Schatzes.  So  könnte  man  wohl  noch  manchen 
anderen  ähnlichen  Zug  an  den  beiden  Männern  entdecken, 
aber  wir  möchten  dem  weniger  geneigten  Leser  gegenüber 
den  Anschein  vermeiden,  als  wollten  wir  einen  der  heiligsten 
Ordensmänner  über  Gebuhr  herabdrücken,  um  dadurch  unseren 
Helden  steigen  zu  lassen.  Deshalb  geziemt  es  uns  einfach, 
beiden  das  schuldige  Mass  unserer  Ehrfurcht  zu  zollen, 
jenem  als  der  Seele  eines  vollendeten  Heiligen,  der  bereits 
die  Gemeinschaft  der  Engel  geniesst,  diesem  als  einem 
Manne  voll  Weisheit,  der,  annoch  im  Fleische  wandelnd,  bei 
Gott  und  den  Menschen  nach  Verdienst  geschätzt  wird  und 
sicher  dereinst,  durch  Gottes  Gnade,  hier  wie  dort  noch 
grössere  Gnaden  erlangen  soll.  Dabei  aber  glauben  wir  doch, 
nicht  verschweigen  zu  dürfen,  dass  eben  am  Geburtstage  des 
heiligen  Martinus  auch  unser  Martinus  zur  Welt  geboren  und 
'deshalb  Martinus  genannt  wurde. 

Jedem  der  beiden  Martine  gebührt,  dass  man  ehrend  ihm  diene, 
Wenn  auch  der  zweite  vielleicht  ganz  nicht  den  ersten  erreicht. 
Beide,  von  Menschen  gelobet,  in  herrUchen  Thaten  erprobet, 
Beide  auch  teuer,  sofern  richtig  ich  sehe,  dem  Herrn ! 
Ootte  nur  lebte  der  Eine;  der  Andre  auch  brachte  das  Seine, 
Grosses,  von  göttlicher  Hand  liebend  gesegnet,  zu  Stand. 
Mag  jetzt  kleiner  er  scheinen;  dereinst  (das  dürfen  wir  meinen), 
lATenn  er  geendet  den  Lauf,  steigt  zu  den  Grossen  er  aaf ! 
Trefflichste  müssen  ja   sterben,   am  wachsenden  Rahm  za  er- 
werben, 
Während  im  Leben  sie  schon  fanden  gebührenden  Lohn. 


—    43    — 

So  auch  einstens  in  Falle,  wenn  ab  er  gestreifet  die  Hülle, 
Wachset  Martinas  an  Ehr^  droben  je  länger,  je  mehr; 
Wächst,  and  gewaltiger  immer,  in  hundertfach  hellerem  Schimmer^ 
Als  er  hienieden  erschien,  glänzet  der  Namen  Martin ! 
Jetzt  mag  nicht  er  es  leiden,  dem  Selbstlob  gram  und  bescheiden, 
Dass  in  der  Welt  man  ihn  preist,  und   er  verbirgt   sich  im  Geist. 
Würdig,  geheissen  za  werden  ein  Dematsmuster  auf  Erden, 
Steigt,  wenn  beschlossen  der  Lauf,  selig  gen  Himmel  er  auf.  — 
Zieh*  ihn,  Christus,  wir  bitten,  empor  in  die  ewigen  Hütten, 
Dass  ihm  falle  das  Los  lieblich  in  Abrahams  Schoss! 

VI. 

Bei  ihrer  Ankunft  in  Verona  wurden  die  kriegerischen 
Pilger  samt  ihrem  Führer  von  den  Bürgern  der  Stadt  sowie 
von  einer  sehr  grossen  Anzahl  anderer  Kreuzfahrer,  welche 
dort  aus  verschiedenen  Himmelsgegenden  früher  angelangt 
waren,  auf  das  fröhlichste  empfangen.  Auch  der  Bischof  der 
Stadt  zeigte  sich  sehr  entgegenkommend ;  er  nahm  Martinus 
mit  aller  Ehrfurcht  in  sein  Haus  auf  und  bestritt  ihm  freund- 
lichst schier  acht  Wochen  lang  die  Kosten  des  Aufenthalts. 
Dann  nahmen  sie  Abschied  und  zogen  gen  Venedig.  Dort 
wollte  man  zu  Schiff  steigen  und  geraden  Weges*  rasch  nach 
Alexandria  fahren,  der  Stadt  in  Aegypten.  Es  war  nämlich 
in  den  anderen  Ländern  jenseits  des  Meeres  eben  Waffen- 
stillstand zwischen  Christen  und  Heiden,  und  diesen  durften 
die  Unsrigen  um  der  Vertragstreue  willen  nicht  einseitig 
brechen.  Im  Heere  der  Kreuzfahrer  befanden  sich  viele  be- 
rühmte und  mächtige  Männer,  geistliche  und  weltliche  Herren, 
unter  welchen  Graf  Bai  du  in  von  Flandern  und  der  Mark- 
graf Bonifacius  von  Mo ntf errat  durch  Ansehen,  Kraft 
und  Einsicht  am  meisten  hervorragten.  Diese  alle  waren  ein- 
hellig überein  gekommen,  dass  man  nach  Alexandria  fahren 
und  die  Stadt  tapfer  belagern  müsse,  nicht  um  das  Kriegs- 
glück zu  versuchen,  sondern  um  thatsächlich  die  Macht  der 
Kraft  Gottes  zu  erfahren.  Man  durfte  nämlich  bei  der  Aus- 
führung dieses  Planes  die  Hoffnung  hegen,  nicht  nur  die 
prächtige  Stadt  selbst,  sondern  auch  den  grössten  Teil  des 
ägyptischen  Landes  mit  geringer  Mühe  in  die  Gewall  zu  be- 
kommen. Die  Bevölkerung  war  von  einer  Hungersnot  schier 
aufgerieben  und  lebte  in  bitterstem  Mangel ;  das  Land  trug  keine 
Frucht  mehr,  weil  ihm  der  Nil,  der  es  sonst  zu  bewässern 
pflegt,  seit  fünf  Jahren,  wie  es  hiess,  seine  Segensfluten  ent- 
zogen hatte.  —  Aber  dieser  lobenswerte  Gedanke  unserer 
Fürsten  wurde  verhindert,  und  zwar  durch  die  Hinterlist  und 
Schlechtigkeit    der    Venetianer,    welche,    gewissermassen    als 


—    14    — 

Herren  der  Schiffahrt  und  Gebieler  des  Adriatischen  Meeies, 
den  Unsrigen  jedes  Fahrzeug  versagten,  wenn  man  nicht  vorher 
mit  ihnen  die  berühmte  dalmatinische  Stadt  Zara  erobere, 
die  aber  zu  Ungarn  gehörte.  Sie  versicherten  nämlich,  diese 
Stadt  sei  von  jeher  feindseUg  auf  Venedigs  Schaden  bedacht 
gewesen ;  ja  häufig  hätten  sogar  Bürger  von  Zara  venetianische 
HandelsschifTe  wie  Seeräuber  überfallen  und  ausgeplündert. 
Unseren  Fürsten  aber,  die  Gott  fürchteten,  schien  die  Sache 
unerhört  frevelhaft  zu  sein,  einmal,  weil  die  Stadt  ja  von 
christlichem  Volke  bewohnt  war,  und  dann,  weil  sie  dem 
König  von  Ungarn  gehörte,  welcher  auch  das  Kreuz  genomaien 
und  dadurch  selbstverständlich  sich  und  das  Seine  unter  den 
Schutz  des  heiligen  Stuhles  gestellt  hatte.  Während  nun  die 
Venetianer  immer  dringlicher  wurden,  die  Unsrigen  aber  ebenso 
hartnäckig  sich  weigerten,  verstrich  die  beste  Zeit  unter  Hader 
und  Zwietracht.  Die  Kreuzfahrer  blieben  fest  bei  ihrer  Ansicht, 
dass  es  abscheulich  und  vom  christlichen  Standpunkt  aus  un- 
erlaubt sei,  als  Streiter  des  Kreuzes  Christi  gegen  andere 
Christenmenschen  mit  Schwert,  Raub  und  Brand  zu  wüten, 
wie  bei  der  Erstürmung  von  Städten  zu  geschehen  pflegt.  In- 
folge dessen  traten  auch  viele  Arme,  welche  das  Wenige,  das 
sie  mitgenommen,  aufgezehrt  hatten  und  nun  kein  weiteres 
Weggeld  besassen,  die  Heimreise  an  ;  aber  auch  etliche  vor- 
nehme und  reiche  Männer,  die  keineswegs  Mangel  litten,  sondern 
sich  nur  durch  solch  schändliche  Zumutungen  abgeschreckt 
fühlten,  kehrten  unwirsch  und  mit  wideretrebenden  Empfin- 
dungen der  Sache  den  Rücken.  Einige  davon  gingen  nach 
Rom  und  konnten  nur  mit  Mühe  vom  heiligen  Vater  die  Er- 
laubnis zur  Heimkehr  erlangen,  unter  der  ausdrücklichen  Be- 
dingung jedoch,  ein  paar  Jahre  spater  das  Gelübde  ihrer  Kreuz- 
fahrt einzulösen.  Diese  Umkehr  von  Pilgern  verursachte  dem 
Heere  der  Unsrigen  manche  empfindliche  Lücke,  und  ausserdem 
wurde  dadurch  auch  bei  vielen,  welche  in  Deutschland  und 
anderwärts  sich  schon  zur  Nachfolge  angeschickt  hatten,  die 
ursprüngliche  Glut  der  Begeisterung  gedämpft,  so  dass  sie  sich 
nicht  mehr  vom  Platze  regten.  —  Um  diese  Zeit  wurde  ein 
Kardinal,  Petrus  von  Gapua,  zu  unserem  Heere  gesandt 
mit  der  ausdrücklichen  Weisung  des  heiligen  Vaters,  jenen 
Streit  beizulegen  und  die  Venetianer  zu  bestimmen,  dass  sie 
die  Einschiffung  und  schleunige  Ueberfahrt  nach  Alexandria  in 
so  heiliger  Sache  den  Kämpfern  Christi  gewährten.  Weil  aber 
auch  er  auf  keine  Weise  ihnen  das  abnötigen  konnte,  wenn 
nicht  die  Unsrigen  die  auferlegte  Bedingung  erfüllt  hätten, 
dünkte  es  sie  endlich  verzeihlicher  und  weniger  verwerflich, 
ein  grosses  Gut  durch  ein   kleines  Uel»el  zu  erkaufen,    als  ihr 


—    45    — 

Kreuzfahrt^elübde  unerfüllt  zu  lassen,  die  Schiitte  heimwärts 
zu  lenken  und  den  Ihrigen  Sünde  und  Schande  zurückzubringen. 
Sie  gelobten  daher,  thun  zu  wollen,  was  die  Venetianer  so 
dringend  begehrten,  nahmen  ihnen  dabei  aber  das  bestimmte 
Versprechen  ab,  dass  dann  auch  sie  nach  Alexandria  fahren, 
d.  h.  die  Unsrigen  mit  Kriegsmacht  dorthin  begleiten  würden. 
Und  wie  verhielt  sich  dabei  unser  Martinus?  Als  er  erkannte, 
dass  man  der  Sache  des  Kreuzes  nicht  nur  Verzögerung  bereite, 
sondern  nun  auch  unserem  Heere  die  Notwendigkeit  sich  auf- 
dränge, Christenblut  zu  vergiessen,  wusste  er  nicht  wohin  sich 
wenden  und  was  anfangen !  Ein  wahres  Entsetzen  erfasste  ihn, 
und  von  mehreren  Wegen,  deren  keinen  er  doch  billigen  konnte, 
wählte  er  endlich  einen,  der  ihm  in  diesem  Falle  noch  der 
beste  schien.  Er  ging  zu  dem  genannten  Kardinal  und  flehte 
fussfaUig,  man  möge  ihm  die  Lösung  des  Gelübdes  erwirken 
und  die  Rückkehr  zu  der  gewohnten  Ruhe  klösterlichen  Lebens 
gestatten.  Dieser  aber  schlug  ihm  die  Heimreise  rundweg  ab, 
er  habe  denn  zuvor  seine  Pilgerfahrt  vollbracht,  ja  legte  ihm 
sogar  im  Namen  des  heiligen  Vaters  noch  eine  grössere  Last 
auf,  indem  er  ihm  alle  Deutschen  zuwies,  nicht  nur  die  bisher 
von  ihm  geführten,  sondern  auch  die,  welche  er  in  Venedig 
vorgefunden  hatte  und  solche,  die  noch  später  zu  dem  Heere 
slossen  würden.  Auch  machte  er  es  ihm  und  etlichen  anderen 
Ordensgeistlichen,  die  zugegen  waren,  zur  heiligen  Pflicht,  unter 
allen  Umstanden  den  Wallfahrtsgenossen  zu  folgen  und  sie, 
soweit  es  irgend  möglich,  von  der  Vergiessung  christlichen 
Blutes  abzuhalten. 

Kann  ich  es  sagen,  wie  bitter  beklagen  Martinus  es  musste, 
Als  er,  in  Ehren  nach  Hause  zu  kehren,  verhindert  sich  wusste? 
Zweifelhaft  stand  er,  und  bitter  empfand  er  im  frommen  Gewissen, 
Dass  ihm  das  Schwanken  im  Zwang  der  Gedanken  die  Seele  zer- 
rissen ! 
Denn  ihn  verzehrten  auch  für  die  Gefährten  die  Sorgen ;  der  Gute 
Sah  sie  —  o  Schrecken !  —  bereits  sich  beflecken  mit  christlichem 

Blute ! 
Doch  er  gehorchte,  was  bang  er  besorgte,  verhehlend  mit  Schmerzen ; 
War  er  erbötig,  geschah^s,  weil  es  nötig,  doch  nimmer  von  Herzen. 
So,  als  Begleiter  der  heimischen  Streiter,  als  Führer  der  Mannen 
Deutschen  Geblütes,  die  tapfren  Gemütes  auf  Rühmliches  sannen, 
Ging  er  zu  Meere.  Denn  jeder  im  Heere  vom  deutschen  Geschlechte 
Musste  ja  wilhg  ihm  folgen,  wie  billig  nach  göttlichem  Rechte, 
Seit  der  Gesandte  des  Papsts  ihn  ernannte,  sowohl  wer  zu  Haus  ihm 
Schon  sich  verbunden,  als  die  er  gefunden,  geeilet  voraus  ihm. 
Stärker  die  Scharen,  als  früher  sie  waren,  um  vieles,  bereiten 
Jetzt  sich   die   Frommen,   woher  sie   auch  kommen,  das  Meer  zu 

beschreiten, 


-     J6    — 

Und,  nach   dem  Winde    sich   richtend,    geschwinde  bepflügen  sie 

wacker, 
Folgend  der  Regel,  mit  Ruder  und  Segel  den  wogenden  Acker. 
Was  sie  nicht  wollten,  worüber  sie  grollten  als  nutzlos,  die  meisten, 
Hatten  beschlossen  die  frommen  Genossen  nun  willig  zu  leisten. 

VII. 

Als  nun  die  Flotte  über  das  Adriatische   Meer  gesetzt  war   1202-11 
(man  nennt  es  auch  das  dalmatinische ;  der  eine  Name  kommt 
von  der  Stadt  Adria   oder,   nach   der  Sage,   von  Adriana,   der 
Tochter  des  Minos,   der   andere   von  Dalmatien,    dessen  Ufer 
von  ihm  bespult  werden),  nahmen  unsere  Krieger  in  schnellem 
Anlauf,    aber   zögernden  und  betrübten  Gemütes,    die  Venedig 
gegenüberliegende  Küste  in  Besitz,  schlössen  die  erwähnte  Stadt, 
um  sich  bei  dem  verhassten  und  verabscheuten  Geschäft  nicht 
lange  aufzuhalten,  mit  grossem  Lärm   und  Nachdruck  ein  und 
zwangen   sie   schon   nach   zwei  Tagen,  weniger   durch   Feind- 
seligkeiten als  durch  Drohungen,  ohne  alles  Blutvergiessen  zur 
Uebergabe.  Aber  kaum  hatte  die  Stadt  sich  ergeben,  so  kamen 
die   Venetianer   und  zerstörten   sie  in   ihrem   unauslöschlichen 
Hasse  von  Grund  aus.     Nach  dem  allen   schwebte  das  Gericht 
der  Exkommunikation  über  den  Häuptern  der  Unsrigen;  denn 
sie  hatten  ja  die  Hand  an  eine  Besitzung   des  Königs  von  Un- 
garn gelegt,  der,  als  er  das  Kreuz  nahm,  sein  Eigentum  unter 
den  Schutz  des  heiligen  Petrus  und  des  obersten  Pontifex  ge- 
stellt hatte.  Deshalb  dünkte  es  sie  zweckmässig,  Boten  an  diesen 
abzusenden,  dass  er  ihnen  in   gütiger  Erwägung  der  Zwangs- 
lage^ in  welcher   sie   gesündigt,  die  Strafe  der  Exkommunika- 
tion erlassen  möge.  Man  suchte  geeignete   Persönlichkeiten  zur 
Uebemahme  dieser  Gesandtschaft  und  erwählte  in  erster  Linie 
den  Abt  Martinus,  sodann  den  Bischof  von  S o i s s o n s,  einen 
sehr   frommen  und   beredsamen    Mann,    und    als   dritten    den 
Magister  Johannes  von  Paris,  der  ein  geborener  Franzose  war, 
eine   vornehme   Erziehung   genossen  hatte   und  gleichfalls  vor- 
trefflich zu   sprechen   verstand.   Durch   das   Erscheinen  dieser 
Männer   sollte    unsere  an   sich  schon  günstig   stehende   Sache 
bei    dem    heiligen    Vater    noch    besonders    kräftig    unterstützt 
werden.    Als  die   drei   nach   Rom  gekommen   und  vorgelassen      1203 
worden  waren,    setzten    sie   ihr  Anliegen   redlich    auseinander 
und  baten   den   Papst    aufs   demütigste,    er   möge    den   not- 
gedrungenen  Fi^vel,   welchen   unsere   Krieger  gegen  Christen 
(und  doch  zur  Ehre  Christi !)  begangen  hatten,  gnädig  verzeihen 
und  nach  sorgfaltiger  Prüfung  des  Sachverhaltes  die  Strafe  der 
Exkommunikation  nicht  über    sie   aussprechen.    Und   wirkUch 
Hess  der  heilige  Vater  den  Entschuldigungsgrund  gelten,  der  aus 


J 


—    i7    — 

der  Zwangslage  hergeleitet  wurde.  Auch  die  demütige  Bitte 
unseres  Heeres,  sowie  das  Ansehen  und  das  edle  Auftreten  der 
Gesandten  mussten  ihn  rühren,  und  so  gewährte  er  denn,  nach- 
dem er  mit  sich  zu  Rate  gegangen,  wohlwollend  die  erbetene 
Nachsicht  und  befahl  eine  formliche  schriftliche  Lossprechung 
auszufertigen  und  unserem  Heere  zuzustellen.  Er  war  nämlich 
ein  Mann  von  ausnehmender  Urteilskraft  und  huldreichem 
Wesen,  zwar  noch  jung  an  Jahren,  aber  klug  wie  ein  Alter, 
von  gereifter  Gesinnung,  durch  und  durch  ein  Ehrenmann,  von 
berühmtem  Geschlecht,  auch  äusserlich  eine  stattliche  Er- 
scheinung, ein  Freund  alles  Rechten  und  Guten,  ein  Feind 
dagegen  der  Bosheit  und  Niedertracht,  so  dass  er  mit  vollem 
Recht,  nicht  etwa  bloss  zufallig,  den  Namen  Innocentius 
trug: 

Innocenz  war,  was  er  hiess,  voUwürdig  des  Namens,  mit  dem  er 
Ahnimgalos  nennen  sich  liess :  Innocenz  war,  was  er  hiess ! 
Böses,  er  kannte  es  nie;  so  lange  die  Qabe  des  Lebens 
Göttliche  Hald  ihm  verlieh  :  Böses,  er  kannte  es  nie ! 
Er,  der  zum  Vater  bestellt,  hat  doch  sich    —    o  liebliches  Schau- 
spiel !  — 
Brüdern  als  Bruder  gesellt :  er,  der  zum  Vater  bestellt ! 
Lauter  und  ohne  Betrug,   von  den  Priestern  und  Laien  als  echter 
Hirte  gepriesen  mit  Fug:  laater  nnd  ohne  Betrug! 
Immer  zum   Quten  bereit  und   geneigt,   wenn  er  spendete  Qntes, 
Reich  es  zu  thun  allzeit:  immer  zum  Guten  bereit!  — 
Lob  und  Verehrung  in  steter  Vermehrung  als  Bischof  geniessend, 
Fleckenlos  wandelnd,   nur    väterlich    handelnd,   die    Bösen    ver- 

driessend, 
Ganz  ohne  Tadel,  erlaucht  auch  von  Adel,  ein  tapferer  Streiter 
Gottes  im  Glauben,  nicht  lassend  sich    rauben   die   Hoffnung  und 

heiter. 
Weil  er  nach  oben  zum  Kreuze  gehoben  die  liebenden  Blicke, 
War  er  ein  wilPger  Beschützer  der  Pilger  und  ihrer  Geschicke. 
Er,  der  so  heilig,  erklärte  verzeihlich,  was  Gott  nur  zur  Ehre 
Hatten  gesündigt  und  reuig  verkündigt  die  christlichen  Heere. 
Freundlich  erbötig,  zu  spenden,  was  nötig,  erschloss  er  die  Pfade 
Ihnen,   die   bange    gefolgt   nur    dem    Zwange,    zur    himmlischen 

Gnade. 

VIII. 

Während  unsere  Gesandten  noch  am  päpstlichen  Hofe 
verweilten^  trat  mit  immer  grösserer  Bestimmtheit  das  Gerücht 
aQf,  es  sei  der  junge  Alexis  ins  Lager  gekommen,  ein 
griechischer  Prinz,  der  Sohn  I  s  a  a  k  s ,  des  Herrschers  von 
KoDstantinopel.  Der  deutsche  König  Philipp  habe  ihn 
geischickt  mit   ausführlichen   Schrifstucken,   in  welchen  er  das 

2 


—    18    —  . 

Kreuzheer  dringend  ersuchte,  den  jungen  Mann  mit  allen 
Kräften  wieder  in  sein  Reich  einzusetzen.  —  Wenn  von  einer 
so  verwickelten,  grässlichen  Geschichte  überhaupt  eine  geordnete 
Darstellung  gegeben  werden  kann,  so  verhält  sich  die  Sache 
etwa  wie  folgt  :  Als  der  eben  genannte  I  s  a  a  k  über  die 
Griechen  herrschte,  stürzte  sein  Bruder  Alexis,  der  Oheim  des 
ei-wähnten  jüngeren  Alexis,  auf  den  Rat  einiger  Bösewichte, 
besonders  eines  ihm  verwandten,  arglistigen  Edelmannes, 
namens  Murcifl  o  (d.  h.  Herzblum'),  seinen  Bruder  Isaak  vom 
Thron,  riss  das  Reich  an  sich  und  warf  seinen  Neffen,  unseren 
Alexis,  den  Sohn  Isaaks,  in  strenges  Gewahrsam.  Der  aber 
entwischte  bei  günstiger  Gelegenheit  und  eilte  in  schleuniger, 
heimlicher  Flucht  nach  Deutschland.  So  kam  er  zu  König 
Philipp,  der  eine  Schwester  von  ihm  zur  Gemahlin  hatte, 
und  klagte  ihm  seine  und  seines  Vaters  Not  und  die  Grausam- 
keit des  Oheims.  Der  König  nahm  den  Jüngling  ehrenvoll  auf, 
behielt  ihn  längere  Zeit  mit  herzlicher  Zuneigung  bei  sich  und 
verseifte  ihn  freigebig  und  reichlich  mit  fürstlichem  Unter- 
halt. Als  er  aber  hörte,  dass  unser  Heer  nach  der  Einnahme 
von  Zara  an  den  Grenzen  Griechenlands  stehe,  schickte  er 
den  Jüngling  mit  schriftlicher  Botschaft  an  die  Fürsten,  sie 
möchten  sich,  wenn  es  ii^end  thunlich,  bemühen,  ihn  in  sein 
väterliches  Reich  zurückzuführen.  Besonders  nachdrücklich  l^te 
er  die  Sache  den  Deutschen  als  seinen  Unterthanen  ans  Herz. 
Seinen  Vetter,  den  Markgrafen,  erinnerte  er  an  ihr  gegen- 
seitiges verwandtschaftliches  Band;  ebenso  beschwor  er  die 
Flamländer  und  Franzosen  und  Venetianer,  indem  er  dabei  in 
feste  Aussicht  stellte,  wenn  erst  Alexis  mit  ihrer  Hilfe  auf 
dem  Thron  sitze,  würden  alle  Pilger  sowohl  durch  Deutschland 
als  durch  Griechenland  immerdar  freien  und  sicheren  Weg 
haben.  Dazu  kam  noch,  dass  der  junge  Prinz  feierlich  zusagte, 
ihnen  miteinander  nach  seiner  Wiedereinsetzung  300,000  Mark 
Silber  zu  geben.  Alle  diese  Ursachen  wirkten  zusammen,  und 
schon  begann  der  grössere  Teil  unseres  Heeres  dem  Prinzen 
zuzuneigen.  Einige  aber,  welche  mehr  um  den  Ausgang  des 
Kreuzzuges  sich  kümmerten,  rieten  hartnäckig  ab,  indem  .sie 
(was  ja  auch  das  Wahrscheinlichste  war)  darauf  hinwiesen, 
dass  der  Prinz  keinesfalls  ohne  Gewalt  und  Blutvergiessen 
wieder  eingesetzt  werden  könne.  Es  däuchte  sie  thöricht  und 
sündhaft,  wenn  eine  Hand  voll  Pilger  ohne  sicheren  Rückhalt 
ein  heiliges  Vorhaben  aufgebe,  um  sich  für  fremden  Nutzen  in 
gewisse  Gefahr  zu  stürzen  und  einer  grossen,  mächtigen,  volk- 
reichen Stadt  einen  Kri^  anzukünden,  der  ohne  Zweifel  einem 
Teil  oder  beiden  grosse  Verluste  bringen  müsste.  —  Aber 
wir    wollen   von   der   Geschichte   der   Wiedereinsetzung  jenes 


—    19    — 

Prinzen  zur   Zeit    noch  schweigen ;    in  der  Folj^e  werden  wir 
des  weiteren  darauf  zu  sprechen  kommen. 

Als,  wie  oben  erzählt,  das  Gerücht  von  der  Sache  in 
Rom  umging,  erschrak  der  heilige  Vater  heftig  und  mit  ihm 
sein  Klerus  und  unsere  Gesandten  und  andere  Kreise.  Denn 
er  fürchtete,  die  Eifersucht  der  boshaften  Feinde  werde  bei 
dieser  Gelegenheit  unserem  gesamten  Heere  den  Untergang 
bereiten  oder  doch  die  Sache  des  Kreuzes  aufhatten.  Der  Papst, 
wie  schon  seine  Vorgänger,  hasste  die  Stadt  Konstantinopel 
seit  alter  Zeit ;  denn  sie  war  lange  schon  der  römischen  Kirche 
g^enüber  aufrührerisch  gesinnt  und  wich  in  einigen  Glaubens- 
sätzen, z.  B.  vom  Ausgang  des  heiligen  Geistes,  den  die 
Griechen  nicht  vom  Sohn  ausgehen  lassen  wollen,  und  in  der 
Art  des  Messopfers,  das  sie  mit  ungesäuertem  Brot  begehen, 
vom  katholischen  Glauben  ab.  Deshalb  hatte  der  Papst  einmal 
einen  Kardinal  zu  ihrer  Bekehrung  und  Unterweisung 
abgeschickt,  aber  sie  knüpften  ihn  auf,  mit  den  Füssen  nach 
oben  und  dem  Kopfe  nach  unten,  bis  er,  St.  Petro  im  Märtyrer* 
tum  gleich,  den  Geist  aufgab.  Der  Papst  hasste  also  die  Stadt 
und  hätte  wohl  gewünscht,  dass  katholisches  Volk  ohne  Blut- 
\ergiessen  sie  eroberte,  wenn  er  das  für  möglich  gehalten. 
Aber  für  unser  Heer  fürchtete  er  eben  eine  Niederlage  ;  er 
konnte  nicht  hoffen,  dass  die  Unsrigen  das  erreichen  würden  ; 
er  sagte  sich,  dass  Konstantinopel  schon  allein  mit 
seinen  Fischerbooten  unserer  ganzen  Flotte  überlegen  wäre. 
Die  Stadt  hatte  nämlich  600  solche  Fahrzeuge,  deren  jedes  im 
Jahr  auf  vierzehn  Tage  der  Kasse  des  Herrschers  eine  Gold- 
münze zahlte,  welche  man  Perpera  heisst,  im  Werte  eines 
ferto,  d.  i.  einer  Viertelmark.  Kriegs-  und  Handelsschiffe  aber 
besass  sie  in  ungezählter  Menge  und  dazu  einen  stark 
befestigten  Hafen.  Es  war  daher  der  Rat  und  die  Meinung 
des  heiligen  Vaters,  welchen  die  Sache  des  Kreuzes  aufs 
höchste  beunruhigte,  dass  die  Unsrigen  geraden  Weges  nach 
Aiexandria  schiffen  sollten.  Er  erlaubte  ihnen  auch,  an  den 
Seeplätzen  der  Romagna,  welche  das  Adriatische  Meer  bespult, 
in  bescheidenem  Mass  unentgeltlich  Lebensmittel  aufzunehmen, 
mit  denen  sie  auf  ein  halbes  Jahr  ausreichen  könnten.  Er 
fürchtete  gar  sehr,  sein  Rat  möchte  nicht  beachtet  und  der 
Foilgang  des  Kreuzzuges  durch  Unternehmungen  in  Europa  ge- 
hemmt werden,  und  deshalb  wurde  sowohl  er  selbst  als  alle 
anderen   durch  die  neuen  Gerüchte  lebhaft  aufgeregt. 

Jetzt  auch  wiederam  flehte  Martinas  in  traaUcher  Rede 
Brünstig  den  heiligen  Vater  um  Heimkehr.  «Höre  mich»,   bat  er, 
«Da  hast  einst  mir  gespendet  das  Amt,  aaf  die  Fahrt  mich  gesendet; 
«Heisse,  meii^  Bisdiof,  in  Ehren  den  Abt  nach  Hanse  nan  kehren!» 


—    20    — 

Schmerzlicher  immer  bedrückte  den  Frommen  es,  dass  er  erblickte 
So  viel  gottloses  Treiben,  dass  dauernd  verloren  nun  bleiben 
Sollte  die  Stadt,  in  der  weiland  auf  Erden  gelehret   der  Heiland, 
Dass  Fortschritte  nicht  mache  des  Kreuzzugs  heilige  Sache, 
Sie,  die  aus  Kleinem  entsprungen,  verzögert  nun  oder  misslungen  t 
Will  auf  die  Schulter  man  legen,  hellenischer  Könige  wegen, 
Lasten  dem  christlichen  Heere  von  kaum  zu  ertragender  Schwere  ? 
Werden  darunter  nicht  alle  die  Pilger  geraten  zu  Falle, 
Oder,   wenn's   besser  beschlossen,  doch   mindestens    seufzen   ver- 
drossen ? 
Selbst,  wenn  beschieden  das  Beste,  so  gilt  es  doch  immer,  das  feste 
Konstantinopel  mit  Strömen  des  edelsten  Blutes  zu  nehmen ! 
Denn  wer  zweifelt,  dass  heftig  es  wehren  sich  wird,  dass  es  kräftig 
Erst  um  den  Sieg  wird  ringen,  bevor  wir  das  arge  bezwingen? 
All  dies  sagte  sich  leise  Martinus  im  Busen,  der  Weise. 
Weil  er  mit  sorgendem  Blicke  voraussah  schwere  Geschicke, 
Nichts,  was  sicher  sie  wehrte,  mit  Fug  er  nach  Hause  begehrte. 

IX. 

Es  flehte  also  unser  Abt  mit  allem  Nachdruck  um  die 
Erlaubnis  zur  Heimkehr,  indem  er  samtliche  angeführte 
Ursachen  und  noch  andere  dazu  dem  heiligen  Vater  vor  Augen 
stellte.  Aber  dieser  schlug  ihm  die  Bitte  rundweg  ab ;  er  dürfe 
erst  an  die  Rückkehr  denken,  wenn  er  das  heilige  Land,  nach 
welchem  ihm  sein  Gelübde  weise,  betreten  habe.  So  ging  denn 
Martinus  mit  den  Genossen  vom  päpstlichen  Hofe  weg, 
nachdem  er  zuvor  den  apostolischen  Segen  empfangen  hatte. 
Auch  nahm  er  ein  Schreiben  mit  für  das  Heer,  das  die  förm- 
liche Lossprechung  desselben  enthielt.  Er  reiste  nach  B  e  n  e- 
v  e  n  t  und  fand  dort  den  schon  oben  erwähnten  Petrus 
von  Gapua,  der  sich  mit  dem  Wunsche  trug,  geraden 
Weges  nach  Akko  hinüberzuschiffen.  Martinus  schloss  sich 
ihm  an,  schickte  den  papstlichen  Brief  durch  seine  Reise- 
begleiter an  das  Heer  und  Hess  sich  auch  durch  sie  hei  den 
deutschen  Scharen,  die  er  bisher  geführt  hatte,  entschuldigen 
und  ihnen  Lebewohl  sagen  (am  4.  April).  Dann  schifften  sie 
sich  bei  Sipontumi  ein  und  kamen  (am  25.  April)  nach  langer 
Fahrt  im  Hafen  von  Akko  an,  wo  sie  von  allen  aufs  faer- 
liebste  empfangen  wurden.  Es  waren  dort  auch  zahlreiche 
Deutsche  und  darunter  einige  vornehme  und  mächtige  Männer, 
welche  Martinus  schon  in  Deutschland  gekannt  und  geliebt 
hatten.  Diese  nahmen  ihn  mit  besonderer  Ehrfurcht  auf. 
Petrus  von  Gapua  aber  übergab  ihm  im  Auftrage  des  Papstes 


1  Heute  :  Maria  de  Siponto  in  Apulien. 


—    21    — 

die  Fürsorge   für   alle   Deutschen,    die   schon  in  Akko  waren, 
oder  auf  deren  Ankunft  man   noch   hoffte.    Leider   brach    dort 
in  diesem  Sommer  um  die  sogenannten  Hundstage  eine  schwere 
Pest  aus,   welche  derartig   unter   den    Menschen  wütete,  dass 
an  Einem  Tage  mehr  als  2000  Leichen  begraben   worden    sein 
sollen.  So  plötzlich  und  unerwartet  trat  diese  Seuche  auf,  dass 
man  in   drei  Tagen  sicher  dem  Tod   entgegensah,    wenn    man 
einmal  daran  erkrankt  war.   Viele  nun,  die  von  der  Krankheit 
ei^riffen   worden,    Hessen   den    Abt   rufen,   da  sie  nicht  mehr 
über  ihre  Habe   verfügen  konnten,   und  übergaben  ihm  alles, 
sei    es  zu  eigenem  Besitz,   sei  es  zur    Verteilung   an  dürftige 
ilefahrten,    wobei   er  einen   beliebigen  Teil    für   sich   zurück- 
behalten sollte.  Diese  Angelegenheiten  führte  Martinus  so  treu- 
lich   aus,    dass   er,    wie   schon   oben  erwähnt,  einmal  in  zwei 
Tagen  120   Mark   Silber   zu   solchem   Zwecke  ausgab  und  am 
dritten  70  Mark.    Auch   kaufte  er  einigen  Tapferen,  welche  in 
der  Not  ihre    Waffen    verpfändet    hatten,    dieselben    zurück, 
gleichfalls  ganz  uneigennützig  ohne  das  mindeste  Entgelt.    Vor 
allem  aber  ging  er  mit  tapferer  Frömmigkeit  zu  den  Kranken, 
versorgle   sie   freundlich  mit   Rat   und   That,  ermahnte  sie  zu 
aufrichtiger   Beichte   und   tröstete   sie    mit    der    Hoffnung   der 
Ewigkeit,    dass  sie  den  kurzen   Augenblick    des    Todes    nicht 
fürchten   möchten,   sie,    die  ja   hernach  ein  Leben  ohne  Ende 
empfangen  würden  !    Auch  die  Gesunden  vermahnte  er  männ- 
lich,   sich   durch   dieses   kurze  und  vorübergehende  Ungemach 
nicht  erschrecken   zu   lassen,   sondern   gefassten   Herzens    auf 
beides  bereit   zu   sein :    sowohl  dies  zeitliche   Leben    zur  Ehre 
Gottes   noch  länger   zu    führen,    als    auch,    wie    die    voraus- 
gegangenen  Gefährten,   in  kurzer  Frist  das  Glück  des  ewigen 
zu  erlangen. 

Hier  in  den  Unglückstagen,  von  Kümmernis  niedergeschlagen. 
Fühlte  Martinas  den  Racken  die  Last  des  Geschickes  so  drücken, 
Dass  antragliche  Zeichen  des  Grams  wahrnahm  auf  dem  bleichen 
Antlitze,  wer  ihn  gesehen  za  Haas  and  öffentlich  gehen. 
Denn,  was  die  Brüder  beschwerte,  mitdaldend  als  treuer  Gefährte. 
Trag  er  der  anderen  Schmerzen,  wie  eignen,  im  liebenden  Herzen. 
Männlich  sich  selber  vergessend,  mit  jedem  an  Tagend  sich  messend, 
War  er  für  alle  ein  Vater,  ein  Helfer  in  Not,  ein  Berater, 
Klag  and  bedächtig  in  Reden,  ein  zärtlicher  Bruder  für  jeden ! 
Hierhin  und  dorthin  getrieben,  die  Werke  der  Liebe  zu  üben, 
Geht  er  herum  bei  den  Kranken.  Bekannte  wie  Fremde  verdanken 
Ihm,  der  sie  ärztlich  beraten,  auch  freundliche  Hilfe  mit  T  h  a  t  e  n ! 
Wie  mit  Geschwistern  verkehrt  er ;  die  irrenden  Geister  belehrt  er ; 
Keiner  verschliesst  ihm  die  Seele ;  ein  jeder  bekennt,  was  ihn  quäle^ 
Willig  zu  völliger  Beichte,  da  Gott  ihm  die  Herzen  erweichte. 
Alles  dem  Herreu  zu  weihen  bei  Zeiten,  ermahnt  er  die  Reihen 


—    '2H    — 

Der  von  der  Seuche  Gefassten,  damit,   wenn  sie  Todes  erblassteiiy 
Dran  sich  anch  hielten  gebunden  die  übrig  gebliebenen  Gesunden. 
Gleiches  empfahl  er  den  Zagen,  die  Furcht  Tor  der  Pest   zu  ver- 
jagen, 
Stark  sie  zu  machen  im  Leiden  und  willig,  von  hinnen  zu  scheiden. 

X. 

Während  der  langen  Herrschaft  der  Pest  in  der  Stadt  und 
ihrer  Umgebung  wurde  die  Mehrzahl  der  Einwohner  und  der 
dort  verweilenden  Fremden  von  der  Ansteckung  ergriffen  und 
hingerafft.  Auch  von  den  46  Personen,  welche  in  der  Herberge 
des  Abtes  wohnten,  entrannen  nur  vier,  darunter  er  selbst, 
dem  Tode ;  alle  übrigen  erlagen  der  Gefahr.  Und  wer  mit  dem 
Leben  davongekommen  war,  hatte  doch  schon  den  Ruf  des 
Todes  vernommen  und  erwartete  ihn  matt  und  blutleer  als 
unausbleiblich  jeden  Augenblick.  Dazu  kam  noch  ein  anderer 
Uebelstand :  die  zwischen  den  Unsrigen  und  den  Heiden  feier- 
lich abgeschlossene  Waffenruhe  wurde  nämlich  von  den  letzteren 
mit  niederträchtiger  Arglist  gebrochen,  indem  sie  zwei  deutsche 
Schiffe  wegnahmen  und  ihrer  sämtlichen  Fracht  beraubten. 
Zwar  vergalten  die  Unsrigen  tapfer  und  schnell  diese  Unbill. 
Sechs  grosse  feindliche  Schiffe  mit  Lebensmitteln,  Waren  und 
sonstiger  Fracht  wurden  auf  dem  Meere  gekapert,  mit  der  %er 
samten  Ladung  als  gute  Prise  erklärt  und  also  durch  Gottes 
und  eigene  Kraft  die  Heimtücke  der  Heiden  kräftig  gerächt. 
Aber  der  Krieg  war  eben  damit  erneuert,  und  die  Wut  der 
Feinde  richtete  sich  heftiger  als  bisher  gegen  die  Unsrigen, 
weil  sie  in  der  Zahl  der  Mannschaft  uns  überl^en  und  zudem 
der  Meinung  waren,  auch  die  Uebriggebliebenen  seien  durch 
die  beständige  Nähe  des  Todes  schwach  und  kraftlos  geworden. 
Deshalb  däuchte  es  die  Angesehensten  unter  den  Christen  gut, 
an  das  Pilgerheer,  welches  dem  Vernehmen  nach  noch  in 
Griechenland  verweilte,  Botschaft  zu  senden,  man  möge  doch 
der  Stadt  Akko,  jenem  Hafen  des  heiligen  Landes,  welchen 
die  Unsrigen  bisher  mit  grösster  Anstrengung  und  Gefahr  fest- 
hielten, schleunigst  zur  Hilfe  kommen,  da  er  sonst  schwerUch 
länger  verteidigt  werden  könne.  Auch  diese  Gesandtschaft 
übernahm  Abt  Martinus  auf  Ansuchen  und  mit  ihm  ein 
anderer,  Konrad  nämlich,  der  Vogt  von  Schwarzenberg. 
(Diesem  Manne  stellt  der  Abt  das  Zeugnis  der  grössten  Ehr- 
lichkeit aus;  er,  Konrad,  habe  die  Gewohnheit  gehabt,  för 
jede  im  Scherz  oder  Ernst  oder  unwissentlich  ausgesprochene 
Unwahrheit,  deren  er  sich  erinnerte,  im  Beichtstuhl  besondere 
Absolution  zu  verlangen,  woraus  wohl  zur  Genüge  erhellt,  dass 
ein  Mann,   der  schon    in    kleinen    Dingen,    auf  die   fast    alUe 


—    23    — 

andern  kein  Gewicht  legen,  so  gewissenhaft  war,  auch  in 
grossen  durchaus  nichts  vernachlässigt  haben  wird.)  Drei  Tage 
vor  Martini  schifften  sich  die  beiden  ein  und  landeten  am  Tag 
der  Beschneidung  Christi  bei  Konstantinopel.  Dort  stand  l.  Janaar 
damals  das  Kreuzheer^  aber  in  nicht  sehr  fröhlicher  Stimmung ;  1204 
denn  es  hatte  sich  in  fremde  Händel  eingelassen  und  war 
dabei  in  grosse  Fährlichkeit  geraten.  Freilich  man  muss  |den 
Glauben  festhalten,  dass  Gott  alles  so  gefügt  hat:  Jene  grosse 
und  mächtige  Stadt,  die  schon  lange  dem  römischen  Stuhl 
abtrünnig  geworden,  sollte  durch  die  Tapferkeit  der  Unseren 
und  einen  unverhofften  Sieg  der  Einheit  der  Kirche  zurück- 
gewonnen werden.  —  Als  nun  die  Boten  der  Christen  von 
jenseits  des  Meeres  ankamen,  wurden  sie  von  allen  ehrerbietig 
und  freundlich  aufgenommen,  insonderheit  von  den  Deutschen, 
welche  der  Abt  früher  angeführt  hatte.  Allein  nachdem  sie 
die  Ursache  ihrer  Ankunft  auseinandergesetzt,  erfuhren  sie 
zwar  die  lebhafteste  Teilnahme,  Aussicht  aber  auf  Bat  oder 
Beistand  wurde  ihnen  nicht  gemacht,  da  eben  die  Unsrigen 
augenscheinlich  sich  selbst  kaum  genügend  helfen  konnten. 
Sie  waren  damals  gerade  in  der  äussersten  Bedrängnis.  Wegen 
der  gar  nicht  zu  schätzenden  Menge  des  feindlichen  Griechen- 
volkes hatten  sie  in  der  Umgebung  der  Stadt  nirgends  Ruhe, 
und  andererseits  konnten  sie  ohne  die  grösste  Gefahr  auch  nicht 
von  der  Stadt  wegrücken  wegen  der  zahllosen  Schiffe,  mit 
denen  der  Feind  sie  im  Falle  des  Abzuges  zu  verfolgen  und  zu 
vernichten  dachte.  So  war  es  gekommen,  was  gewiss  selten  zu 
geschehen  pflegt,  dass  die  Unsrigen  sich  auf  die  Belagerung 
einer  Stadt  gefasst  machten,  von  der  sie  nicht  wegzufliehen 
wagten  I  Um  diese  Sachlage  ganz  klar  zu  verstehen,  ist  es  der 
Mühe  wert  auf  die  Darlegung  zurückzukommen,,  welche  wir, 
wie  erinnerlich,  weiter  oben  einstweilen  bei  Seite  gelassen. 
Wer  hier  fleissig  aufmerkt,  der  wird  die  verborgenen  Gerichte 
Gottes  und  die  stillen  Ursachen  der  kommenden  Ereignisse  mit 
Händen  greifen  können. 

Haltet  den  Atbem  nnd  passet!  Ach,  Schreckliches^  dass  ihr  erblasset, 
Hab  ich  zu  schildern  !  So  lasset  geschehen  es,  dass  Zorn  mich  erfasset ! 
Merkt  wohl,  was  wir  berichten !  Verbargt  ists !  Glanbet  mit  nichten, 
Dass  wir  im  Stand,  zu  erdichten  so  brandmalwürdge  Geschichten ! 
Lasst  ench  richtig  bescheiden :  Ihr  spart  euch  Mühen  nnd  Leiden, 
Wenn  ihr  es  lernt,  wie  die  Heiden,  wie  Narren,  die  Griechen  zu 

meiden ! 
Wahrheit  ist,  was  ich  singe ;  doch  fragt  nach  dem  Qmnd  ihr  der  Dinge : 
Minder  das  Volk,  das  geringe  —  die  Grossen  verdienen  die  Schlinge! 
Hefe  der  Hefe !  Sie  schänden  den  griechischen  Namen !  Es  enden 
Qriechische  Könige  von  Händen,  die  schnöde  sie  würgen  und  blenden ! 


—    24    — 

Konstantinopel,  verrachtes,  nicht  wert,  dass  die  Sonne  besucht  es ! 
Volk  voll  List,  da  verflachtes,  nur  fleissig,  wenn  Arges  versucht  es. 
Wie  es  zam  Aufstand  hetze,  gehorsam  keinem  Gesetze, 
Wie  es,  was  heilig,  verletze,  den  eigenen  Herrscher  entsetze! 
Feiges  Gesindel,  so  träge,  doch  Könige  zu  plagen,  so  rege! 
Nest  des  Betrugs  allwege,  wo  Nahrung  er  findet  und  Pflege! 
Doch  bald  wird  es  erfahren  die  Strafe  für  gottlos  Gebahren, 
Zitternd  die  Sieger  gewahren  in  kleinen,  doch  tapferen  Scharen, 
Wie  durch  die  Thore  sie  brechen  und  grausam  in  blutigen  Bächen 
Unter  den  Bürgern,  den  frechen,  den  Tod  des  Alexius  rächen ! 

XL 

1203  Wie   die   Unsrigen    nach   und   nach   in  solche  Bedrängnis 

geraten  waren,  lässt  sich,  wie  folgt,  zusammenfassen  :  Als  der 
oben  erwähnte  junge  Alexis  mit  Botschaft  und  Briefen  von 
König  Philipp  ins  Lager  gekommen  war  und  durch  seine 
Bitten  und  weitgehende  Versprechungen  die  Anfuhrer  des 
Heeres  in  nicht  geringe  Aufregung  versetzt  hatte,  fingen,  wie 
gesagt,  mit  der  Zeit  alle  an,  ihm  und  der  Beschüfzung  seiner 
Sache  geneigt  zu  werden.  Und  das  aus  verschiedenen  Ursachen. 
In  erster  Linie  wirkte  die  Empfehlung  König  Philipps, 
welcher  sich  so  angelegentlich  für  ihn  verwendete ;  dann  dünkte 
es  auch  sie  selbst  ein  löbliches  Werk,  den  grausam  gestürzten 
rechtmässigen  Thronerben  wieder  in  seine  Hauptstadt  zurück- 
zubringen,  wenn  es  nur  irgend  ausführbar  sei,  und  zudem 
wurden  sie  eben  auch  gerührt  durch  die  Bitten  und  Ver- 
sprechungen des  jungen  Prinzen,  der  für  den  Fall  seiner 
Wiedereinsetzung  allen  Pilgern  jetzt  und  zukünftig  den  um- 
fassendsten Beistand  verhiess.  Dazu  kam  noch  die  Erwägung, 
dass  die  Stadt  Konstantinopel  bekanntermassen  der  rö- 
mischen Kirche  gegenüber  aufrührerisch  und  feindlich  gesinnt 
war,  weshalb  man  wohl  annehmen  durfte,  ihre  Demütigung 
werde  dem  heiligen  Vater,  ja  Gott  selbst,  nicht  gerade  sehr 
missfallen.  Auch  die  Venetianer,  deren  Schiffe  man  ja  benutzte, 
trieben  eifrigst  zu  dem  Unternehmen,  teils  in  der  Hoffnung  auf 
den  versprochenen  Gewinn  —  denn  dieses  Volk  ist  immer 
heisshungrig  nach  Greld !  — ,  teils  auch,  weil  Konstantinopel  im 
Vertrauen  auf  die  Grösse  seiner  Flotte  sich  die  Hauptherrschafl 
in  jenen  Gewässern  anmasste.  Durch  das  Zusammenwirken  all 
dieser  und  vielleicht  noch  anderer  Umstände  kam  es  dahin,  dass  die 
Pilger  insgesamt  und  einmütig  dem  Prinzen  ihr  Herz  zuwandten 
und  Hilfe  versprachen.  Es  gab  aber,  wie  ich  glaube,  noch  eine 
andere  Ursache,  die  viel  tiefer  lag  und  mächtiger  wirkte  als 
alle  die  genannten,  der  Ratschi uss  nämlich  der  göttlichen  Liebe, 
welche   es   fügte,   dass   jenes  im  Ueberfluss   üppig   gewordene 


—    25    — 

Volk  von  seiner  Hochmutshöhe  gestürzt  und  in  der  Folge  zu 
Frieden  und  Eintracht  mit  der  allgemeinen  heiligen  Kirche 
zurückgerufen  wurde.  Auch  war  es  offenbar  nur  in  der  Ord- 
nung^ dass  die  Griechen,  welche  aut  andere  Weise  doch  nicht 
gebessert  werden  konnten,  durch  Verlust  einiges  Blutes  und 
der  zeitlichen  Güter,  die  sie  so  übermütig  gemacht  hatten, 
gezüchtigt  wurden.  Das  Volk  der  Pilger  konnte  sich  dann  an 
der  Beute  der  Stolzen  bereichern,  das  ganze  Land  ging  in 
unsere  Gewalt  über,  und  die  abendländische  Kirche  durfte  sich 
immerdar  des  Lichtes  der  heiligen  Reliquien  freuen,  deren  sich 
jene  unwürdig  gemacht  hatten.  Aber  auch  ein  anderer  wich- 
tiger Punkt  ist  nicht  zu  vergessen.  Die  oftgenannte  Stadt,  die 
sich  den  Pilgern  gegenüber  allezeit  treulos  bewiesen  hatte, 
sollte  nach  dem  Willen  Gottes  durch  den  Wechsel  der  Be- 
völkerung treu  und  einträchtig  werden  und  uns  zum  Kampf 
mit  den  Heiden  und  zur  Eroberung  und  Festhaltung  des  hei- 
ligen Landes  desto  wertvollere  Hilfe  leisten,  je  günstiger  sie 
gelegen  war.  Aus  alledem  wäre  aber  nichts  geworden,  wenn  die 
Griechen  durch  ein  Volk  anderen  Glaubens,  durch  Heiden 
oder  Ketzer,  überwunden  worden  wären  oder  gar,  im  schlimmsten 
Fall,  deren  Irrlehre  angenommen  hätten.  Diese  Ursachen, 
meine  ich,  haben  bei  Gott  vorgewogen,  uns  zwar  verborgen, 
aber  ihm,  der  alles  voraussieht,  offenbar;  und  deshalb  gelangten 
die  grossen  und  wunderbaren  Ereignisse,  von  denen  wir  reden 
werden,  sicher,  aber  geheimnisvoll  zu  ihrem  Endziel. 

Tief  in  der  Gottheit  Schosse  verborgne,  verändemngslose 
Gründe  der  ewigen  Liebe  bestehen  im  irdischen  Getriebe, 
Die  die  Geschichte  der  Zeiten  so  ruhig  bestimmen  und  leiten, 
Dass  nichts  hier  auf  der  Erden  gemacht  kann  irgendwie  werden, 
Was  nicht  Form  und  Gestaltung  empfinge  von  höherer  Waltung, 
Was  nicht  trüge  die  volle  Besieglung,  dass  Gott  es  so  wolle, 
Wo  es  und  wann  es  und  wie  es  geschehe,  dass  Zögernng  nie  es 
Hemmet  und  hindert  und  wendet !  Wie  Gott  will,  wird  es  geendet! 
Ja,  es  besteht  in  dem  Reiche  der  ewigen  Schöpfung  das  gleiche 
Göttliche  Leben  und  Weben,  wovon  ich  geredet  soeben. 
-  Weisheit  ohne  Beginnen  und  Aufhören  waltet  darinnen: 
AUeB,  was  lebt  und  sich  reget,  von  sicherer  Ordnung  beweget, 
Jahre  und  Tage  und  Stunden  an  ew'ge  Gesetze  gebunden, 
Die  die  Ereignisse  leiten  und,  was  zu  verschiedenen  Zeiten 
Zu  sich  getragen,  verbinden !  Der  Mensch  kann  nimmer  sie  finden, 
Sondern  es  kennt  sie  nur  Einer,  dess  Rat  zu  erforschen  noch  Keiner, 
Der  bei  Vernunft,  unternommen,  da  nicht  es  gestattet  den  Frommen ! 
Alle  Gelehrten  bekennen  :   Wie  Licht  sich  und  Finsternis  trennen, 
Mangelnd  gemeinsamer  Baude,  so  bleibt  auch  dem  schärfsten  Ver- 
stände, 
Menschlichem  Sinnen  und  Sorgen,  des  Himmels  Geheimnis  verborgen. 


—    26 


xn. 


Also  aus  diesem  verborgenen  und  unerforschlichen  InbegrilT 
des  göttlichen  Geistes,  der  aller  Dinge  Gestaltung  umfasst, 
den  die  Zahl  weder  des  Sandes  am  Ufer,  noch  der  Tropfen  im 
Meer,  noch  der  Blätter  im  Walde  zu  täuschen  vermag,  geht 
alles  hervor,  was  in  der  Zeit  zu  geschehen  oder  einzutreffen 
pflegt,  und  zwar  auf  sicherem  Pfade  und  in  unabänderlichem 
Laufe.  Die  griechischen  Philosophen  lieben,  das  «Architypus», 
d.  h.  der  Dinge  Urbild,  zu  nennen,  Johannes  aber  in  seinem 
Evangelium  bezeichnet  es  als  das  aLeben}),  wenn  er  sagt: 
cWas  entstanden  ist,  hat  in  ihm  das  Leben,  und  das  Leben 
war  das  Licht  der  Menschen.:»  Wie  nämlich  in  dem  Geiste  des 
sterblichen  Menschen  jene  Dinge  gewissermassen  leben,  die  er 
in  der  Gegenwart  denkt,  mögen  sie  nun  schon  gegenwärtig 
sein  oder  erst  als  zukünftig  gehofft  werden,  so,  nur  noch  in 
viel  höherem  Grade,  leben  in  dem  göttlichen  Geiste,  den  die 
Griechen  vooc  nennen,  der  durch  und  durch  Leben  oder  viel- 
mehr das  Leben  selbst  ist,  der  nichts  nicht  wissen  oder  ver- 
gessen kann,  alle  Dinge,  ja  lebten  in  ihm,  schon  ehe  sie 
entstanden  waren,  mögen  sie  nun  später  noch  erschaffen  worden 
sein  oder  von  heute  an  bis  zum  jüngsten  Tag  noch  erschaffen 
werden.  Wenn  also  der  göttliche  Geist  die  Ideen,  d.i.  die 
Gestaltung  aller  Dinge,  auch  der  kleinsten,  in  sich  trägt,  um 
wie  viel  mehr  hat  er  dann  auch  von  Ewigkeit  her  dieses  so 
grosse,  so  neue,  so  wunderbare  Ereignis  umfasst,  von  dem  wir 
reden  wollen  I  Ja,  aus  einer  unabwendbaren  Fügung  Gottes 
(das  muss  man  glauben  I)  geschah  es,  dass  unser  Heer,  welches 
bald  nach  der  Einnahme  Z  aras  Alexandria  zu  erreichen  strebte, 
den  Vorsatz  änderte,  dem  mächtigen  Konstantinopel  den 
Krieg  erklärte,  mit  den  Schiffen  feindlich  an  den  griechischen 
Ufern  landete  und  nicht  weit  von  den  Mauern  der  Stadt  kampf- 
gerüstet sein  Lager  schlug.  —  Alexis,  der  unrechtmässige 
Herrscher,  der  seines  Bruders  Thron  geraubt  hatte,  zog  mit 
grosser  bewaffneter  Macht  den  Unsrigen  entgegen,  musste  aber 
nach  kurzem  Kampf  ihre  Tapferkeit  spüren  und  wendete  sich 
bald,  seiner  eigenen  Sache  und  der  Treue  der  Seinigen  miss- 
trauend, schimpflich  zur  Flucht! 

Scbwächling,  was  machst  dn  nun?    König,  des  Königtums  würdig 

so  wenig, 
Da,  der  Gesetze  Verrücker,  des  Rechtes  der  KÖn'ge  Bedrücker, 
Uns,  wie  den  künftigen  Zeiten  ein  Name,  der  frevelbereiten. 
Schändlichen  Mann  ankündigt,   was  machst   du   nun,   der  so   ge- 
sündigt ? 


—    27    — 

Das  ist  der  Name,  der  rechte,  für  dich:  «Alexis!»  ^  Das  Schlechte,. 
Dm   man  nicht   ans   kann  sprechen,   bedeutet   er,   schnödes  Ver- 
brechen, 
Ond  so  ermahnet  er  jeden,  von  dir  nicht  fürder  zn  reden. 
Wie  es  auch  billig  and  Fng  ist,  da  voll  du  von  List  und  Betrug  bist  f 
Keiner  von  uns  soll  kennen  so  teuflischen  Mann  und  ihn  nennen, 
Jeder  auch  künftig  sich  schämen,  dich  nur  auf  die  Lippen  zu  nehmen,. 
Dich,  der  den   Frevel  begangen,   den   eigenen  Bruder  zu  fangen. 
Blenden  ihn  liess  und  zum  Lohne  der  Schandthat  raubte  die  Krone  l 
Elender,  also  du  fliehest?  du  wendest  den  Rücken,  du  ziehest, 
Kaum  dass  den  Feind  du  gefunden,  zurück  dich,  von  Furcht  über- 
wunden ? 
Kaum  dass  den  Feind  du  gespüret,   bevor   dich  ein   Hieb  nur  be- 
rühret, 
Elender,  lässt  du  dich  schlagen  und  fahren  den  Thron  mit  Verzagen^ 
Da  dir  doch  jüngst  nicht  graute,  wie    Frevel  zum   Lohn  ihn  sich. 

baute? 

XIII. 

Durch  die  Flucht  des  Königs  wurden  die  Bürger  der 
mächtigen  Stadt  gewaltig  erschreckt.  Die  meisten  hatten  ihn 
wegen  seiner  Schandthaten  schon  vorher  nicht  sehr  geliebt^ 
and  da  gleichzeitig  Boten  des  jüngeren  Alexis  mit 
vielen  Versprechungen  und  Bitten  sie  bestürmten,  und  die 
Unsrigen  so  ganz  gegen  alles  Erwarten  die  Stadt  mit  Verderben 
bedrohten,  falls  man  nicht  den  rechtmässigen  Thronerben  al& 
König  annähme,  so  öffneten  die  Griechen  die  Thore  und  Hessen 
Alexis  mit  dem  ganzen  Herr  friedlich  in  die  Mauern.  Alsbald 
wurde  der  junge  Fürst  mit  den  königlichen  Gewändern 
geschmückt  und,  wie  sich  gebührte^  auf  den  Thron  gesetzt. 
Gütig  und  freigebig  Hess  er  auch  sofort  die  Hälfte  des  ver- 
sprochenen Geldes  unseren  Heerführern  auszahlen,  in  der  Hoff- 
nung, den  Rest  in  kürzester  Frist  folgen  lassen  zu  können. 
Deshalb  blieben  die  Unsrigen  noch  einige  Tage  in  der  Stadt, 
machten  von  der  Willfährigkeit  des  neuen  Königs  wie  der 
Bärger  nur  massig  Gebrauch  und  hüteten  sich  sorgfältig,, 
irgendwie  als  lästige  Gäste  empfunden  zu  werden.  Aber  die 
Stadt,  obwohl  gross  und  prächtig,  konnte  zwei  Völkern  mit 
so  verschiedenen  Sprachen  und  Sitten  und  ohne  rechte  gegen- 
seitige Zuneigung,  sowie  überhaupt  einer  so  grossen  Menge 
Menschen  und  Pferde  auf  die  Dauer  nicht  recht  genügen.  Man 
beschloss  darura^  sie  zu  verlassen,  auf  einem  weiten,  aus- 
gedehnten Felde  ein  Lager  zu  schlagen  und  dort  die  Erfüllung 


1  Alexis   =   äXexTOc :   unaussprechHch ;    was    man    nicht   aus- 
sprechen kann  oder  darf. 


—    28    — 

■des  königlichen  Versprechens  mit  mehr  Behagen  abzuwarten. 
Kaum  war  der  Auszug  erfolgt,  so  regte  sich  in  der  Stadt  der 
Anfang  heimlichen  Aufruhrs  gegen  den  König.  Die  Mehrzahl 
murrte,  dass  er  diese  Pilger,  landfremde  Leute,  so  ausser- 
ordentlich begünstige;  schon  habe  er  fast  das  ganze  Vermögen 
Griechenlands  an  sie  ausgeliefert  und  gedenke  nun,  noch 
einmal  ebenso  viel  oder  vielleicht  auch  noch  mehr  unter 
Beraubung  seines  Reiches  an  sie  zu  verschenken.  Als  zuletzt 
schier  alle  in  diese  Klage  einstimmten,  wagten  sie  es  sogar, 
den  König  öffentlich  zu  beschuldigen ;  es  sei  unstatthaft 
und  müsse  verhindert  werden,  dass  er  sein  Land  zum  Vorteil 
der  Fremden  beraube,  ja  den  Mangel  der  Seinigen  noch 
anderen  zur  Beute  gebe ;  vielmehr  sei  es  seine  Pflicht,  die 
Pilger  als  nach  fremdem  Gut  gierige  Eindringlinge  mit  ihnen 
zu  verfolgen  und  zu  verderben  !  Dieser  Aufruhr  erschreckte 
den  neuen  König  aufs  heftigste  teils  wegen  der  Treulosigkeit 
«einer  Bürger,  die  ihn  allerdings  nur  gezwungen  aufgenommen 
hatten,  teils  wegen  der  Liebe,  die  er  für  uns  hegte,  und 
wegen  des  Eides  betreffs  der  Auszahlung,  den  er  in  voller 
Aufrichtigkeit  geleistet  hatte.  Man  kann  sich  vorstellen,  wie 
schwer  und  ängstlich  ihm  zu  Mute  war  in  der  Mitte  gleich- 
kam zwischen  der  Niedertracht  der  Seinigen  und  der  Liebe  zu 
uns  und  dem  Dank  gegen  König  Philipp,  welchen  er 
schwer  zu  beleidigen  fürchtete,  falls  er  die  Unsrigen  täuschte 
oder  ihnen  ein  Leid  zufügte.  Weil  er  also  hierzu  nicht  leicht 
gebracht  werden  konnte,  so  legte  jener  M  u  r  c  i  f  1  o ,  von  dem 
oben  die  Rede  war,  der  schon  den  Vater  des  Alexis  geblendet 
und  ihn  selbst  in  den  Kerker  geworfen  hatte,  die  Hand  an 
1204  den  König,  erdrosselte  ihn  und  sagte,  dass  man  diesen 
Herrscher  aus  dem  Leben  geschafft,  sei  ein  kleineres  Uebel, 
als  wenn  durch  seine  Thorheit  das  Vermögen  von  ganz 
Griechenland  an  einige  Unbekannte  ausgehefert  würde.  Nach- 
dem so  Ale  xi  s  aus  dem  Wege  geräumt  war,  setzte  Mu  reif  lo, 
wie  ein  Prinz  von  Geblüt,  wie  ein  Verwandter  des  königlichen 
Hauses,  sich  selbst  den  Stirnreif  auf,  machte  sich,  kühn  und 
frech  zugleich,  auf  dem  Throne  breit  und  begann,  blutige 
Gedanken  zu  hegen.  Grausam  wollte  er  regieren  und  nament- 
lich die  Unsrigen  verderben.  Voll  Abscheu  vor  der  Gottlosigkeit 
dieses  Mannes  rufen  wir  unwillkürlich  aus  : 

0  des  Tyrannen !  0  Lag,  o  Wut  eines  neuen  Barbaren, 
Wie  ihn  der  Erdball  trug  noch  niemals  in  früheren  Jahren! 
Wo  ist  das  Volk  und  das  Land  und  die  Zeit,  die  Thaten  gesehen, 
Welche  vor  Gott  und  Verstand  als  verrucht  nur  können  bestehen  ? 
Wütet  so  grausam   ein   Tier   mit  dem  Bruder?  Wer   möchte  das 

glauben  ? 


—    29    — 

Wird  es  in  blutiger  Gier  grundlos  sein  Leben  ihm  rauben  ? 

Nein,  was  die  Griechen  gethan,   kein  Tier  mocht's   thun  an   den 

Seinen ! 
Weh  dem  abscheulichen  Mann,   der   Königen,    schuldlosen   reinen^ 
Brachte  Verderben  und  Not,  der  den  Vater  geblendet,  dem   Sohne 
Meuchlings   gegeben   den    Tod   und   so   nah  doch   gestanden  dem- 

Throne  I 
Aber  er  büsst  es  und  schwer !  Der  Tyrann  soll,  will  sich  gebühren,. 
Bald,  was  gesündiget  er,  an  dem  eigenen  Leibe  verspüren ! 
Schimpflich  gestossen  yom  Thron  wird  fahren  er  lassen  die  Beute, 
Allen  verhasst,  und  den  Hohn  nur  schmecken  der  eigenen  Leute  t 
Arm,  in  Verbannung  geschickt,  landflüchtig,  die  Augen  geblendet, 
Kummergebeugt  und  verzagt,  für  die  ünsern   ein  Schuft,  von  dem 

Sein'gen 
Ebenso  bitter  verklagt,   wird   Lachen  und  Schelten   ihn  pein'gen,^ 
Bis  in  gemeinsamem  Zorn  auf  den  Fels  ihn  sie  führen  und  zwingen 
Dort  mit   dem   Kopfe   nach   vorn   in  den  Tod  durch  die  Lüfte  zu 

springen ! 
Ja,  die  Gerechtigkeit  fand  hart  strafend  der  Sünder,  den  schweren  r 
Blutend  besudelt  den  Sand  sein  Leib,  den  die  Geier  verzehren ! 
Welche  so  grausam  geblickt,  —  wird  Spott  nur  nach  ihm  gesendet  t 

XIV. 

Als  nun  der  grausame  Mörder  nach  der  Erdrosselung  de& 
jungen  Fürsten  den  Thron  erstiegen,  befahl  er,  die  Nachricht 
von  seiner  Frevelthat  noch  einige  Zeit  hintanzuhalten  und  zu 
untei-drücken,  damit  sie  nicht  den  Unsrigen  im  Lager  draussea 
zu  Ohren  komme,  bevor  er  noch  eine  andere  Arglist  erprobt 
habe.  Fortwährend  schickte  er  nämlich  unter  dem  Namen  des 
Alexis  Boten  an  die  Fürsten  unseres  Heeres  mit  der  Einladung^ 
sie  möchten  doch  aus  dem  Lager  zu  ihm  kommen,  um  das- 
versprochene  Geld  und  noch  reichere  Geschenke  der  königlichen 
Freigebigkeit  in  Empfang  zu  nehmen.  Als  diese  das  hörten^ 
trafen  sie,  als  Männer  von  christlicher  Einfalt  und  keinerlei 
Betrug  ahnend,  eiligst  Anstalt,  in  die  Stadt  zu  gehen.  Fürch- 
teten sie  doch  nichts  weniger,  als  dass  der  neue  König,  den 
sie  selbst  erhoben  hatten,  schon  in  so  kurzer  Frist  aus  dem 
W^  geschafft,  sein  könnte  I  Es  war  aber  ein  sehr  kluger  Mann 
unter  ihnen,  der  Anführer  der  Venetianer,  blind,  doch  hell- 
sichtigen Geistes,  bei  dem  Kraft  des  Gemütes  und  Klugheit 
das  fehlende  Augenlicht  reichlich  ersetzten.  Die  anderen 
pflegten  ihn  immer  bei  bedenklichen  Dingen  sorgfaltigst  um 
Rat  zu  fragen  und  in  den  gemeinsamen  Angelegenheiten  nach 
seinen  Weisungen  vorzugehen.  Als  sie  ihn  nun  nach  ihrer 
Gewohnheit  auch  diesmal  befragten,  was  er  von  der  Sache 
halte,  riet  er  ihnen  ab,  sich  aus  Liebe  zum  Geld  der  Hinterlist 


—    30    — 

<ler  Griechen  preiszugeben.    Er  fürchte   sehr   (und  das  war  ja 
inzwischen  eingelroften  I)^  dass  der  junge  Alexis  von  seinen 
Landsleuten  schon  ermordet   worden    sei,  oder  dass  er,  durch 
:sie    verführt,    als    echter  Grieche,   im   Vereine  mit   ihnen  auf 
unser   Verderben  sinne.    Während   also  die  Fürsten   hierüber 
-eingehend  beratschlagten,  die  Gesandten  aus  der  Stadt  dagegen 
immer    dringender    sie   einluden,    kam    das   Gerücht  von  dem 
«Geschehenen  ins  Lager  und  erfüllte  das  ganze  Heer  mit  gewal- 
tigem Schrecken.    Sah  man  sich  doch  jetzt  recht  eigentlich  in 
Feindesland,  inmitten  eines  niedertrachtigen  Volkes   und   den 
Mann   aus   dem   Leben  gerissen,   den  man  soeben  mit  starker 
Hand   und   Furcht  verbreitend  als  König  eingesetzt  hatte,  der, 
-wenn  er  noch  lebte,  allein  den  Wahnsinn  der  Griechen  dämpfen 
und    den   Unsrigen  eine   kräftige   Stütze  sein   konnte,   der  sie 
«icher  und   wohlbehalten   aus   seinem  Reich  an  das  Ziel  ihrer 
Pilgerfahrt  zu   befördern   vermochte !    All   das   sahen   sie  jetzt 
vereitelt ;    von    dem    neuen    König    und    seinen    Unterthanen 
konnten   sie   mit   vollster  Gewissheit   nur  den   Tod  erwarten! 
Was  sollten  sie  nun  beginnen  ?  Was  konnten  die  Pilger  hoffen 
in  solcher  verzweifelten  Lage,   zumal  sie  nicht  den  geringsten 
Zufluchtsort  hatten,   um  auch  nur  für  eine  Stunde  von  einem 
feindlichen  AngrilT  sich  zu  erholen  ?  Sollten  sie  an  die  Griechen 
•den   Krieg  erklären  und  dadurch  versteckte  Feinde,  als  welche 
■sie   dieselben  längst  kannten,  zu  offener  Feindseligkeit  heraus- 
ibrdern?   Ach,    die   Zahl    der  Griechen  war  unermesslich  und 
konnte  noch  täglich  wachsen,  da  sie  im  eigenen    Lande  waren 
•und    alles   ihnen    reichlich    zu     Gebote    stand !    Die    Unsrigen 
•dagegen    waren   schwach   an  Zahl  und  ohne  Hilfsmittel  mitten 
•unter    Feinden,    von    denen    sie,    so    zu   sagen,    nur    erwarten 
konnten,    was   sie   ihnen    mit   der   Schärfe  des  Schwertes  aus 
•dem   Leibe    schnitten  !    Dazu   drückte   sie    noch  besonders  der 
<jedanke  nieder,  dass  das  versprochene  Geld  zum  grossen  Teil 
verloren   war  !    In   der  Hoffnung  auf  dasselbe  hatten  sie  ihren 
Abzug   verzögert   und   die  eigentliche  Kasse  des  Pilgerzuges  zu 
anderen   Zwecken  angegriffen.    Trotzdem   fassten  sie  den  Ent- 
^chluss   (und   das  schien  unter  solchen  Umständen  das  Beste), 
ihre  Furcht,   die  sie   doch  nicht  los  werden  konnten,  zu  ver- 
hehlen,   den  Feinden  mit  einer  Belagerung  zu  drohen  und  zur 
Rächung   des   erwürgten   Königs    die    Uebergabe  der  Stadt  zu 
verlangen   samt    allen    Bürgern    und    jenem    verabscheuungs- 
^ürdigen    Mörder,    auf    dass   sie   gedemütigt  werde  und  die 
Schuldigen    mit    dem    Tode    bestraft.      Durch    diese    trotzige 
Forderung  wurde   den    Griechen  ein  solcher  Schrecken  einge- 
jagt, dass  sie  sich  kaum  aus  ihren  Mauern  wagten,  namentlich 
aus  Angst   vor   unseren   Schleudermaschinen,    deren  Wirkung 


—    31    — 

ihnen  um  so  fürchterlicher  und  verderblicher  schien,  je  weniger 
sie  selbst  die  Handhabung  kannten.  Mittlerweile  hatten  die 
Unsrigen  ihren  Mut  gestärkt  und  waren  auf  beides  gefasst  : 
entweder  sich  zurückzuziehen,  wenn  sich  eine  ehrenvolle« 
geeignete  Gelegenheit  böte,  oder  die  Feinde  anzugreifen  und 
durch  sie  und  mit  ihnen  den  Tod  zu  erleiden,  falls  sie  doch 
es  wagten,  aus  ihren  Mauern  zum  iKampfe  auszufallen.  Denn 
auf  Sieg  über  eine  solche  Uebermacht  oder  auf  die  Erstürmung 
der  Stadt  durften  sie  nicht  hoffen ;  dazu  war  diese  zu  stark, 
und  andererseits  wuchs  die  Zahl  der  Feinde  tagtäglich  in 
unberechenbarem  Masse.  Aber  je  eifriger  unser  Heer  einen 
Zusammenstoss  wünschte,  um  mit  den  Feinden  den  Tod  zu 
finden,  desto  beharrlicher  scheuten  sich  diese,  den  Sieg  mit 
ihrem  Leben  zu  bezahlen,  zumal  sie  voraussahen,  '  dass  die 
Pilger  in  dem  feindlichen  Land  bald  Mangel  leiden  würden, 
während  sie  selbst  in  ihrer  Stadt  in  Ueberfluss   schwelgten. 

Höret,  nan  will  ich  euch  singen  von  nenen,  erstannlichen  Dingen; 

Bücher  der  Vorzeit  bringen  von  nirgends  ein  solches  Gelingen! 

Oder  wer  hätte  vernommen,  dass  viele  vor  wenigen  Frommen, 

Statt  ans  den  Mauern  zu  kommen,  sich  bargen,  von  Aengsten  be- 
klommen ? 

'Wenige  Tapfere  wagen  mit  tansenden,  ohne  zu  zagen. 

Sich  bis  zum  Tode  zu  schlagen,  um  Tod  in  die  Feinde  zu  tragen ! 

Furcht  mag  keinen  entfärben!  Im  Blutbad  wollen  sie  sterben, 

Bieten  die  Brust  dem  Verderben  und  Heil  nicht  fliehend  erwerben ! 

yfas  auch  das  Schicksal  beschlossen,  der  Kranz  muss  ihnen  doch 

sprossen, 

Wenn  für  das  Blut  der  Genossen  sie  griechisches  reichUch  ver- 
flossen ! 

Kann  sie  ein  Bangen  bethören  ?  0  nein,  fest  stehen  sie  und  schwören, 

Stürmend  die  Stadt  zu  zerstören,  obgleich  sie  dem  Tod  schon  ge- 
hören ! 

Hat  dann  der  Kampf  sich   entsponnen,    so  bleiben  sie  kühn  und 

besonnen, 

Selbst  wenn  zu  zweifeln  begonnen  das  Herz,  ob   die  Schlacht  sie 

gewonnen ! 

Tapferen  ist  es  ja  eigen,  wenn  auf  die  Besorgnisse  steigen, 

Heimliche  Furcht  zu  verschweigen  und  fröhliche  Mienen  zu  zeigen ! 

Oft  dann  wird  es  geschehen,  dass  wunderbar,  kaum  zu  verstehen. 

Wieder  das  Glück  aufgehen  die  ganz  schon  Verzweifelten   sehen! 

So  isf  s  hier  auch  gekommen :  denn  just  als  die  Hoffnung  ver- 
glommen, 

Hat  das  Geschick  für   die   Frommen   noch  günstige  Wendung  ge- 

nonunen. 


—    32    — 


XV. 


Unser  Heer  hatte  sich  also,  wie  gesagt,  vor  der  königlichen 
Hauptstadt  gelagert,  aber  ohne  auch  nur  einen  Schimmer  von 
Hoffnung,  sie  einzunehmen.  Zahllose  Burger  virohnten  in  ihr, 
und  an  allen  Schätzen  herrschte  Ueberfluss.  Zudem  war  sie  so 
stark  befestigt,  dass  sie  schon  von  einer  handvoll  Leute  gegen 
zahlreiche  Feinde  verteidigt  werden  konnte.  Die  Stadt  bildet 
nämlich  ein  Dreieck,  wie  diejenigen  versichern,  die  sie  gesehen 
haben.  Jede  Seite  ist  eine  Meile  lanj?.  Nach  dem  Lande  zu  ist 
sie  von  einem  mächtigen  Wall  und  einer  dreifachen  festen 
Mauer  umschlossen;  rings  herum  entragen  derselben  starke 
Türme,  die  so  nahe  beisammen  liegen,  dass  ein  siebenjähriger 
Knabe  von  einem  Turm  zum  andern  einen  Apfel  werfen  kann. 
Die  Bauart  der  Gebäude  im  Innern  der  Stadt  aber,  nämlich  an 
den  Kirchen,  den  Türmen  und  den  Häusern  der  VornehmeD 
kann  kaum  ein  Mensch  beschreiben,  und  wer  sie  beschriebe^ 
würde  nicht  Glauben  finden.  Das  muss  man  mit  eigenen  Augen 
gesehen  haben !  Auf  der  Seeseite,  da  wo  der  Hellespont,  der 
Asien  von  Europa  trennt,  die  Stadt  bespült  und  an  einigen 
Stellen  so  schmal  wird,  dass  der  Blick  von  Ufer  zu  Ufer  reicht, 
auf  der  Seeseite,  sage  ich,  wo  wegen  des  belebten  Hafens,  der 
zu  den  sichersten  und  berühmtesten  gehört,  kein  Wall  her- 
gestellt werden  konnte,  sind  die  Mauern  von  ganz  erstaunlicher 
Dicke,  imd  die  Türme,  dicht  nebeneinander,  in  einer  Höhe 
aufgeführt,  dass  jedermann  davor  zurückschreckt«  den  Blick 
nach  ihrer  Spitze  zu  erheben !  Aber  nicht  von  Anfang  an  hatte 
die  Stadt  die  gegenwärtige  Festigkeit  und  Schönheit.  Vor  Altei^ 
war  sie  wie  alle  anderen  Städte  und  hiess  mit  ihrem  griechi- 
schen Namen  Byzanz,  weshalb  auch  die  Goldmünzen,  welche 
man  dort  zu  schlagen  pflegte,  heutzutage  Byzanzer  genannt 
werden.  Erst  später  gelangte  sie  zu  der  jetzigen  Pracht  und 
Herrlichkeit,  und  zwar  aus  Anlass  eines  Gesichtes  im  Königs- 
schloss,  wovon  wir  noch  sprechen  werden.  Obschon  dieses  Ge- 
sicht nur  kurz  währte  und  unbedeutend  scheint,  war  es  doch, 
wie  die  Folge  zeigte,  der  Vorbote  einer  wichtigen  Sache.  Wie 
nämlich  zuweilen  kleine  Ereignisse  durch  grosse  Gesichte  an- 
gedeutet  werden  (man  denke  nur  an  den  Traum  Josephs,  wo 
die  Sonne,  der  Mond  und  elf  Sterne  seinen  Vater,  seine  Mutter 
und  die  elf  Brüder  bezeichnen),  so  finden  wir  auch  manchmal 
durch  unbedeutende  Gesichte  grosse  und  wichtige  Dinge  ange- 
deutet, wie  bei  dem  Gesichte  Daniels,  wo,  wie  wir  lesen,  durch 
einige  Tiere  die  mächtigsten  Weltreiche  dargestellt  werden. 
Deshalb  täuschen  sich  auch  diejenigen,  welche  glauben,    es  sei 


—    33    — 

kein  Unterschied  unter  den  Erscheinungen,  die  sie  im  Schlafe 
zu  sehen  meinen,  all  das  sei  Blendwerk  und  enthalte  nicht  das 
mindeste  Geheimnis. 

Glaube  mir:  häufig  enthalten  im  Schlammer  geschante   Gestalten 
Wahres  far  künftige  Zeiten.  Das  soll  kein  Mensch  mir  bestreiten ! 
Wahres  verkünden  die  Tränme ;  nicht  jedesmal  nennen  wir  Schäume, 
Was  wir,  yom  Schlaf  überwunden,  im  Bild  so  deutlich  empfunden. 
Joseph  mag  es  bezeugen  :  der  Traum,  wo  die  Garben  sich  beugen, 
Ob  man  in  Blut  eintauchte  das  Kleid  und  die  Lüge  gebrauchte, 
Dass  er  Ton  Tieren  zerrissen,  erfüllte  sich  doch,  wie  wir  vrissen ! 
Er,  der  die  fruchtbaren  Tage,  wie  Hunger  und  Teuerungsplage 
unter  den  « sieben >  Aehren  voraussah,  kann  es  bewähren! 
Nebukadnezar  desgleichen,  erkennend  die  Träume  für  Zeichen 
Seines  Verderbens   und  zagend  um  Deutung  den  Daniel  fragend, 
Kann  es  lebendig  bezeugen.  Den  Gott,  dem  die  Himmel  sich  beugen, 
Den   er   verachtet,    bekannte   der   Knecht  nun,    an  den   er  sich 

wandte!  — 
Schreitet  die  Nacht  auf  den  Wegen,  so  tritt  manch  Bild  uns  ent- 
gegen. 
Schauen  im  Traum  wir  Gestalten,  die  tief  aus  dem  Blut  uns  ent- 
wallten. 
Manchmal  sind  es  nur  wilde,  verworren  gedachte  Gebilde, 
Welche  Phantasmen  benennen  die  Griechen ;  doch  wo  zu  erkennen 
Mehr  als  luftige  Schäume,  da  heisst  man  Gesichte  die  Träume. 
Solchergestalt  ist  gewesen  das  Bild  auch,  von  dem  ich  gelesen 
Oft  mit  bedächtigen  Mienen,  dass  einst  es   dem  König  erschienen. 

XVI. 

Jenes  Gesicht  also,  das,  yfie  gesagt,  den  Anlass  zu  der  Schön- 
heit und  dem  Ruhme  dieser  Stadt  gegeben  hat,  wird  auf 
folgende  Weise  erzählt  und  auch  in  Büchern  geschildert: 
Konstantin,  der  Kaiser  der  Griechen  und  Romer,  über- 
liess  nach  der  berühmten  Schenkung,  durch  welche  er  zum 
Dank  für  die  wunderbare  Wiederherstellung  seiner  Gesundheit 
und  die  Vertreibung  des  Aussatzes,  Christum  selbst  als  seinen 
Helfer  und  Heiland,  und  die  beiden  seligen  Apostel  Petrus  und 
Paulus  sowie  den  damals  regierenden  Papst  Sylvester,  ja 
die  ganze  christliche  Kirche  königlich  geehrt  hatte,  seine 
bisherige  Hauptstadt  Rom  dem  heiligen  Petrus,  zog  nach 
Griechenland  und  erwählte  vor  allen  anderen  Städten  Byzanz 
zu  seinem  Wohnsitze.  Als  er  nun  dort  eines  Nachts  auf 
seinem  königlichen  Lager  schlafend  ruhte,  sah  er  im  Traume 
eine  uralte  tote  Frauengestalt  und  den  heiligen  Papst  Sylvester, 
welcher  zu  ihm  sagte:  «Du  kannst  und  sollst  sie  ins  Leben 
zurückrufen!»    Der  Kaiser  folgte  dem  Wort,  erweckte  sie,  und 

3 


ft^i"''  -1  ^  ^     1 


—    JM    — 

sah  eine  ^wunderschöne  Jungfrau  vor  sich,  deren  keuscher  Lieb- 
reiz seinen  Augen  so  wohlgeGel,  dass  er  ihr  ein  königlich  Ge- 
wand anlt^gte  und  auf  ihr  Haupt  seinen  Slirnreif  setzte.  In 
diesem  Augenblicke  erschien  auch  seine  Mutter  Helena  und 
sprach  zu  ihm :  cDiese  Jungfrau,  mein  Sohn,  wirst  du  als  Ge* 
mahlin  besitzen  bis  an  das  Ende  der  Zeiten,  und  ihre  Schönheit 
wird  nicht  aufhören  h  —  Der  Kaiser  erzählte  dieses  Gesicht 
verschiedenen  Personen,  und  da  ihm  der  eine  diese,  der  an- 
dere jene  Auslegung  gab,  so  beschloss  er,  ununterbrochen  zu 
fasten,  bis  ihm  Christus  durch  seinen  Knecht  Sylvester  die  Be- 
deutung erklären  würde.  Als  er  nun  sieben  Tage  gefastet  hatte^ 
erschien  ihm  in  der  siebenten  Nacht  der  heilige  Sylvester  im 
Traum  und  sagte :  cDie  alte  Frau,  die  du  geschaut  hast,  ist 
diese  Stadt,  welche,  heruntergekommen  und  gleichsam  schon 
tot  vor  Alter,  durch  dich  zu  solcher  Pracht  erneuert  werden 
soll,  dass  sie  die  Königin  aller  Städte  Griechenlands  genannt 
wird.»  Der  König,  durch  dieses  Gesicht  mehr  erfreut  als  er- 
schreckt, rief  sofort  aus  dem  ganzen  Lande  Maurer  und  Zimmer- 
leute herbei,  welche  die  Stadt  vergrössern,  mit  Mauern  und 
Türmen  befestigen  und  mit  Kirchen  und  anderen  Gebäuden 
ausschmücken  mussten ,  bis  sie  sich  zu  der  gegenwärtigen 
Schönheit  verjüngt  hatte,  und,  wie  man  sagt,  Rom  ähnlich  ge- 
worden war.  Deshalb  ist  die  Stadt  auch  zuweilen  ein  zweites 
Rom  genannt  worden,  und  das  umliegende  Land  heisst  heute 
noch  Romania.  Damit  aber  auch  nicht  die  geringste  Spur  von 
Alter  zurückbleibe,  liess  der  Kaiser  den  früheren  Namen,  der 
die  Leute  an  den  ehemaligen  niederen  Zustand  erinnern  konnte, 
gänzlich  unterdrücken  und  ordnete  an,  dass  sie  K 6  n  s  t  a  n  t  i  no- 
polis  heisse,  nach  seinem  eigenen  Namen  und  dem  griechi- 
schen Worte  «polis)»,  welches  Stadt  bedeutet.  —  Diese  Stadt  also 
belagerten  die  Unsrigen,  wie  gesagt,  von  der  Landseite,  mehr 
freilich  durch  die  Umstände  dazu  gedrängt  (denn  sie  durften 
ja  aus  den  mitgeteilten  Ursachen  nichts  anderes  zu  thun  wagen) 
als  in  der  Hoffnung  auf  einen  siegreichen  Ausgang,  zumal  die 
Stadt  für  uneinnehmbar  galt.  Und  als  sie  auf  der  Landseite 
1204  keinen  oder  nur  geringen  Erfolg  hatten,  entschlossen  sie  sich, 
auf  der  anderen,  der  Seeseite,  nicht  sowohl  das  Glück  als 
vielmehr  unter  grosser  Gefahr  die  Macht  göttlicher  Hilfe  zu 
erproben,  ohne  welche,  wie  sie  wussten,  doch  nichts  vollbracht 
werden  konnte.  Sie  stiegen  also  auf  ihre  Schiffe,  gaben  sich 
zum  Schrecken  der  Feinde  den  Anschein  zornigen  Ungestüms, 
setzten  über  die  Meerenge,  nahmen  heldenmütig  am  Ufer  der 
Stadt  gegenüber  Stellung  und  begannen  eingehend  zu  beraten, 
wie  nun  nach  dieser  Aenderung  des  ursprunglichen  Planes  die 
Sache  zum  Tod  oder  zum  Sieg  hinauszuführen  sei. 


—    35    — 

Aber  was  than?  wo  finden  sie  Bat,  wo  greifbare  Ziele? 
Baben  sie  Macht,  und  zu  hoifen  ein  Becht  selbst  nur  auf  den  Zufall, 
Sie,  die  an  Zahl  so  gering,  ein  Häuflein  wehrloser  Pilger, 
Fussvolk  meistens,  ein  Heer,  das  weder  mit  Helmen  bewal&iet, 
l^och  mit  Panzer  und  Schild,  das  alles  entbehrt,  was  der  Krieger 
Braucht,  wenn  er  Städte  bestftrmt,   um  das  Steinegeschleuder  Yon 

oben 
Und  der  Geschosse  Gewitter  mit  kräftigem  Arm  zu  empfangen 
Und  zu  verscheuchen  den  Tod,  so  oft  im  Gesphoss  er  herabsanst? 
ZahUose  Schiffe  dagegen  am  starken,  befestigten  Ufer, 
Beichlich  bemannt  mit  tapfren  Matrosen  und  griechischen  Truppen, 
Sehen  sie  vor  sich,  bereit,  auf  der  See  zu  bedrohen  die  Pilger ! 
Hoch  auf  den  Zinnen  der  Türme,  dem  Bande  der  ragenden  Mauer 
Stehen  die  Bürger   in   Haufen,    die  Hände  gerüstet,   um  herzhaft 
Steine  herunter  zu  werfen  und  Balken  und  Lanzen  und  Pfeile, 
Oder  die  Schiffe  des  Feinds  zu  verbrennen  mit  griechischem  Feuert 
Gegen  so  viele  Gefahren  des  Todes  vermochten  die  Unsren 
Nirgends  sich  recht  zu  behaupten,  nachdem  sie  verlassen  das  Fest- 
land; 
BuheloB  stets  auf  schwankendem  Kiel  von  den  Fluten  geschaukelt, 
Konnten  sie  auch  die  Belagerungsgeräte,  die  Schleudermaschinen 
Nicht  aufstellen  und  bringen  in  Gang  auf  sicherem  Boden. 

xvu. 

Aus  den  zahllosen  feindlichen  Schiffen  brachen  von  Zeit 
zu  Zeit  einige  besonders  leichte  und  schnelle  hervor,  um  die 
Unsrigen  zu  reizen  und  ihre  Tapferkeit  durch  solch  plötzlichen 
Ueberfall  auf  die  Probe  zu  stellen.  Aber  man  fuhr  ihnen  ent- 
gegen und  trieb  sie  mit  Spiessen  und  Pfeilen  und  namentlich 
durch  den  Schreck  der  Wurfmaschinen  ohne  grosse  Mühe 
zurück«  Da  fragten  die  Unseren  wieder  jenen  blinden,  aber 
scharfsichtigen  Mann,  den  oben  erwähnten  Anführer  der  Vene- 
tianer,  um  seine  Meinung  und  erhielten  von  ihm  den  Rat,  auf 
jedem  ScfaiiT  in  der  Nähe  des  Mastes  noch  andere  hohe,  starke 
Bäume  aufzurichten,  sie  fest  in  den  Schüfsrumpf  einzufügen 
und  dann  mit  dem  Mastbaum  selbst  und  unter  sich  durch 
Taue  stark  zu  verbinden,  dass  sie  ihnen  gewissermassen  wie 
Holztürme,  wie  Schanzwerke  zum  Schutze  dienten.  An  diesen 
Bäumen,  die  in  einer  gewissen  Entfernung  von  einander  auf- 
zustellen seien,  sollten  sie  dann  auch  eine  Art  von  Stufen  an- 
bringen, auf  denen  je  vier  oder  sechs  beherzte  Männer  zur 
Verteidigung  der  Schiffe  imd  um  die  Femde  von  oben  herab 
zu  bekämpfen,  schnell  auf-  und  absteigen  könnten.  Das  geschah 
denn  nun  auch,  und  jene  Türme,  oder,  wenn  du  lieber  willst, 
jene  Treppen  wurden  in  einer  Höhe  ausgeführt,  dass  sie  zum 
grössten  Teil  alle  Türme  und  Vorrichtungen  der  Griechen  über- 


—    36    — 

ragten.  Auch  befestigte  man  sie  und  die  Schiffe  auf  allen  Seiten 
mit  solcher  Kunst,   dass  die  Unsrigen   fortan  weder  Geschosse 
noch    Steine,    weder    das    gewöhnliche    noch    das    sogenannte 
griechische  Feuer  zu  furchten  hatten.    Nachdem  sie  die  Schifie 
so  ausgerüstet,    fuhren   sie  näher  an  die  Stadt   heran  und  be- 
schlossen, zunächst  in  der  Eroberung  des  Hafens  und  der  feind- 
lichen Flotte  die  Gunst  Gottes  zu  erproben,  damit  sie  sich,  auf 
dieser  Seite  einmal  erst  gesichert,  desto  getroster   und  leichter 
an  den  Sturm   auf  die  Mauern   und  Türme   machen    könnten. 
Dieser  Hafen  war  aber  an  sich  schon  ein   sicherer  Zufluchtsort 
und  überdies  noch  durch  eiserne  Ketten  von  ausserordentlicher 
Grösse  abgesperrt,  die  von  einem  Ende  zum  andern  liefen  und 
samtliche    Schiffe   sozusagen    unter    gemeinsamem    Verschluss 
hielten.    Die   Unsrigen   durchbrachen  diese  Ketten    mit   vieler 
Mühe;  die   Griechen  aber  ergriff,    namentlich  vor   den  Wurf- 
maschinen, die  sie  nicht  aushalten  konnten,  ein  solcher  Schreck, 
dass   sie    flohen   und   ihre  Schiffe   den    Siegern  zurückliessen, 
welche  dieselben  natürlich   sofort  als  willkommene  Kjriegsbeute 
in  eigenen  Gebrauch  nahmen.     Dann   wurden  die  Turmschiffe 
so  weit  als  möglich  an  die  Mauer  herangebracht,  und  während 
schon  etliche  Tapfere  auf  Leitern  hinaufkletterten,  verkündeten 
Heroldsrufe,    dass,   wer   zuerst  die   feindliche  Mauer  ersteige, 
100  Mark  als  Siegerlohn  erhalten  sollte.  0,  wie  eifrig  begehrten 
da   alle,    was   doch    nur  einem  zu  teil  werden   konnte,    nicht 
sowohl  aus  Verlangen  nach   dem  verheissenen   Gelde,  als  zur 
Ehre  Gottes,  zum  Nutzen  der  gemeinsamen  Sache,  zum  Gewinn 
des  begonnenen  Werkes  I    Während  die   einen   schon  auf  den 
obersten  Sprossen  standen  und  dort  sich  behaupteten,  kletterten 
die  anderen  so  hastig  nach,  als  wollten  sie  die  obersten  mitten 
unter   die  Feinde   treiben   und  selbst  ihnen  nachstürzen!    Und 
nun   kriegen  sie  von  oben   den  Feind   unter  sich   und    über- 
schütten ihn  mit  einem  furchtbaren  Hagel  von  Lanzen,  Wurf- 
spiessen  und  Pfeilen,  so  dass  er  von  Unruhe  und  Schreck  nicht 
weisS;  was  dagegen  anfangen,  und  in  grosse  Bedrängnis  gerät* 
Die  Furcht  vor  den  Wurfmaschinen    und   das   Ungestüm    der 
Angreifer  lähmte  die  meisten  förmlich,  zumal   dies  Volk  schon 
von    Natur  feig  ist!  Und    als  nun   einer   sich   zeigte,    der   als 
erster  auf  die  Mauer  sprang,  als  andere  blitzschnell  ihm  folgten, 
da  fasste  die  Bürger  unaufhaltsam  bleiches  Entsetzen !     Schon 
sehen  sie  den  Feind   in    ihren  Reihen,   laufen  allenthalben  die 
Mauer  entlang  auseinander  und  stürzen  in  wilder  Flucht  davon, 
als  ob  sie  nach   dem  Verlust   der  Mauern  in  ihrer   Stadt,    die 
sie  unter  dem  Schutz  derselben  nicht  hatten  verteidigen  können, 
noch  Sicherheit  zu  finden  vermöchten !  Die  Unsrigen  aber  ver- 
teilten sich  rasch  auf  die  Mauer  und  machten  sich  an  die  Be- 


—    37    — 

Setzung  der  Türme.  Schon  waren  ihrer  fünfzehn  oder  mehr 
eingedrungen,  als  die  Feinde  gleichsam  Atem  schöpften  und 
teils  von  Scham,  teils  von  der  augenscheinlichen  Gefahr  ange- 
spornt, wieder  einigen  Mut  zu  fassen  hegannen.  Sie  ermunterten 
sich  gegenseitig  und  drangen  zugleich  mit  Greschrei  und  einem 
Hagel  von  Geschossen  aller  Art  auf  die  Stürmenden  ein.  Das 
ersah  ein  deutscher  Graf  und  gab  sofort  den  Befehl,  die  Stadt 
auf  einer  Seite  in  Brand  zu  stecken,  damit  die  Griechen  unter 
der  doppelten  Bedrängnis  des  Kampfes  und  der  Feuersbrunst 
leichter  überwältigt  würden.  Das  geschah  und  that  seine  Wir- 
kung. Durch  die  Klugheit  dieses  Mannes  besiegt,  wandte  sich 
der  Feind  jetzt  völlig  zur  Flucht,  während  diejenigen  der  Un- 
seren, welche  schon  innerhalb  der  Mauern  Fuss  gefasst  hatten, 
die  von  den  Griechen  durch  Steine  und  Gebälk  sorgfältig  ver- 
rammelten Thore  frei  machten,  sie  aufschlugen  oder  aufbrachen 
und  so  den  noch  auf  den  SchiiTen  befindlichen  Gefährten  den 
ersehnten  Zugang  eröffneten.  Das  geschah  am  Palmsonntag;  12.  April 
Gott  hatte  es  so  gefügt:  das  Heer  Christi  sollte  siegreich  in 
die  treulose  Stadt  eindringen  just  an  dem  Tage,  an  welchem 
Christus  zum  Triumph  seines  Leidens  in  die  heilige  Stadt 
Einzug  gehalten. 

Dringet  hinein,  ihr  heisst  jetzt  Christi  heilige  Streiter, 
Dringet  hinein  in  die  Stadt,  die  Christas  gegeben  dem  Sieger! 
Malt  ench  Christam  vor  Angen,  den  König  des  Friedens,  der  heute 
Fröhlichen  Blickes  voran  euch  zieht,  sein  Eselein  reitend; 
Ihr  schlagt  Christi  Kriege,  vollendet,  was  Christas  als  Richter 
Strafend  verhangt,  and  es  schwebt  sein  Wille  vor   eueren  Waffen! 
Dringet  hinein  mit  Drohen  auf  die  Feigen,  und  treibt  sie  zu  Paaren, 
Donnert  den  Schlachtruf,  schwinget  das  Schwert,   doch  kargt  mit 

dem  Blute! 
Stürzt  sie  in  Angst,  doch  denket  dabei,  dass  Bruder  es  seien, 
Die  ihr  bedrängt,   obgleich  sie^s  verdient  durch  lange  Verschal- 
dang! 

Each  will  Christas  begaben  mit  ihren,  der  Schuldigen,  Gütern, 
Dass  kein  heidnisches  Volk  im  Triumph  sie  künftig  beraube ! 
Siehe,  Geb&ade  mit  strotzenden  Kammern,  sie   stehen   euch  offen; 
Manch  uralter  Besitz  wird  neue  Besitzer  bekommen. 
Aber  bezähmt  einstweilen  den  Sinn  und  zugelt  die  Hände, 
Schiebet    die    Stande     hinaus   and   verschmäht  jetzt    Beate    zu 

machen ! 
Stürzt  in  den   zagenden  Feind    und   bedrängt  die   Geschlagenen 

furchtbar, 
Lasst  sie  zu  Atem  nicht  kommen,  nicht  wiederum  Kräfte  gewinnen ! 
Erst  wenn  ganz  aus  der  Stadt  ihr  verjagt  habt  sämtliche  Feinde 
Wird  für  die  Beute  dem  Sieger  erscheinen  die  richtige  Stande ! 


—    38    — 

XVIII. 

So  standen  also  die  Thore  offen,  und  von  den  Schiffen  drangen 
die  Unseren  herein  mit  lautem  Freudengeschrei!  Welch  ein 
Schreck  für  die  Feinde,  als  ihnen  nun  Lanzen,  Schwerter,  Wurf- 
maschinen, Pfeile  und  Geschosse  jeder  Art  Tod  und  Verderben 
zu  bringen  schienen,  während  die  Pilger  im  Grund  gar  nicht 
die  Absicht  hatten,  blindlings  Blut  zu  vergiessen.  Trieben  sie 
doch  das  Volk  wie  zerstreute  Schafe  durch  alle  Strassen  der 
Stadt  vor  sich  her !  In  solcher  Masse  floh  es,  dass  selbst  die 
grosse  Breite  der  Strassen  kaum  ausreichte,  den  Flüchtigen 
Raum  zu  gewähren.  Furchtbar  und  ungestüm  war  der  Feind 
auf  ihren  Fersen ;  er  Hess  sie  weder  Atem  holen,  noch  einen 
Blick  zurückwerfen  I  Aber  obgleich  die  Unseren  den  Feinden 
eine  Niederlage  bereiteten,  grosser,  als  sie  jemals  zu  hoffen 
gewagt,  fielen  von  ihnen  selbst  doch  nur  sehr  wenige.  Auch 
übten  sie  möglichste  Schonung  im  Kampf,  da  sie  ja  von  den 
Greistlichen  im  Kreuzheer,  von  Martinus  nämlich  und  den 
anderen,  häufig  ermahnt  worden  waren,  ihre  Hände,  soweit  es 
angehe,  von  Blutvergiessen  fern  zu  halten.  Gleichwohl  blieben 
an  diesem  Tag  etwa  2000  Bürger,  aber  nicht  durch  das  Schwert 
der  Unseren,  sondern  durch  eine  Anzahl  Franzosen,  Italiener^ 
Venetianer,  Deutsche  und  Leute  anderer  Nationen,  welche 
vorher  in  der  Stadt  gewohnt,  aber  in  der  Zeit  der  Belagerung 
als  des  Verrates  verdächtig  ausgewiesen  worden  waren  und 
sich  den  Unsrigen  angeschlossen  hatten.  Diese  gedachten  der 
ihnen  widerfahrenen  Unbill  und  nahmen  an  den  Griechen 
grausame,  fürchterhche  Rache !  Von  den  Unsrigen  ist  über- 
haupt eigentlich  nur  ein  Mann  gefallen,  ein  berühmter  Ritter 
von  edelstem  Blut,  der  die  Feinde  zu  hitzig  verfolgte,  dabei 
unvorsichtigerweise  mit  seinem  Rosse  in  eine  Grube  stürzte 
und  von  allen  Gefährten  mitten  in  der  Siegesfreude  herzlichst 
bedauert  wurde.  Als  nun  die  Feinde  sämtlich  besiegt  und 
elendiglich  aus  der  ganzen  Stadt  vertrieben  waien,  wurden  die 
Thore  wieder  sorgfaltig  geschlossen,  und  jetzt  erst  erlaubten 
sich  die  Sieger  nach  Beute  zu  schauen.  Es  war  ihnen  nämlich 
bei  Todesstrafe  verboten  gewesen,  ehe  der  Sieg  völlig  gesichert 
sei,  an  Beute  zu  denken.  Da  fanden  sie  nun  bei  jedem  Schritt 
Gold-  und  Silbergeld  in  Haufen,  einen  blinkenden  Schatz  von 
Edelsteinen  und  Gewändern,  einen  Ueberfluss  an  kostbaren 
Waren,  eine  Fülle  von  Nahrungsmitteln  und  so  herrliche,  mit 
allem  Wohlleben  ausgestattete  Häuser,  dass  sie  mit  einem  Schlag 
aus  armen  Ankömmlingen  reiche  Bürger  wurden !  Inzwischen 
aber  hatte  die  Feuersbrunst  fast  ein  Drittel  der  Stadt  verwüstet, 
da  Einwohner  wie  Fremde,   durch   nähere   Gefahr   beschäftigt,. 


—    39    — 

an  das  Loschen  der  ungehindert  um  sich  greifenden  Flammen 
nicht  hatten  denken  können.  Weiber  und  Kinder  und  gebrech- 
liche Greise,  welche,  unfähig  zur  Flucht,  in  der  Stadt  zurück- 
geblieben waren,  legten,  wo  sie  die  Unsrigen  trafen,  zwei 
Finger  in  Kreuzform  und  sangen  dazu  ganz  kläglich :  « Aiios 
phasileos  marchio!»  d.  h.  «heiliger  König  und  Markgraf.»  Sie 
thaten  das,  weil  die  Griechen  von  den  Unsrigen  den  Mark- 
^fen  noch  am  meisten  kannten  und  ihn  deshalb  für  den 
höchsten  Fürsten  hielten,  der  ohne  Zweifel  der  künftige  König 
der  eroberten  Stadt  sein  werde.  Aber  Gott  hatte  es  anders  be- 
.schlossen. 

Hier  mag  klar  man  erkennen,  dass  Glück  ein  Spiel  nur  zu  nennen ; 
Wertlos  sind  nnd  geringe  dem  Schicksal  menschliche  Dinge ! 
Nichts  kann  bleiben  ja;  schnelle  verändert  noch  immer  die  Stelle 
Irdischen  Glückstems  Prangen,  nach  dem  wir  geschaut  mit  Ver- 
langen ! 
Wen  in  die  Höhe  geschnellet  das  Glück,  wird  wieder  zerschellet; 
Hente  zermalmt  ihn  der  Wagen,  der  gestern   noch   stolz   ihn   ge> 

tragen ! 
Diesen  ans  ärmlichem  Leben  zn  Reichtum  wird  es  erheben, 
Jenen  aus  schimmernden  Schätzen  in  dürftige  Lage  versetzen! 
Weder  die  Furcht  wirds  quälen,  in  Willkür  immer  zu  fehlen, 
Noch  ein  erbarmend  Bedenken,  was  mein  i^t,  dir  zu  verschenken !  — 
Barren  des  gelben  Metalles  (das  Galliern  geht  über  alles!), 
Silber  der  Ahnen,  verstecktes,  vom  Blut  der  Verteidiger  beflecktes, 
Musste  dereinst  den  Argivem  das  glänzende  Ilium  liefern, 
Als  es  von  ihnen  geschlagen,  und  all  das  wurde  getragen 
Dann  nach  B  y  z  a  n  z ,  aus  der  alten  die  stolzere  Stadt  zu  entfalten 
Mit  dem  veränderten  Namen,  dem  bessere  Schicksale  kamen. 
Hellas,  das  reiche,  bescheerte  die  Bürger  ihr,  weithin  geehrte, 
Und  die  gesammelte  Beute  des  Ruhmes  von  früher  und  heute : 
Schätze,  geraubet  dem  Mute  der  Troer,  bespritzt  noch  vom  Blute, 
Alles  (wer  kann  es  ermessen?),  was  Köstliches  Friam  besessen. 
Alte  Gefässe  von  Golde,  von  Silber,   so  schwer  man  es  wollte, 
Perlen  nnd  herrlich  Geschmeide  und  Kleider  von  Sammet  und  Seide ! 
Sehet,  so  hat,  wie  ich  glaube,  bereichert  mit  zahllosem  Raube 
Konstantinopel  vor  Zeiten  der  Herr,  um  geheim  zu  bereiten, 
Dass  einst  fröhliche  Sieger,  auf  ihn  nur  trauende  Krieger, 
Dorten  den  Raubschatz  fänden,  gesammelt  von  früheren  Händen. 
Zukunftsmächtig  in  Stille  regiei*t  so  der  göttliche  Wille; 
Gott  hat  alles  versehen ;  wie  Er  will,  muss  es  geschehen. 

XIX. 

Während  nun  die  Sieger  die  eroberte  Stadt,  die  sie  nach 
Kriegsrecht  jetzt  als  ihr  Eigentum  betrachten  konnten,  fröhlich 
plünderten,  fing  auch  der  Abt  Martinus  an  seine  Beute  zu 
denken  an  und  beschloss,  um  nicht  leer  auszugehen,   ^o    sich 


—    40    — 

alle  anderen  bereicherten,  seine  geweihten  Hände  gleichfalls 
nach  Raub  auszustrecken.  Dabei  hielt  er  es  aber  für  unwürdig, 
mit  solchen  Händen  gemeine,  weltliche  Beute  zu  berühren,  und 
richtete  deshalb  sein  Augenmerk  darauf,  einen  Teil  von  Re- 
liquien  der  Heiligen  zusammenzubringen,  wovon,  wie  er 
wusste,  in  der  Stadt  eine  grosse  Menge  vorhanden  war.  Von 
einem  seiner  beiden  Kaplane  begleitet,  schritt  er  in  der  Vor- 
ahnung grosser  Dinge  auf  eine  Kirche  zu,  die  in  besonderer 
Verehrung  stand,  weil  die  Mutter  des  berühmten  Kaisers 
E  m  a  n  u  e  1  ihre  fürstliche  Gruft  darinnen  hatte.  Den  Griechen 
galt  diese  Statte  für  höchst  wichtig,  den  Unseren  dagegen  war 
sie  an  sich  ganz  gleichgiltig.  Aber  es  wurde  in  ihr  aus  der  gesamten 
Umgegend  eine  Menge  Gold  aufbewahrt,  sowie  kostbare  Re- 
liquien, die  man  in  der  vergebUchen  Hoffnung,  sie  hier  gesichert 
zu  wissen,  aus  den  benachbarten  Kirchen  und  Klöstern  in  diesem 
Gotteshause  aufgespeichert  hatte,  was  vor  der  Eroberung  der 
Stadt  den  Unsrigen  von  den  durch  die  Griechen  Vertriebenen 
mitgeteilt  worden  war.  V\rährend  nun  viele  Pilger  auf  einmal 
in  diese  Kirche  eindrangen  und  jeder  mit  der  Erbeutung  \von 
Gold  und  Silber  und  anderen  Schätzen  eifrig  beschäftigt  war, 
hielt  es  Martinus  für  unwürdig,  Kirchenraub  zu  begehen, 
ausser  in  heiligem  Dienste,  und  suchte  deshalb  einen  verborgenen 
Raum  auf,  der  gleichsam  schon  durch  seinen  religiösen  Hauch 
zu  versprechen  schien,  dass  man  hier  finden  könne,  was  er  so 
heiss  begehrte.  Bald  stiess  er  auch  auf  einen  Greis  von 
schönem  Angesicht  mit  langem  grauen  Bart.  Es  war  ein 
Priester,  aber  seiner  ganzen  äusseren  Erscheinung  nach  mit 
unseren  Priestern  nicht  im  entferntesten  zu  vergleichen.  Der 
Abt  hielt  ihn  daher  auch  für  einen  Laien  und  fuhr  ihn,  obgleich 
innerlich  milde  gesinnt,  mit  barscher,  furchterregender  Stimme 
an.  «He  da,]»  rief  er,  a:du  treuloser  alter  Grieche,  zeige  mir 
die  vornehmsten  Reliquien,  die  du  verwahrst;  wenn  nicht, 
so  wisse,  dass  dein  letztes  Stündlein  geschlagen  hat!)»  Dieser 
aber,  mehr  durch  die  Heftigkeit  des  Klanges  als  durch  die 
Worte  selbst  erschreckt  (denn  er  vernahm  nur  den  Klang, 
konnte  aber  den  Sinn  nicht  verstehen  und  wusste  auch  nicht, 
dass  der  Abt  im  stände  sei,  sich  griechisch  auszudrücken),  be- 
gann in  lateinischer  Sprache,  die  er  einigermassen  konnte,  deo 
Fremden  zu  beruhigen  und  seinen  Zorn,  der  im  Grunde  gar 
nicht  vorhanden  war,  durch  Höflichkeit  zu  besänftigen.  Jetzt 
aber  brachte  es  der  Abt  nur  mit  Mühe  dahin,  dem  Alten  in 
der  nämlichen  Sprache  begreiflich  zu  machen,  was  er  von  ihm 
verlange.  Der  Grieche  betrachtete  sich  Gesicht  und  Aussehen 
des  Fremden,  erwog,  wie  viel  weniger  anstössig  es  sei,  wenn 
ein  Geistlicher  mit  frommer  Ehrfurcht   die   heiligen   Reliquien 


—    41     — 

an  sich  nehme,   als  wenn  vielleicht   Laienhände   sie    mit   Blut 
befleckten,  schloss  darum  endlich   die   eiserne   Truhe    auf  und 
leigfte  den   begehrenswerten    Schatz,   welcher  dem  Abte  M ar- 
tin us  lieber  und  erwünschter  däuchtc  als   alle  Herrlichkeiten 
Griechenlands.  Ihn  schauen   und  mit   beiden  Händen   begierig 
IQ  den  Schrein  greifen,   war  bei  dem   Abte   das    Werk   eines 
Augenblickes.  Rasch  entschlossen,  wie  es  seine  Art  war,  füllte 
er  sich  die  Taschen  mit  dem  heiligen  Kirchenraub  (das  Gleiche 
Ikat  sein  Kaplan),   verbarg  wohlweislich,    was   ihm   das   wert- 
vollste schien,  und  ging   mit  schnellen  Schritten    hinaus.    Was 
für  Reliquien  es  waren,   die    der   heilige    Mann   auf  diese 
Weise  erbeutete,  und  wie  grossen  Wert   für   die  Andacht    sie 
haben,  darüber  wird  am  Schluss   dieses  Büchleins   das  Nötige 
gesagt  werden.  Als  er  nun   (wenn  ich  so  sagen  darf)   solcher- 
gestalt ausgestopft  nach  den  Schiffen  eilte,  sahen   ihn  Freunde 
und  Bekannte,  die  just  von  den  Schiffen  zur  Beute  liefen,  und 
forschten  ihn  scherzhaft  aus,  ob  er  etwa  selbst  geplündert  habe 
und  mit  was  für  Dingen  belastet  er  da  des  Weges  komme.  Er 
aber  sagte  mit  seinem  gewöhnlichen  heiteren  Ausdruck  freund- 
lich die  Worte :  a;  Uns  ist  es  gut  ergangen !  »  Und  als  man  ihm 
ein  «Gott  sei  Dank»  zur  Antwort  gab,    schritt  er  schleunigst 
weiter,  weil  ihm  jeder  Aufenthalt  lästig   war,  kehrte   in  sein 
Schiff  zurück  und  stellte  die  geliebte  Kriegsbeute  dort  einstweilen 
ab  in  seinem  keuschen,  reinlichen  Schlafraume,  bis  sich  der  laute 
Lärm  in  der  Stadt  legen  würde.  Auf  dem  Schiffe  verharrte  er 
dann  noch   drei  Tage  in  eifriger  Andacht,    ohne    dass  jemand 
in  die  Sache  eingeweiht  war,  ausser  dem  Kaplan  und  dem  Greise, 
der  ihm  die  Heiligtümer  übergeben  hatte  und  sich  nun  vertraut 
an  ihn  anschloss,  da  er  sah,  dass  er  es  mit  einem  wohlwollenden 
und  freigebigen  Manne  zu  thun  habe.     Ebenderselbe  besorgte 
ihm  auch  dienstfei'tig  bei  einer  der  Kirchen  der  Stadt  mittler- 
weile eine  anständige  und  bequeme,  seinem  Stand  angemessene 
Wohnung.    Und    als    dann   die   Ruhe    wiederhergestellt    war, 
siedelte  der  Abt  mit  jenem  Kaplan  und  dem  heiligen  Geheimnis 
in   dieses    Quartier     über    und    verweilte    darin    den    ganzen 
Sommer,  die  Reliquien  in  ununterbrochener  Inbrunst  hegend 
mit  einer  Verehrung,  die  zwar  heimlich,  aber  desto  andächtiger 
war   und  durch   die  Innigkeit    ihrer    Hingabe   die    öffentliche 
Anbetung  ersetzte.  Und  er  blieb  gerne  noch  in  Konstantinopel. 
Denn  er  hatte  vernommen,  dass  der  von  den   Heiden  verletzte 
Waffenstillstand   erneut    worden    sei.     Auch    war   infolge    der 
grossen  Umgestaltung  der  Verhältnisse  die   Schiffahrt   in   den 
dortigen  Meeren  noch  nicht  recht  sicher,  ganz  abgesehen  davon, 
dass  ihn  auch  die  Liebe  zu  seinen  Gefährten   fesselte,   und    er 
überhaupt   doch   die  endgiltige  Entscheidung   über   Stadt   und 


tu 


—    42    — 

Land  abwarten  wollte,  um  in  der  Heimat  denen,  die  ihn  ge- 
schickt hatten,  bestimmte  Nachricht  über  den  Gang  der  Ereig- 
nisse bringen  zu  können.  —  So  war  denn  nun  die  berühm* 
teste  Stadt  Griechenlands,  die  Hauptstadt  des  Reiches,  ia 
kürzester  Zeit  erobert,  geplündert  und  von  den  Siegern  in 
Besitz  genommen  worden.  M^en  andere  zusehen,  welche  Be- 
deutung sie  dieser  Thatsache  beilegen;  ich  für  meine  Person 
bekenne,  in  allen  Büchern  der  Geschichtsschreiber  und  Dichter 
nichts  Aehnliches  oder  gleich  Grossartiges  gelesen  zu  haben* 
Ich  glaube  auch  nicht,  dass  es  ohne  ein  handgreifliches  Wunder 
der  göttlichen  Gnade  einer  so  kleinen  Schar  möglich  gewesen 
wäre,  diese  starke  Stadt,  der  ganz  Griechenland  zu  Diensten 
stand,  so  plötzlich  und  leicht  am  hellen  Tag  in  die  Hand  zu 
bekommen.  Man  bedenke  nur,  dass  hier  sozusagen  in  einem 
Augenblick  wenige  Helden  mehr  gethan  haben,  als  die  alten 
Dichter  ihren  ungezählten  Tausenden  vor  Troja  in  zehn  Jahren 
zuschreiben. 

Fabelnde  Dichtkunst  soll  hier  nicht  Leichtgläubige  hänseln, 
Nicht  Platz  greifen  erlogene  Mär'  wie  bei  Sängern  der  Vorzeit! 
Kein  Homer  und  Virgil  soll  täuschen  die  Griechen  und  Römer, 
Beide   geschickt,    wie    bekannt,    in    die    Wahrheit    Dichtung    zu 

mischen. 
Einfache  Wahrheit  singen  wir  nur;  was  unseren  Zeiten 
Grosses  geglückt,  wir  schreiben  es  auf  in  genauester  Folge. 
Wenn    wir    so    fein    nicht    schreiben    wie  jene,    so    sicherlich 

wahrer, 
Und  Alltägliches  färben  wir  nicht  mit  täuschender  Schminke. 
Gleichwohl  bringen  in  wahrem  Bericht  wir  grössere  Dinge, 
Als  die  Poeten,  so  hoch  man  sie  preise,  zusammengefabelt! 
Welcher  Atride  vermag  sich  zu  messen  mit  unsem  Triumphen, 
Welcher   der  tausend  trojanischen  Siege  des  griechischen  Volkes? 
Schiffe  besassen  sie  viele,  gewiss  zwölfhundert,  und  dennoch 
Brachten  sie  Troja  zu  Fall  kaum,  als  neun  Jahre  verflossen ! 
Wir  hingegen  errichteten  kühn  auf  wenigen  Schiffen 
Ragende  Türme  und  nahmen  sogleich  in  der  ersten  Berennung 
Eine  bevölkerte  Stadt,  wie  Asiens  Erde  nur  wenig 
Andere  kennt,  auch  Afrika  nicht,  noch  unser  Europa ! 
Jene   bewog   ein  Weib   zu   dem   Kampf   —  Schmach   ihrem    Ge- 
dächtnis !  — 
Aber  die  Unsren  die  Pflicht,  den  ermordeten  König  zn  rächen. 
Ilium  brachte  das  Pferd  und   des  Sinon   Betrug  um  die  Mauern. 
Aber  der  Tapferkeit  nur  ist  Konstantinopel  gefallen. 
Jene  verschlang  auf  der  Heimkehr  noch  schier   alle   die   Meerflut, 
Aber  die  Unsem  beherrschten  die  Stadt,  die  eroberte,  fröhlich. 
Also  nur  fort  mit  der  Fabel,  der  alten,  vom  troischen  Kriege; 
Neue,  berühmtere  Thaten  erzählt  und  grössre  Triumphe ! 


—    43    — 


XX. 


Als  nun  die  Stadt  erobert  und  geplündert  und  jedes^ 
Gebäude  an  einen  neuen  Bürger  verteilt  war,  wurde,  damit 
man  doch  nicht  ohne  Haupt  bliebe,  allmählich  die  Frage  der 
Einsetzung  eines  Königs  in  Erwägung  gezogen.  Es  waren  zwei 
Männer  in  unserem  Heere,  beide  sehr  angesehen  und  berühmt, 
der  Harkgraf  Bonifa  eins  von  Monferrat  und  der  Graf 
Balduin  von  Flandern.  Nur  einer  von  diesen  beiden 
konnte  zum  König  erwählt  werden.  Das  leuchtete  von  selbst 
an  und  fand  den  Beifall  des  gesamten  Heeres.  Weil  aber 
jeder  von  ihnen  auf  die  Gunst  und  die  Stimmen  vieler  Anhänger 
zählen  und  doch  der  Eine  dem  Anderen  nicht  wohl  vorgezogen 
werden  konnte  (beide  galten  eben  für  gleich  tüchtig),  so  schiea 
es  allen  das  Geeignetste,  die  Sorge  der  entscheidenden  Wahl 
auf  12  Männer  zu  übertragen,  welche  vor  allen  anderen  im 
Rufe  besonderer  Unabhängigkeit  und  hervorragender  Klugheit 
standen.  Nach  langer  Ueberlegung  ernannten  dieselben  den 
Grafen  von  Flandern,  der  dann  auch  auf  den  Königsthron 
gesetzt  und  mit  dem  Stirnreif  gekrönt  wurde.  Die  Provinzen 
aber  seines  Reiches  teilte  man  in  drei  Teile ;  der  eine  stand 
unmittelbar  unter  der  Botmässigkeit  des  Königs,  den  zweiten 
nahmen  die  Venetianer  in  Besitz,  und  der  dritte,  der  aus- 
gedehnteste von  allen,  Thes.salonien  nämlich,  wurde  dem  Mark- 
grafen übergeben.  Dieser,  wie  wir  aus  sicherster  Quelle  wissen,, 
wollte  auch  unseren  Martinus  bei  sich  behalten  und  zum 
Kschof  machen.  Aber  der  Abt,  seiner  Gelübde  eingedenk,  lehnte 
das  unter  Danksagung  ab  und  zog  vor,  wenn  es  Gottes  Wille- 
wäre, als  bescheidener  Privatmann  zu  seinen  Brüdern  zurück - 
zakehren.  —  Hierauf  wurden  die  kleineren  Erwerbungen,  wie 
Burgen,  Städte,  Dörfer  und  dergleichen,  unter  die  geeigneten. 
Personen  verteilt.  Gesetze  und  Rechte  aber  und  die  übrigen 
Einrichtungen,  welche  von  alters  her  in  Stadt  und  Land 
herrschend  waren,  Hess  man  bestehen,  so  weit  man  sie  löblich 
fand;  was  dagegen  verwerflich  schien,  wurde  entweder  ver- 
bessert oder  ganz  abgeschafft.  Während  sich  das  in  der  Stadt 
zutrug,  hatte  sich  der  Schurke  M  u  r  c  i  f  1  o ,  der  schnöde- 
Verbrecher,  der  Eintagskaiser,  zu  dem  älteren  Alexis  begeben. 
Im  Bewusstsein  seiner  Schuld  und  aus  Furcht  vor  der  Strafe 
war  er  schon  vor  der  Eroberung  aus  der  Stadt  geflohen,  ohne 
lu  wissen,  wohin  er  sich  wenden  sollte,  oder  wo  und  an  wem 
er  noch  eine  Stütze  finden  könnte.  Dem  Alexis  hatten  unsere 
Fürsten,  obgleich  er  auch  ein  schlechter  Mensch  war,  mit 
Rücksicht   auf  sein    königliches   Blut   einen    kleinen   Teil   des- 


—    44    — 

Landes   zum    Besitz   überlassen.    Als   dieser   nun   den    frevel- 
belasteten Mann  zu  sich  kommen  sab,  konnten  ihn  die  Seinigen, 
obwohl   er   selbst  dem    Bösewicht  nicht   sehr    unähnlich  war, 
jiur  mit  Mühe  davon  abhalten,  ihn  mit  dem  Tod  zu  bestrafen. 
Doch  Hess  er  ihn  blenden    und    über  die  Schwelle  jagen,  als 
den  Urheber  so  mancher  Blutthat,  der  ihm  geraten,  den  Bruder 
2u   blenden,  den   Neffen    in    den  Kerker  zu  werfen  und  beide 
<ies  Thrones  zu  berauben,  der  dann  zuletzt  noch,  um  den  Frevel 
auf  die  Spitze  zu  treiben,  eben  diesen  Neffen  mit  eigener  Hand 
erwürgt    hatte!    Arm    und   elend,    allen    ein    Gegenstand     des 
Hasses,  schleppte  der  schimpflich  Hinausgestossene^  der  schon 
lange  geistig  verblendet  gewesen  war  und  sich  nun  auch  des 
leiblichen  Augenlichtes  beraubt  fühlte,  ein  jammervolles  Dasein 
hin,  heimatlos  im  Lande  umherirrend.    Als  das  die    Unsrigen 
iiörten,  schickten  sie  Leute  ab,  ihn  zu  greifen  und  herzubringen. 
Das    war   schnell   geschehen  ;    und   nun   begannen  sowohl  die 
Unseren  als  die  in  der  Stadt  zurückgebliebenen  Griechen,   den 
Elenden  mit  Vorwürfen,    Scheltworten    und    Schmähungen   zu 
ilberhäufen,    ihn   einen   Brudermörder,   einen    Staatsverderber, 
ein  todeswördiges  Scheusal  zu  nennen !  Darüber,  dass  er  sterben 
müsse,    herrschte    volle    Einstimmigkeit;    aber    über    die   Art 
seines  Todes  gab  es  die  verschiedensten  Meinungen.   Die  einen 
:sagten,  man  müsse  ihn  mit  einem  Strick  erdrosseln,  ganz   wie 
er  selbst  seinen  Herrn  ermordet,  andere  wollten    ihn   lebendig 
ins    Feuer  werfen,   oder  ins    Meer  mit   einem   angebundenen 
Stein,  oder  in  die  Erde  eingraben,  oder  ihm  die  Haut  abziehen, 
oder  seine  sämtlichen  Glieder  abschlagen   und   was    man   sonst 
noch  an  entsetzlicher  Strafe  für  einen    verworfenen    Menschen 
aussinnen   kann!   Wie  mag  es  dem  Elenden  zu  Mute  gewesen 
:sein,   als  er  so  ausführlich  über  seinen  Tod  verhandeln  hörte, 
wenn  auch   der   Schmerz   über   das    verlorene    Augenlicht  die 
Furcht   vor   dem   nahen  Tod  linderte.  Endlich   beschlossen  die 
Fürsten,   da  der  Bösewicht   doch    von    vornehmer  Geburt  sei, 
solle    man  ihn  auf   eine   hohe   Pyramide  führen,  dort  an  eine 
lange  Stange   binden  und    kopfüber    hinabwerfen,    damit   der 
Mann,  welcher  aus  königlicher  Höhe  plötzlich   heruntergestürzt 
sei,    nun    auch  von  oben  in  den  Tod  falle,  auf  zwar  jämmer- 
liche, jedoch  nicht  entehrende  Weise.  Das  geschah  denn  auch, 
und  mit  zerschmettertem  Leib,  in  Schmerz  und  Elend,  hauchte 
er  seinen  unseligen  Geist  aus  I 

Flieg  und  zerbrich  das  Genick,  da  Verblendeter,  würdig  zu  schmecken 
Kreuzigung,  Rad  oder  Strick!  Flieg  und  zerbrich  das  Genick! 
Hätte  man  doch  dich  verbrannt !  Wert  bist  du^s,  gebraten  zn  werden; 
M&nniglich  hat  es  erkannt!  Hätte  man  doch  dich  verbrannt! 
Oder  geflochten  aufs  Rad !  Wert  bist  dn's,  geschunden  zu  werden ! 


—    45    — 

Boss'  auf  der  Folter  die  That  oder,  geflochten  anfs  Rad! 

Stürzt  über   Kopf  ihn   ins   Meer!   Werft  hin  ihn  zum  Frasse  den 

Tieren ! 
Sagt  ihn  in  Stücke  vorher !  Stürzt  über  Kopf  ihn  ins  Meer ! 
Haat  ihm  die  Glieder  vom  Rumpf!   Wert  bist  dn's,  zu  sterben  in 

Schande, 
Elend  im  eigenen  Sumpf!  Haut  ihm  die  Glieder  vom  Rnmpf! 
Mensch  mit  dem  Herzen  von  Stein,  dn  Scheusal,  das  nicht  gebebet^ 
Mörder  des  Königs  zu  sein,   Mensch   mit   dem  Herzen  von  Stein  l 
Dich  und  die  mit  dir  im  Bund,  sollt^  lebend  begraben  man !  Abscheu 
Füllt  mich ;    ich  hasse  von  Grund  dich  und  die  mit  dir  im  Bund  l 
Schänder  des  Heiligsten  du^  des  Gesetzes  Verächter,  dem  König 
Schnürtest  die  Kehle  du  zu,  Schänder  des  Heiligsten  du ! 
Siehe,  noch  giebt  es  ein   Recht!   Schnell   stürzte  der  Mörder,  der 

gleissend 
Hoch  sich  zu  steigen  erfrecht!  Siehe,  noch  giebt  es  ein  Recht! 
Fahr^  in  die  Hölle  hinab,  eidbrüchiger  Räuber !  Im  Abgrund 
Gähnt  dir  ein  würdiges  Grab !  Fahr  in  die  Hölle  hinab ! 

XXI. 

üeber  jene  Pyramide  aber,  von  der  M  u  r  c  i  f  1  o  herab- 
gestürzt wurde  (man  nennt  sie  gewöhnlich  schlechtweg  «die 
Säule»),  kann  manches  Merkwürdige  erzählt  werden.  Sie  ist 
aus  ungeheuren  Steinen  erbaut,  die  durch  Eisenklammern  fest 
miteinander  verbunden  sind  ;  unten  fangt  sie  in  grosser  Breite 
an  und  spitzt  sich  allmählich  in  unerm essliche  Höhe  zu.  In  der 
obersten  Spitze  soll  ein  Einsiedler  seine  Zelle  gehabt  haben, 
der  sich  eine  Wohnung  auf  dem  Erdboden  versagt  hatte  und 
nun,  ohne  doch  den  Himmel  erreicht  zu  haben,  gleichsam 
zwischen  beiden  mitten  im  belebtesten  Teil  der  Stadt  Klausner 
geworden  war.  Uralte  Zeichen  und  Bilder  sind  in  die  Säule 
eingemeisselt,  welche  die  Weissagungen  der  Sibylle  und 
namentlich  frühere  Königsgestalten  ^  darstellen  sollen.  Auch 
Schiffe  waren  darauf  abgebildet  und  Sturmleitern  auf  Schiffen 
und  bewaffnete  Männer,  welche  darauf  eine  gleichfalls  dar- 
gestellte Stadt  zu  erobern  schienen.  Die  Griechen  hatten  bisher 
wenig  lauf  diese  Sculpturen  gegeben ;  denn  sie  hielten  es  ja 
für  ganz  unmöglich,  dass  einer  Stadt,  wie  der  ihrigen,  der- 
gleichen widerfahren  könne.  Als  sie  aber  sahen,  wie  auf  unseren 
Schiffen  Sturmleitern  errichtet  wurden,  fingen  sie  endlich  an, 
jener  Bilderschrift  zu  gedenken  und  ernsthaft  zu  fürchten, 
was  sie  lange   verachtet    hatten.     Infolge    dessen    zerschlugen 


1  Die  Stelle  ist  verdorben.  Ich  lese  :  snperiores  regni= reges. 
In  der  Colmarer  Handschrift  fehlen  die  Worte :  «et  maxime  snpe- 
riorem  regno  variis  djcnntnr  fignris  >  überhaupt. 


—    46    — 

^ie  die  Bilder  mit  Steinen  und  eisernen  Hämmern  und  hatten 
'^v^'irklich,  in  dem  Wahne,  die  üble  Vorbedeutung  dadurch  auf 
uns  zu  kehren,  die  meisten  derselben  vollständig  verdorhen. 
Diese  Hoffnung  ging  dann  freilich  in  Trümmer,  und  der 
Ausgang  zeigte  deutlich,  wie  richtig  das  Bildwerk  geweissagt 
«hatte.  —  Nach  diesen  Ereignissen  war  eine  geraume  Zeit  ver- 
flossen. Martinus  erkannte,  dass  unser  Heer  ganz  in  den 
borgen  um  das  neue  Reich  aufgehe  und  so  noch  nicht  im 
•Stande  sei,  die  unternommene  Pilgerfahrt  fortzusetzen.  Der 
ursprüngliche  Hauptzweck,  die  Sache  des  Kreuzes,  erlitt  aus 
verschiedensten  Gründen  Aufschub.  Deshalb  dachte  er  mit  allen 
Kräften  seines  Geistes  nur  noch  daran,  zu  seinen  Brüdern  heim- 
.zukehren  und  sich  wieder  der  klösterlichen  Regel  zu  unter- 
werfen, die  er  in  der  Unruhe  der  Zeiten  nicht  so,  wie  er  es 
wünschte,  hatte  beobachten  können.  Obgleich  er  aber  von 
seinem  augenblicklichen  Aufenthaltsorte  aus  mit  geringen 
Kosten  nach  Venedig  hätte  überfahren  können,  wollte  er 
•doch  mit  dem,  was  ihm  Grott  beschert  hatte,  lieber  zu  den 
Gefährten  nach  A  k  k  o  zurückkehren,  um  ihnen,  die  ihn  ja 
-ausgesandt,  über  die  Verhältnisse  des  neuen  Reiches  und  über 
Dilles,  was  er  personlich  gesehen  und  gehört  hatte,  sichere 
Nachricht  zu  bringen.  Dann  erst  gedachte  er  allen  Lebewohl 
2u  sagen  und  dem  Gelübde  gemäss  vom  heiligen  Lande  aus 
.glücklich  die  Heimreise  anzutreten. 

Sieh',  wie  so  fest  er  sich  zeigt,  o  Leser,  in  allem  wie  standhaft! 

Wie  er  die  Dinge  bedenkt,  jedes  nach  seinem  Gewicht! 

Sieh';  er  verschmäht  der  Gelegenheit  Gunst,  zn  verkürzen  die  Reise; 

Will  übernommene  Pflicht  treulich  erfüllen  zuvor; 

W^endet  die  Segel  zurück,  wünscht  wieder  zu  seh'n  die  Gefährten, 

Und,  das  geschenkte  Vertrauen  nie  zu  verletzen  gewillt, 

•Scheut  er  sich  nicht,  aufs  neue  zu  trotzen  den  Mühen  der  Seefahrt, 

Sondern  erträgt  sie  mit  ganz  ruhig  gefasstem  Gemüt ! 

Eins  nur  fürchtet  der  Held,  dass  ein  Zufall  wieder  ihm  raube, 

Was  Gott  selbst  ihm  geschenkt:  seiner  Reliquien  Schatz. 

Aber  es   blieb   in  der  frommen  Besorgnis   doch   stark  auch  die 

Hoffnung, 
Dass  nicht  Trug  noch  Gewalt  nehmen  ihm  können  den  Schatz. 
Wollte  verlieren  ihn  lassen  der  Herr,  was  er  selbst  doch  verliehen, 
Müsste  man  fragen  mit  Fug:  «Warum  verlieh  er  es  dann?» 
Oder  verlieh  er  die  heiligen  Trophäen  dem  wehrlosen  Manne 
Mitten  im  Kampfesgewühl,  dass  man  ihm  raube  sie  bald? 
Hoffnung  beseligt   das   Herz,  und   es  stärkt   ihn  der  Glaube;  das 

Fahrzeug 
Däucht  durch  die  heilige  Fracht  ihm  vor  Gefahren  gefeit  I 
Hat  hier  Raum  die  Besorgnis,  es  könnten  die  Tücken   des  Meeres 
Bringen  Verderben  dem  Kiel,  welcher  so  Heiliges  birgt? 


—    47    — 


XXII. 


So  stieg  denn  Martinus  —  an  Maria  Geburt  —  zu  Schiffe  8.  Sept 
mit  geteilten  Empfindungen,  sicher  und  doch  besorgt  (denn 
ganz  konnte  er  ja  Furcht  und  Besorgnis  nicht  bannen),  und 
landete  am  1.  Oktober  bei  Akko,  wo  er  von  seinen  Gefährten, 
namentlich  von  den  Deutschen,  die  ihn  besonders  lieb  hatten, 
aufs  freudigste  aufgenommen  wurde,  und  aber  den  Zustand 
Griechenlands  und  alles,  was  er  selbst  erlebt  und  gehört  hatte, 
getreuen  Bericht  erstattete.  Sein  Geheimnis  aber  wollte  er 
niemand  offenbaren,  ausser  einem  der  ehrenwertesten  und 
t;ipfersten  Männer,  Namens  Wernher,  welcher  Deutscher 
von  Geburt  und  zwar  Elsa  sse  r  war,  aus  edlem  Blute  stammte 
und,  was  die  Hauptsache  ist,  durch  hervorleuchtende  Tugend 
in  der  ganzen  Gegend  sich  so  hohes  Ansehen  erworben  hatte, 
das  sogar  die  Pläne  des  Königs  zum  grossen  Teil  auf  ihn 
zurückgeführt  wurden.  Er  war  unserem  Abte  immer  nahe  ge* 
standen;  dieser  hatte  ihn  schon  in  der  Heimat  gekannt  und 
geliebt  und  hegte  für  ihn  mehr  Zuneigung  als  für  fast  alle 
übrigen.  Als  ihm  nun  Martinus  die  mitgebrachten  göttlichen 
Schätze  zeigte,  erschrak  der  Gute  vor  Freude  und  Furcht  und 
brach  über  die  Gnade,  die  Gott  seinem  Knechte  erzeigt  hatte, 
in  laute  Bewunderung  aus.  Und  wie  er  nun  weiter  hörte,  dass 
der  Abt  die  Heimkehr  beschlossen  habe,  mahnte  er  mit  grösstem 
Eifer  davon  ab.  Es  sei  kaum  möglich,  versicherte  er,  dass 
solche  Schätze  durch  die  tausenderlei  Gefahren  zu  Wasser  und 
zu  Land,  durch  Seeräuber  und  Wegelagerer,  durch  all  die  all- 
täglichen Unglücksfalle  hindurch  unberaubt  nach  Deutschland 
gelangten.  Deshalb  ermahnte  er  den  Abt,  diese  Schätze  fromm 
und  demütig  dem  heiligen  Lande  zu  weihen  und  selbst  bei 
ihnen  zu  bleiben.  Der  König  und  die  übrigen  Fürsten  würden 
ihm  dann  ein  Bistum  oder  jede  andere  kirchliche  Würde  ver- 
leiben, die  er  wünsche,  und  das  dürfe  er  nicht  ausschlagen. 
Ziehe  er  dagegen  ein  stilleres,  mehr  klösterliches  Leben  vor, 
so  könne  er,  Wernher,  bei  dem  Konig  (dem  er  sehr  nahe 
stand)  auch  das  in  Aussicht  stellen,  ganz  nach  dem  Wunsche 
des  Abtes.  Es  liegt  nämlich  in  jener  Gegend  eine  Landschaft, 
die  heute  noch,  wie  schon  bei  den  alten  Schriftstellern,  das 
Oebii^r  Karmel  heisst,  ein  überaus  fruchtbarer  Strich,  reich  an 
<ietreide  und  edelsten  Reben,  mit  Oelbäumen  und  anderem 
Holz  prächtig  bepflanzt  und  strotzend  auch  von  üppigen  Weiden. 
Auf  diesem  Gebirge  befinden  sich  drei  Mönchsklöster,  unab- 
hängig von  einander  und  jedes  mit  weitem  Grundbesitz.  Man 
könne  sie  getrennt  lassen,  wie  bisher,  meinte  Wernher,  oder 
vereinigen;     aber    jedenfalls     müsse     Martinus     ihr     Abt 


—    48    — 

und   Oberherr  werden.     Und   habe    er    lieber  Bruder    seines 
Ordens  unter  sich,  als  fremde,    so    könne   man  ja  die  jetzigen 
Klosterleute   ganz  gut   anderswohin  verpflanzen,   der  Abi  aber 
Männer  seines  Ordens  in  beliebiger  Zahl  heranziehen  und  das 
ganze  Gebirgsland  für  sich  und  seine  Nachfolger  in  dauernden 
freien  Besitz  nehmen.  Und  schliesslich,  wenn  er  das  alles  aus- 
schlüge, würde  er  von  dem  König  und  den  Fürsten  mindestens 
Gold  und  Silber  in  einer  Menge  erhalten,   die  alles  überstiege^ 
was  er  oder  seine  Nachfolger  hoffen  könnten.  Dieses  Geld  lasse 
sich    dann   bequemer   mitnehmen  und  besser  verbergen;    auch 
könne  er  damit  auf  die    einfachste  Art   seine  Kirche  daheim 
bereichem.  Aber  der  Abt  lehnte  das  alles  ab  und   erklärte,  er 
habe   keinen  anderen  Wunsch,   als    die  Heiligtümer,   die  ihm 
Gott  verliehen^  getreulich  in  sein  Kloster  zu  bringen.  Trotzdem 
vei*wahrte  W  e  r  n  h  e  r  als  ein  treuer  Mann  das  Geheimnis  und 
1205     begleitete    ihn    mit   einigen    anderen    Herren    in   gebührender 
Hochachtung  zu  dem  Schiffe,  das  reisefertig  im  Hafen  lag.  Als 
Marti nus  dasselbe  bestiqj^en  und  man  gegenseitig  liebevollen 
Abschied   genommen   hatte,    kehrten   die  Begleiter  um.    Mar- 
tinus  aber  trat  (drei  Tage  vor  Palmsonntag)  mit  vollen  Segeln 
die  ersehnte  Seereise  an.  Es  sei  mir  gestattet,  an  dieser  Stelle 
meiner   Erzählung  einen   Zwischenfall    einzufügen,   der,    wenn 
alles  andere  fehlte,  schon   allein   hinreichend  darlegen   wurde, 
dass  die  bisher  gemeldeten  Thaten  Martini  und  was  wir  noch 
weiter  von  ihm  zu  berichten  haben,  durchaus  das  Siegel  gött- 
licher Fügung  trugen.    In   der   dritten  Nacht  nämlich  vor  dem 
Antritt  der  Heimreise  erblickte  ein  ihm  befreundeter  Geistlicher 
namens  Egidius,  ein  geborener  Böhme,  dessen  Sprache  der 
Abt  nicht  verstand,  mit  dem   er  also  nur  lateinisch  verkehren 
konnte    und   der   mit  ihm    auf  dem  nämlichen  Schiff  zurück- 
kehren  wollte,   nicht  im  Schlaf,  sondern,    wie  er  ausdrücklich 
versicherte,  in  wachendem  Zustand  ganz  deutlich  zwei  Engels^ 
gestalten  an  dem  Platz,  wo  die  heiligen  Reliquien  aufbewahrt 
wurden.   Dort  hatten  beide,  der  Abt  und  der  Böhme,  ihre  ge- 
wöhnliche   Lagerstätte,    jener,    um   die   Heiligtümer    treu  zu 
bewahren,  dieser   aber,   ohne  das  mindeste   von  ihrem  Dasein 
zu  wissen.  Die  Engel    schienen   um   den  ^Schrein,  in  welchem 
die  heiligen  Gottesgaben  verschlossen   lagen,   in  verklärter  An- 
dacht zu  schweben  und   inbrünstig  Gott  zu  lobpreisen,  dass  er 
sie  seinem  Knechte  verliehen  habe.  Und  nachdem  sie  ihre  An- 
dacht vollendet,  flehten  sie  um  die  Wette  eindringlich  zu  Gott^ 
er  möge  den  Mann,  dem  er  solche  Schätze  geschenkt,  und  alle 
seine    Getreuen   in   gnädigen    Schutz    nehmen.     Am   Morgen 
erzählte  Egidius   dem  Abt  dieses  Gesicht  als   sichere  Thatsadie 
und  brach  mitten  in  seinen  Worten  aus  tiefster  Gemütserschal- 


r 


—    49    — 

terun^  in  Tliränen  aus.  «Ich  weiss  nicht ^)  sagte  er,  «wer  du 
bist  oder  woher  du  kommst  oder  was  du  hütest  in  deinem 
Schrein  hier;  aber  das  weiss  ich  gewiss,  dass  Gott  mit  dir 
ifill  Deshalh  will  ich  auf  dieser  Ueberfahrt  nicht  von  deiner 
heiligen  Seite  weichen  in  der  gewissen  Zuversicht,  dass  mir 
auf  dem  Schiffe,  das  dich  trägt,  kein  Unfall  zustossen  kann  I » 
Der  Abt,  durch  das  Wunder  dieses  heiligen  Gesichtes  lebhaft 
bewegt,  zumal  er  den  Mann  als  zuverlässig,  fromm  und  wahr- 
haftig kannte,  erzählte  nun  auch  seinerseits  von  einem  Gesicht, 
das  er  in  der  nämlichen  Nacht  im  Schlafe  gehabt  hatte.  Es 
däuchte  ihm  nämlich,  von  Akko  an  bis  nach  Sigolsheim, 
der  nächsten  Stadt  bei  seinem  Kloster,  sei  nichts  als  Meer,  aber 
ein  so  sanftes  und  sicheres,  dass  auch  das  winzigste  Fahrzeug 
keinen  Schiffbruch  zu  befürchten  hätte.  Zudem  schwebte  von 
Akko  bis  zu  der  genannten  Stadt  eine  Art  Schutzdach  vom 
Himmel,  so  dass  nicht  Wind  noch  Regen  noch  eine  andere 
Unbill  des  Meeres  oder  des  Wetters  ihm  in  seinem  Schifflein 
zu  schaden  vermochte.  Dieses  Gesicht  des  Abtes  können  wir 
nur  dahin  deuten,  dass  er  von  Akko  bis  zu  seinem  Kloster, 
wenngleich  unter  vielen  Gefahren  zu  Wasser  und  zu  Land, 
durch  göttlichen  Schutz  eine  sichere  Heimreise  haben  sollte, 
und  dass  die  Einwohner  Sigolsheims,  Männer  und  Weiber,  als 
die  ersten  von  allen  beim  Kloster  Pairis  den  heiligen  Re- 
liquien entgegenziehen  würden,  wie  es  sich  auch  in  der  That 
nachher,  die  Wahrheit  dieser  Auslegung  beweisend,  zuge- 
tragen hat. 

Nnn  gilVs  fromm  zu  geloben   und   völlig  die  Kraft  zu  erproben ! 
Falt^  zum  Gebete  die  Hände,   Martinas,  und   bis  an  das  Ende 
Müh*  dich  mit  treuem  Verlangen,  vom  Himmel  die  Hnld  zu  empfangen, 
Dass  mit  dem  besten  Geschenke  von  oben  dich  jetzt   er   bedenke, 
Fälle  der  Lust  dir  bereite :  dich  sicher  nach  Hanse  geleite  1 
So  viel  Länder  und  Meere  durchirrst  du,   dem  Herren  zur  Ehre; 
Feindlich  gesinnte  Gewalten  in  Menge,  die  wider  dich  halten, 
Masst  du  bestehen  und  tausend  Gefahren,  im  Meer  dich  nmbransend 
Oder  dich  drängend  zu  Lande  —  wer  ist  sie  zu  zählen  im  stände? 
Da  giebt^s  Winde,  die  blasen  daher  mit  entsetzlichem  Rasen; 
Da  giebt's  mächtige  Wogen,  die  haushoch  kommen  gezogen, 
Wenn  der  Orkan  sie,  der  wilde,  bewegt  in  ein  schwankend  Gebilde ! 
Da  drohen  heimliche  Riffe  und  offene  Klippen  dem  Schiffe, 
Oder  des  Kampfes  Gefahren  auf  einmal  mit  grausen  Korsaren ! 
Erst,  auf  dem  Meere,  Piraten,  entschlossen  zu  schaadlichen  Thaten, 
Dann,  auf  dem  Lande,  Banditen  und  Völker  mit  räubrischen  Sitten  l 
Aber  was  kühn  du  begonnen,  du  hast  dir  ein  Pfand  auch  gewonnen, 
Dass  du*s  beendest  in  Frieden  :  den  Schatz,  den  Gott  dir  beschieden. 
Ihn  sollst  sicher  du  bringen  zur  Heimat,  und  nach  dem  Gelingen 
Dankbar  den  Herrn  lobpreisen  ;  das  kann  ich  prophetisch  verheissen ! 

4 


—    50    — 

XXIII. 

£s  ist  nicht  leicht,  alle  Unfälle  und  Gefahren  zu  erwähnen, 
vor   denen   der  Abt    und  seine  Schilfsgenossen,    ach,    nur    zu 
häufig  erzittern   mussten,   e  r  freilich  um  so  heftiger,  je  mehr 
er  den  Schatz  liebte,  den  er  zu  verlieren  bangte.  Aber  in  aller 
Angst    und    Not    gewährte    ihm    der    Herr   die    Gnade  seines 
Schutzes  in  höherem  Masse^  als  er  es  zu   hoffen   gewagt.     Oft 
begegneten  ihm  Seeräuber ;    sie  kamen  vielleicht  eben  von  der 
Plünderung  anderer   Schiffe ;    aber   auch,    wenn  sie  noch  aus- 
lugten   nach    Raub,   wurden   sie   plötzlich   mild    beim   Anhlick 
seines   Fahrzeuges,    grüssten    es    friedlich    mit   aller  Ehrfurcht 
und    Hessen    es    unangefochten    vorübersegeln   oder  richtiger  : 
mussten  es  vorüberlassen.  Denn  es  war  ja  Gottes  Kraft,  die 
sie   bändigte   und   das   SchifTlein    sicheren    Laufes   zum   Hafen 
führte.    So   gelangte  das   Boot  des  M  a  r  t  i  n  u  s  oder  vielmehr 
Gottes   und   der   heiligen    Reliquien,    nach   vielen   Mühen 
28.  Mai  und   einer  Reihe  von  Gefahren  in  der  Nactit  vor  Pfingsten  auf 
die   Rhede  von   Venedig.    Der  Abt  legte  dort  an   und    er- 
kundigte sich  im  Stillen   nach    den   Zuständen   im   Lande.    Da 
erfuhr   er  denn,    dass  ihm  hier  ebenso  viel  Angst  und  Gefahr 
bevorstehe,    als  er  schon  auf  dem  Meere  durchgemacht  :  ganz 
Italien,   auch  der  Teil,  durch  den  er  ziehen  musste,  lodere   in 
Kampfesglut  und  schalle  von  Kriegsgetümmel.    Aber  er  wusste 
ja,  dass  auf  dem  Meer  und  auf  dem  Lande  der  nämliche    Gott 
waltet,  dass  der  Herr,  der  ihn  auf  dem  Meere  beschützt  hatte, 
auch   auf  dem    Lande  ihn   beschützen   konnte,  und  so  trat  er 
denn   voll  Vertrauen,    wenn  auch  nicht  ganz  ohne  Furcht  und 
Besorgnis,   mit   allem   Gepäck  auf  Pferden  die  Reise  nach  den 
Alpen    an.     Häufig    begegneten    ihm    bewaffnete   Banden,    die 
augenscheinlich    nur    zu    Raub    und    Plünderung    ausgezogen 
waren,    aber   immer    schreckten    sie,    von    plötzlicher    Furcht 
erschüttert,   von   der  unschätzbaren   Beute   zurück,  als  fühlten 
sie  mit  Zagen  ihre  Unwürdigkeit,  und  gewährten  dem  Saum- 
ross,  das  den  Schrein  mit  den  heiligen  Reliquien  trug,  ungefähr- 
deten Durchzug.  So  wanderte  unser  M  a  r  t  i  n  u  s  mitten  durch 
Italien,  überschritt  die  rauhen  Pässe  der  Alpen  und  fand  auch 
diesseits   noch    manche   gefährliche    Gegend  voll  Raubgesindel, 
bis    er    endlich    freudigen   Herzens    in   Basel   einzog,  wo  er 
einst  seine  Pilgerreise  angetreten  hatte.  Sein  erster  Gang  dort- 
selbst   war   in    die   Kirche   der    heiligen    Jungfrau ;    in    ihren 
Schutz   hatte   er    sich   empfohlen,    als    er    ausfuhr,    und    nun 
brachte  er  ihr  seinen  Dank  dar,  so  warm  er's  vermochte,  dass 
sie  ihn  bei  ihrem  lieben  Sohn    durch    die   Reliquien   eben 
ihres  Sohnes    so   hoch    begnadet,      ihn   aus   grossen    Gefahre 


—    51     — 

errettet  und  froh  und  heil  zurückgeführt  hahe.  Deshalb  schmückte 
er  dann  auch  ihren  gefeiertsten  Altar  in  der  Kirche  mit  einem 
herrlichen  Tuche.  Ebenso  gab  er  Herrn  L  u  t  h  o  1  d ,  dem 
Bischof  von  Basel,  und  einigen  anderen  Personen  und  Kirchen 
der  Stadt  reichliche  Weihegeschenke.  Aber  er  hielt  sich  nur 
wenige  Tage  auf,  bis  seine  Brüder,  die  schon  seine  Rückkehr 
Temommen  hatten,  ihm  ehrfürchtig,  vfie  sich  gebührte,  ent- 
gegenkamen. Mit  ihnen  und  einigen  anderen  Männern  aus  der 
Stadt,  die  ihm  dankbar  nachfolgten,  begab  er  sich  dann  in 
stattlichem  Aufzug,  aber  auch  voll  demütiger  Andacht,  nach 
dem  Kloster  P  a  i  r  i  s.  Dort  erwartete  ihn  der  ganze  Konvent 
am  Thore  der  Kirche.  Alle  traten  vor  ihm  und  den  heiligen 
Reliquien,  die  er  trug,  demütig  zur  Seite  (es  war  am  24.  Juni 
Tag  der  Geburt  St.  Johannis  des  Täufers  um  3  Uhr  Nach- 
mittag); alle  Herzen  frohlockten,  alle  Zungen  priesen  Gott, 
als  er  nun  in  die  Kirche  hineinschritt  mit  der  heiligen  Sieges- 
beute und  sie  in  tiefster  Ehrfurcht  auf  dem  Hochaltar 
aufstellte. 

Freu*  dich,  Martinas,  nun  hast  du  bestanden  die  Mühsal,  nun 

fasst  da 
Glücklich  das  Ziel  mit  den  Händen,  geschützt  in  den  eigenen  Wänden ! 
Hier  kannst  fröhlich  da  haasen,  vorüber  die  Furcht  and  das  Grausen, 
Ledig  der  nagenden  Sorgen  dich  ausruhen,  sieber  geborgen! 
Jetzt  wird  endlich  es  allen  bewiesen,  dass  Gott  es  gefallen, 
Durch  dich  grade,  den  Schlichten,   ein   w^nnderbar  Werk  za  ver- 
richten ! 
Yiel  mübsehge  Tage  durchlebtest  da,  Sorgen  und  Plage, 
Welche  den  Sinn  dir  betrübten,  obgleich  in  Geduld  sie  dich  übten ! 
Bangtest  vor  Stürmen  and  Wellen,  vor  Kampf  mit   entmenschten 

Gesellen, 
Die  dir  mit  Seeraab  drohten,  vor  mancher  mordlastig  verrohten, 
Beategierigen  Bande,  den  Weg  dir  vertretend  za  Lande! 
Siehe,  nun  darfst,  ein  Befreiter,  den  kösthchen  Schatz  an  geweihter 
Statte  zur  Schau  du  stellen  den    Brüdern  der  heimischen  Zellen! 
Siehe  die  Schar,  einhellig,  ein  Schauspiel,  Christo  gefällig ! 
Höre,  du  Reiner,  sie  loben  in  Psalmen  den  Helfer  von  oben! 
Siehe,  nun  darfst  du  vertrauen  den  Augen  und  wieder  sie  schauen, 
Die  da  za  schauen  verzagtest,  als  fern  in  der  Fremde  du  klagtest! 
Aach  sie,  deine  Getreuen,  wie  können  genug  sie  sich  freuen, 
Dass  sie  dich  sicher  nun  wissen,  den  längst  sie  sich  glaubten  entrissen 
Dass  sich  erfallt  ihr  Flehen,  auf  Erden  dich  wieder  zu  sehen ! 
Lebe  nun  stille,  du  Guter,  wie  früher,  als  würdigster  Bruder, 
Sei  der  Begleiter  der  Deinen,  ein   Master  des  Guten  und  Reinen, 
Halte  die  Brüder  in  Frieden,  ihr  Stern  und  Erleuchter  hienieden! 
Ströme  dich  aus  in  Gebeten,  beglückt,  vor  die  Schätze  zu  treten, 
Die  da  gebracht,  und  verehre  das  Kreuzholz  Christi,  das  hehre, 
Welches  dich  heim  ja  geleitet  und  Ruhm  nun  dem  Kloster  bereitet ! 


—    52    — 


XXIV. 


Ja,  gelobt  sei  Gott,  der  allein  Wunder  thut,  der  in  unaus- 
sprechlicher Güte  und  Barmherzigkeit  die  Kirche  von  Pairis 
angesehen  und  verherrlicht  hat  durch  jene  Greschenke  seiner 
Gnade,  weiche  der  ehrwürdige.  Abt  Martinus  zu  uns  herüber- 
bringen durfte!  Die  Kirche  jubelt  über  solchen  Besitz,  und 
jede  gläubige  Seele  findet  dadurch  bei  Gott  Hilfe  und  För- 
derung !  Damit  aber  der  Leser  in  seinem  Glauben  befestigt 
werde,  meine  ich  hier  ein  Verzeichnis  der  Reli- 
quien geben  zu  müssen. 

Das  erste  und  wichtigste,  der  allgemeinen  Verehrung 
würdigste  Stuck  ist : 

Ein  Tropfen  vom  Blut  unseres  Herrn  Jesu 
Christi,  das  vergossen  worden  zur  Erlösung  des  ganzen 
menschlichen  Geschlechtes  ;  sodann  : 

Das  Kreuzholz  des  Herrn,  auf  welchem  der  Sohn 
des  Vaters  für  uns  geopfert,  als  zweiter  Adam  die  Schuld  des 
ersten  gesühnt  hat ;  drittens  : 

Ein  nicht  unbeträchtliches  Stück  von  St,  Johannes, 
dem  Vorläufer  des  Herrn. 

Viertens  :  ein  Arm  des  heiligen  Apostels  J  a  k  o  b  u  s ,  dessen 
Gedächtnis  in  der  ganzen  Kirche  hoch  in  Ehren  gehalten  wird. 

Dann  folgen  Reliquien  anderer  Heiligen,  nämlich  : 

Des  Märtyrers  Christophorus, 

Des  Märtyrers  Georg  ins. 

Des  Märtyrers  Theodorus, 

Ein  Fuss  des  Märtyrers  St.  K o s  m a s. 

Ein  Teil  vom  Haupt  des  Märtyrers  C  y  p  r  i  a  n. 

Ein  Zahn  des  heiligen  Laurentius,  sowie 

Des  Märtyrers  Demetrius, 

Des  ersten  Märtyrers  Stephanus, 

Des  Vincentius,  des  Adjutus,  des  Mauritius 
und  seiner  Gefährten, 

Der  Märtyrer  Crisantius  und  D  a  r  i  u  s. 

Der  Märtyrer  Gervasius  und  Protasins, 

Des  Märtyrers  Primus, 

Der  Märtyrer  Sergius  und  Bacchus, 

Des  Märtyrers  Protus, 

Der^ Märtyrer  Johannes  und  Paulus.  —  Ferner : 

Vom  Ort  der  Geburt  des  Herrn, 

Vom  Calvarienberg, 

Von  dem  abgewälzten  Grabstein, 

\^om  Orte  der  Himmelfahrt, 


—    53    — 

Vom    Stein,    auf    dem    Johannes    stand,    als    er    den 
Herrn  taufte, 

Vom   Orty  wo  Christus  den  Lazarus  auferweckt  hat, 

Von  dem  Stein,    über   welchem  Christus   im    Tempel 
dargestellt  worden  ist, 

Von  dem  Stein,  auf  welchem  Jakob  geschlafen, 

YoD   dem  Stein,    bei   welchem   Christus    gefastet, 

Von  dem  Stein,  wo  Er  gebetet. 

Von  dem  Tisch,  an  dem  Er  gespeist  hat. 

Von   dem   Ort,    wo  sie   Ihn  gefangen   genommen. 

Von  dem  Ort,  wo  die  Mutter  des  Herrn  heim- 
gegangen ist, 

Von  ihrem  Grabe, 

Vom  Grabe  des  heiligen  Apostels  Petrus, 

Von  den  heiligen  Aposteln  Andreas   und  Philippus, 

Von  dem  Ort,  wo  der  Herr  dem  Moses  das  Gesetz 
gegeben  hat, 

Von  den  heiligen  Erzvätern  Abraham,  Isaak  und  Jakob, 

Von  dem  heiligen  Bischof  Nikolaus, 

Von  dem  Bischof  A  d  e  l  a  1  i  u  s. 

Von  dem  Bischof  Agritius, 

Von  Johannes  Chrisostomus, 

Von  Johannes,  dem  Almosengeber, 

Von  der  Milch  der  Mutter  Gottes,  sowie 

Der  Jungfrau  Margaretha, 

Der  Jungfrau  Perpetua, 

Der  Jungfrau  Agatha, 

Der  Jungfrau  Agnes, 

Der  Jungfrau  Lucia, 

Der  Jungfrau  Cäcilia  und 

Der  Jungfrauen  Adelgunda  und  Euphemia. 

Dieses  hat  sich  zugetragen  im  Jahre  1205  der  Mensch- 
werdung Gottes  unter  der  Regierung  Kaiser  Philipps,  da 
Innocenz  als  oberster  Priester  der  heiligen  römischen  Kirche 
vorstand,  unter  den  Bischöfen  Luthold  von  Basel  und 
Heinrich  von  Strassburg.  Kein  Gläubiger  darf  also  im 
mindesten  zweifeln,  dass  Gottes  Gnade  es  fügte,  wenn  so  viele 
und  grosse  und  gefeierte  Reliquien  trotz  zahlloser  Hindernisse 
durch  einen  Mann,  der  in  sich  selbst  allzeit  die  Demut 
bewahrte,  an  unsere  Kirche  gelangen  konnten.  Fühlte  sich 
doch,  wie  ich  glaube,  ganz  Deutschland  bei  ihrer  Ankunft 
innerlich  froher  !  Gewann  es  doch  durch  sie  an  Ruhm  auch 
nach  aussen,  ja  an  Glück  selbst  in  Gottes  Augen  !  Niemand 
urteile  deshalb,  dies  alles  sei,  wie  manches  Andere,  nur 
zufallig  gekommen ;    denn   das  hiesse  geradezu  die  herrlichen 


—    54    — 

h  a  ten  Gottes  verleumderisch  ihres  Glanzes  berauhen  !  Wenn 
wir  nämlich  die  unglaublich  schnelle  Eroberung  jener  grossen 
Hauptstadt,  aus  ivelcher  unsere  Reliquien  stammen,  vrenn 
vf\r  die  Kette  der  vorhergegangenen  Ursachen,  die  gefahrvolle 
Heimreise  des  Abtes  Martinus  zu  Wasser  und  zu  Land  und 
wie  er  allenthalben  durch  Gottes  Schutz  unversehrt  blieb,  auf- 
merksam betrachten,  so  wird  es  aufs  klarste  ans  Licht  treten, 
dass  dies  alles  wahrhaftig  kein  Spiel  des  Zufalles,  sondern 
göttliches  Gnadengeschenk  war.  Wer  immer  deshalb  unsere 
Kleinode  sieht  oder  diese  Geschichte  hört,  muss  darin  überall 
die  Hand  Gottes  erblicken  und  anbeten  und  von  ihm  den 
Lohn  erwarten  seines  Glaubens  und  seiner  Andacht. 

Alles,  was  hier  ich  berichte,  was  selbst  wir  gesehen,  die  Geschichte, 
Die  nach  den  sichersten  Quellen  als  wahr  vor  den  Leser  wir  stellen, 
Spielte  sich  nicht  im  Geleise  des  Alltags  ab,  in  dem  Kreise, 
Drinnen  der  Zufall  waltet  nnd  eitle  Gebilde  gestaltet! 
Nicht  zufällige  Wahrheit  erzähV  ich;  in  himmlischer  Klarheit 
Seh'  ich  den  Vater  der  Zeiten  den  Gang  der  Ereignisse  leiten! 
Eine  vom  Neide  zernagte,  verstandlose  Seele  nur  wagte 
Dreist  zn  behaupten  die  Lüge,  dass  Zufall  solcherlei  füge ! 
Zufall  will  man  es  nennen!  Anstatt,  was  wahr,  zu  bekennen, 
Tauscht  man  ein  Wort,  zu  vereinen  das  Göttliche  mit  dem  Gemeinen ! 
Ja,  wer  mit  solchen  Gedanken  sich  trägt,  ist  übel  im  Wanken 
Und  im  Gemüte  geschieden  von  mir!  Wo  gäb^  es  hienieden 
Klar  ein  Gesetz,  zu  begründen  so  Grosses,  wie  wir  euch  verkünden? 
Grosses  fürwahr!  Beim  Erzählen  ergreift  schon  Staunen  die  Seelen: 
Zahllose  feindliche  Scharen,  die  trefflich  gerüstet  auch  waren, 
Mussten  vor  wenigen  Frommen,  die  weit  aus  der  Feme  gekommen, 
Hinter  den  Mauern  sich  lassen  belagern  —  wer  möchte  das  fassen  ? 
Hier  eine  Handvoll  Helden  (ja,  wahr  ist,  was  wir  euch  melden !) 
Dort  dicht  wimmelnde  Haufen  von  Bürgern !  Es  mocht*  sich  belaufen 
Reichlich  die   Zahl  an   die   hundertmal  höher;  und  dennoch  (wer 

wundert 
Nicht  sich  der  Märe?)  gewannen  die  Stadt  so  wenige  Mannen, 
Jagten  das  Volk  aus  den  Thoren  und  herrschen,  vom  Himmel  er- 
koren, 
Fröhlich  der  herrlichen  Beute,  daselbst  als  Sieger  noch  heute! 
Und  hier  hat  sich^s  begeben,  bei  dieser  Eroberung  eben, 
Dass  ein  Mann  im  Gewände  der  Mönche,  mit  scharfem  Verstände, 
Unser  Martinus,  besonnen,  nicht  Gold  und  Silber  gewonnen. 
Sondern  zu  bleibender  Ehre  den  Erbschatz  frommer  Altäre! 
Und  die  errungene  Beute,  den  Raub,  der  den  Himmel  erfreute, 
Wollte  herüber  er  bringen  zu  uns,  und  es  musst^  ihm  geUngen 
Trotz  viel  tausend  Gefahren,  da  Gott  ihn  wollte  bewahren! 
Viel  zwar  hat  er  ertragen,  der  Leib  war  müde  der  Plagen, 
Aber  der  Geist  blieb  munter,  ihm  sanken  die   Kräfte  nicht  unter, 
Und  so  gelang  es!  Der  Gute  um  Christi  willen  nicht  ruhte, 
Bis  er  an  heiligem  Platze  die  Stätte  bereitet  dem  Schatze! 


—    55    — 


XXV. 


Von  diesen  Geschenken  der  himmlischen  Gnade  aber, 
welche  der  Herr  so  reichlich  seinem  getreuen  Diener,  dem 
Abte  Martin  US,  und  durch  ihn  der  Kirche  von  Pairis 
verliehen  hatte,  gab  diese  Kirche  zur  Ehre  Gottes  und  des 
ganzen  römischen  Reiches  ein  ansehnliches  Stück  an  den 
erhabenen  Kaiser,  Herrn  Philipp,  ein  Bild  nämlich  von 
schier  unschätzbarem  Werte,  das  mit  Gold  und  Edelsteinen 
aufs  kunstvollste  geschmückt  war  und  sehr  viele,  bisher  sorg- 
faltig verborgene  heilige  Reliquien  enthielt,  die  noch  weit  kost- 
barer waren  als  das  Gold  und  die  Edelsteine.  Dieses  Bild 
hatte  der  griechische  Kaiser  bei  festlichen  Gelegenheiten,  gleich- 
sam als  sicheres  Pfand  seiner  Herrschaft,  an  goldener  Kette 
am  Halse  getragen.  Unter  allen  den  Edelsteinen  und  dem  Gold 
funkelte  besonders  ein  Jaspis  von  erstaunlicher  Grösse,  in 
welchem  der  Herr  am  Kreuz  und  daneben  die  allerseligste 
Jungfrau  und  der  Evangelist  Johannes  geschnitten  waren.  Des- 
gleichen ein  Saphir  von  ebenfalls  ausserordentlicher  Schwere 
mit  dem  Bilde  Gottvaters,  so  kunstvoll  geschnitten,  als  es  bei 
einem  Gegenstand  möglich  ist,  der  eigentlich  überhaupt  bildlich 
nicht  dargestellt  werden  kann.  Der  glorreiche  König  Philipp, 
zwar  noch  ein  junger  Mann,  aber  reif  in  der  Furcht  Gottes 
und  sittlichem  Wandel,  nahm  dieses  Geschenk  mit  grösstem 
Wohlwollen  an  und  bewies  seinen  Dank  dadurch,  dass  er  die 
Kirche  Pairis  mit  all  ihrem  Zubehör  unter  seinen  Schutz 
stellte,  und  ihr  alle  übrigen  Reliquien,  die  M  a  r  t  i  n  u  s  gebracht 
hatte,  durch  kaiserliche  Urkunde  als  ewiges  Eigentum  bestätigte. 

1  Diese  Geschichte  aber  hat  der  Magister  Günther 
geschrieben,  der  damals  Mönch,  früher  jedoch  Schulmann  war 
und  eine  umfassende  Bildung  genossen  hat.  Er  hing  mit  ganzer 
Seele  an  seinem  Gregenstand  und  führte  die  Feder  in  dem 
zuversichtlichen  Glauben,  dass  er  von  Gott,  der  so  Grosses 
durch  seine  Getreuen  hat  vollbringen  lassen,  als  der  Erzähler 
göttlicher  Thaten  das  ewige  Leben  empfangen  werde. 

Ja,  so  ist  es  geschehen:  Yen  Hellas  mit  Siegestrophäen 
Kam  ein  Mann  uns  gezogen,  dem  sämtliche  Gate  gewogen ! 
Aber  vom  herrlichen  Preise  der  Glück  ihm  bringenden  Reise, 
Nimmer  ermüdend  in  Treue,  sie  kräftig  bewährend  aafs  nene, 
Wollt\  sein  Lob  zu  vermehren,  das  köstlichste  Stück  er  verehren, 
Ein  schier  kronreifgleiches,  Philippns,  dem  König  des  Reiches ! 


1  Diese   Schlnssworte   (bis    « empfangen   werde  >)  rühren  jeden- 
falls von  einem  der  Abschreiber  her. 


—    56    — 

0  der  erlesenen  Gabe!  das  Frankstück  forstlicher  Habe, 
Griechischer  Könige  Bestes,   der  Haaptschmuck   höfischen  Festes, 
Wie  zu  Byzanz  kein  zweiter!  Ein  Jaspis  daran,  ein  geweihter, 
Herrlichster  Art,  der  nm  Hänfen  von  Gold  nicht  wäre  zu  kanfen, 
Oder  getauscht  möcht^  werden  für  zahllose  Güter  der  Erden, 
Sondern  so  lieb  mnss  gelten,  als  edel  er  ist  und  als  selten! 
Und  dem  solches  gelangen,  Martinas,  er  hat  aach  errangen, 
Seit  sein  Schifflein  berührte  den  Hafen,  was  wohl  ihm  gebührte: 
Dass  er  mit  voUestem  Rechte  dem  Volke  von  deatschem  Geschlechte, 
Fürsten  and  Priestern  und  Laien,  ob  fern  oder  nahe  sie  seien, 
Ganz  wie  den  Brüdern  im  Orden,   ein  teuerer  Liebling  geworden! 
Werde  vor  Christi  Throne  dereinst  ihm  Gleiches  zum  Lohne 
Mit  dem  erwähleten  Samen!  Wer^s  liest,  der  8pff«eke  awi   Amen! 


Möchte  auch  dieser  Geschichte  Verfasser  bestehen  im  Gerichte, 
Möchte  von  Günther  desgleichen,  was  hier  er  gesündiget,  weichen, 
Dass  er  zum  Herrn  eingehe !  Wer's  liest,  der  Sprech^ :  Es  geschehe!  — 


II. 


Das  Elsass 


bei  dem  Ausbruch  der  französischen  Revolution 


geschichtliche  Studie 


von 


Julius  Rathgeber. 

Jtlundert  Jahre  sind  seit  dem  Ausbruch  der  französischen 
Revolution  verflossen.  Aus  diesem  Anlass  dürfte  eine  über- 
sichtliche Darstellung  der  politischen,  bürgerlichen,  religiösen 
und  gesellschaftlichen  Zustände  des  Elsass  im  Jahre  1789  von 
Interesse  sein  und  von  manchem  Leser  willkommen  geheissen 
werden.  Ein  anderer  Umstand  noch  ist  für  den  Verfasser  dieser 
Skizze  massgebend  gewesen,  nämlich  die  selbst  in  gebildeten 
Kreisen  herrschende  Unkenntnis  der  elsässischen  Verhältnisse 
vor  der  französischen  Revolution.  Eine  sachliche,  unparteiische 
Schilderung  derselben  dürfte  daher  wohl  zeitgemäss  sein. 

Die  Hauptquellen,  aus  welchen  der  Verfasser  bei  dieser 
Arbeit  geschöpft  hat,  sind  die  von  dem  Strassburger  Alter- 
tumsforscher, dem  gelehrten  Professor  Jeremias  Jakob 
Ob  erlin  herausgegebenen  wertvollen,  aber  selten  gewordenen 
Almanachs  d'Alsace,  die  von  1780  an  bis  1792  erschienen  sind, 
ferner  der  «  Bürgerfreund »  (2  Bände)  und  der  e  Patriotische 
Elsässer»,  von  dem  bescheidenen,  aber  verdienstvollen  Diakonus 


—    58    — 

Sigisniund  Billing  aus  Colmar  herausgegeben  (2  Bände), 
sodann  die  gründliche  und  äusserst  massvoll  gehaltene  Denk- 
schrift des  Strassburger  Abgeordneten  bei  der  französischen 
Nationalversammlung,  des  Barons  Johann  von  Turckheira. 
Er  schrieb  sie  infolge  der  Abschaffung  des  Lehenswesens  und 
aller  adeligen  Vorrechte  in  Frankreich  durch  den  Beschluss  der 
Nationalversammlung  in  jener  denkwürdigen  Nachtsitzung  vom 
4.  August  1789.  Die  Türckheimsche  Schrift,  welche  zuerst  fran- 
zösisch, dann  in  deutscher  Uebersetzung  erschien,  ist  betitelt: 
«Abhandlung  das  Staatswesen  der  Stadt  Strassburg  und  des 
Elsasses  überhaupt  betreffend».  Strassburg,  gedruckt  bei  Philipp 
Jakob  Dannbach.  4789.  Ferner  das  Werk  von  Krug- Basse:  L'AI- 
sace  avant  4789.  i 

Die  vorliegende  Arbeit  zerfallt  in  folgende  Abschnitte :  Terri- 
torialverhältnisse, Verwaltung,  Justiz,  Kultus,  Unterrichtswesen, 
Armen-  und  Krankenpflege,  Ackerbau  und  Gewerbe,  Militär- 
verwaltung, Steuer-  und  Finanzwesen,  Verkehrsleben  und  Ge- 
selligkeit. 

Territorial  Verhältnisse . 

Durch  den  Westfälischen  Frieden  hatte  der  deutsche  Kaiser 
alle  dem  Hause  Habsburg  im  Elsass  zukommenden  Rechte,  so- 
wie die  Oberhoheit  über  die  elsassischen  Reichsstädte  dem  König 
von  Frankreich  überlassen.  Nach  deutscher  Auffassung  war 
letzterer  als  Souverän  des  Ober- Elsass,  des  Sundgaus  und 
der  Grafschaft  Pfirt,  welche  das  frühere  Territorium  des  elsas- 
sischen Vorder-Oesterreichs  bildeten,  anerkannt,  war  aber  nicht 
Souverän,  sondern  bloss  Protektor  der  zehn  reichsunmittel- 
baren elsäss;schen  Städte.  Allein  Ludwig  XIV.  beanspruchte  bald 
die  vollen  Souveränetätsrechte  über  letztere  und  brach  im  August 
4673  mit  gewaltthätigen  Mitteln  und  in  willkürlicher  Weise 
deren  Widerstand;  besonders  die  Städte  Colmar  und  Schlett- 
stadt  fühlten  seine  harte  Hand  und  erfuhren  eine  mira  meta- 
morphosis.  Colmar  wurde  aus  einer  festen  Stadt  ein  «offenes 
Dorf»,  wie  die  zeitgenössischen  Chronisten  schreiben.  Schlett- 
stadt  wurde  wie  eine  feindliche  Stadt  behandelt.  Von  dieser 
Zeit  an  wurde  die  französische  Regierung,  wenn  auch  unter 
ohnmächtigen  Protesten  der  elsässischen  Reichsstädte  und  wir- 
kungslosen Appellationen  an  den  Reichstag  von  Regensburg,  im 
Elsass  allgemein  anerkannt,   und  deren  Befehle   erlangten,  be- 


1  Dieser  Aufsatz  war  bereits  vor  dem  Erscheinen  der  gründ- 
lichen nnd  gehaltvollen  Schrift  von  Hermann  Lndwig,  «Strass- 
bnrg  vor  hundert  Jahren  >  geschrieben,  auf  welche  wir  die  Leser  des 
Jahrbuchs  besonders  aufmerksam  machen  möchten. 


—    59    — 

sonders  nach   der  Kapitulation   von  Strassburg  (30.  September 
1681),  Gesetzeskraft  im  ganzen  Lande. 

An  der  Spitze  der  Civilverwaltung  stand  ein  Intendant  d'Al- 
sace.  Diese  Würde  bekleidete  im  Jahre  1789  der  Baron  von  Chau- 
mont  de  la  Galaizi^re,  kurzweg  mit  letzterem  Namen  benannt. 
Das  Gouvernementshotel  befand  ^ich  im  früheren  Endingenschen, 
späteren  markgraflichen  Hofe  «zum  Drachen»  in  der  Drachen- 
gasse. An  der  Seite  des  Intendanten  stand  ein  Generalgouverneur, 
der  in  der  Blauwolkengasse,  im  heutigen  Jnstizgebaude,  seinen 
Sitz  hatte.  Im  Jahre  1789  bekleidete  der  Herzog  von  Aiguillon 
dieses  Amt. 

Ausser  den  Landesteilen,  in  welchen  der  König  von  Frank- 
reich die  unumschränkte  Gewalt  ausübte,  gab  es  im  Elsass  noch 
eine  Anzahl  von  Territorien,  deren  Herren  eine  gewisse  Selb* 
ständigkeit  besassen  und  nur  die  französische  Oberhoheit  aner- 
kannten. Es  waren  dies :  die  Grafschaft  H a n a u-L ichtenberg,. 
das  sog.  «Hanauer  Land:»,  welches  seit  1736  den  Landgrafen 
von  Hessen-Darmstadt  gehörte,  deren  Hotel,  der  Darmstädter 
(früher  Hanauer)  Hof  zu  Strassburg  in  der  Brandgasse  sich 
erhob.  Es  ist  das  heutige  Stadthaus.  Ferner  die  Z  w  e  i  b  r  ü  c  k  i- 
sehen  Besitzungen,  die  Stadt  und  Herrschaft  Bischweiler 
(das  birkenfeldische  Erbe)  und  die  Grafschaft  Rappoltstein  (das 
rappoltsteinische  Erbe).  Die  Herzoge  von  Zweibrücken  residierten 
seit  1770  in  dem  von  ihnen  erbauten  Zweibrücker  Hof  (dem 
heutigen  Generalkommandogebäude)  in  der  Brandgasse.  Die 
Herzoge  von  Württemberg  besassen  im  Ober-Elsass  die  Graf- 
schaft Horburg  und  die  Herrschaft  Reichenweyer.  Die  Mark- 
grafen von  Baden-Du  rlach  und  die  Grafen  von  Nassau- 
Weilburg,  Saarbrücken  und  Saarwerden  besassen 
ebenfalls  Gebiete  im  Elsass  und  im  Saarthale.  Die  pfälzi  sehen 
Kurfürsten  hatten  die  Grafschaft  Lützelstein  im  sog.  Westreicb^ 
dem  gebirgigen  Grenzstrich  zwischen  Elsass  und  Deutsch-Loth- 
ringen, inne. 

Die  Fürsti)ischöfe  von  Basel,  Strassburg  und  Speyer 
übten  gleichfalls  Territorialrechte  aus;  das  Bistum  Strassburg 
besass  im  Ober-Elsass  das  obere  Mundat  (die  Gegend  von  Rufach), 
im  Unter-Elsass  acht  Aemter  und  über  dem  Rheine  zwei,  Renchen 
und  Ettenheim.  Der  Fürstbischof  von  Strassburg,  Ludwig  Re- 
oatus  Eduard  Kardinal  von  Rohan,  hatte  zwei  prachtvolle  Resi- 
denzen im  Elsass,  das  bischöfliche  Schloss  zu  Strassburg  und 
den  herrlichen  Palast  zu  Zabern;  beide  Prachtgebäude  hatten 
die  Rohan  erbaut.  Das  Zaberner  Schloss  mit  seinen  Gärten, 
Bassins,  Park-  und  Waldanlagen  war  ein  kleines  Versailles. 

Im  Ober-Elsass  war  nur  ein  kleiner  selbständiger  Freistaat^ 
nämlich    die   Republik   Mülhausen    (Stadt   und  zwei  Dörfer, 


—    60    — 

Illzach  und  Modenheim),  welche  eine  schweizerische  Enclave, 
aber  ohne  Zusammenhang  mit  der  Eidgenossenschaft  bildete 
und  der  Annexion  an  Frankreich  naturgemäss  anheimfallen 
musste. 

Ausser  diesen  Herrschaften  gab  es  noch,  namentlich  im 
untern  Elsass,  eine  grosse  Anzahl  von  ritterschaftlichen  Gebieten, 
deren  ansehnlichste  die  Grafschaft  L  e  i  n  i  n  g  e  n-W  esterburg 
und  die  Herrschaft  Fleckenstein  waren.  Die  Herren  derselben 
übten  die  obere  und  untere  Gerichtsbarkeit  in  ihren  Besitzungen 
aus,  ernannten  die  Richter  und  Amtleute  und  zogen  die  Straf- 
gelder ein;  auch  besassen  sie  meistens  das  Patronatsrecht  in 
den  Kirchen.  Sie  hatten  noch  andere  Privilegien,  wie  die  Frei- 
heit des  Salzkaufes,  das  Fronrecht,  das  Ohm-  und  Weingeld, 
den  Zehnten,  die  den  Juden  auferlegten  Abgaben  u.  dgl.  m. 
Die  unterelsässische  Ritterschaft  war  durch  ein  sog.  Di« 
rektorium,  das  aus  zehn  Mitgliedern,  nämlich  sieben  Direk- 
toren und  drei  Assessoren  zusammengesetzt  war,  vertreten.  Dieses 
Direktorium  hielt  seine  Sitzungen  im  sog.  « Ritterhause  >  auf 
dem  Stephansplatze  (dem  heutigen  Hause  Petiti).  Das  Direktorium 
der  unterelsässischen  Ritterschaft  bildete  eine  Art  Zwischen- 
gericht, dessen  Mitglieder  durch  periodische  Wahlen  erneuert 
wurden  und  von  dessen  Urteilssprüchen  man  an  das  Gonseil 
Souverain  von  Colmar  appellieren  konnte.  Der  oberelsässische 
Adel  war  viel  weniger  zahlreich  als  derjenige  des  Unter-Elsass ;  er 
war  teils  ausgestorben,  teils  ausgewandert,  und  die  wenigen 
übrig  gebliebenen  standen  ganz  imter  des  Königs  von  Frank- 
reich Botmässigkeit. 

Das  waren  die  Territorialverhältnisse  im  Elsass,  dessen  Be- 
völkerung im  Jahre  1789  auf  650,000  Seelen  sich  belief.  In- 
folge derselben  besassen  eine  Reihe  von  deutschen  Fürsten  noch 
fürstliche  Landesrechte  und  Privilegien,  wenn  auch  unter  franzö- 
sischer Oberhoheit. 

Landesverwaltung. 

In  Bezug  auf  die  innere  Verwaltung  hatte  die  französische 
Regierung  den  Magistraten  der  Städte  ihre  frühere  Selbständigkeit 
unter  gewissen  Beschränkungen  gelassen.  Die  Strassburger  Ver- 
fassung, die  von  1482  bis  zur  Revolution  beinahe  unverändert 
fortbestand,  ist  zur  Genüge  bekannt.  Die  Stadtverwaltung  be- 
stand aus  einem  bürgerlichen,  jedes  Jahr  am  Schwörtag  ernannten 
Ammeister  und  vier  adeligen  Stättmeistern,  wovon  die 
Hälfte  alle  zwei  Jahre  austrat.  Jeder  Stättmeisler  versah  der 
Reihe  nach  ein  Vierteljahr  lang  das  Amt  eines  Kanzlers  und 
hatte  das  Stadtsiegel  in  Händen.  Der  Magistrat  selbst  bestand  aiis 


—    61     — 

einem  Grossen  und  aus  einem  Kleinen  Rat.  Der  ersiere 
wurde  von  den  300  Schöffen  ernannt  und  zahlte  dreissig  Mit- 
glieder» zwanzig  bürgerliche  und  zehn  adelige»  welche  c  Constoffler  » 
genannt  wurden.  Der  regierende  Ammeister  führte  den  Vorsitz 
im  Grossen  Rat.  Neben  demselben  fungierten  drei  Kammern, 
die  Dreizehner  (XIII)»  welchen  die  Führung  der  auswärtigen 
Geschäfte  anvertraut  war,  die  Fünfzehn  er  (XV),  welche  die 
inneren  Angelegenheiten  leiteten,  und  die  Ein  undzwanziger 
(XXI)  oder  die  «alten  Herren»^  welche  aus  überschüssigen  Rats- 
herren  bestand,  die  bald  dem  einen,  bald  dem  anderen  Kollegium 
beigesellt  wurden.  Dieselben  bildeten  das  sog.  beständige 
Regiment.  Der  Kleine  Rat  bestand  aus  sechs  Adeligen  und 
zwölf  bürgerlichen  Mitgliedern  und  hatte  die  kleineren  Rechts- 
händel und  die  PoHzeisachen  unter  sich.  Die  Bürgerschaft  war  in 
zwanzig  Zünfte  eingeteilt,  deren  jede  vierzehn  Schöffen  nebst  einem 
ans  dem  beständigen  Regiment  ernannten  Oberherren  zum 
Vorsteher  hatte.  Der  Schöffenrat,  auch  Schöffenversammlung  ge- 
heissen  (300  Mitglieder  an  der  Zahl),  hatte  das  Recht,  die  Be- 
schlüsse des  Magistrats  zu  prüfen  und  dieselben  zu  genehmigen 
oder  zu  verwerfen.  Ferner  gab  es  in  Strassburg  noch  Polizei-, 
Ehe-,  Schirm-  und  Vogteigerichte.  An  letzterem  war  beispiels- 
weise der  bekannte  Aktuar  S  a  1  z  m  a  n  n,  Goethes  Tischgenosse 
und  älterer  Freund  angestellt. 

Alle  diese  Einrichtungen  stammten  noch  aus  der  allen 
reichsstadtischen  Zeit  und  bestanden  bis  zum  Jahre  1789  fort. 
In  0>lmar  stand  an  der  Spitze  des  Rats  einObristmeister, 
der  alle  Jahre  am  iO.  August  (am  Laurentiustage)  für  ein  Jahr 
gewählt  wurde.  In  den  übrigen  ehemaligen  Reichsstädten  waren 
Bürgermeister,  die  unter  ähnlichen  Bedingungen  jährlich  ge- 
wählt wurden,  an  der  Spitze  des  Rats.  Um  ihre  Regalien  zu 
wahren,  hatte  die  französische  Regierung  in  jeder  elsässischen 
Stadt,  die  einen  selbständigen  Rat  besass,  seit  1685  einen 
königlichen  Kommissar  ernannt^  welcher  den  Namen  Prätor 
tmg.  Derselbe  hatte  Sitz  und  Stimme  im  Rat  und  konnte  sein 
Velo  einlegen,  wenn  er  glaubte,  dass  die  französischen  Inter- 
essen gefährdet  wären. 

Im  Jahre  1789  war  zu  Strassburg  Ammeister  Herr  Johann 
Lemp,  ein  bekannter  Rechtsgelehrter,  der  in  der  Schildsgasse 
(im  nachmaligen  Zimmerschen,  jetzt  Körtgeschen  Hause)  wohnte. 
Die  vier  Stättmeister  waren  die  Barone:  Franz  Joseph 
Haffner  von  Wasselnheim,  Obrist  des  Regiments  von 
Anhalt  und  Ritter  des  St.  Ludwigsordens,  Franz  Maternus 
Ludwig  Zorn  von  Bulach,  Mitglied  des  Direktoriums  der 
unterelsässischen  Ritterschaft  und  Maltesern t1  er,  Friedrich 
Ludwig  RenatusWurmser  von  Vendenheim,  Mestre 


—    62    — 

-de  Camp,  Grosskreuz  des  französischen  Ordens  des  Militar- 
verdienstes  (für  Protestanten,  die  nicht  Ludwigsrilter  wegen 
ihrer  Religion  werden  konnten)  und  des  badischen  Hausordeos 
der  Treue,  und  Philipp  Jakob  Renatus  von  Berste  tt^ 
Offizier  im  Regiment  Nassau-Saarbrücken,  der  Vater  des  badi- 
schen Staatsministers.  Der  letzte  königliche  Prätor  von  Strass- 
bürg  war  AI  exa  n  der  Kon r ad  vonG6rard.  Da  derselbe 
ieidend  war,  delegierte  Ludwig  XVI.  im  Monat  Juli  1789  als 
liöniglichen  Kommissar  den  Baron  Friedrich  von  Diet- 
rich nach  Strassburg,  um  daselbst  die  Gemüter  der  Bürger- 
schaft zu  beschwichtigen. 

Justiz. 

Der  höchste  Gerichtshof  im  Elsass  war  der  1698  von  d^r 
s«g.  ((Strohstadt»  Neu-Breisach  nach  Golmar  verlegte  Ck>nseil 
Souverain  d*Alsace,  welcher  die  Stelle  eines  königlichen  Par- 
laments im  Lande  einnahm  und  zugleich  den  obersten  Appellhof 
der  Provinz  bildete.  Die  meisten  Gonseillers  waren  Vollblut- 
franzosen. .Unter  den  Advokaten,  die  an  demselben  thätig  waren, 
ist  der  bekannteste  das  nachmalige  Konvents-  und  Direktoriums- 
mitglied Johann  Baptist  Reubel^  der  bis  zum  Ausbruch 
-der  Revolution  die  Interessen  der  im  Elsass  possessionierten  deut- 
lichen Fürsten  vertrat  und  ihre  Rechte  verteidigte.  Der  Colmarer 
hohe  Gerichtshof  trug  nicht  wenig  zur  allmählichen  Untergrabung 
der  alten  Verfassung  Strassburgs  und  der  übrigen  ehemaligen 
-elsässischen  Reichsstädte  bei,  indem  er  die  Vermischung  des 
IVanzösischen  mit  dem  deutschen  Rechtswesen  veranlasste  und 
oft  Machtsprüche  wider  alte  deutsche  Landesrechte  und  Frei- 
heiten aussprach.  Das  Conseil  Souverain  d'Alsace  bestand  aus  zwei 
Kammern.  Die  erste  lallte  Beschlüsse  über  die  sog.  Regalien, 
welche  die  königliche  Souveränetät  und  königliche  Domänen  be- 
trafen, ferner  über  Appellationen,  Givilsachen,  kirchliche  An- 
gelegenheiten und  Prozesssachen  des  elsässischen  Adels.  Die 
zweite  Kammer  hatte  hauptsächlich  Kriminalfalle  unter  sich.  Der 
hohe  königliche  Gerichtshof  veröffentlichte  auch  Polizeimandate, 
die  Gesetzeskraft  hatten,  und  übte  Aufsicht  über  die  Verwaltung 
der  geistlichen  Güter  aus;  er  überwachte  auch  die  Verwaltung 
der  Spitäler  und  Kirchenkassen  (sog.  Fabrik-  und  Kirchengüter), 
übte  das  Aufsichtsrecht  über  die  Güter  der  toten  Hand  und 
war  die  oberste  Verwaltungsbehörde  im  Elsass,  Der  Gerichtshof 
bestand  aus  zwei  Präsidenten  und  zweiundzwanzig  Ratsherren 
(Gonseillers),  davon  zwei  Geistliche  (conseillers-clercs).  Ausser- 
dem waren  vier  adelige  Ehrenratsherren  (gonseillers  d'honneur 
d'epee)  und  zwei  geistüche  Ehren  Würdenträger  (conseillers  d'bon- 


—    63    — 

neur  d'eglise).  Ferner  fungierten  ein  Generalprokurator,  zwei 
Generaladvokaten  und  zwei  Stellvertreter  derselben  (Substituts) 
am  Gerichtshofe.  Im  Jahre  4789  waren  61  Advokaten  am  Conseil 
Souverain  thätig. 

Ein  Präsident  des  hohen  Gerichtshofes  von  Golraar,  Franz 
Heinrich  vonBoug,  mit  dem  Zunamen  Boug  von  Orsch- 
Weiler,  gab  im  Jahre  1775  die  bereits  von  seinem  Vorganger 
von  Corberon  begonnene  wertvolle  Sammlung  der  «Or- 
donnances  et  Arrets  du  Conseil  Souverain  d'Alsacej»  heraus.  Bei 
dem  Ausbruch  der  französischen  Revolution  bekleidete  der  Baron 
Franz  Nikolaus  von  Spon  das  Amt  eines  ersten  Präsidenten. 

Die  übrigen  Gerichtshöfe  im  Elsass  waren :  die  Regierungen 
von  Z a b e r n  und  von  Buchsweiler,  das  Direktorium  der 
reichsunmittelbaren  Ritterschaft  des  Unler-Elsass,  die  Rats- 
kollegien der  Stadt  Strassburg  und  die  unteren  Gerichte  der 
zehn  ehemaligen  freien  Reichsstädte  des  Elsass. 

Die  bischöfliche  Regierung  von  Zabern  war  ein  Appellgericht 
für  die  Unterlhai.en  des  Bistums.  Diese  Regierung  war  zu- 
gleich, wie  diejenige  von  Buchs wei  1er,  eine  Verwaltungs-  und 
eine  Gerichtsbehörde.  Es  standen  unter  ihrer  Botmässigkeit  die 
zehn  Städte  und  die  110  Dörfer,  die  der  Fürstbischof  von  Strass- 
barg  im  Elsass  besass,  desgleichen  die  beiden  überrheinischen 
Aemter  Renchen  und  Ettenheim.  Sie  durfte  in  Prozessen  biä  zu 
einer  Summe  von  1500  Livres  entscheiden.  Dann  ging  die  Ange- 
legenheit an  den  hohen  königlichen  Gerichtshof  von  Colmar  über. 
Die  bischöfliche  Regierung  bez.  Gerichtsbarkeit  bestand  aus  einem 
Viztum  (Vicedoift),  der  den  Vorsitz  führte,  einem  Vize-Kanzler 
und  Siegelbew^ahrer,  aus  sieben  Ratsherren,  davon  ein  adeliger, 
aus  einem  bischöflichen  Fiskal  und  zwei  Stellvertretern,  einem 
Gerichlsschreiber  und  zwei  Registratoren. 

Die  Buchsweiler  Regierung  bestand  aus  einem  Regierungs- 
präsidenten, sechs  Räten,  einem  Fiskal  und  einem  Gerichts- 
schreiber. Ihr  waren  unterthan  die  92  Städte  und  Dörfer  der 
neun  hanau-lichtenbergischen,  seit  1736  fürstlich  hessischen 
Äemler,  die  eine  Bevölkerung  von  100,000  Seelen  zählten. 
Durch  eine  besondere  Vergünstigung  des  Königs  von  Frankreich 
durften  die  Mitglieder  der  hanau-lichtenbergischen  Regierung 
sowie  die  Schulzen,  « Stabhalter »  genannt,  der  lutherischen  Reli- 
gion angehören. 

Das  Direktorium  der  unterelsässischen  Ritterschaft  durfte 
als  Gerichtshof  seine  Entscheidungen  bis  zu  einer  Summe  von 
500  Livres  fällen.  Es  entschied  auch  in  allen  Rechtsfallen  der 
Adeligen  unter  einander  und  der  Unterthanen  mit  ihren  Herren. 
Es  bildete  gleichfalls  den  Appellhof  für  die  zehn  ritterschaftlichen 
Amteyen  (auch  Kellereyen  genannt)  des  Elsass. 


—    64    — 

Durch  die  Kapitulation  von  1681  hatte  die  Stadt  Strassburg 
den  Fortbestand  ihrer  städtischen  Verfassung  und  Gerichtsbarkeit 
zugesichert  erhalten.  Die  Kammer  der  Dreizebner  war  die  oberste 
Gerichtsbehörde.  Sie  durfte  in  Civilprozessen  bis  zu  einer  Summe 
von  1000  Livres  entscheiden.  Sieben  Beisitzer  waren  nötig, 
damit  die  Urteile  rechtskraftig  wurden.  Das  Amt  eines  Staats- 
anwalts bekleidete  einer  der  Generaladvokaten  der  Stadt.  Der 
«Grosse  Rati  war  der  Appellhof  für  die  Gerichtssachen,  über 
welche  der  «Kleine  Ratj»  in  erster  Instanz  entschieden  hatte. 
Auch  die  vier  Aemter^  der  Stadt  waren  dieser  Crerichtsbarkeit 
unterworfen. 

In  Weissenburg  bestand  bis  1789  das  sog.  «Staffelgericht  >, 
auch  « Mundatgericht  B  genannt,  welches  sich  mit  Entscheidung 
von  Erbschafts-  und  Schuldscheinstreitigkeiten  sowie  mit  kirch- 
lichen Angelegenheiten  abgab.  Es  stand  dieses  Gericht  unter 
dem  Stadtvogt;  einer  der  Schöffen  leitete  den  Geschäftsgang. 
Unter  der  Gerichtsbarkeit  des  Landvogts  von  Hagenau  (bailli 
royal  de  la  pr^fecture  de  Haguenau)  standen  die  sog.  €  fünfzig 
Reichsdörfer Ji»,  die  einst  zur  kaiserlichen  Landvogtei  gehörten. 

Kultus. 

An  der  Spitze  des  Bistums  Strassburg  stand  im  Jahre 
1789  der  durch  seine  Prachtliebe  und  die  unglückselige  Hals- 
bandgeschichte bekannte  KardinalLud  wigRenatus  Eduard 
von  Rohan-Guem^n^e,  der  den  Titel  eines  Fürstbischofs 
von  Strassburg,  Landgrafen  von  Elsass  und  Fürsten  des  h. 
römischen  Reiches  führte.  In  Strassburg  waren  vier  geistliche 
Stifte;  das  Hohe  Stift  am  Münster,  das  zwei  Abteilungen 
hatte,  das  adelige  Domkapitel  der  24  Grafen;  die  Mitglieder 
desselben  mussten  sechzehn  Adelsstufen  aufweisen  und  gehörten 
den  ältesten  Adelsgeschlechtern  Deutschlands  und  Frankreichs  an- 
Wir  begegnen  unter  ihnen  den  Namen  von  Hohenlohe,  Truch. 
sess,  Croy,  Königseck,  Salm,  La  Tr^mouille,  Rochefort  und  an- 
deren. Ferner  das  sog.  Hohe  Chor,  das  bloss  aus  Domherren 
bürgerlicher  Abkunft  bestand.  Die  drei  anderen  Strassburger 
Stiftskirchen  waren  Alt-  und  Jung-St.  Peter  und  Allerheiligen. 

In  Elsass  bestanden  seit  aller  Zeit  zahlreiche  Klöster.  Die 
Hauptorden  waren  diejenigen  der  Benediktiner,  Bernhardiner, 
Dominikaner,  Johanniter,  Augustiner,  Franziskaner,  Jesuiten 
und  Kapuziner.  Auch  Nonnenklöster  waren  vorhanden;  das  be- 
rühmteste darunter  war  das  Kloster  Unterlinden  in  Colmar, 


^  Diese  vier  strassburgischen  Aemter  waren :  Barr,  Wasselnheini, 
Marlenheim  und  Illkirch. 


—    65    — 

im  Mittelalter  ein  Sitz  des  Mystizismus.  Im  Jahre  1789  gab  es 
im  Elsass  nicht  weniger  als  47  Klöster,  die  im  ganzen  Lande 
zerstreut  waren.  Namentlich  erhoben  sich  viele  davon  im  Ha- 
genauer  Forste,  der  vor  Alters  der  «c  heilige  Forst  i>  genannt  war. 

Im  Elsass  gab  es  ausser  den  städtischen  und  herrschaft- 
lichen katholischen  Pfarrstellen  auch  viele  sog.  c  Königs -Pfar- 
reien y,  welche  der  König  Ludwig  XIV.  zur  Ausbreitung  der 
katholischen  Religion  im  Lande  in  neuerrichteten  katholischen 
Gemeinden  gegründet  hatte  und  deren  Inhaber  aus  des  Königs 
Schatulle  besoldet  wurden.  Auch  das  Simultanen m,  d.  h. 
der  Mitgebrauch  und  Mitbesitz  einer  Kirche  seitens  beider  Konfes- 
sionen, ist  eine  Einrichtung  Ludwigs  XIV.,  die  sich  aber  nichts 
weniger  als  segensreich  erwies  und  oft  eine  Ursache  des  Streites 
und  Haders  wurde.  Die  Simultankirchen  waren  bei  dem  Aus- 
bruch der  französischen  Revolution,  welche  die  Glaubensfreiheit 
für  alle  Böiger  aufstellte,  im  Elsass  äusserst  zahlreich  vorhanden. 

Die  Zahl  der  Lutheraner  erhob  sich  im  Elsass  im 
Jahre  1789  auf  etwa  200,000  Seelen,  welche  in  160  Pfarreien 
sich  verteilten.  Eine  einheitliche  evangelische  Kirche  gab  es 
vor  einem  Jahrhundert  im  Elsass  nicht,  sondern  eine  Menge 
von  Territorialkirchen,  von  welchen  die  meisten  teils  die  strass- 
burgische,  teils  die  hanauische,  oder  auch  die  colmarische, 
die  württembergische,  oder  die  nassauische  Kirchenordnung  an- 
genommen hatten.  An  der  Spitze  der  lutherischen  Kirche  von 
Strassburg  stand  unter  der  Aufsicht  des  Magistrats  der  Kirchen- 
konvent und  das  Kollegium  der  21  Oberkirchen- 
pfleger. Buchsweiler  war  der  Sitz  eines  Generalkonsisto- 
riums; in  Reichenweyer  war  ein  Superintendent,  in  Colmar 
und  in  anderen  protestantischen  Städten  des  Elsass  ein  Geist- 
liches Ministerium ;  diese  alle  bildeten  eigene  geschlossene  kirch- 
liche Korporationen.  Aus  diesem  Grunde  kommt  es,  um  dies 
^gelegentlich  zu  erwähnen,  dass  im  Elsass  in  Bezug  auf  kirch- 
liche Gebrauche  und  liturgische  Ordnungen  eine  grosse  Mannig- 
faltigkeit herrscht  und  verschiedenartige  Kirchenbücher,  Gesang- 
bücher, Katechismen  und  andere  kirchliche  Lehr-  und  Erbau- 
ungsbucher  in  dem  kleinen  Lande  vorhanden  waren  und  noch 
sind. 

Die  Zahl  der  Reformierten  war  im  Elsass  im  Jahre  1789 
eine  verhältnismässig  geringe.  Die  meisten  derselben  bewohnten 
Mülhausen,  Markirc h,  wo  eine  deutsche  und  eine  franzö- 
sische Gemeinde  bestand,  Bischweiler,  die  Umgegend  von 
S  a  a  r-U  n  i  o  n  und  von  Weiesenburg,  wo  zweibruckische 
ond  kurpfalzische  Gebietsteile  sich  befanden.  Einige  reformierte 
Gemeinden  waren  auch  von  französischen  R^fugi^s  gegründet 
worden.  In  Strassburg   durften  die  Reformierten  erst  im  Jahre 

5 


^ 


—    66    — 

1788  ein  bescheidenes  Gotteshaus,  doch  nicht  an  der  Strasse 
und  ohne  Glockenturm,  in  der  Schildsgasse  erbauen.  Vorher 
mussten  sie  Sonntags  nach  dem  hanauischen  Dorfe  Wolfisheim 
pilgern,  wo  ihnen  gestattet  war,  ihren  Gottesdienst  zu  halten. 
Selbst  als  der  berühmte  Zürcher  Theologe  Diakonus  Johann 
Kaspar  Lavater  im  Jahre  1779  durch  Strassburg  reiste, 
konnte  er  —  so  strenge  waren  damals  noch  die  lutherischen 
Anschauungen  —  keine  Kanzel  in  der  Stadt  besteigen,  und  seine 
zahlreichen  Verehrer  mussten  nach  Wolfisheim  ziehen,  um  den 
berühmten  Mann  predigen  zu  hören. 

Wiedertäufer  gab  es  seit  dem  Westfälischen  Frieden, 
wo  sie  namentlich  aus  der  Schweiz  gekommen  waren,  eine 
nicht  unbeträchtliche  Anzahl  im  Elsass.  Sie  wohnten  meist  auf 
einsamen  Meierhöfen  in  Gebirgsgegenden  und  konnten  ihi^ 
Zusammenkünfte  wegen  der  weiten  Entfernungen  nur  unter 
grossen  Schwierigkeiten  halten.  Die  Hauptorte,  wo  sie  zusammen- 
kamen, waren  Markirch  im  Ober- Elsass  und  das  Dorf  Onenheim 
im  Unter-Elsass. 

Die  Juden  waren  bis  zum  Ausbruch  der  Revolution  im 
Elsass  mehr  oder  weniger  geduldet  und  lebten  im  Lande 
umher  zerstreut,  da  wo  man  sie  eben  litt.  Die  wenigsten 
Israeliten  hatten  eigenen  Grund-  oder  Häuserbesitz.  Sie  waren 
gehalten,  dem  König  Schutzgeld  zu  zahlen  und  den  Landes- 
herrschaften gewisse  gesetzlich  bestimmte  Abgaben,  den  sog. 
€  Judenzoll  »  zu  entrichten.  Einige  Rabbiner,  z.  B.  in  E 1 1  e  n- 
dorf,  wo  die  unterelsässischen  Juden  ihren  Begräbnisort 
hatten,  in  Mutzig,  in  Buchsweiler,  Ingweiler  und  anderen 
Orten,  im  Ober-Elsass  in  Winzenheim  und  Jungholz  bei 
Gebweiier,  versahen  die  religiösen  Amtshandlungen  bei  ihren 
Glaubensgenossen.  Sie  trieben  meist  Trödel-  und  Krämer- 
handel oder  waren  Pferde-  und  Viehhändler.  Nur  wenige 
betrieben  ein  Gewerbe.  In  Strassburg  duldete  man  seit  der 
grossen  Judenverfolgung  im  Jahre  1339  keine  Juden  mehr; 
ausnahmsweise  nur  hatte  der  Magistrat  um  das  Jahr  1770  dem 
Pferdehändler  Cerf-Beer  aus  Medelsheim  gestattet,  ein  Haus 
im  Finkweiler,  den  sog.  <k  Rappoltsteiner  Hof»  der  seit  jener 
Zeit  den  Namen  « Judenhof »  erhielt  (heute  erhebt  sich  dort 
die  St.  Ludwigsschule),  zu  kaufen  und  zu  bewohnen.  Bis  zum 
Jahre  1790,  wo  sie  emanzipiert  wurden,  durften  die  Juden  in 
Strassburg  nicht  einmal  übernachten. 

Unterrichtswesen. 

Das  Elsass  besass  bei  dem  Ausbruch  der  französischen 
Revolution  zwei  Universitäten,  eine  protestantische  und  eine 
katholische.  Die  Lehrmethode  an  beiden  war  grundverschieden. 


—    67    — 

Dies  war  auch  der  Fall  bei  dem  gewöhnlichen  Schulunterricht. 
In  den  protestantischen  Lehranstalten  war  die  deutsche  Methode 
vorherrschend,  und  das  Studium  der  französischen  Sprache 
wurde  als  Nebensache  betrachtet ;  in  den  katholischen  Unter- 
richtsanstalten wurde  die  in  Frankreich  übliche  Lehrart  befolgt. 

Die  protestantische  Hochschule,  die  Schöpfung  des  Slätt- 
meisters  Jakob  Sturm  von  Sturmeck  und  des  Rektors 
Johann  Sturm  aus  Schieiden,  war  im  Jahre  4538  als 
Gymnasium  errichtet  worden  ;  1566  erhob  sie  Kaiser 
MaximiHan  L  zu  einer  Akademie  mit  den  vier  Fakultäten,  und 
im  Jahre  1621,  als  die  Stadt  Strassburg  durch  den  Vertrag 
von  AschafTenburg  aus  der  Evangelischen  Union  austrat,  erhielt 
sie  von  Ferdinand  II.  die  Privilegien  einer  vollsländigen  Univer- 
sität. Durch  die  Einziehung  der  Güter  einiger  säkularisierten 
Klöster,  namentlich  des  Thomasstifts,  ward  es  dem  Magistrat 
möglich,  die  Besoldung  der  Professoren  an  derselben  zu 
erhöhen  und  dadurch  tüchtige  Lehrkräfte  für  die  Hochschule 
zu  gewinnen. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  wirkten 
an  derselben  besonders  Johann  Daniel  Schöpf!  in, 
der  berühmte  Geschichts-  und  Altertumsforscher,  dessen  Ruf 
viele  auswärtige  Studenten,  worunter  Goethe,  Herder,  Jung- 
Stilling,  Lenz  und  andere,  nach  Strassburg  lockte.  Schöpflin 
lebte  in  den  achtziger  Jahren  nicht  mehr,  allein  namhafte 
Gelehrte  wie  Jeremias  Jakob  Oberlin,  der  Bruder 
des  Pfarrers  aus  dem  Steinthal,  Christoph  Wilhelm 
Koch,  Johann  Michael  Lorentz  auf  dem  Gebiete 
der  Geschichts-  und  Altertumskunde,  die  Hellenisten  Johann 
Schweighäuser  und  Richard  Franz  Philipp 
Brunck,  die  Mediziner  Johann  Reinbold  Spiel- 
mann  und  Johann  Friedrich  Lobstein,  der  Natur- 
forscher Johann  Friedrich  Herrmann,  der  Gründer 
des  Strassburger  Naturalienkabinets,  die  Theologen  Johann 
Lorenz  Blessig  und  Isaak  Haffner  wirkten  an 
derselben  und  dienten  ihr  zur  Zierde.  Die  protestantische 
Universität  von  Strassburg  war  bis  zum  Jahre  1789  der 
geistige  Mittelpunkt  und  zugleich  die  Pflanzstätte  deutscher 
Wissenschaft  und  Sitte  im  Elsass.  Durch  die  protestantische 
Hochschule  wurde  in  der  Strassburger  Bürgerschaft  die  Liebe 
zum  deutschen  Stammlande,  mit  welchem  das  Elsass  noch  so 
viele  Beziehungen  unterhielt,  erhalten.  ^ 

Die  katholische  Universität,  welche  seit  1701  in  Strassburg 
im  ehemaligen  Bruderhofe  bestand,  verdankte  ihre  Entstehung 
der  Berufung  der  Jesuiten  in  das  Elsass  durch  Bischof  Johann 
von  Manderscheid.  Derselbe  hatte  ihnen  im  Jahre  1580  erlaubt,. 


—    68    — 

eine  höhere  Lehranstalt  in  Molsheim  zu  gründen,  welche 
1617  zu  einer  katholischen  Universität  erhoben  wurde.  Diese 
Universität  diente  lediglich  zur  Heranbildung  von  Priestern  für 
die  bischöfliche  Diözese  des  Elsass.  Superior  derselben  war 
bei  dem  Ausbruch  der  Revolution  der  gelehrte  und  verdienst- 
volle Abb6  Jean-Jean,  der  zugleich  ein  beredter  Kanzel- 
redner war. 

Ausser  den  beiden  Universitäten  bestand  im  Elsass  eine 
ansehnliche  Reihe  von  höheren  Lehranstalten.  Protestantischer- 
seits  nennen  wir  :  das  Strassburger  Gymnasium 
(1538  gegründet),  das  Gymnasium  von  Co  1  mar  (1604)  und 
dasjenige  von  Buchsweiler  (1612).  Der  in  diesen  Anstalten 
herrschende  Geist  war  der  ernst  wissenschaftliche  deutsche 
Geist.  Katholischerseits  befand  sich  der  höhere  Unterricht  im 
Elsass  gänzlich  in  den  Händen  der  Jesuiten,  welche  eine 
Anzahl  von  Colleges  im  Land  errichtet  hatten ;  die  besuchtesten 
waren  diejenigen  von  Strassburg  (College  royal,  das  heutige 
Lyzeum),  Hagenau,  Molsheim,  Zabern,  Schiet t- 
stadt,  Colmar  (das  spätere  Lyzeum),  Ensisheimu.  a.  m. 
Seit  dem  Westfälischen  Friedensschluss  hatten  die  deutschen 
Jesuiten  mit  der  österreichischen  Herrschaft  das  Land  veriassen 
müssen  und  waren  durch  französische  Jesuiten  aus  der  Provinz 
Champagne  ersetzt  worden. 

Durch  ihre  feinen  Weltformen,  ihr  gewandtes  Wesen,  ihre 
gefallige,  hauptsächlich  den  Ehrgeiz  anspornende  Lehrmethode 
und  die  glänzenden,  freilich  mehr  oberflächlichen  als  grund- 
lichen Fortschritte  ihrer  Schüler  gewannen  die  Patres  der  Gesell- 
schaft Jesu  allmählich  das  Vertrauen  der  höheren  Gesellschafts- 
kreise des  Elsass,  welche  ihnen  ihre  Söhne  zur  Erziehung 
anvertrauten.  Namentlich  der  Adel  —  und  auch  der  prote- 
stantische —  übergab  ihnen  seine  Kinder  zur  Ausbildung.  Dieser 
Umstand  und  dann  die  von  den  Jesuiten  begünstigte  Schlies- 
sung gemischter  Ehen,  bei  denen  der  weibliche  Teil  meist 
katholisch  war  und  wo  darauf  gedrungen  wurde,  dass  die 
Kinder  in  der  katholischen  Religion  erzogen  würden,  erklärt 
die  grosse  Zahl  adeliger  Uebertritte  zum  Katholizismus  im 
17.  und  18.  Jahrhundert.  Der  Einfluss  der  Jesuiten  war  in 
Folge  dessen  ein  viel  grösserer  auf  die  höheren  Kreise  im 
Lande  als  derjenige  des  weltlichen  Klerus,  auf  welchen  sie 
übrigens,  da  sie  ihn  heranbilden  halfen,  ebenfalls  stark 
einwirkten. 

Das  untere  Schulwesen  war  bei  dem  Ausbruch  der  französi- 
schen Revolution  im  Elsass  nicht  vernachlässigt.  In  den  Städten 
bestanden  beinahe  überall  und  besonders  bei  den  Evangelischen 
Rog.  «Pfarrschulen»,  desgleichen  katholische  « Stifts »- und  «Klo- 


—    69    — 

sterschuien»,  welche  aus  kirchlichen  Mitteln  gegründet  waren 
und  durch  Geistliche  geleitet  wurden.  Daneben  gab  es  viel 
Privatschulen,  in  welchen  Schullehrer,  auch  Lehrerinnen  (Schul- 
meister und  Lehrfrauen)  den  Unterricht  erteilten.  Auf  dem 
Lande,  namentlich  in  der  fürstlich  hessischen  ehemaligen  Graf- 
schaft Hanau-Lichtenberg,  hatten  die  Herrschaften  überall 
Schulen  errichtet,  welche  —  da  der  Schulzwang  nicht  bestand 
—  mehr  im  Winter  als  zur  Sommerszeit  besucht  wurden.  Die 
Zahl  der  Schulstunden  betrug  taglich  vier.  Ausserdem  gab  es 
im  Lande,  besonders  in  einsamen  Gebirgsgegenden,  sog.  c  Wander- 
lehrer», welche  sechs  bis  acht  Wochen  im  Winter  in  einem 
Bauernhofe  verweilten  und  die  Kinder  des  Hauses  sowie  die  liebe 
Jugend  der  umliegenden  Meierhöfe  während  dieser  Zeit  not- 
dürftig unterrichteten.  Diese  Wanderlehrer  waren  meistens  ehe- 
malige Soldaten  (Invaliden),  oder  auch  Weber,  Schneider  und 
sonstige  Handwerksleute,  welche  neben  den  Unterrichtsstunden 
nocn  sonstige  Arbeiten  im  Hause  verrichteten  und  dafür  von 
den  Bauersleuten  verköstigt  und  beherbergt  wurden  und  noch 
einige  Thaler  Lohn  erhielten.  Lesen,  Schreiben,  Rechnen, 
Katechismus,  etliche  geistliche  Kernlieder  und  eine  Anzahl 
biblischer  Geschichten  und  Spräche  konnten  die  meisten  Leute 
im  Elsass  im  Jahre  1789,  und  das  genügte  für  die  damalige 
Zeit  im  grossen  und  ganzen  für  das  Volk.  In  Bezug  auf  Volks- 
bildung stand  jedoch  das  Elsass  vor  dem  Ausbruch  der  französi- 
schen Revolution  auf  einer  viel  höheren  Stufe  als  in  den  übrigen 
Provinzen  des  französischen  Reiches. 

Armen-  und  Krankenpflege. 

Von  altersher  war  das  Elsass  an  wohlthätigen  Anstalten 
und  an  Werken  der  Barmherzigkeit  reich.  In  M  o  1  s  h  e  i  m, 
Buchsweiler,  Hagenau,  Zabern,  Golmar  und  anderen 
Städten  gab  es  «Elenden  Herbergen»  und  Spitaler,  in  welchen 
Kranke  gepflegt  und  Verlassene  und  Hilflose  unterstützt  wurden. 
In  der  Nähe  von  B  r  u  m  a  t  h  erhob  sich  Stephansfelde  n, 
ein  ehemaliges  Spitalhaus  des  heiligen  Geistes  regulierter  Chor- 
herren Augustiner-Ordens,  welches  im  13.  Jahrhundert  von  den 
elsässischen  Landgrafen  von  Werd  zur  Verpflegung  der  Armen 
und  zur  Versorgung  der  Findelkinder  errichtet  worden  war. 
Im  Jahre  1775  ward  es  säkularisiert  und  seiner  ursprünglichen 
Bestimmung  näher  gebracht. 

Die  Stadt  Strassburg  war  besonders  reich  an  solchen  An- 
stalten. Schon  im  Mittelalter  besass  sie  eine  «Elenden  Her- 
berge», worin  arme  Reisende  einen  Zehrpfennig  erhielten, 
ein  Siechenhaus  für  Aussätzige  bei  der  Roten  Kirche  vor  dem 
Steinthor,  zu  den  <ic Guten  Leuten»  geheissen  (woher  der  Name 


—    70    — 

« 

des  nahe  dabei  gelegenen  Gottesackers  St.  Helenen  noch  heute 
in  der  Strassburger  Mundart  <Gk)tlite»  heisst)^  ein  Lazarett 
für  verwundete  Krieger  vor  dem  Spitalthor,  ein  Blatternhaus 
u.  s.  w.  Im  Jahre  4789  waren  in  Strassburg  zwei  Spitäler,  der 
durch  die  Bischöfe  der  Stadt  gegriindete,  1482  auf  dem  Spital- 
platz errichtete,  1716  durch  einen  grossen  Brand  zerstörte  und 
1720  in  seiner  jetzigen  Gestalt  aufgebaute  sog.  €  Mehrere»  (d.  h. 
Grössere)  Bürgerspital,  dem  viele  Bürger  der  Stadt  reiche 
Stiftungen  zuwandten,  und  der  sog.  «welsche  Spital »,  das  heutige 
Militärlazarett.  Dasselbe  wurde  im  Jahr  1692  auf  Befehl  Lud- 
wigs XIV.  errichtet  und  diente  ausschliesslich  der  französischen 
Garnison  der  Stadt.  Mit  dem  Bürgerspital  war  auch  ein  anato- 
misches Theater  und  eine  Hebammenschule  in  der  zweiten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  verbunden. 

In  Bezug  auf  das  Armenwesen  bestand  zu  Strassburg  im 
Jahre  1789  vor  allem  die  St.  Marx-Stiftung,  deren  Ein- 
kommen zumeist  aus  eingegangenen  Klöstern,  namentlich  von 
St.  Marx,  St.  Arbogast,  St.  Barbara  und  anderen  bestanden. 
Dieses  Einkommen  reichte  damals  zur  Unterstützung  der  städti- 
schen Armen  aus.  Mit  der  St.  Marx-Anstalt  war  auch  eine 
Bäckerei  verbunden,  welche  bedürftigen  Strassburger  Familien 
das  sog.  St.  Marx-Brot  verabreichte.  Ferner  gab  es  zu  Strass- 
burg ein  Waisenhaus,  welches  seit  der  Beformationszeit  in 
den  Räumen  des  früheren  Klosters  zu  den  Reuerinnen  (Mag- 
dalenenkloster),  unweit  der  St.  Katharinenkirche  sich  erhob. 
Auch  ein  Findelhaus  war  seit  1748  in  dem  ehemaligen 
Wilhelmerkloster  errichtet  worden. 

Die  Privatwohlthätigkeit  entfaltete  auch  in  Strassburg 
ihre  segensreiche  Wirksamkeit.  Die  armen  Studenten  zogen 
noch  im  vorigen  Jahrhundert  als  Currendeschüler  in  den 
Strassen  umher  und  wurden  unterstützt ;  bei  feierlichen  Gelegen- 
heiten, namentlich  bei  Leichenbegängnissen  reicher  und 
angesehener  Bürger,  sangen  sie  geistliche  Lieder.  Auch  war  die 
Sitt2  allgemein  verbreitet,  begabten  jungen  Leuten,  die  arm 
waren,  einen  sog.  «Freitisch»  zu  gewähren.  Fromme  Stiftungen 
mancher  Art  und  zahlreiche  Stipendien  kamen  der  studierenden 
Jugend  zu  gut,  und  mancher  talentvolle  Jüngling,  der  sonst 
verkümmert  wäre,  konnte  mittelst  dieser  Unterstützungen 
seine  Studien  machen,  sein  Ziel  erreichen  und  eine  geachtele 
Stellung  in  der  menschlichen  (Jesellschaft  erlangen.  Für  die 
Armen  und  Notleidenden  war  vor  dem  Ausbruch  der 
französischen  Revolution,  welche  das  allgemeine  Elend  mehrte 
und  die  unteren  Volksschichten  dreister  und  anmassender 
machte,  nicht  nur  in  Strassburg,  sondern  auch  im  übngen 
Elsass  in  ausgiebiger  W^eise  gesorgt. 


—    71    — 

Ackerbau,  Handel  und  Gewerbe. 

Der  Ackerbau  stand  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts in  hoher  Blüte  im  Elsass.  Der  Adel  besass  im  Lande, 
besonders  im  Unter-Elsass,  grossen  Grundbesitz,  und  das  war 
in  mancher  Hinsicht  ein  wahrer  Segen  für  das  Landvolk,  in 
dessen  Mitte  die  adelige  Herrschaft  den  Sommer  über  in  ihren 
Schlössern  wohnte.  Die  adeligen  Gutsbesitzer  konnten,  da  sie 
die  Mittel  dazu  reichlich  besassen,  manche  Verbesserung  in 
der  Landwirtschaft  einführen,  manche  segensreiche  Einrich- 
tung zum  Wohl  der  ländlichen  Bevölkerung  ins  Werk  setzen; 
letztere  war  ihnen  auch  meist  treu  ergeben  und  legte  von  ihrer 
guten  Gesinnung  in  der  Revolutionszeit  auch  zahlreiche  Beweise 
ab.  Der  Grundbesitz  im  Elsass  war  lange  nicht  so  zerstückelt 
wie  heutzutage,  und  der  Landmann  konnte  die  Früchte  seiner 
redlichen   Arbeit  im    Frieden    und   bei    guter  Ruhe  geniessen. 

Wohl  hatten  die  Bauern  auch  drückende  Lasten  zu  tragen, 
wie  den  Zehnten  und  die  mannigfaltigen  Fronden,  allein  es 
herrschte  doch  mehr  Wohlstand  unter  ihnen  und  sie  waren 
nicht  so  verschuldet  und  den  Wucherern,  die  sie  aussaugten, 
preisgegeben  wie  nach  der  Revolution.  Viele  Landleute  besassen 
Haus  und  Hof  und  hatten  dazu  noch  Aecker  und  Wiesen  und 
in  Rebgegenden  auch  Weinberge.  Andere  waren  herrschaftliche 
Pächter  und  besassen  ihr  reichliches  Auskommen.  Auch  in 
Strassburg  und  Golmar  gab  es  eine  ackerbautreibende  Klasse, 
die  cGartner»  genannt.  Der  Landmann  im  Elsass  hing  zäh 
an  den  alten  Bräuchen  und  Sitten,  ebenso  an  der  Sprache  und 
einfachen  Lebensweise  der  Väter.  Die  französische  Herrschaft 
hatte  auf  dem  Lande  keine  tiefen  Spuren  zurückgelassen.  Einen 
grossen  Einfluss  auf  den  Bauernstand  übte  die  Geistlichkeit 
aus;  auch  die  Amtleute  und  Dorfschulzen,  oder  wie  man  sie 
im  Hanauischen  nannte,  die  «c Stabhalter»,  waren  einflussreiche 
Persönlichkeiten. 

In  den  letzten  Jahren  vor  der  Revolution  hatte  die  Land- 
wirtschaft im  Elsass  bedeutende  Fortschritte  gemacht.  Nament- 
lich der  Tabakbau  hatte  im  Lande  sehr  zugenommen 
und  warf  für  den  Pflanzer  einen  reichen  Ertrag  ab.  In  den 
Jahren  1760  bis  1770  wurden  50,000  Gentner  Tabakblätter  ein- 
geheimst. Infolge  des  amerikanischen  Freiheitskrieges,  wo 
die  Tabaksendungen  aus  Amerika  ausblieben,  nahm  der  Bau 
dieser  Pflanze  im  Elsass  ungemein  zu  und  betrug  in  den  acht- 
ziger Jahren  des  vorigen  Säculums  120,000  Gentner,  welche 
dem  Lande  eine  Einnahme  von  2,400,000  Livres  einbrachten, 
b  Strassburg  allein  waren  im  Jahre  1789  14  Tabakfabriken 
in  Thätigkeit  ;  dieselben  beschäftigten    hunderte  von  Arbeitern. 


—    72    — 

Der  Boden  im  Elsass  erwies  sich  für  die  Tabakkultur  sehr 
günstig,  indem  die  Pflanze  daselbst  keinen  Bodengeschmack 
hatte.  Es  wurde  daher  der  elsässische  Tabak  auswärts  sehr 
gesucht  und  viel  davon  nach  der  Schweiz,  nach  Baden,  nach 
der  Pfalz  und  nach  Holland  ausgeführt. 

Auch  Weizen  wurde  viel  gepflanzt,  desgleichen  Färbe- 
röte (garance),  die  für  Militärzwecke  verwendet  wurde.  Auch 
die  Kultur  der  von  Ludwig  XVI.  begünstigten  Kartoffel 
wurde  im  Elsass  rasch  verbreitet,  besonders  im  rauhen  Stein- 
thale,  dank  den  Eemühungen  des  menschenfreundhchen  und 
eifrigen  Pfarrers  Johann  Friedrich  Oberlin.  Auch  im 
Hagenauer  Forst,  dessen  Sandboden  für  den  Kartoffelbau  sich 
sehr  günstig  erwies,  wurde  die  Kultur  derselben  rasch  ver- 
breitet, desgleichen  diejenige  der  Hopfenpflanze.  Auch 
der  R  e  b  b  a  u  erfuhr,  namentlich  im  Ober-Elsass,  mehr  Aus- 
dehnung und  manche  Verbesserung.  Die  oberelsässischen 
Weine  wurden  besonders  nach  der  Schweiz  ausgeführt.  Die 
Berge  waren  mit  dichten  Waldungen  bedeckt,  die  in  bestem 
Zustande  sich  befanden ;  die  Viehzucht  hatte  durch  die 
Einführung  von  fremden  Rassen  merkliche  Fortschritte  gemacht, 
desgleichen  die  Veredlung  der  Pferdezucht,  durch  Anlage 
eines  königlichen  Gestüthauses  (Haras  royal)  in  Strassburg. 
Auch  die  Geflügelzucht  und  die  schon  vor  der  Revolution 
vorhandene  Industrie  der  Gänsleberpasteten  wafen  in 
Aufschwung.  Das  Elsass  gewährte  vor  einem  Jahrhundert  den 
Anblick  eines  fruchtbaren,  reich  von  Gott  begabten  und  geseg- 
neten Landes,  für  dessen  gedeihliche  Entwicklung  der  Ausbruch 
der  französischen  Revolution  und  deren  sich  überstürzende, 
alles  bisher  bestehende  von  Grund  aus  zerstörende  Neuerungen 
durchaus  keine  Notwendigkeit  war. 

Auch  Handel  und  Gewerbe  befanden  sich  im 
Elsass  in  einem  blühenden  Zustande  um  das  Jahr  4789.  Zwar 
war  die  Grenze  gegen  Frankreich  zu  gesperrt,  denn  das  Elsass 
war  als  eine  province  ^trangöre  angesehen  und  behandelt,  aber 
desto  zahlreicher  waren  die  Beziehungen  zu  Deutschland  und 
der  Schweiz.  Die  Rheinschiffahrt  und  derTransi.t- 
handel  blühten  besonders  in  Strassburg.  Dadurch  wuchs  der 
Wohlstand  der  Bürgerschaft,  und  mit  demselben  verfeinerten 
sich  auch  Geschmack,  Sitten  und  Manieren.  Letjctere  nahmen 
immer  mehr  den  französischen  Anstrich  an,  was  schon  Goethe 
in  seinen  Jugendeindrücken  und  in  seinen  Erinnerungen  an 
das  schöne  Elsass  auffiel,  und  was  er  in  seinem  Meislerwerke 
«Wahrheit  und  Dichtung»  hervorhob.  In  Strassburg 
gab  es  mehrere  grosse  Speditionsgeschäfte,  die  zugleich  Bank- 
häuser   waren.     Die   namhaftesten    derselben    waren    vor    der 


—    73    — 

Revolution  die  Häuser  von  Türckheim  und  von  Dietrich 
auf  dem  Broglieplatz  ;  von  F  r  a  n  c  k  hinter  der  Klauskirche 
(das  spätere  Haus  Renouard  de  Bussiere)  und  der 
Gebrüder  O  1 1  m  a  n  n  im  ehemaligen  «  Schif! »  bei  dem 
Kaufhause. 

Im  Gewerbewesen  herrschte  noch  der  Zwang  der 
Zünfte  und  Innungen,  welcher  2 war  die  Freiheit  des 
Einzelnen  hemmte  und  ein  Hemmschuh  für  die  Konkunenz 
war,  aber  dennoch  eine  heilsame  Schranke  bildete  und  die 
Wahrheit  des  alten  Sprichworts  bestätigte:  «Handwerk  hat 
einen  goldenen  Boden. »  Denn  nicht  der  erste  Beste  durfte 
Meister  sein  und  ohne  weiteres  in  Strassburg  und  den  anderen 
Städten  sich  niederlassen;  sondern  er  musste  die  Probe  seiner 
Kunst  ablegen  und  das  Bürgerrecht  sowie  die  Meisterschaft 
durch  Kunst,  Geschicklichkeit,  Fleiss  und  längeren  Aufenthalt 
in  der  «  wunderschönen  »  Stadt  sich  allmählich  erwerben. 

Kunst  und  Wissenschaft,  namentlich  Musik, 
blühten  gleichfalls  im  Elsass,  besonders  in  Strassburg,  wo  sie 
reichliche  Unterstützung  und  Anregung  mancher  Art  fanden. 
Die  Einfuhrung  französischer  Modeartikel,  Kleider  und  Haus- 
geräte verfeinerte  den  Geschmack  und  diente  zur  Entwicklung 
der  Industrie.  Das  Elsass  besäss  hauptsächlich  in  Strassburg 
(Gerbergraben),  Barr,  Wasselnheim,  Zabern  und  anderen 
Städten  ansehnliche  Gerbereien.  Auch  Buchdruckereien, 
besonders  in  Strassburg,  Eisenschmelzhütten  (Niederbronn  und 
Umgegend)  und  Waffenfabriken  (Klingenthal  und  Mutzig)  waren 
vorhanden.  Strassburg  war  auch  von  altersher  durch  seine 
Pergamentfabriken  (Pergamentergasse)  und  Glockengiessereien 
(davon  die  älteste  die  seit  dem  47.  Jahrhundert  bestehende  von 
Edel  war)  bekannt.  In  Mülhausen  war  seit  der  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  die  Fabrikation  von  Indienne-  und  Baum- 
wollartikeln entstanden  und  im  Aufschwung  begriffen,  und  der 
Anschluss  des  kleinen  schweizerischen  Freistaates  an  Frankreich 
legte  ein  Jahrzehnt  nach  dem  Ausbruch  der  Revolution  (1798) 
den  Grund  zur  nachherigen  Entwicklung  der  Stadt  und  war 
für  Mülhausen  ein  Akt  der  politischen  Notwendigkeit. 

Die  Strassburger  Messe,  namentlich  die  Johannismesse,  zog 
viele  fremde  Kaufleute  an  und  dauerte  vierzehn  Tage  lange ; 
sie  war  die  bedeutendste  im  ganzen  Elsass.  Auch  für  die  Buch- 
handlung war  sie,  wenn  auch  in  viel  kleinerem  Massstabe  als 
die  Leipziger  und  die  Frankfurter  Messe,  wichtig.  Der  Sammel- 
platz der  Buchhändler,  Antiquare  und  Bibliophilen  in  Strass- 
burg war  im  sog.  ccKolajm»  (Kollegium),  dem  alten  Kloster- 
gange der  einstigen  P rediger kirche  auf  dem  Neuen  Markt  (ehe- 
maligen  Predigerkirchhof).    Gutenbergs   edle   Kunst    blühte   in 


—    74    — 

Sirassburg;  die  bekanntesten  Buchdrucker  vor  der  Revolution 
waren  Heitz,  Levrault  und  Leroux,  Auch  an  Buch- 
handlungen zählte  die  Stadt  grössere  Firmen ;  die  namhaftesten 
waren  diejenigen  von  Lorentz  und  Schuler,  Pfähler 
(nachmals  Treuttel  und  Würtz),  Friedrich  Rudolf 
S  a  1  z  m  a  n  n  (Akademische  Buchhandlung  in  der  Schlosser- 
gasse, wo  seit  1788  die  « Privilegirte  Politische  Strasburgische 
Zeitung  »  erschien)  und  andere.  So  herrschte  auf  allen  Gebieten 
der  menschlichen  Thätigkeit^  den  materiellen  wie  den  geistigen, 
im  Elsass  überall  ein  reges  Leben. 

Von  hohem  Interesse  ist  die  Schilderung,  die  ein  Zeit- 
genosse, der  bekannte  Staatsmann  Johannvon  Türckheim, 
in  seiner  merkwürdigen  Denkschrift  über  die  landwirtschaft- 
lichen Zustände  und  die  Handels-  und  Industrieverhältnisse 
im  Elsass  im  Jahre  1789  entwarft.  Derselbe  sagt  darüber  : 

cDie  Provinz  Elsass  ist  durch  eine  Kette  von  Bergen,  den 
(( Wasgau  und  den  Jura,  vom  übrigen  Reich  getrennt ;  ihr  wirk- 
« liches  Handelsverhältnis  mit  den  französischen  Provinzen  ist 
cc  nichtbeträchtlich;  durch  die  Schiifarth  auf  dem  Rhein 
((und  durch  die  Strassen,  die  ihnen  von  Strassburg  weg  in's 
« teutsche  Reich  offen  stehen,  werden  die  meisten  von  ihren  Pn>- 
«cdukten  abgesetzt,  und  die  Fremden  verzehren  ihren  Tausch 
« in  der  Waaren-Niederlage  von  Strassburg.  Einer  Seits  brauchen 
((die  italiänischen  und  Schweizerwaaren,  anderer  Seits  die  aus 
«Holland  und  anderen  nördlichen  Ländern  die  Strassen  der 
ü  Provinz,  und  diese  Durchfuhr  bringt  viel  Geld  herbei,  erleichtert 
((den  Ck)mmissionnairs  den  einzelnen  Absatz  der  Landeswaaren> 
«  beschäftigt  die  Handwerker  und  unterhält  zu  Strassburg  ein 
«Corps  von  sehr  erfahrenen  Schiffern,  welche  deni  Staat  oft 
((nützliche  Dienste  geleistet  haben,  und  sein  stark  gehendes  Fuhr- 
« wesen,  das  durch  seine  Zehrungen  sehr  einträglich  ist.  Diese 
«Industrie  kann  nur  so  lange  vor  dem  Wetteifer  der  Fremden 
«gesichert  sein,  als  sie  beschützt  wird.  In  dieser  Ueberzeugung 
«  Hess  Ludwig  XIV.  durch  Colbert  bald  nach  der  Eroberung  des 
«Elsasses  einen  besonderen  Tarif  für  die  Domänen  des  obern 
«Elsasses  verfertigen,  die  auf  ihre  Consumirung  und  den  Gang 
«des  Handels  gelegt  wurde.  Dieser  Tarif  sollte  das  Elsass  auf 
«immer  von  der  Finanz- Herrschaft  der  fünf  grossen  Pachten 
«(fermes)  befreyen. 

«Als  die  Stadt  Strassburg  sich  mit  Frankreich  vereinigte, 
«  erhielt  sie  durch  ihre  Capitulation  die  Beybehallung  der  Rechte 
« und  Immunitäten,  die  sie  schon  in  der  Provinz  genossen,  und 
«ihrer  Handelsfreyheiten  insbesondere.  Sie  wurde  sogar  von 
«Colbert  durch  die  bestimmte  Bedingung  begünstigt,  dass  alle 
«nach  Strassburg  gehenden  Waaren  und  alles  ausgehende  Gut 


—    75    — 

«an  den  Büreaux  des  untern  Elsasses  von  allen  Gebühren  frey 
cseyn  sollten;  an  den  ober-elsassischen  Büreaux^  mvo  die  Erz- 
cherzöge  immer  einen  Zoll  eingezogen  hatten,  mussten  sie  eine 
< massige  Gebühr  von  8  Sols  vom  Centner  entrichten. 

c  Diese  Vergünstigung  musste  den  Ackerbau  der  Provinz 
«blühend  machen  und  ihren  Handel  mächtig  heben.  Unter  dem 
c  Schutze  dieser  Verfassung  war  die  Provinz  immer  in  einem 
c vortrefflichen  Zustand. 

€  Folgende  sind  die  Haupterzeugnisse  des  Elsasses:  Zum 
fersten  der  Tabak.  Vor  der  Vereinigung  dieser  Provinz  mit 
«Frankreich  bis  zum  Jahre  1749  hatte  der  Bau  und  dieFabrizi- 
crung  das  Tabaks  jährlich  grosse  Summen  in's  Elsass  gebracht; 
<es  versorgte  damit  die  Schweiz,  einen  Theil  von  Deutschland 
cund  sogar  von  Italien.  Im  Monat  Mai  1749  brachte  die  General- 
€  Pacht  (ferme  g^n^rale),  in  der  Absicht  das  Verschicken  des 
«Tabaks  in  das  Innere  der  Provinzen,  die  ihrer  Verwaltung 
conterworfen  waren,  zu  verhindern,  die  französische  Regierung 
«zu  dem  Entschluss,  eine  königliche  Erklärung  zu  erlassen, 
«durch  welche  auf  jedes  Pfund  fremden  Tabaks,  der  in  da» 
c  Elsass  kam,  eine  Gebühr  von  30  Sols  zu  erheben  sey.  Da  aber 
«der  elsässische  Tabak  nicht  wohl  verführt  werden  konnte, 
«wenn  er  nicht  zuvor  entweder  mit  Virginischera  Tabak  oder 
«mit  Pfalzen  Blättern  vermischt  ist,  so  kam  die  Auflage  vonr 
«30  Sous  einem  Verbot  des  fremden  Tabaks  gleich.  Mehrere 
«fremde  Manufakturen,  so  die  bekannte  Firma  Lotzbeck  in 
«Lahr,  errichteten  Manufakturen  in  der  Markgrafschaft  Baden ^ 
«im  bischöflich  Speyerischen  Gebiet  und  in  der  Pfalz.  Das 
«Elsass  empfand  diesen  Verlust  auf  das  Lebhafteste.  Die  Pro- 
«vinz  bemühte  sich  lange  Zeit,  aber  vergebens,  den  Widerruf 
«der  Erklärung  (Ordonnance  royale)  von  1749  zu  erlangen ; 
<erst  im  Jahre  1774  erhielt  sie  von  der  französischen  Regierung 
«die  Verordnung,  dass  Alles,  was  diesen  Artikel  betrifft,  wieder 
«auf  den  alten  Fuss  gesetzt  werden  sollte. 

cSeit  diesem  Zeitpunkt  bis  zum  Ausbruch  der  Revolution 
«brachte  der  Tabakbau  im  Elsass  in  gewöhnlichen  Jahren 
«etwa  120,000  Blätter  hervor,  wovon  der  mittlere  Preis  zu  12 
«Uvres  der  Gentner,  eine  Einnahme  von  1,440,000  Livres  für 
«die  tabakbauende  Landbev  ölkerung  betrug. 

«Diese  120,000  Gentner  zu  12  Livres  der  Centner,  werde» 
«fabriziert  in  Carotten,  die  zu  26  Livres  der  Centner,  in  Mehl  zu  20 
«Livres  und  in  Rollen  zum  Rauchen  zu  17  Livres  verkauft  werden. 
^In  Hinsicht  auf  die  Menge  eines  jeden  dieser  drei  Fabrikate 
«kann  man  einen  mittlem  Preis  von  20  Livres  für  den  Centner 
«rechnen.  Die  120,000  Centner  Rohtabak  bringen  also  zu  diesem 
«Preis  gerechnet,  eine  runde  Summe  von  2,400,000  Livres  her- 


—    76    — 

«vor,  wovon  1,440,000  Livres  dem  Bauern  und  960,000  Livres 
ordern  Handelsmann  für  die  Bearbeitung  und  den  Handelsgewinn 

<  zufallen. 

«Während  des  amerikanischen  Krieges  wurde  der  Tabak- 
«bau  im  Elsass  um  ein  Drittel  vermehrt,  und  der  mittlere  Preis 

<  stieg  auf  30  Livres  der  Centner. 

« Die  übrigen  Zweige  des  Ackerbaues  im  Elsass  vor  der 
-«Revolution  waren:  der  Hanfbau.  Der  Ankauf  desselben 
•«  auf  beiden  Seiten  des  Rheins  Mäuft  sich  auf  40,000  Centner, 
-«  welche  etwa  1,400,000  Livres  auswerfen.  Er  wird  im  Elsass 
«  verarbeitet  und  dann  auswärts  verkauft.  Femer  die  Lei  n- 
■«wand.  In  der  kalten  Jahreszeit  wurde  überall  auf  dem  Lande 
< gesponnen  und  das  Garn  in  den  Dörfern  selbst  gewoben. 
«Der  elsüssische  Ackersmann  und  Weber  hatte  einen  erkleck- 
«  liehen  Gewinn  vom  Bau  und  von  der  Verarbeitung  des  Hanfs; 
•«die  elsässische  Leinwand  fand  in  der  Schweiz,  in  Frankreich, 
«wo  die  Zölle  an  den  Barrieres  aber  stark  waren,  und  meist  in 

<  Deutschland ,  einen  grossen  Absatz.  Auch  Magsamen, 
«Rübsamen  und  N  u  s  s  ö  1  wurden  in  Elsass  viel  fabrizirt 
«  und  mit  Vortheil  verkauft  und  unterhielt  viele  kleine  Oelmühlen 
«im  Lande.  Neben  denselben  bestanden  viele  grössere  Mahl- 
« mühlen  an  den  vielen  Bächen,  welche  die  Provinz  durch- 
« strömen  und  im  Gebirg,  wo  die  Waldungen  noch  dichter 
«waren,  fand  man,  namentlich  in  der  Umgegend  von  Nieder- 
«bronn  noch  viele  Meiler,  welche  die  Kohlen-  und  Eisen- 
« industrie  der  Barone  von  Dietrich  unterhielt.  Die  übrigen  In- 
«dustrien,  Indiennefabriken,  Baumwollwebereien  und  Spin- 
«nereien,  deren  Ausgangspunkt  Mülhausen  in  Ober-Elsass  ist, 
«sind  noch  einer  grossen  Entwicklung  fähig. 

«Der  elsässische  Weinbau  war  ebenfalls  blühend.  Die 
« meisten  Weine  der  Provinz,  besonders  in  Ober-Elsass,  werden 
«  von  den  Schweizern  aufgekauft  und  concurriren  mit  den  Mark- 
«gräfler  und  Pfalzer  Weinen.» 

So  weit  der  sachkundige  und  zuverlässige  Baron  Johann 
Yon  Türckheim. 

Militärverwaltung, 

Vor  der  französischen  Besitznahme  des  Elsass  im  Jahre 
d648  gab  es  am  Oberrhein  drei  Hauptfestungen,  welche  den 
Schlüssel  zum  Elsass  bildeten:  Breisach,  Strassburg 
und  Philippsburg.  Breisach  und  Philippsburg  fielen  an 
das  deutsche  Reich  zurück,  und  als  Ludwig  XIV.  sich  der  Stadt 
Strassburg  bemächtigt  hatte,  Hess  er  sofort  eine  Anzahl  von 
i)efestigten  Plätzen  anlegen,    um  sich   den  Besitz  des  Elsass  zu 


—    77    — 

sichern.  Die  französischen,  sämtlich  vonVauban  nach  dem- 
selben Plane  erbauten  Rheinfestungen  waren:  Hüningen^ 
Neu-Breisach ,  Schlettstadt ,  Strassburg  mit  der 
Citadelle,  Fort  -Louis  und  Lauterburg.  Weiter  im 
Lande  waren  :  H  a  g  e  n  a  u  ,  das  eine  Ringmauer  und  einige 
Vorwerke  hatte,  Weissen  bürg  und  Landau.  Die  festen 
Mauern  und  Türme  von  Colmar  und  Zabern  waren  i^lS- 
und  d677  abgebrochen  und  durch  das  Pulver  gesprengt  worden. 
Es  blieben  davon  nur  schwache  Ueberreste.  Ferner  gab  es- 
noch  im  Elsass  vier  Gebirgsfestungen,  nämlich  das  feste  Beifort 
und  die  Schlösser  von  Landskron  im  Juragebirge,  Lichten- 
berg und  Lützelstein  in  den  Vogesen.  In  diesen  festen 
Plätzen  waren  die  französischen  Truppen,  deren  es  im  Jahre 
1789  24,000  im  Elsass  gab,  in  Garnison.  Es  waren  ferner  etwa 
500  Mann  Gendarmerie  (Mar^chauss^e),  die  in  17  Brigaden  ein- 
geteilt waren,  im  Lande  und  einige  Invalidencompagnieen,  die 
in  den  kleinen  Bei*gfesten  lagen. 

Der  kommandierende  Befehlshaber  der  Provinz,  der  den 
Titel  eines  Commandant  en  chef  führte,  war  bis  1788  der  bekannte 
Marschall  von  Contades,  dem  zu  Ehren  eine  Promenade 
vor  der  Stadt  den  Namen  c  Contades  x»  erhielt.  Das  Hotel  des^ 
Oberkommandanten  befand  sich  in  der  Blauwolkengasse,  es  war 
das  heutige  Landgerichtsgebäude. 

Der  Nachfolger  von  Contades  war  der  Marschall  de  Stain- 
ville,  der  aber  bald  darauf  starb.  Im  Jahre  1789  war  der  Graf 
VCD  Rochambeau,  Lafayettes  WafTengefahrte  und  Freund, 
Oberbefehlshaber  der  Provinz  Elsass.  Unter  dem  oberkomman- 
dierenden  General  standen  drei  General lieutenants  (lieutenant.s 
g^D^raux)  und  zwei  Königslieutenants  (lieutenants  de  roi,  auch 
marechaux  de  camp  genannt). 

Da  das  Elsass  Frankreich  gegenüber  bis  zum  Ausbruch 
der  Revolution  als  eine  auswärtige  Provinz  angesehen  wurde,, 
so  lagen  auch  viele  fremde,  sogenannte  deutsche  und  Schweizer- 
regimenter im  Lande.  Die  bekanntesten  elsässisch-deutschen 
R^menter  waren :  Royal- Alsace,  Royal-Deux-Ponts,  Royal - 
Hesse,  La  Marck,  Strasbourg-Artillerie,  Hussards  de  Conflans 
(früher  Hussards  de  Saxe- Weimar),  Royal-Allemand,  Nassau- 
Saarbrück,  Chasseurs  de  Chamborant,  Royal-Nassau  (Husaren)^ 
Rosen  (Cavallerie).  Diese  Regimenter  waren  aus  den  lieber- 
bleibsein  des  ehemaligen  Weimarischen  Heeres,  einer  der  best- 
geschulten  Armeen  in  Europa  während  des  dreissigjährigen 
Krieges,  entstanden.  Nach  dem  Tode  des  Herzogs  Bernhard 
von  Sachsen -Weimar  war  bekanntlich  dessen  Heer,  durch  die 
Bemühungen  des  Generals  von  Erlach,  der  durch  französische» 
Gold  gewonnen  war,   in  der  Festung   Breisach   in  den  Dienst 


—    78    - 

Frankreichs  getreten.  Nach  dem  Westtalischen  Frieden  wurde 
«in  Teil  der  weimarischen  Truppen  entlassen;  die  übrigen  Re- 
:gimenter  wurden  neugestaltet  und  erhielten  andere  Benennun- 
.^en  und  Uniformen.  Wenige  rein  französische  Regimenter  waren, 
mit  Ausnahme  von  Beifort,  bei  dem  Ausbruch  der  französischen 
Revolution  im  Elsass  in  Garnison. 

In  jeder  elsässischen  Festung  oder  Garnisonsstadt  war  ein 
Platzkommandant  mit  seinem  Stab  (ötat  major).  Derselbe 
bezog  von  der  Stadt  freie  Wohnung  und  Brennholz  und  hatte 
das  Jagdrecht  im  Weichbilde  derselben.  Auch  mussten,  da 
wo  keine  oder  ungenügende  Kasernen  vorhanden  waren,  die 
Bürger  häufig  Einquartierung  sich  gefallen  lassen.  Bessere 
Bürger  mussten  ein  Zimmer  für  Offiziere  stets  in  Bereitschaft 
halten;  dasselbe  nannte  man:  la  chambre  de  l'ofQcier.  Die 
Stadtbehörden  waren  auch  angehalten  die  Wachlhäuser  (corps 
de  garde)  beleuchten  und  heizen  zu  lassen. 

Folgendes  Verzeichnis  wird  dem  geneigten  Leser  eine 
Uebersicht  über  den  französischen  Truppenstand  im  Elsass  im 
Jahre  1789  geben: 

Bei  fort.  Besatzung:  Zwei  Bataillone  Royal-Marine  und 
vier  Schwadronen  Dragons  de  Lorraine.  In  letzterem  Kavallerie- 
regiment diente  als  Unteroffizier  der  nachmalige  König  von 
Schw^eden,  ßernadotte.  Gleichzeitig  lebte  mit  ihm  in  Beifort 
in  den  achtziger  Jahren  als  Baumeister  sein  Waffengefahrte 
Kleber  aus  Strassburg. 

Hüningen.  Garnison:  Zwei  Bataillone  des  Regiments 
•de  Bourgogne. 

C  0 1  m  a  r.  Diese  unbefestigte  Stadt  hatte  nur  eine  Kavallerie- 
besatzung;  es  lagen  in  derselben  vier  Escadrons  der  Dragons 
^e  Monsieur. 

Neu-Breisach.  Garnison:  Zwei  Bataillone  des  deutschen 
Regiments  Zweibrücken,  dessen  Inhaber  der  Herzog  von  Pfalz- 
2weibrücken  war,  und  vier  Schwadronen  der  Chasseurs  d'Al- 
5ace.    Im  Fort-Mortier  lag  eine  Invaliden compagnie. 

Schlettstadt.  Garnison:  Zwei  Bataillone  des  Regiments 
La  Marck  und  vier  Schwadronen  der  Chasseurs  de  Champagne. 
Der  Oberst  letzteren  Regimentes  war  der  Graf  von  Lezay-Ma^ 
Jiesia,  ein  allerer  Bruder  des  unvergesslichen  Prafekten  des 
niederrheinischen  Departements. 

Strassburg.  Die  Besatzung  der  Stadt  Strassburg,  in 
welcher  sich  eine  Artillerieschule  und  eine  Kanonengiesserei 
befand,  bestand  im  Jahre  1789  aus  folgenden  Truppen:  Zwei 
Bataillone  des  Regiments  Royal-Infanterie,  zwei  Bataillone  des 
Regiments  Royal-Alsace,  dessen  Oberst  der  bekannte  und  volk»- 
iümliche    Prinz    Max    war;     zwei    Bataillone    des    Regiments 


—    79    — 

Royal-Hesse- Darmstadt,  dessen  Oberst  der  Erbprinz  Ludwig, 
Landgraf  von  Hessen-Darmstadt,  war.  Ferner  lagen  vier  Schwa- 
dronen des  Regiments  Royal-Cavallerie  und  vier  Escadrons  des 
Regiments  Artois  daselbst  in  Garnison.  Endlich  war  noch  das 
Regiment  St rasboui^- Artillerie  dort  in  Garnison ;  in  demselben 
dienten  viele  junge  Strassburger. 

Hagenau.  In  dieser  offenen  Stadt  lagen  vier  Schwadronen 
der  Hussards  de  Gonflans.  Die  Kavalleriekaserne,  die  durch 
Ludwig  XrV.  erbaut  worden  war,  stand  auf  der  Stätte,  wo  einst 
die  alte  Hohenstaufenburg  sich  erhob,  die  im  Jahre  1677  mit 
dem  grössten  Teil  der  Stadt  Hagenau,  durch  den  Parteigänger 
La  Brosse  zerstört,  in  Flammen  aufging. 

Fort-Louis.  In  dieser  Festung  befanden  sich  200  Mann 
des  Regiments  de  Beauvoisis,  die  von  Weissenburg  hin  deta- 
chiert waren. 

Weissenburg.  Garnison :  Zwei  Bataillone  des  Regiments 
von  Beauvoisis. 

Landau.  Diese  Stadt,  die  bis  zum  Jahre  1814  zum  El- 
sass  gehörte,  besass  eine  durch  Vauban  erbaute  starke  Festung, 
in  welcher  bei  dem  Ausbruche  der  Revolution  zwei  Bataillone 
Infanterie  vom  Regimente  de  Neustrie  und  zwei  Schwadronen 
des  Husarenregiments  de  Chamboran  (auch  Chamborant)  lagen. 
—  In  Pfalzburg,  dem  «Schlüssel»  zur  Zaberner  Steige,  lagen 
zwei  Bataillone  des  Regiments  La  Marck  und  vier  Escadrons 
der  Chasseurs  de  Champagne  in  Garnison. 

In  den  kleinen  Gebirgsfesten  Landskron  (unweit  Basel), 
Lichtenberg  und  Lützelstein,  auch  im  Schlosse  zu  Beifort  und 
im  Fort-Mortier  bei  Neu-Breisach  lagen  Invalidencompagnieen. 

Ausser  dieser  stehenden  Armee  hatte  der  Marschall  von 
Contades  im  Jahre  1762  eine  Miliz  (garde  bourgeoise)  in  allen 
eisässischen  Städten,  mit  Ausnahme  von  Strassburg,  ins  Leben 
jrerufen.  In  Colmar  z.  B.  waren  drei  Gompagnieen  Bürgermiliz, 
die  von  der  Farbe  ihrer  Uniformen  die  bl  aue,  die  rote  und 
die  graue  hiessen.  In  Strassburg  bildeten  die  reichen  Bürger- 
söhne bei  festlichen  Gelegenheiten  eine  reitende  Ehrengarde. 
Die  Milizen  hatten  den  inneren  Dienst  in  den  Städten,  Wachen, 
Xachtrunden^  Patrouillen  u.  s.  w.  zu  versehen. 

Steuer^vesen  und  Finanzen. 

Die  Finanzlage  im  Elsass  vor  dem  Ausbruch  der  franzö- 
sischen Revolution  war  keine  ungünstige,  obwohl  die  Last  der 
Abgaben  seit  der  Vereinigung  mit  Frankreich  bedeutend  zuge- 
nommen hatte.  Es  gab  zweierlei  Steuern,  herrschaftliche 
und  k  ö  n  i  g  1  i  c  h  e.     Zu  den  ersten  gehörte    der  Zehnten,  die 


—    80    — 


Fronsteuer,  das  Ohmgeld  oder  die  Weinsteuer,  die  Gerichts- 
gebiihren  und  die  Strafgelder,  endlich  die  Begräbnissteuern* 
Was  die  königlichen  Abgaben  betrifift,  so  bestanden  dieselben 
in  der  Entrichtung  der  beider  Zwanzigsten  (deux  vingtiämes), 
die  sich  jährlich  auf  740,000  Livres  belief,  aus  der  Kopfsteuer, 
die  500,000  Livres  betrug,  und  aus  dem  Chausseegeld,  welches 
sich  auf  400,000  Livres  belief.  Ausser  diesen  Auflagen  lasteten 
noch  manche  indirekte  Steuern  auf  dem  elsässischen  Volk. 
Wir  nennen  darunter  das  Mar^chausseegeld,  die  Abgaben  zur 
Abschaffung  des  sog.  « Beth  t»  im  strassburgisch-bischöfüchen 
Gebiete,  die  Steuern  für  die  Rheineindämmung,  die  Abgaben 
für  den  Sold  der  Milizen  und  den  Bau  und  Unterhalt  der  Ka- 
sernen, die  Auflagen  für  die  Fütterung  der  Kavalleriepferde 
u.  a.  m.  Die  ausserordentlichen  Abgaben  beliefen  sich  auf  unge- 
fähr 1,400,000  Livres.  Dazu  kamen  noch  die  Kosten  für  ein- 
zelne Gemeinden,  welche  die  Höhe  von  800,000  Livres  erreichten. 

Dagegen  war  das  Elsass  als  auswärtige  Provinz  von  der 
lästigen  Salzsteuer  (gabelle)  befreit,  welche  bei  dem  französischen 
Volk  so  unbeliebt  war,  femer  von  den  Abgaben  auf  Lebens- 
mitteln und  Waren  (aides),  und  hatte  nur  das  Ohmgeld  oder 
die  Weinsteuer  zu  zahlen.  Statt  der  Grundsteuer  (taille)  be- 
zahlte das  Elsass  eine  Geldsumme,  die  ursprünglich  sich  auf 
99,000  Livres  belief,  aber  mit  der  Zeit  die  Höhe  von  300,000 
Livres  erreichte.  Diese  letztere  Auflage,  von  welcher  die  (Jeist- 
lichkeit  und  der  Adel  befreit  waren,  nahm  bei  der  in  Frankreich 
zunehmenden  Finanzzerrüttung  derartig  zu,  dass  sie  im  Jahre 
1789  die  Summe  von  nahezu  9  Million  Livres  erreichte. 

Das  Elsass  zahlte  im  Jahre  1789  über  5  Millionen  Livres 
Abgaben,  von  denen  etwa  2  Millionen  in  den  königlichen  Schatz 
(Tresor  du  roi)  flössen.  Die  herrschaftlichen  Steuern,  Zehnten, 
Fronden,  Beth  u.  s.  w.  betrugen  etwa  1  Million  Livres ;  die 
indirekten  Steuern  2  Millionen. 

Was  die  Stadt  Strassburg  anlangt,  so  war  sie  laut  des 
6.  Artikels  der  Kapitulation  von  1681  von  allen  Kontributionen 
und  Auflagen  befreit,  und  Seine  Majestät  überliess  der  Stadt 
alle  ihre  gewöhnlichen  und  aussergewöhnlichen  Einnahmen,  um 
dieselben  zu  deren  Unterhalt  zu  gebrauchen.  Trotz  dieser  Immu- 
nität entrichtete  die  Stadt  dem  König  eine  Menge  sog.  freiwilliger 
Geschenke  (dons  gratuits),  die  man  als  indirekte  Abgaben  an- 
sehen .konnte,  und  musste  sich  vielen  Dienstleistungen  unter- 
ziehen. So  entrichtete  sie  eine  Hilfssteuer  (subside)  von  60,000 
Livres  für  den  Unterhalt  der  elsässischen  Festungen,  eine  Summe 
\on  38,000  Livres  für  das  Mobiliar  in  den  öffentlichen  Gebäu- 
den, die  an  den  Generalstab  (Etat  major)  der  Stadt  und  der 
Citadelle  und  an  den  Intendanten  der  Provinz  abgegeben  wurden» 


—    81    — 

einea  Beitrag  von  72,000  Livres  für  Lieferung  von  Brennholz 
und  Wellen  an  die  franzosischen  Stabsoffiziere  und  an  die 
Militärverwaltung.  Ferner  zahlte  der  Magistrat  jährlich  80,000 
Livres  für  den  Unterhalt  der  Kasernen  und  20,000  Livres  für 
denjenigen  des  Vaubanschen  (heutigen  Breusch-)  Kanals.  End- 
lich lasteten  noch  auf  der  Stadt  die  Kopfsteuer,  die  zwei  Zwanzig- 
sten oder  die  4  Sous  vom  Livre  und  die  Beisteuer  zu  den  Be- 
sddungsgebuhren  des  Conseil  Sou verain  d'Alsace.  Zur  Be- 
streitung dieser  drei  Auflagen  musste  der  Strassburger  Rat 
jä)irlich  eine  Summe  von  250,000  Livres  aufbringen.  Im  ganzen 
hatte  die  Stadt  Strassburg  an  Frankreich  bei  dem  Ausbruch 
der  Revolution  eine  Totalsumme  von  1,039,600  Livres  Steuern 
zu  bezahlen,  bei  einem  städtischen  Einkommen  von  1,582,482 
Livres.  Die  Schuld  der  Stadt  belief  sich  im  Jahre  1789  auf 
etwa  2  Millionen  Livres. 

Verkehrsleben  und  Geselligkeit. 

Strassburg  war  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
eine  von  Fremden  viel  besuchte  Stadt.  Ausser  den  auslän- 
dischen Studenten,  namentlich  aus  der  Schweiz,  Süddeutschland, 
Oesterreich  und  den  russischen  Ostseeprovinzen,  welche,  durch 
Schöpflins  europäischen  Ruf  angezogen,  nach  der  dortigen 
Universität  strömten,  um  neben  den  Wissenschaften  die  franzö- 
sische Sprache  zu  erlernen,  war  der  Handelsverkehr  mit  Deutsch- 
land, Frankreich  und  der  Schweiz  ein  sehr  reger.  Drei  Post- 
wagen gingen  jede  Woche  nach  Paris  ab ;  diese  <c  Diligencen  > 
wie  man  sie  nannte,  nahmen  ihren  Weg  über  Wasselnheim, 
die  Zaberner  Steige,  Pfalzburg,  Nancy,  Lothringen  und  die 
Champagne.  Auch  mit  dem  Ober-Elsass,  mit  Hochbuigund 
(Franche-Comt^),  Lyon  und  dem  südlichen  Frankreich  hatten 
die  Strassburger  Handelsleute  zahlreiche  Geschäftsverbindungen. 
Drei  Postwagen  gingen  ferner  wöchentlich  nach  der  Schweiz  ab, 
und  der  Verkehr  mit  Deutschland  war  ein  viel  häufigerer  noch, 
denn  täglich  fuhren  eine  Menge  von  Fuhrwerken  und  Lastwagen 
über  die  Kehler  Rheinbrucke. 

Die  s<^.  «  kleine  Post »  (la  pelite  poste)  oder  Briefpost  war 
durch  einen  Erlass  des  königlichen  Staatsrats  vom  11.  April 
1779  eingerichtet  worden.  Das  Hauptbureau  der  Stadtbriefpost 
(Bureau  gen^ral)  derselben  befand  sich  in  der  Judengasse, 
unweit  der  Maurerstube;  14  Briefträger  und  2  Supernumerare 
(surnumeraires)  versahen  den  Dienst  in  der  Stadt.  49  Brief- 
kästen waren  in  der  innern  Stadt,  in  den  Vorstädten  (fauxbourgs) 
und  in  der  Gitadelle  angebracht.  Die  Austeilung  der  Briefe 
geschah  täglich  viermal  in  der  Stadt. 

0 


—    82    — 

Die  Stadt  Strassburg  halte  vor  dem  Ausbrach  der  fran- 
zösischen Revolution  das  Gepräge  einer  unfreundlichen  finsteren 
Stadt.  Die  Strassen  waren  enge  und  nicht  sehr  reinlich,  was  davon 
herrührte,  dass  viel  Wasser,  das  jetzt  überbrückt  ist,  durch  die 
Stadt  floss.  So  war  z.  B.  der  Gerbergraben  eine  düstere  Gasse, 
in  welcher  Schmutz  und  Unreinlichkeit  herrschten.  Viele 
Häuser  hatten  noch  sog.  Ueberhänge,  d.  h.  das  erste  Stock- 
werk ging  vor,  was  die  Strassen  verengerte.  Da  wo  jetzt  der 
lUkanal  durch  die  Stadt  sich  zieht,  war  in  der  Mitte  ein  Damm, 
von  beiden  Seiten  mit  stehendem  Wasser  umgeben,  das  schäd- 
liche Ausdünstungen,  namentlich  in  den  Sommermonaten,  ver- 
breitete. Strassburg,  eingeengt  durch  den  Festungsgürtel  der 
Vaubanschen  Wälle  und  Bastionen,  konnte  sich  weder  aus- 
dehnen noch  verschönern  und  war  weit  davon  entfernt  die 
€  wunderschöne  Stadt »  zu  sein,  welche  der  Dichter  besingt. 
Und  doch  war  es  hier  gut  zu  wohnen,  denn  vor  der  Revolution 
herrschte  unter  den  Bürgern  der  Stadt  —  Arnolds  Lustspiel 
cDer  Pfingstmontag»  beweist  es  —  deutsche  Art  und  Sitte, 
welche  den  französischen  Revolutionsmännern  so  verhasst  war, 
dass  sie  im  Jahre  1793  den  Vorschlag  machten,  die  Elsässer  in 
das  innere  Frankreich  zu  verpflanzen  und  dagegen  Voliblut- 
franzosen  nach  Strassburg  zu  versetzen,  um  dort  den  deutschen 
Geist  mit  Stumpf  und  Stiel  auszurotten.  Einen  schlagenden  Beweis, 
wie  wenig  die  französische  Sprache  vor  der  Revolution  gerade  in 
Strassburg  verbreitet  war,  legt  das  dortige  Zeitungswesen  ab. 
Das  gelesenste  und  verbreitetste  Blatt  in  der  Stadt  war  die 
1788  gegründete  und  bei  dem  Buchdrucker  Friedrich  Ru- 
dolf Salzmann,'  der  zugleich  in  der  Schlossergasse  die 
«c  Akademische  Buchhandlung  >  besass,  erscheinende  c  Privile- 
girte  Strasburgische  Zeitung».  Im  Jahre  1789  erschien  sie 
unter  dem  Namen  <  Strasburgische  Politische  Zeitung »  und 
1792  unter  dem  Titel  «Der  Weltbote».  Dieses  Blatt  erschien 
zuerst  dreimal  in  der  Woche  und  von  1790  an  täglich,  am 
Sonntag  ausgenommen.  Salzmanns  Nachfolger  war  sein  Tochter- 
miinn  Johann  Heinrich  Silbermann,  unter  dessen 
Leitung  das  Blatt  den  Namen  «  Der  Niederrheinische  Kurier  » 
annahm.  Ferner  kam  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts 
zweimal  wöchentlich  bei  Philipp  Jakob  Dannbach  das 
«Strass  burger  Wochenblatt»  heraus.  Beide  Blätter  erschienen 
in  deutscher  Sprache.  Desgleichen  ein  zweites  Wochenblatt,  das 
später  bei  Silbermann  unter  dem  Namen  «Les  afßches  de  Stras- 
bourg »  erschien  und  heute  noch  herauskommt. 


1  Bor  Bachdrucker  Friedrich  Radolf  Salzmann   wird   oft   mit 
seinem  Vetter,  dem  Aktaar  Daniel  Salzmann,  verwechselt. 


—    83    -- 

Die  namhaftesten  Gasthöfe  in  der  Stadt  waren  im  Jahre 
4789  folgende :  Der  Geist,  gegenüber  der  Klausbrücke.  Dort 
waren  Herder,  Jung-StiUing,  Goethe  bei  ihrer  Ankunft  in 
Strassburg  abgestiegen.  Ferner  der  Gasthof  zum  Raben 
auf  dem  Rabenplatz;  dort  hatten  (1741)  Friedrich  II.  von 
Preussen,  von  den  alten  Strassburgern  nur  der  c  Grosse  Fritz  » 
genannt,  und  Kaiser  Joseph  IL  (1779)  bei  ihrem  Besuche  in 
Strassburg  einige  Tage  gewohnt.  In  der  Metzgergasse  befanden 
sich  der  Badische  Hof  und  auf  dem  Metzgerplatze  die 
Stadt  Wien  (gegenüber  der  heutigen  gleichnamigen  Restau- 
ration). Beide  Grasthöfe  waren  viel  von  den  c  Ueberrheinem » 
and  den  fremden  Kaufleuten,  welche  die  beiden  Strassbui^ger 
Hessen  (die  Weihnachts-  und  die  Johannismesse)  besuchten, 
aufgesucht.  In  unmittelbarer  Nähe  des  Kaufhauses  war  das 
Spanbett,  bekannt  durch  den  schrecklichen  Brand  desselben, 
and  die  Blume.  Der  Gasthof,  der  mit  Vorliebe  vom  unter- 
elsässischen  Adel  und  demjenigen  der  Ortenau  und  des  Breis- 
gaus besucht  wurde,  war  das  äusserlich  beinahe  unverändert 
gebliebene  schone  Giebelhaus  mit  den  zierlichen  Erkern,  einst 
zum  Schiff  genannt.  Dasselbe  war  eine  ehemalige  adelige 
Trinkstube.  Die  beiden  anderen  waren  :  der  Hohe  Steg  und 
der  Mühlstein  bei  dem  Salzhaus,  wo  einst  die  mächtigen 
Adelsgeschlechter  derer  von  Zorn  und  von  M  ü  1 1  e  n  h  e  i  m 
zusammenkamen.  Im  Goldgiessen  befand  sich  der  Goldene 
Apfel,  und  auf  dem  Munsterplatz  erhob  sich  das  Haus  Z  u  m 
Hirtzen,  ebenfalls  zwei  alte  Strassburger  Gasthöfe. 

Ausser  diesen  Gasthäusern,  in  welchen  ein  starker  Fremden- 
verkehr stattfand,  bestanden  noch  20  bürgerliche  Zunftstuben, 
in  welchen  die  Strassburger  Bürger  ihre  Familienfeste,  ihre 
Tauf-  und  Hochzeitessen  und  ihre  fröhlichen  Gelage  zu  halten 
pflegten.  Die  vornehmsten  Zunftstuben  waren  diejenigen  c  Zur 
Luzerne  »  (Laterne)  bei  der  alten  Komgasse  und  c  Zum  Spiegel » 
in  der  Schlossergasse.  Anfangs  Juli  1789  wurde  auf  dem 
Paradeplatz  (Kleberplatz)  ein  neuer  Gasthof  errichtet,  der  bald 
zu  den  ersten  der  Stadt  zählte ;  es  war  dies  das  noch  heute 
bestehende  c  Rothe  Haus :»,  in  welchem  General  Bonaparte  bei 
seiner  Durchreise  nach  Rastatt  zum  dort  stattfindenden  Kongress 
(Dezember  1797)  einige  Stunden  weilte  und  eine  Mahlzeit  ein- 
nahm. Die  Familien  von  Dietrich  und  von  Berckheim  hatten 
die  Ehre  an  seiner  Tafel  zu  speisen. 

Nach  der  Revolution  erhielten  sich  die  alten  Benennungen  ; 
die  meisten  früheren  Zunftstuben  wurden  in  Bierhäuser  um- 
gewandelt. Eine  derselben,  in  der  Tucherstubgasse,  wurde  zum 
deutschen  Theater  eingerichtet.  Die  französische 
Komödie   erhob  sich  auf  dem  Broglieplatze,  brannte  jedoch 


—    84    — 

in  den  neunziger  Jahren  völlig  ab,  worauf  ein  stattlicher  Neu- 
bau sich  erhob. 

In  den  drei  Vorstädten,  Steinstrasse,  Kranenburgerstrasse 
und  Weissturmthorstrasse,  gab  es  eine  grosse  Anzahl  von 
Wirtshäusern,  wo  meist  die  Bauersleute,  welche  am  Mittwoch 
und  Freitag  die  Wochenmäi^kte  besuchten,  ihre  Mahlzeiten  ein- 
nahmen. Der  Hauptverkehr  in  Strassburg  war  vor  der  Revo- 
lution in  der  Nähe  der  Grossen  Metzig  und  des  Kauf- 
hauses. Dort  wurden  die  Waren  abgeladen,  die  auf  dem 
Wasserwege  in  die  Stadt  kamen,  und  wurden  von  den  starken 
und  kräftigen  c  Packern  i»  und  Sackträgern,  die  eine  Art  von 
Zunft  bildeten,  in  Empfang  genommen  und  den  Kaufleuten 
ins  Haus  gebracht.  In  der  Nähe  dieser  Gebäude  war  auch  der 
Fischmarkt.  Dorthin  kamen  mit  Vorliebe  die  sogenannten 
^  Ueberrheiner  :d  oder  Landleute  aus  der  Umgegend  von  Kehl 
und  des  rechtsrheinischen  Hanauer  Landes. 

Ausser  den  Gasthöfen  und  Wirtshäusern  gab  es  um  das 
Jahr  1789  in  Strassburg  noch  viele  Kaffee-  und  Bierhauser. 
Letztere  waren  meist  dunkle  und  unansehnliche  Lokale,  in 
welchen  in  niederen  Stuben  und  bei  dem  Schein  trübe 
brennender  Oellichter  der  Gambrinussaft  abends  mit  Behauen 
von  den  ehrsamen  Bürgern  und  Handwerkern  bei  einer  Pfeife 
cc  Tabak  t»  oder  holländischen  €  Kanasters »  und  unter  kurz- 
weiligen Reden  getrunken  wurde.  Die  Strassburger  Bierstuben 
hatten  noch  bei  dem  Ausbruch  der  Revolution  und  selbst  bis 
in  die  dreissiger  Jahre  unseres  Jahrhunderts  hinein  ein  rein 
deutsches  Gepräge.  Die  ältesten  Bierstuben  waren  diejenigen 
zum  Leopard,  zum  Tiger,  zum  Einhorn,  zum 
Vogel  Greif,  zum  Delphin,  zum  Kranich,  zum 
Riesen,  zum  Wolf,  zum  Bären,  zum  Vogelsang 
u.  a.  m.  Die  Benennungen  derselben  waren  meist  dem  Tier- 
reich entlehnt. 

Was  die  Kaffeehäuser  betrifft,  so  hatten  die  meisten 
derselben  einen  französischen  Anstrich  und  waren  auch  vor- 
nehmlich von  dem  französischen  Publikum,  namentlich  von 
Offizieren  und  höheren  Beamten  liesucht.  Auf  dem  Paradeplatz 
(heutigen  Kleberplatz)  befanden  sich  zwei  Kaffeehäuser,  (Uns 
Cafe  Su^ois  und  das  Caf§  militaire.  In  unmittelbarer  Nähe 
desselben,  an  der  Ecke  des  Gerbei*grabens  und  des  Eiserumann- 
platzes,  stand  das  Kaffeehaus  zum  « Blauen  Bauer )»,  das  viel 
von  Militärs  besucht  wurde.  Unweit  des  heutigen  Theaters 
erhob  sich  das  Cafä  de  la  Com6die  fran^aise.  In  der  Schlosser- 
gasse war  das  Cafe  des  Marchands,  das  besonders,  wie  es  sein 
Name  anzeigt,  von  Kaufleuten  besucht  war  und  eine  Arl 
Börsenlokal    bildete.    Auf   dem  Münsterplafz  stand  das  Caf(^  tie 


—  So- 
la ville  de  Paris ;  auf  dem  neuen  Markt  erhob  sich  das  Cafö 
Gayoty  das  seine  Benennung  dem  Namen  eines  französischen 
Intendanten  des  Elsass  im  vorigen  Jahrhundert  entlehnt  hatte. 
In  der  Nähe  der  heutigen  Uhlanenkaserne,  auf  dem  sog. 
c  Ritterplatz »,  war  das  CaU  de  Saint-Nicolas,  welches  seinen 
Namen  von  der  früheren  Klosterkirche  St.  Klaus  in  Undis  (an 
den  Wassern)  hatte.  In  der  Citadelle  war  auch  ein  Kaffeehaus, 
welches  ausschliesslich  von  den  Offizieren  der  Garnison  besucht 
wurde  und  als  Schild  den  bezeichnenden  Namen  Gaf^  aux 
armes  de  France  führte. 

Bezüglich  der  öflentlichen  Promenaden,  so  gab  es 
deren  in  Strassburg  selbst  vor  dem  Ausbruch  der  Revolution 
nur  eine,  nämlich  den  Broglie  (später  von  den  Strassburgern 
(Breutl»  genannt,  der  heutige  Broglieplatz),  der  im  Jahre  i 740 
auf  die  Anregung  des  Marschalls  von  Broglie,  dem  damaligen 
Militäroberkommandanten  der  Provinz  Elsass,  auf  dem  ehe- 
maligen €  Rossmarkt»  angelegt  und  mit  Lindenbäumen  an- 
gepflanzt worden  war.  Zu  Ehren  des  Marschalls  von  Broglie 
wurde  die  Promenade,  die  noch  heute  eine  Zierde  Strassburgs 
ist,  nach  dessen  Namen  benannt. 

Der  Gontades,  der  seine  Benennung  von  dem  Marschall 
von  Gontades,  Broglies  Nachfolger,  erhielt,  wurde  auf  dem 
etiemaligen  Sehiessrain  vor  d^m  Judenthor,  dem  Vereinigungs- 
orte der  Schützen,  woselbst  auch  die  Schützenfeste  abgehalten 
wnrden,  im  Jahre  n64  angielegt.  Bei  dessen  Anlage  blieb  der 
bekannte  alte  Lindenbaum  stehen,  in  dessen  breiten  und  weit- 
verzweigten Aesten  man  einen  Tanzplatz  errichtet  hatte,  wo  am 
Sonntag  die  Tanzvergnägungen  stattfanden.  Am  Eingang  des 
Gontades  stand  noch  eine  ansehnliche  Sommerwirtschaft,  die 
namentlich  von  den  Volksklassen  besucht  und  worin  jeden 
Sonntag  getanzt  wurde,  aber  ausschliesslich  in  deutscher  Manier 
Die  damals  in  Strassburg  üblichsten  Tänze  waren  bekannt 
unter  dem  Namen  :  des  AUemandes».  Ueberhaupt  war  noch  vor 
einem  Jahrhundert  deutsche  Art  und  Sitte  unter  der  Strass- 
burger  Bürgerschaft  stark  vertreten  und  gab  es  in  der  Stadt 
zwei  Gesellschaften,  die  einheimische  oder  deutsche  und  die 
eingewanderte  oder  französische.  In  G  o  1  m  a  r  wurde  um 
die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  vor  dem  Rufacher  Thor, 
in  unmittelbarer  Nähe  der  Stadt,  auch  eine  grosse  Promenade 
angelegt,  die  zu  Ehren  des  Intendanten  de  Vanplles  dessen 
Namen  erhielt.  Als  die  Revolution  ausbrach,  wurde  sie  Ghamp 
de  Mars  (Marsfeld)  geheissen  und  bildet  heute  eine  Zierde 
der  Stadt. 

Die  Ruprechtsauer  Allee  vor  dem  Fischerthor 
wurde  im   Jahre  i692  durch   den  Marquis  d*Huxellos,    Militär- 


—    86    — 

kommandant  der  Provinz  Elsass,  nach  den  Plänen  des  be- 
rühmten Gartenbaukünstlers  Le  N6tre  angelegt.  Die  beiden 
Rondelle  am  Ende  der  Allee  erhielten  dessen  Namen.  In  der 
Ruprechtsau  besassen  viele  Strassburger  Familien  Landgüter, 
in  welchen  sie  die  Sommermonate  zubrachten.  Auch  war  dort 
ein  beliebter  geselliger  Yereinigungspunkt  der  Bürger  in 
c Christians  Garten».  Vor  dem  Metzgerthore  gab  es  ein  ebenso 
besuchtes  Wirtschaflslokal,  nämlich  cBaldners  Garten»,  in 
welchem  der  alemannische  Dichter  Johann  Peter  Hebel, 
der  oftmals  nach  Strassburg  kam,  wo  er  mit  den  Familien 
Stöber,  Blessig,  von  Türckheim,  Wegelin  befreundet  war,  seine 
bekannte  Erzählung  vom  «falschen  Ring}»  spielen  lässt.  Dieselbe, 
die  mit  vielem  Witz  und  Humor,  wie  die  Hebeischen  Stücke 
alle,  geschrieben  ist,  erschien  zuerst  im  Rheinländischen 
Hausfreund. 

Ein  beliebtes  Vergnügen  der  Strassburger  Bevölkerung  vor 
der  Revolution  war  die  Schiffahrt  auf  der  111.  Im  Sommer 
fuhi*en  zahlreiche  Gesellschaften  auf  Schiffen  und  Nachen  auf 
dem  Illfluss  nach  der  Richtung  von  Ostwald  zu.  Dort  an  den  be- 
waldeten Illufern  oder  auf  freundlichen  kleinen  Inseln  brachten 
die  Strassburger  Familien  an  schönen  Sonntagen  den  Nach- 
mittag zu;  dort  wurden  einfache  Mahlzeiten  (sog.  pick-nick, 
zu  denen  jedes  Mitglied  der  Gesellschaft  beitrug)  auf  dem 
grünen  Rasenteppich  gehalten.  Dort  brachte  unter  Spiel,  Gesang 
und  Tanz  die  muntere  Jugend  einige  vergnügte  Stunden  zu 
und  kehrte,  an  Leib  und  Seele  erfrischt  und  gestärkt,  mit  den 
Eltern,  Geschwistern  und  Jugendgenossen  bei  Mondschein  und 
klarem  Sternenhimmel  auf  dem  Wasserwege  in  die  Stadt  zu- 
rück. Auf  dem  Illfluss  wurden  auch  häufig  im  vorigen  Jahr- 
hundert von  den  Mitgliedern  der  Schifferzunft,  den  sc^. 
c Schiffischen»,  wie  man  in  Strassburg  sie  hiess,  die  meist  am 
Wasserzoll,  im  Finkweiler  und  in  der  Krautenau  wohnten,  die 
so  beliebten  und  volkstümlichen  «Gänselspiele»  aufgeführt. 
Ueberhaupt  hatte  die  Geselligkeit  vor  der  Revolution  einen 
ganz  anderen  Charakter  als  nach  derselben  und  auch  als  in 
unserer  Zeit,  und  jedenfalls  war  die  Genusssucht  damals  weniger 
ausgeprägt  wie  heutzutage  und  kamen  die  Vergnügungen  nicht 
so  teuer  zu  stehen. 

Die  alten  Strassburger  waren  reiselustige  Leute ;  besonders 
wenn  sie  jung  waren,  besahen  sie  sich  die  Welt  und  kehrten 
mit  vielen  neuen  Anschauungen  und  an  Erfahrungen  mancher 
Art  bereichert  in  ihre  Vaterstadt  zurück.  In  älteren  Jahren  nahm 
die  Reiselust  bei  ihnen  ab;  da  brachten  sie  am  liebsten  die 
Sommermonate  auf  dem  Lande  zu.  Beinahe  jede  wohlhabende 
Familie  von  Strassburg  besass  in  der  Nähe  der  Stadt  ein  Land- 


—    87    — 

haus.  In  Schiltigheim,  Kolbsheim,  Dorlisheim,  Krauterge  rsheim, 
Schanrachbergheim,  Wasselnheim,  Barr,  Ittenweiler  und  anderen 
Orten  besassen  die  reicht^  Strassburger  Familien  Landhäuser, 
und  der  Einfluss,  der  von  ihnen  aus  auf  die  ländliche  Bevöl- 
kerung sich  erstreckte,  war  ein  segensreicher.  Auch  das 
S  t  e  i  n  t  h  a  1 ,  wo  der  unvergessliche  Pfarrer  Johann  F  r  t  ed- 
rich  Ob  erlin  über  ein  halbes  Jahrhundert  wirkte,  übte 
eine  grosse  Anziehungskraft  auf  die  Strassburger  aus.  Oberiin 
hatte  in  seinem  geräumigen  Pfarrhause  ein  Pensionat,  in 
welchem  viele  Töchter  aus  besseren  Strassburger  Familien  einige 
Jahre  zubrachten,  um  einen  gründlichen  Unterricht  zu  em- 
pfangen, eine  christliche  Erziehung  zu  geniessen  und  französisch 
zulernen.  Die  Familien  Ziegenhagen,  Stöber,  vonBerck- 
heim,  von  Türckheim  und  andere  übergaben  dem  ehr- 
würdigen GreistUchen  ihre  Kinder  zur  Erziehung.  Auch  die 
Familie  von  Dietrich,  die  Herrschaft  des  Steinthals  bei  dem 
Ausbruch  der  Revolution,  war  mit  Oberiin  innig  befreundet; 
ja  während  der  Scbreckenszeit  fanden  die  Töchter  des  Barons 
Johann  von  Dietrich  im  Oberlinschen  Pfarrhause  eine  Zeitlang 
eine  sichere  Zufluchtsstätte. 

Die  Badorte,  welche  die  Strassburger  Bürgerschaft  vor 
der  Revolution  am  meisten  zu  besuchen  pflegte,  waren  die 
Renchthalbäder :  Antogast ,  Petersthal  und  Griesbach ; 
der  Kniebis  war  für  die  Badegäste  ein  beliebter  Ausflugspunkt. 
Auch  in  dem  benachbarten  Bad  Rippoldsau  suchten  viele 
Strassburger  Linderung  für  ihre  Leiden  und  völlige  Genesung. 
Baden-Baden  zog  gleichfalls  von  jeher  die  Strassburger 
Familien  an. 

Im  Elsass selbst  war  das  besuchteste  Bad  Nieder bronn. 
Die  Vogesen,  die  damals  wilder  und  waldiger  waren  wie 
jetzt,  zogen  im  Sommer  viele  Touristen  an,  trotzdem  dass  die 
gastwirtlichen  Einrichtungen  daselbst  im  vorigen  Jahrhundert 
noch  sehr  primitiver  Art  waren.  Wie  beliebt  solche  Gebirgs- 
wanderungen waren,  davon  legen  die  begeisterten  Schilderun- 
gen Zeugnis  ab ,  welche  z.  B.  Andreas  Silbermann, 
Imlin,  Pfeffinger,  Moritz  Engelhard  und  andere 
hinterlassen  haben.  Der  menschenfreundliche  und  volkstümliche 
Arzt  Dr.  Johann  Pfeffinger  z.  B.  hat  alle  alten  Burgen, 
deren  Ruinen  die  Höhe  des  Wasgaus  krönen,  beschrieben,  und 
seine  handschriftlichen  Aufsätze  darüber  befinden  sich  heute 
noch  —  unbenutzt  —  auf  der  Strassburger  Universitäls-  und 
Landesbibliothek.  Emanuel  Friedrich  Imlin  hat  dazu 
Ansichten  gezeichnet,  die  heute  besonders,  nachdem  von  den 
Ruinen  manches  zerstört  worden  ist,  ihren  Wert  haben.  Auch 
diese  Ansichten,  die  auf  der  gleichen  Bibliothek  sich  befinden. 


—    88    — 

sind  noch  nicht  veröflfentliclit  worden.  Diese  Männer  waren 
die  Vorgänger  Seh  weigh  ä  users  und  Golb^rys  sowie 
Rothmüllers,  deren  Werke  heute  so  geschätzt  und  ge- 
sucht sind. 

Wenn  wir,  am  Schlüsse  unserer  geschichtlichen  Darstellung 
angelangt,  einen  Rückblick  auf  die  Zustände  und  Verhältnisse 
des  Elsass  im  Jahre  1789  werfen,  so  ergiebt  sich  für  den  auf- 
merksamen Beobachter  jener.  Zeit  folgendes  Resultat.  Das  El- 
sass war  vor  einem  Jahrhundert  ein  von  der  Vorsehung  und 
Natur  reich  gesegneter  Landstrich  und  eine  der  fruchtbarsten 
Provinzen  der  französischen  Monarchie;  auch  ein  im  ganzen 
zufriedenes  und  glückliches  Land,  das  nach  langen  und  schweren 
Kämpfen  die  Wohlthaten  und  Segnungen  des  Friedens  genoss. 
Die  Revolution  von  1789,  die  einen  geschichtlichen  Wendepunkt 
für  das  Elsass  bildet  und  die  man  heutzutage  auf  alle  Weise 
zu  verherrlichen  sucht,  die  Revolution,  deren  Errungenschaften 
von  Vielen  als  ein  Fortschritt  der  Menschheit  bezeichnet  wer- 
den, brachte  —  wenigstens  dem  Elsass  —  nicht  die  so  hoch 
gepriesene  Freiheit,  denn  vor  4789  genoss  das  Elsass  über- 
haupt und  die  Stadt  Strassburg  insbesondere  grössere  Rechte 
und  Privilegien  als  nachher.  Auch  war  der  allgemeine  Wohl- 
stand in  Stadt  und  Land  grösser  vor  als  nach  der  Revolution, 
und  der  elsässische  Adel,  der  vielen  Grundbesitz  besass,  war 
ein  Segen  für  das  ganze  Land.  Dies  zeigte  sich  deutlich  in 
der  Folgezeit,  als  die  meisten  unterelsässischen  Adeligen,  um 
Freiheit  und  Leben  zu  retten,  über  den  Rhein  emigrierten  und 
dem  neuentstandenen  Grossherzogtum  Baden  und  dessen 
erstem  Oberhaupt,  dem  «grossen  Markgrafen »  Karl  Friedrich, 
eine  Summe  von  materiellen  Gütern  und  geistigen  Gaben  und 
Kräften  zuwandten,  die  für  das  Elsass  einen  unersetzlichen  Ver- 
lust, für  Baden  dagegen  einen  nicht  hoch  genug  anzuschlagenden 
Grewinn  bedeutete.  Auch  auf  anderen  Grebieten  zeigte  sich  im 
Elsass  gegen  früher  ein  entschiedener  Rückgang,  namentlich 
die  höhere  Bildung  und  der  Wohlstand  der  Bürgerschaft  in 
den  Städten  ging  nach  1789,  infolge  der  Schreckensherrschaft 
und  der  langen  Revolutions kriege  entschieden  rückwärts.  Auch 
der  religiöse  Sinn  nahm  in  Stadt  und  Land  durch  die  Ereig- 
nisse der  Revolution  bedeutend  ab :  darüber  führten  die  Geist- 
liehen  beider  Konfessionen  bittere  Klagen.  Die  Beantwortung 
der  Frage,  ob  das  Elsass  durch  die  französische  Revolution 
mehr  gewonnen  als  eingebüsst  hat,  ist  schwer  zu  geben. 
Zweierlei  jedoch  steht  fest :  die  Bande,  welche  das  Elsass  bis- 
her mit  Deutschland  verknüpft  hatten,  wurden  durch  die  Re- 
volution gewaltig  gelockert,  und  die  Väter,  welche  jene  titanen- 
hafte Zeit  erlebt  und  deren  Drangsale  erduldet  haben,  urteilen 


—    89    — 

darüber  in  ihren  Aufzeichnungen  ganz  anders  als  ihre  Enkel, 
welche  die  Revolution  nur  im  Glorienscheine  der  französischen 
L^;ende  ansehen.  Der  historischen  Wahrheit  aber  werden  wir 
wohl  am  nächsten  kommen,  wenn  wir  sagen :  Die  Revolution  von 
1789  hat  zwar  hohe  und  ideale  Ziele  aufgestellt  und  verfolgt, 
jedoch  unter  Verkennung  der  Gesetze  der  normalen  Entwick- 
lung aller  menschlichen  Dinge^  und  an  der  Stelle  alter,  be- 
währter Einrichtungen  nicht  immer  Besseres  geschaffen. 


III. 


Landsknechte  und  Hofleute 


in  elsäasisclien  Dramen  des  16.  Jahrhunderts. 

Auszüge  von  E.  Martin. 

Uas  Volksdrama  des  16.  Jahrhunderts  hat  auch  im  Elsass 
eine  reiche  Blütezeit  gehabt,  \venn  schon  nicht  ganz  so  reich 
wie  in  der  Schweiz,  mit  welcher  das  £lsass  auch  in  dieser 
Beziehung,  bald  gebend,  bald  empfangend,  in  Austausch  stand. 
Während  aber  die  Mitlebenden  ein  unersättliches  Ge&Uen 
daran  hatten  immer  wieder  die  bekannten,  meist  der  Bibel 
entlehnten  Stoffe  recht  ausfuhrlich  und  mit  möglichst  zahlreicher 
Beteiligung  der  jungen  Bürgerschaft,  vor  allem  der  Schüler, 
aufgeführt  zu  sehen,  interessiert  uns  beim  Lesen  der  durch 
den  Druck  aufbewahrten  Stücke  ganz  besonders  die  naive  Ein- 
kleidung der  alten  Geschichten  in  das  Gewand  der  damaligen 
Gegenwart,  eine  Gewohnheit,  welche  das  16.  Jahrhundert  vom 
Mittelalter  ererbt  hatte,  die  aber  zu  unserer  fast  pedantischen 
Strenge  in  der  Beobachtung  des  historischen  Gostüms  den 
schärfsten  Gegensatz  bildet. 

Von  den  zahlreichen  Bildern  aus  dem  Leben  unserer  Vor- 
fahren, welche  auf  diesem  Wege  uns  zugekommen  sind,  werden 
im  Folgenden  zwei  zur  Wiedergabe  gebracht. 

Das  eine  stellt  das  Landsknechtswesen  dar,  wie  es  sich, 
mit  Wiederbelebung  uralter  Grundzüge,  um  1500  neu  gestaltet 
hatte.  Frei  ist  der  Wille  dessen,  der  sich  anwerben  lässt,  aber 
das  einmal  gegebene  Wort,  das  genommene  Handgeld  bindet 
ihn  unverbrüchlich  für  die  Dauer  des  Feldzugs.  Aus  der  Frei- 
willigkeit des  Eintritts  erklärt  es  sich,  dass  der  Hauptmann, 
ja  der  Oberst  sogar  mit  den  Landsknechten  so  kameradschafl- 


! 


—    91    — 


lieh  verkehrt.  Zwar  die  Formen,  in  denen  er  sie  anspricht, 
könnte  man  auch  heutzutage  wiederfinden,  in  dem  c  Guten 
Moigen,  Leute!»  c  Guten  Morgen,  Herr  Hauptmann »,  welches 
ivenigstens  vor  kurzem  noch  ühlich  war.  Aber  völlig  ab- 
gekommen ist,  dass  die  Vorgesetzten  der  Reihe  nach,  vom 
Obersten  bis  zum  Fähndrich,  sich  noch  des  besonderen  Ein- 
verständnisses der  Soldaten  versichern,  welches  diese  mit  den 
treuherzigen  Worten  versichern:  cWarum  das  nit,  warum  das 
nit?»  So  selbständigen  Mitstreitern  gegenüber,  welche  der 
Hauptmann  als  c Brüder»  anredet,  erklärt  sich  auch  die  Rück- 
sicht, mit  welcher  die  Soldaten weiber  behandelt  werden.  Man 
muss  sich  an  den  ungeheuren  Tross  erinnern,  der  die  Heere 
jener  Zeit  und  bis  in  den  30jährigen  Krieg  hinein  begleitet. 

Die  treue  Wiedei^abe  der  wirklichen  Verhältnisse  im 
Drama  kommt  uns  noch  auffallender  vor,  wenn  wir  bedenken, 
dass  die  Landsknechte  und  ihre  €  Mätzen  »  von  der  Schuljugend 
dargestellt  wurden.  Besser  passte  für  diese  die  Komik  anderer 
Scenen :  bei  der  Belagerung  Jerusalems  warfen  die  Belagerten 
auf  die  Angreifer  mit  c  äschenen  Kugeln  das  schier  keiner  den 
andern  vor  Staub  sehn  kundt  —  welches  alles  sehr  lecherlich 
und  kurzweilig  zu  sehen  wari^.  Offenbar  wurde  mit  den  Kugeln 
aus  Asche  der  Pulverdampf  nachgeahmt,  welcher  allerdings  bei 
der  Belagerung  von  Jerusalem  einen  neuen  Anachronismus 
bildete.  Mit  solchen  komischen  wechselten  dann  wieder  überaus 
grausige  Scenen  ab:  einem  jüdischen  « Rädleinführer »  Simon 
wird  das  Herz  aus  dem  Leibe  geschnitten  und  um  den  Mund 
geschlagen ;  so  übte  man  ja  auch  in  Wirklichkeit  Justiz. 

Das  Drama,  welchem  die  ausgehobenen  Scenen  angehören, 
ist  betitelt  :  t  G  o  m  o  e  d  i  a  Vom  König  der  seinem  Sohn 
Hochzeit  machte,  aus  dem  XXI  und  XXII  Gapitel  Matthei  ge- 
logen^ und  schildert,  wie  die  Einladung  Gottes  von  den  buss- 
fertigen Heiden  angenommen,  von  den  Juden  aber  zurück- 
gewiesen wird,  worauf  Gott  die  Ermordung  seines  Sohnes 
durch  die  Zerstörung  Jerusalems  rächen  lässt.  Es  ist  1574  zu 
Ensisheim  aufjg^eführt,  1575  zu  Basel  gedruckt  worden.  Der 
Dichter,  Johannes  Rasser,  war  Sladtpfarrer  zu  Ensisheim  :  eine 
liebensskizze,  soweit  sie  nach  den  lückenhaften  Ueberlieferungen 
möglich  war,  ist  in  der  Allg.  Deutschen  Biographie,  Bd.  27, 
gegeben  worden. 

In  dem  unten  folgenden   Abdrucke   aus  diesem   und   dem 
anderen  Stücke  ist  die  Interpunktion  verbessert,  die  Abkürzung 
in  n  oder  en  aufgelöst  und  einigemale  hinter  Druckfehlern 
die  Berichtigung  in  eckigen  Klammern  eingeschaltet. 

Dieses    andere    Stück     trägt    den    Titel     «TRAGÜEDIA. 
Johannis  des  heiligen  Vorläuffers  vnd  Täulfers  JESV  CHRISTI, 


*  - 


-     9^2    - 

warhafite  Hystori  .  .  .  gespilt  durch  ein  Ehrsame  Burgerschaflt 
zu  Colmar,  25  u.  26.  Maij,  Anno  1573. »  Gedr.  Strassburg 
1575.  Die  Widmung  an  den  Rat  zu  Colmar  ist  unterzeichnet: 
Colmar,  12  Brachmonats  1575,  Andreas  Meygenbrunn, 
Lateinischer  Schulmeister.  Nach  Grödeke,  Grundriss  II*  391  ist 
das  Stück  nur  aus  einem  andern  wiederholt  (aus  Nr.  68  S.  348 
bei  Gödeke,  nicht  wie  S.  391  gedruckt  steht,  Nr.  84),  welches, 
mit  gleichlautendem  Titel  versehn,  am  21.  Julii  1549  zu  Sok)- 
thurn  aufgeführt  und  zu  Bern  gedruckt  1549,  von  Johannes 
AI  von  Bremgarten,  zu  jener  Zeit  Probst  in  Solothurn,  gedichtet 
worden  war;  schweizerische  Idiotismen,  wie  neut  für  c  nichts, 
nicht]»,  bestätigen  diesen  Ursprung.  Immerhin  aber  giebt  sich 
doch  in  der  Wiederholung  jenes  Dramas  der  Geschmack  des 
Colmarer  Publikums  aus  jener  Zeit  zu  erkennen. 

Wir  wohnen  dem  Feste  des  Herodes  bei,  dessen  Opfer 
Johannes  der  Täufer  wurde.  Es  beginnt  mit  einem  Trinkgelage. 
Ein  vollkommen  ausgebildeter  Tiinkcomment  herrscht :  einer 
fordert  den  anderen  auf,  dieser  kommt  einem  dritten  vor.  Aber 
nicht  nur  die  Edelknechte,  auch  die  Hoffräulein  sind  trefflich 
darin  geübt;  selbst  Salome,  die  Tochter  der  Herodias,  trinkt 
ihrer  «  Seugamm  »  zu.  Dann  folgen  Spiele :  erst  Fechterspiele, 
dann  Tanz.  Salome  tanzt  allein,  ein  Ritter  gesellt  sich  zu  ihr. 
Alles  staunt  über  ihre  Kunst,  Herodes  giebt  das  bekannte  un- 
überlegte Versprechen,  wegen  dessen  ihn  sein  Hofnarr  kräftig 
beruft.  Das  Mädchen  fragt  ihre  Mutter ;  diese  preist  ihr  Glück, 
wie  denn  abergläubische  Redensarten  und  Segnungen  auch 
sonst  wiederkehren. 

Möge  der  Humor  alter  Zeiten  auch  bei  unseren  Lesern 
billige  Würdigung  flnden. 


1.  Rasser  Comoedia  von  der  Hochzeit. 

Der  III.  Actus. 

Des  Anderen  Tags. 

Der  Römische  Senat  stund  autf,    vnnd  bald  kam  ein  Trommenschlager, 
scblegt  vmb,   schreiet  vberlaut,  vnd  sprach. 

Trommensehlager. 

Aiso  hört  anff,  jr  liebe  leut! 
Welcher  als  bald  weit  dienen  beut 
Der  Keiserlicben  Majestät, 
Der  mag  noch  vor  dem  abend  spat 


—    93    — 

Dorthin  bald  in  das  Wirtzhanss  kommen: 
Da  find  er  geit,  wie  ich  vernommen, 
Ynd  darzu  auch  gar  guten  b^scheit 
Bey  den  Hanptlenten  allbereit. 

AulT  solche  weiss  schlug  er  zum  dritten  mal  vmb. 

DemHauptroan  Centurio  begegnen  etliche  Landtsknecht ;  zu  denen  spricht  er. 
Ir  Brüder,  wo  wolt  jr  hinanss? 

Kriegsleut. 
Herr  Hauptman,  dort  in  das  Wirtzhanss. 

Hauptman  Centurio 

Wolan,  80  ziehet  dapffer  hin  ! 

Ich  glaub,  ich  wöU  bald  bey  euch  sin. 

Allhie  begegnen  dem  anderen  Hauptman  zwo  Kriegs  Mätzen  :  zu  den 

spricht  er. 

Ir  Mätzen,  wo  wolt  jr  hinauss  ? 

Die  Mfttzen  antworten  beide. 

Wir  wollen  dort  in  das  Wirtzhanss 

Hctuptman  Primipäus. 

Meint  jr  das  es  etwar  zu  nutzt 
Das  jr  allbeid  so  wol  gebutzt 
Jetzund  in  den  Krieg  ziehen  wollen? 
Lugt  das  jr  euch  nicht  müssen  drollen 
Zu  hauss  oder  heimwerts  zurück, 
Ehe  das  jr  kommen  yber  d^bruck. 

Die  erst  Motz. 

Wer  will  euch  mann  wüschen  vnd  waschen, 

Wann  jr  ligen  wie  d Vollen  Flaschen 

Ynd  nicht  wissen  wo  auss  wo  an, 

Wie  dann  ein  jeder  voller  mann 

Am  morgen  ligt  vnd  klagt  das  Haupt, 

Als  ob  er  seiner  sinn  beraubt. 

Da  klagt  er  vnd  schreit  nach  dem  weih 

Das  sie  wöU  pflegen  seinem  leib 

Vnd  jm  ein  warmes  brühlin  bringen. 

Hauptman  Primipilus, 

Danunb  ist  er  g'wesst  guter  dingen 
Vnd  hat  jedem  thon  guten  b^scheit, 
Dardurch  man  jm  gross  lob  nach  seit. 

Die  erat  Matz. 

Es  ist  ein  rhum  der  scheltens  werdt, 
Vnd  wann  schon  all  man  auff  der  er[d] 
Noch  ernstlicher  hierwider  stritten. 


—    94    — 

Hauptman  Primipüus. 
Hey,  jr  la8s[t]  euch  dannocht  erbitten 
Vnd  thun  allwegen  gern  das  best, 
Wann  wir  kommen  als  volle  gest. 

Die  ander  Mäte, 

Wie  kompts  dann  das  jr  vns  veracht 

Vnd  vnser  so  gar  wenig  acht, 

Wann  jr  im  Krieg  kranck  vnd  schwach  werdt 

Vnd  da  müsst  ligen  ob  der  erden  [1  erd], 

Auch  niemand  haben  der  euch  that 

Zimlichen  Raht  anss  frischem  mut. 

Ich  sags  euch,  wann  jr  vns  nicht  betten, 

Wie  ich  dann  wol  mit  euch  dörfft  wetten, 

So  wurden  jr  zum  offtermal 

Eilend  verderben  vberal. 

Hauptman  lYimipüus, 

Ir  habt  mir  geben  meinen  b^scheidt. 
Das  muss  ich  sagen  bey  meim  eydi 
Darumb  geht  hin  vnd  ziehet  forth! 
Sih,  es  kommen  mehr  Landtsknecht  dorth. 
Ir  Brüder,  der  schimpff  will  sich  machen. 

Die  Landtsknecht. 

m 

Des  mögen  wir  all  wo[l]  gelachen : 
Dann  zweytracht  vnd  vneinigkeit 
Ist  vns  allweg  die  höchste  freidt. 
Herr  Hauptman,  wo  gibt  man  gelt  aus? 

Hauptman  Prtmipüus, 

Kompt  her  mit  mir  dort  ins  Wirtzhauss: 
Da  findt  jr  gelt  vnd  guten  b^scheit. 

Die  Landtsknecht. 

Des  habt  jr  danck  in  ewigkeit. 

Allhie  kam  der  dritte  Hauptman  auss  dem  Wirtz[haus] ;    dem  stiessen  aach 

etliche  Landtsknecht  auff. 

Hauptman  Chüiarchus. 
Ir  Brüder,  fort  vnd  dapffer  dran! 
Der  Betteldantz  der  hebt  sich  an. 
Der  schimpff  will  sich  dermassen  machen 
Das  manchem  s*Hertz  im  leib  wirdt  krachen. 

Die  Landtsknecht, 
Herr  Hauptman,  wir  wend  manchen  schären 
Das  er  nicht  mehr  wird  heim  begeren. 

Hauptman  Chüiarchus. 
Secht,  diser  dort  ist  wol  g'staffiert, 
Weil  er  ein  Mät/en  mit  jm  fürt. 


—    95    — 

Die  Landtsknecht, 

Herr  Hanptman,  des  hab  danck  mein  leib  ; 
Ynd  wann  sie  schon  nicht  wer  mein  weib, 
So  wolt  ich  sie  nicht  von  mir  lassen. 

Hcmptman  Cküiarehus. 
Matzlin,  wo  nauss  so  vnaerdrossen  ? 

DU  dritt  Matz. 

Herr  Haaptman,  ich  will  in  den  krieg. 
Ich  förcht  das  mich  mein  mann  betrieg 
Ynd  Yon  mir  lanif,  so  bald  wir  kommen 
Aoss  disem  landt,  wie  ich  yemommen, 
Ynd  schier  die  sachen  will  verstohn. 
Doch  will  ich  allg'mach  naher  gohn 
Ynd  jm  so  lang  nachfolgen  eben 
Biss  das  er  sich  heim  will  begeben. 

Haupiman  Chüiardius. 

Ich  glaub,  wie  mich  die  sach  versteht, 
Das  jr  dammb  jetz  mit  jm  geht 
Damit  er  nicht  ein  ander  weib 
Im  nemme  die  f&r  seinen  leib 
Ynd  jm  yil  lieber  wer  dann  jr. 

Die  dritt  Mätz. 
Ir  habts  erahten,  glaubet  mir. 

Hauptman  Chiliarchus. 
Wolan,  so  ziehet  fort  auch  jr! 

Der  V.  Actus. 
Des  Anderen  Tags. 

Allhie  Belegenen  sie  die  Statt  Jeruselem,  ynd  ehs  [1.  eh]  das  geschah 
warden  die  Kriegsknecht  von  den  obersten  Hauptleuten  vnnd  Beuelchs- 
leuten  vermanet  das  sie  mannlich  streitten  solten. 

Der  Oberst  Trtbunus  Müitaris, 
Guten  abend,  liebe  Landtsknecht! 

Die  Kriegdeut. 
Danck  habt,  danck  habt!  jr  haben  recht. 

Tribunme  Müitaris. 

Liebe  Bruder,  liebe  Landtsknecht, 
Ich  bitt,  jr  w51t  mich  mercken  recht 
Ynd  niemand  im  Krieg  ynrecht  thun  : 
Des  will  ich  euch  gebetten  nhun. 


—    96    — 


Ir  wollet  keinem  das  sein  rauben 
Vnd  euch  fleissig  vmbschaawen 
Das  jr  euch  benagen  wolt  lassen 
An  ewerem  sold  vnnerdrossen. 
>fcrschonet  anch  der  armen  lent 
Vnd  darzu  der  Geistlichen  heut, 
Aach  der  Gottsheaser  allenthalb, 
Vnd  Kindtbetterin  mannigfalt, 
Sampt  vil  anderen  krancken  leuten : 
So  wirt  vns  Gott  zu  allen  Zeiten 
Gluck  vnd  Sieg  wider  den  feind  geben. 
Habt  jrs  gefasst  vnd  gemercket  eben  ? 

LandtsknecM. 
Gar  wol,  wir  wölln  darnach  thun  leben. 

Hauptman  Centurio, 
Guten  abend,  liebe  Landtsknecht 

Kriegsleut, 

Danck  habt,  danck  habt,  jr  haben  recht 

Hauptman  Centurio. 

Ir  Brüder,  jr  werd  dem  nachkommen 
Wie  jr  jetzand  haben  vernommen. 

Kriegäleut 
Waramb  des  nit,  wammb  des  nit? 

Hauptnian  Trimipüus. 
Güten  abend,  liebe  Landtsknecht. 

LanAtsknecht, 
Danck  habt,  danck  habt,  jr  haben  recht. 

Hauptman  Frimipüus. 

Ar  Brüder  wolt  fleissig  versehen 
Euwer  wacht  vnd  achtung  draaff  geben 
Vnd  allem  dem  was  man  each  sagt 
Fleissig  nachkommen  vnaerzagt. 

Hauptman  Chüiarchus. 

Ir  Landtsknecht,  so  vil  ewer  hie, 
Lagt  das  keiner  verlassen  thie 
Die  Fenlein,  wann  es  ist  von  nöten ; 
Darbey  jr  euch  ehe  seit  lan  tödten. 

Die  Fenrich  einer  nach  dem  anderen  sprechea 

Liebe  Brüder,  liebe  Landtsknecht! 
Ich  hoff  jr  habt  verstanden  recht. 
Was  man  euch  jetzund  fürgehalten 
Vnd  werden  thun  wie  auch  die  alten, 


—    97    — 

!  Leib,  ehr  vnd  blnt  zam  Fendlein  setzen 

I  Ynd  dasselbig  nicht  lan  verletzen, 

I  Sondern  bewaren  allezeit 

Mit  ewrem  leib  mom  wie  auch  heut. 

Wann  jr  nun  dasselb  wollen  thon 

;  So  mögt  jrs  euch  wol  hören  lohn. 

i 

Sie  antworten  all. 

Warnmb  nit,  warnmb  nit. 
Trommen  und  pfeifTen  giengen  vnnd  man  belegert  die  Statt  Jerusalem 

2.  Meygenbnum  Tragoedia  von  Johannes. 
Actus  III.    Scena  II. 

Volgends  bandlet  und  redt  man  ob  der  Edelleut  Tisch. 

Der  erat  Edelman. 

Ist  es  den  grossen  Herren  recht. 
So  thnnds  auch  billich  d'Edel  Knecht. 
Wolan,  gnt  Gsell,  ich  bring  dir  ein. 
Den  obem  vnd  den  vndem  stein. 

Der  ander  Edelmann. 

Gott  gsegne  dirs,  ich  will  jhn  han, 

Lieb  ist  der  Wein,  vil  lieber  mir  der  man. 

Der  drit  zum  andern  Eddmann. 
Wie  bisin  so  ein  voller  troll ! 

Ander  Eddmann  zum  driten, 

» 

Ich  halts,  vnd  wer  es  ein  Kübel  voll. 

Der  ander  Eddmann  trinckt  vnd  spricht. 

Dass  dich  alss  vnglück  fliehen  müss. 
Wie  ist  der  Wein  so  hertzlich  süss ! 
Er  schleicht  ein  die  Keelen  nider  glatt, 
Biss  einer  nit  mehr  im  Trinckgschirr  hat 
Schenck  [Seh.  ein?]  das  mög  treiben  ein  Rad^ 
Sichy  so  vil  hab  ich  tmncken  grad. 

Der  drit  Edelmann  zum  vierdten. 

Ich  send  dir  disen  Becher  zu, 
Ynd  Ing  vff  mich  wie  ich  jm  thn. 

Der  vierd  Eddmann, 

Far  dapffer  her  vnd  trincke  doch ! 
Jetzt  trinckt  der  drit  vnd  spricht  der  vierdt. 
Sich  wol,  der  Wein  der  schmackt  dir  noch. 
Ich  meind,  er  wer  dir  gar  erleid, 

7 


—    98    — 

Der  drit  Eddmann. 

0  nein,  ich  ihn  noch  dapifer  bescheidt. 
Wann  ich  dessen  nit  mehr  mag  jnnenimen, 
So  lent  man  mir  mit  Glocken  zemmen. 
Dann  bin  ich  tod,  oder  gwiss  sehr  kranck. 

Der  vierd  Edelmann, 
Das  ist  recht,  hab  jmmer  danck. 

Weiter  zum  fünften  Edelmann. 
Schwager,  es  gilt  dir  so  vil  Wein. 

Der  fünfft  Edeimann. 
Nun  gsegne  dirs  Gott  ins  hertz  hinein. 

Jetz  trinckt  der  vierd,  redt  der  fünfft. 

£y  wie  thut  mein  schwager  so  gut  schluck, 
Wa  gut  wein,  da  ist  eittell  glück. 

Der  vierd. 

Thut  mir  so  lieblich  jn  hin  gohn. 
Dz  ich  nit  können  ablohn 
Biss  ich  gsach  den  Boden  blos. 
Nun  sehin,  gib  dem  ein  gaten  stos. 
Vnd  fass  jhn  vor  wol  in  knoden, 
Trincks  gar  anss  biss  an  den  boden. 
So  würstn  seiner  gütte  jnnen. 

Der  fünfft. 

Das  thnt  mir  wol  im  hertzen  dinnen. 
Yetz  dürst  mich  nit  halb  mehr  alss  vor, 
Ich  was  zerlechtzet' wie  ein  Bor 
Das  lang  ist  an  der  Sonnen  glegen. 

Der  Sechst. 

Mnss  ich  ohn  trincken  sein,  botz  degen! 
Das  mirs  ewr  keiner  bringen  will? 
Nun  schlag  ich  doch  auch  auss  nit  vil. 
Wess  mnss  ich  armer  boss  doch  entgelten? 

Der  Sibende  zu  Sechsten. 

Damit  das  niemand  könnest  schelten, 
Wanns  dir  in  frendschafft  glicht  alss  mir. 
Ein  gnttes  trincklin  bring  ich  dir. 

Der  Sechste. 

Gsegne  Gott  im  hertzen,  ich  habs  gern, 
Gar  anss,  gfalt  mir  wol,  botz  morgenstern. 

Der  Siben. 
An  wem  ist  nun  der  Tranck  erwanden? 


—    99    — 

Der  Sechst  gegen  dem  (ncfUen. 

Da  han  ich  noch  ein  (Hellen  fnnden 

Der  hat  anch  noch  nie  keins  von  vns  ghan. 

Der  adUeet. 
Ich  halts  vnd  bring  dir  disen  dran. 

Der  Sechst 
Kans  nit  ab8chlag[n],  mir  liebt  der  Man. 
Legt  ein  gedigne  wuret  seini  gesellen  fQr  vnd  spricht. 

Nim  hin,  ise  die  gesaltzen  wnrst, 
So  kambt  dir  widemmb  der  dnrst. 

Der  achUat. 

Ich  darff  derhalb  der  Wäret  gar  nit. 
Ich  trinck  sonst  gnng  wie  vnaer  sit. 
Wann  ich  schon  gessen  hab  kein  biss, 
Kan  ich  drincken  yÜ  ein  rübschniis 
Oder  sonst  ein  grüene  muscainiias. 
Die  noch  ist  weyt  zu  Venedig  duss. 

Musica. 
Ob  der  Königin  Tisch. 

Herodiaa. 

Ich  bring  dirs,  Tochter,  allein  vff  das, 
Wie  ich  gered  hab,  du  weist  wol  was. 
Das  da  so  bald  wollest  hurtig  sein. 

Sähme, 

Frauw  Mutter,  es  ist  mir  ein  lieber  wein. 
Mir  ist,  der  schimpff  wöU  sich  bald  machen. 
Der  König  fahet  redlich  an  zu  lachen. 
Er  würd  schier  ein  guts  schepfflin  han. 
So  bald  ichs  sie,  so  wil  ich  dran. 
Mein  liebe  Seügam,  das  gilt  dir. 

Seügam. 

Von  hertzen  es  geliebet  mir. 

Doch  nit  gar  auss,  es  thet  mir  wehe. 

Sälome. 

Ach,  ich  hab  wol  truncken  mehe. 
Kann  nichts  nachlassen,  ja  wol. 

Seugamm  zur  edkn  Jungfraw, 
Wolan,  So  gilt  dirs  disen  Becher  voll. 

Erst  edle  Jungfrauw. 
Ach  nein,  es  ist  zu  vil  aber  ein  £reundlichs. 


■I 

I 


—    100    — 

Seugamm. 
Wolan,  nit  anders  mein  ichs. 

Erst  edle  Jungfrauto, 

Wo  soll  ich  nnn  mit  disem  hin. 
Ich  will  zn  disser  Jungfrau w  fin. 
Sie  ist  80  züchtig  wie  ein  Brand. 

Ander  edel  Jungfrato. 

So  will  ich  recht  dran  setzen  dhandt. 
Hab  all  mein  leben  lang  gehöret  dass, 
Beim  Tisch  sich  keins  halten  bass. 
Es  thne  dann  auch  wie  ander  lent. 

Die  drit  edle  Jungfrato. 

l!  Mit  der  weiss  bringt  mir  niemand  neut. 

Bin  ich  der  armen  Nesen  Töchterlin  ? 

Ander  edle  Jungfrato. 
Ir  theten  niemand  bscheid,  Jongfraw  fin. 

Die  drit  edle  Jungfravo. 
An  dem  probieren  ligts  allein. 

Ander  edle  Jungfraw, 
So  gilt  es  euch  recht  drey  paar  stein. 

Die  drit  edle  Jungfraw. 

0  we,  nit!  er  schlug  mir  gleich  in  d'beyn, 
Aber  so  yil  ich  mag,  will  ich  halten. 

Die  ander  edel  Jungfrato 
Wolan,  glucks  [1.  glück]  wils  treuwlich  walten. 

Spricht  weiter. 

Wie  ist  das  so  guter  Jungfraw  Wein, 
Lieber,  schenck  mir  wider  ein. 

Die  drit  Jungfrato. 

Ein  Jxmgfraw  solt  fein  züchtig  sein, 
D^Nasen  nit  so  tieff  stossen  drein. 

Die  ander  Jungfrato. 

Nemmend  hin  disen  guten  alten, 
Ihr  trincken  ohn  das  nit  gern  kalten, 
Wie  lasst  jhr  den  so  lang  vor  euch  stahn. 

Die  drit  Jungfrato. 
Will  trincken,  so  kanns  ymb  har  gähn. 

Herodes. 

Ist  niemand  da  den  gelust  zu  singen, 
Oder  zu  seitenspil,  dantzen  vnd  springen  ? 


—    ICH     — 

Anch  ander  kurtzweil  zu  han,  ihr  Herzen  [1.  Herren], 

Will  ichs  zulan  vnd  keins  weren 

Was  euch  zu  gfallen  dienen  mag 

Yff  disen  Hochzeitlichen  tag, 

Ea  sey  mit  fechten  oder  tnrnieren, 

Ynd  snnst  in  frenden  jubilieren. 

Wer  solches  mder  ench  thet  allen, 

Der  thet  vns  ein  besonder  gefallen. 

£s  soll  ench  [1.  anch]  nit  vnbegabet  bleiben, 

Will  jhms  zu  gntem  lohn  einschreiben. 

Biss  es  belonet  wnrt  zom  besten, 

Zu  ehren  mir  Ynn  meiner  gasten. 

Zwen  fechter  vom  Adell  stond  vff. 

Der  Erst, 

Gnediger  herr,  hettens  ewer  gnaden  f&r  gut, 
So  fechten  wir  auss  freyem  frischem  mut 
Ein  gänglin  zwey,  drey,  mit  dem  schwerd. 

Herodes, 

Eya,  mein  hertz  nit  liebers  begert. 
Frisch  auff  ynd  nun  dapffer  dran! 

Der  ander  Fächter. 

Wend  fechten  wies  ein  yeder  kan. 
Zum  ersten  vmb  ein  griens  krentzlin, 
Daruff  auch  thun  ein  frisches  dentzlin 

Der  erst  Fächter. 
Wol  herr  ynd  dran? 

Der  ander  Fächter, 

Hie  kumpt  der  Man. 

Nach  dem  fechten  redt  einer. 

Gnediger  Fürst  ynd  lieben  Herren, 

Das  gschicht  ewren  gnaden  zu  lob  vnn  ehren, 

Wölts  also  von  vns  nemen  ahn. 

Ccmtzkr. 
Ihr  gnad  wurts  nit  vnbelohnet  lohn. 

Herodias. 
Mein  liebe  Tochter,  es  ist  zeit, 
(Wer  weiss,  glück  auch  zu  vns  schreyt) 
Das  du  den  handel  fahest  ahn, 
Wie  ich  dich  ynderwisen  hau. 
Stand  auif,  lug,  brauch  guten  yleiss, 

Scdome, 

Ich  hoff,  mir  werd  für  all  der  preiss. 
All  fieiss  ynd  renck  wil  ich  nit  sparen, 
Ade,  jetz  mals  ich  yon  dir  thu  faren. 
Glück  sey  allzeit  yff  ynser  Seiten. 


—    102    — 

Herodiaa. 

Der  vnfall  wbll  vns  nit  mehr  bstreiteiu 
Ihr  Edlen  sollend  mit  jhr  gähn, 
Vnd  sie  in  Gspilschafft  nit  vertan. 

Man  trometet  mit  allerley  Seytenspiel. 

Seen«  m. 

Drei  edle  Jungfrawen   tretten   der  Tochter   nach,    redt  Herodias  mit  ihren 

selbs  vnd  spricht. 

Herodicu. 

0  glück,  nun  knmm,  eil  schnell  vnd  behend, 

Dein  hilff  vnd  Trost  vns  treulich  send. 

Dann  solt  vns  fölen  dise  Schantz, 

Wer  vnser  spil  verloren  gantz. 

Dmmb  geb  dem  König  recht  sinn  vnd  denck, 

Dass  er  Johannis  Haupt  vns  schenck. 

Salome  zum  König, 

Darchleüchter  König,  Fürst  vnd  Herr, 
Herzlieber  Yatter,  ich  bitt  dich  sehr, 
Mir  ewrem  Kind  erlauben  wöll, 
Dass  ich  auch  kurtzweil  treiben  soll. 
Ja  ewren  Gnaden  zu  ehr  vnd  zu  lob, 
Weil  andre  auch  band  than  ein  prob 
Mit  jhrem  SchimpfFspil  manig£alt. 

Herodes. 

Wolan,  mein  liebs  Kind,  hab  den  gwald. 
Zu  kurtzweile  nach  deim  lieben  willen, 
Deins  hertzen  Begird  soltu  erfüllen. 

Saiome  zum  Pfeiffer, 
So  pfeiff  mir  auff  den  Natha  Dantz. 

Pfeiffer, 
Denselben  kan  ich  gut  vnd  gantz. 
Die  Jungfraw  dantzt  allein. 

Hoffmeieter, 

I  Wolauff,  jhr  jungen  Edelleut, 

Gelüstet  keinen  zu  dantzen  neut  ? 

Jetst  steht  ein  junger  Bdelman  vff  zu   dantzen,   sampt   andern   vnd  spricht 
j  vors  Königs  Tisch. 

Grossmachtigr  Köng,  Ghifidigster  Herr, 
Wan  ewren  Gnaden  gfällig  wer, 
Thet  ich  gern  ein  hofflichs  dahtzlin, 
Mit  Salome  der  Jungfraw  fin. 


I 


H 


I 


^     103    — 

Heradeg, 
Wir  lassen  vns  das  wolgefallen. 

Jung  Edelman  zur  SoHorne. 

Jungfraw  Salome,  mir  geliebt  für  allen 
Mit  ench  zu  dantsen  in  zncht  vnd  ehren. 

Saiame. 
Mir  auch,  will  mich  dess  nit  wehren. 
Jetxt  dtntzea  sie  miteinander  vnd  nach  dem  tantzen  spricht  der  König. 

Herodea. 

Das  kan  ein  gwaltigs  Däntzlein  sein, 
Da  aller  liebste  Tochter  mein. 

Canteler, 

Ja  freilich  ist  es  artlich  gesehen,  [1.  ze  sehen?} 
Das  mnss  ich  bey  der  warheit  jehen, 
Dessgleichen  hab  ich  nit  vil  gesehen 
Mit  zierdy  ich  nemm  nit  was  darf&r, 
Kompt,  edle  Jungfraw,  trinckt  mit  mir ! 

Herodiw. 

Ich  hoff,  mein  sach  die  werd  sich  glücken, 
Mein  Tochter  wirt  den  König  verstricken. 
Ich  sichs  jhm  an  in  weiss  Tnd  b&rden. 

Seugatnm. 

Ich  traw,  es  soll  noch  allss  gut  werden 
Vnd  gohn  nach  vnserem  anschlag. 

Saiome  bey  des  Königs  Tuch. 

Weil  es  heut  ist  ein  grosser  tag 

Meim  Herzen  Vatter  ansserwehlt, 

Wanns  anderm  [andern]  so  wol  als  mir  gefölt, 

So  beger  ich  noch  ein  Däntzlin  zhan. 

Der  siebend  Edehnan 

Darzu  ist  Instig  jederman, 
Besonder  Tnser  Gnediger  Herr, 
Dess  soll  heüt  sein  die  höchste  Ehr. 

Zum  Pfeiffer, 

Pfeiff  anff  ein  frischen  Dantz  dahar, 
Wir  stohnd  sonst  müssig  jmmerdar. 

Jetzt  dantzt  man  zum  diitenmal. 

Herodes. 

Wie  gfalt  ench  das,  ihr  lieben  Qest? 

Mich  dnnckt  mein  Töchterlin  thae  das  best 

Sie  kan  den  Reyen  zimmlich  wol. 


—    104    ~ 

Fürst 

Billich  sie  des  gemessen  soll. 

Wir  können  vns  nit  wundern  gnng, 

Das  dise  Edele  Jungfraw  klug 

So  lustig  Ynd  hö£Flicli  dantzen  kan, 

Den  Preiss  behalt  sie  für  jederman. 

Ihr  zucht,  weiss,  wandel,  leib  vnd  gstalt, 

Yns  treffenlich  wol  für  andern  gfalt. 

Ja  ich  darff  das  .für  gwüss  sagen, 

Dass  ich  bey  allen  meinen  tagen 

Kein  schöner  Weibsbild  hab  gesehen, 

Ja  solt  man  alle  aussspehen, 

All  Königreich  in  diser  Welt, 

All  Weibsbilder  hoch  erzelt, 

Solts  zusammen  bringen  dahär, 

Glaub  ich  das  keine  gfunden  wer 

Die  jhr  an  Schöne  möcht  gleichen. 

Wann  sie  sich  gleich  schon  aussstrichen. 

Sie  hatt  die  siben  Schöne  an  ihr, 

Die  nit  bald  an  eim  weih  finden  wir. 

Das  ist  gewisslich  jetziger  zeit, 

Drumb  wurt  jhr  schone  gelobet  weit. 

Sie  ist  doch  gleich  wie  Milch  vnd  bludt, 

Wanns  einer  recht  ansehen  thut. 

Sie  solt  billich  tragen  ein  Krön, 

Zur  Zier  euwerem  Königrich  schon. 

Solches  were  jhr  ein  schön  gestalt. 

Mit  freud  werd  erwer  [1.  ewer]  gnade  alt! 

Herodes. 

Mein  Tochter,  wannen  kumbstu  mit  dem? 
Wa  hastu  es  gelehrt?  sag  an,  von  wem? 
Ich  hab  es  Yormals  nie  gesehen  Ton  Dir. 
Von  gantzem  Hertzen  gefalt  es  mir, 
Dein  dantzen,  ja  dein  adelich  brangen. 

SdUjme. 

Herr  Yatter,  ich  hab  es  gelert  vor  langen. 
Alss  ich  noch  bey  mein  Yatter  wass. 
Dem  ewren  Bruder,  lehmt  ich  dass. 
Wiewol  ich  das  nit  vast  vil  kan. 
So  wollend  doch  für  gut  yetz  hau. 

Kerodes. 

Bey  geschwornem  eid,  ich  sag  dir  das, 
Kein  ding  hatt  mir  nie  gfallen  bass. 
Seyd  du  mit  deinem  dantzen  best 
Yerehret  meine  lieben  Gest: 
So  begär  nun  von  mir  was  du  wilt. 
Das  will  ich  dir  geben  ganz  milt. 


—    i05    — 

Herodias  zur* Seugam. 

Nun  wirt  mein  Hertz  mit  fremden  gfölt. 
Ich  hoff,  den  anschlag  werd  ich  gwinnen. 

Herodes. 

Da  darffst  dich,  Tochter,  nit  lang  besinnen. 

Frölich  du  etwas  begeren  solt 

Es  sey  gelt,  Silber,  oder  Gold, 

Schwer  ich  dir  bey  dem  lebendigen' Gott  mein, 

Das  soliches  soll  dein  eigen  sein. 

Dann  was  da  wilt,  will  ich  dich  geweren. 

Wann  da  schon  würdest  gross  begeren, 

Ja  aach  den  halben  theyl  meines  Reichs, 

Ich  gib  ^n  gern  vnd  gilt  mir  gleich, 

So  wahr  alss  mein  Gott  lebt  ewiglich. 

ScUome. 

Der  grossen  gnad  vnd  miltigkeyt 
Danck  ich  hoch  in  demütigkeyt. 
Beger  mich  za  bedencken  nnn  ein  weil, 
Will  wider  kämmen  kartzer  eil. 

Herodes. 
Wolan,  der  bedanck  sey  dir  erlaubt. 

Narr  sum  König. 

Ich  mein^  der  Narr  steckt  dir  im  Haapt, 

Oder  bistu  deiner  Witzen  beranpt? 

Ich  glaub,  da  seyest  voller  Most  Wein, 

Oder  wilta  nimmer  König  sein 

Dass  da  hinweg  schenckst  solche  Ding? 

Lieber,  schetz  dein  Königreich  nit  so  ring. 

Gedenck  vnd  gib  dermassen  auss, 

Dass  du  kein  mngel  [1.  mangel]  habst  im  Haass. 

Dann  ich  leb  auch  noch  gern  wol  im  sanss. 

Saiame  zu  ihrer  Mutter  Herodias. 

Liebs  Matterlein,  hasta  auch  gehört, 
Wie  mich  der  König  hatt  verehrt 
Vnd  verheissen  vor  den  Gästen  allen? 

Herodias. 

Ich  habs  gehört,  vnd  hatt  mir  gfallen. 
Mein  lebtag  hört  ich  lieber  nit. 
Dramb,  liebe  Tochter,  ich  dich  bitt, 
Dass  da  mir  fleissig  losest  zn. 

Saieme. 

Wie  rathst,  liebe  Matter,  dass  ich  tha? 
Was  soll  ich  doch  nun  begeren  so  sehr  ? 
Was  ich  heisch,  gibt  er  mir  mehr. 
Sags  mit  eim  Wort  vnd  gib  flax.end. 


—    106    — 

i 

Herodias. 

60  ^ang  znm  König  vnd  sag  behend, 
Dafis  er  Johannis  Haupt  echencke  dir, 
Keine  andern  beger:  nun  folge  mir. 
Ynd  stand  nit  ab  von  diser  Bitt. 

Salome, 

0  nein,  ich  weich  daruon  kein  tritt 
Ich  hab  wol  gedacht  vorhin, 
Es  wurde  dir  das  liebste  sein. 
Darumb  bleib  ich  lenger  nit  hie  stöhn. 

Herodicts. 

Lass,  beyty  eil  nit  so  bald  daruon«* 
Nimm  dise  Platten,  merck  eben, 
Heiss  dir  Johannis  Haupt  drein  geben. 
Bring  mir  dasselbig  vber  Tisch ! 

SaXome, 

Das  will  ich  thun.  bin  wol  so  frisch, 
Qfalt  nur  wol  in  meines  hertzen  grund. 

Herodias  redt  mit  ihr  selbs  weil  Selome  hingebt  vnd  spricht. 

Wol  der  glückseligen  stund, 

Die  mir  vff  disen  tag  zukumpt. 

Sie  würt  mir  helffen  ab  des  bösen, 

Mich  von  aller  trawrigkeyt  erlösen, 

In  die  Johannes  mich  hat  gsteckt. 

So  oft  vnd  dick  damit  erschreckt 

Das  würt  mir  disen  tag  allss  abnemmen. 


IV. 


Die  zwei  Schlösser  Bilstein. 


Von 


Ed.  Ensfelder. 

In  gleicher  Entfernung  von  Rappoltsweiler  und  Reichen- 
weier,  aber  in  der  Bannmeile  des  letzteren  Stadtchens,  liegt, 
350  Meter  über  der  Meeresfläche,  auf  einem  Bergrücken,  der 
das  Rappoltsweiler  Thal  beherrscht,  die  malerische  Ruine  Bil- 
stein. Der  Vogesenklub  hat  in  dem  Schutt,  der  sich  angehäuft 
hatte,  einen  bequemen  Weg  angelegt,  und  eine  Treppe  führt 
hinauf  zum  Zwinger.  Eine  herrliche  Aussicht  lohnt  hier  den 
Touristen  ;  Altweier  mit  dem  Bluttberg  (Br^zouard)  im  Westen, 
im  Norden  die  Berge  des  Weilerthales,  im  Osten  die  Ebene 
bis  zum  Schwarzwald,  im  Süden  die  Vogesenrücken  bis  zum 
Gebweiler  Beleben. 

Eine  Burg  gleichen  Namens  findet  sich  im  Weilerthal, 
nahe  b^m  Weinberg  (Climont),  in  der  Bannmeile  von  Urbeis. 
Ein  drittes  Bilstein  liegt  bei  Langenbrücken  (Basel-Land)  am 
Fttsse  des  Kallenbergs  und  bietet  eine  schöne  Aussicht  auf  den 
ssödlichen  Schwarzwald. 

Dass  dieser  Name  drei  mittelalterlichen  Burgen  zukommt, 
widerlegt  die  Erklärung,  die  man  für  das  Reichen  weierer  Bilstein 
gesucht  hat;  es  soll  dort  ein  wunderthätiges  Bild  der  Maria 
gewesen  sein,  das  spater  in  die  Kapelle  unser  1.  Frauen  zu 
Reichenweier  verbracht  wurde ;  davon  käme  der  Name,  der 
dann  ursprünglich  Bildstein  hiesse.  Sachgemässer  scheint  uns  die 
Ableitung  von  Bähl=Hügel,  die  auch   erklär!,  warum   unsere 


—    108    — 

Burgen  denselben  Namen  tragen. i  Wir  haben  es  hier  nur  mit 
den  beiden  Elsässer  Schlössern  zu  thun,  die  in  der  Luftlinie  so 
nahe  bei  einander  liegen  (etwa  drei  Stunden)  und  die  deshalb 
auch  oft  mit  einander  verwechselt  werden. 

Das  Reichenweirer  Bilstein. 

Wann  das  Schloss  erbaut  wurde,  ist  unbekannt;  neben 
einem  Spitzbogen,  der  auf  verhältnismässig  jüngere  Zeit  ver- 
weist, sind  noch  ältere  Teile  im  Rundbogenstil  vorhanden.  Die 
älteste  uns  bekannte  Meldung  ist  von  1078 ;  in  diesem  Jahre 
hatte  Adelbert  von  Habsburg  eine  Fehde  mit  Moyenmoutier, 
einem  Kloster  bei  St.  Didel ;  er  nahm  den  Vogt  gefangen  und 
brachte  ihn  in  das  Schloss  «Bilsisteinii»,  wo  er  ihn  festhielt,  bis 
derselbe  ein  starkes  Lösegeld  entrichtete  (Gravier,  Hist.  de 
St-Di6,  p.  88).  Als  4324  die  Brüder  Walter  IV.,  Burkart  H. 
von  Horburg  ihre  Ländereien  an  Ulrich  von  Württemberg  ver- 
kauften, kam  auch  das  Schloss  in  württembergischen  Besitz. 
Dieser  Wechsel  der  Herrschaft  hatte  einen  Krieg  mit  Bischof 
Berthold  von  Bucheck  (von  Strassburg)  zur  Folge,  der  Lehens- 
rechte auf  gewisse  Teile  der  Ländereien  geltend  machte.  Reichen- 
weier  wurde  von  den  bischöflichen  Söldnern  genommen  und 
geplündert.  Herzog  Ulrich  H.  von  Württemberg  flüchtete  sich 
auf  Bilstein.  Sonst  aber  war  das  Schloss  nicht  von  der  herzog- 
lichen Familie  bewohnt ;  es  wohnte  dort  ein  Vogt,  der  die  Burg 
zu  hüten  und  die  Waldungen  zu  bewachen  hatte,  und  im 
Rotbuch  von  1505  ist  der  Eid  zu  lesen,  den  dieser  Beamte 
bei  seinem  Amtsantritt  zu  leisten  hatte. 

«Diss  soll  der  burgvogt  uff  Bilstein  unnd  syn  Knecht  sweren. 

Zum  ersten  das  sy  alle  Tag  by  schönem  tag  uff  dem  Sloss 
sollen  syn ;  es  solle  ouch  einer  alle  tag  uff  den  walt  gan  den 
Walt  zu  behütten;  sy  sollen  ouch  nieman  kein  holtz  geben 
noch  herlouben  (erlauben)  oder  selber  nemen  unnd  kein  Stecken 
machen.  Er  soll  ouch  alle  nacht  einer  vor  mittemacht,  der 
ander  darnach  wachen.  Es  solle  ouch  keiner  me  (mehr)  denn 
einen  Tag  zu  der  wuchen  (für  sich)  nemen  unnd  solle  das  der 
Samstag  einer  sein ;  den  sollen  sy  theylen  nocheinander.  Wenn 
inen  ein  vogtt  oder  Schaffner  ir  tag  verhüttet,  sollen  sy  keinen 
tag  me  nemen ;  sy  sollen  ouch  nieman  uff  der  Burgk  lassen, 
ein  vogtt  oder  Schaffner  heisse  es  denn  oder  hab  ein  gut  wortt- 

1  Im  Wörterbuch  der  Brüder  Grimm  wird  der  aach  sonst  (u.  a. 
als  Peilstein)  vorkommende  Name  mit  et  6ilt  stän  znsammengebracht, 
so  dass  es  den  Ort  bezeichnet,  wo  das  Wild  zu  Stande  gebracht 
wird,  sich  den  Hunden  widersetzt. 


—     109    — 

zeichen ;  sy  sollen  ouch  sweren  unnsers  gnädigen  Herrn  schaden 
zewarnen  unnd  zewendend  unnd  synen  nutz  zu  fürdern,  so  sy 
best  mügen.  Die  knecht  sollen  ouch  s^nrern  dem  hurgvogtt 
gehorsam  zu  sind  ir  zyl  uss  (d.  h.  bis  zu  ihrem  Ziele,  zum 
Ende  der  Dienstzeit).  Wystend  sy  ouch  einen  krieg  oder  ge- 
brestenn  unndereinander,  wellerhande  der  wer  (welcherlei  der 
wäre),  das  soUent  sy  einem  vogtt  oder  eim  schafTner  künden 
UDnd  sagen,  unnd  was  nff  dem  huss  ist  mit  dorab  (da  herab) 
zethund,  unnd  das  zu  behütten  so  sy  allerbest  mogent.» 

Nach  dem  für  die  Verbündeten  unglücklichen  Ausgang  des 
schmalkaldischen  Krieges  sollten  auch  die  Elsässer  Besitzungen 
des  Hauses  Württemberg  mit  Beschlag  belegt  werden  ;  damals, 
1547,  wurde  Schloss  Bilstein  erfolglos  von  lothringischen  Exeku- 
tionstruppen belagert. 

Als  Graf  Friedrich  von  Württemberg  sich  1580  mit  einer 
Prinzessin  von  Anhalt  vermählte,  bestimmte  er  Reichenweier 
UDd  Schloss  Bilstein  zu  ihrem  Wittum  unter  der  Bedingung, 
dass  sie  keine  Aenderung  in  der  lutherischen  Confession  der 
Bewohner  vornehme. 

Unsere  nächste  Nachricht  stammt  aus  dem  dreissigjährigen 
Kri^e ;  im  Frühjahr  1635  wurde  Reichenweier  von  einem 
Lothringer  Streifcorps  unter  Oberst  Vernier  sechs  Wochen  lang 
belagert  und  dann  mit  Accord  genommen.  In  einem  alten, 
jetzt  auf  der  Stadtbibliothek  von  Colmar  befindlichen  Berichte 
heisst  es:  «Der  Superintendent  Volmar,  der  300  Thaler  zahlen 
sollte,  hat  sich  bei  der  Nacht  an  einem  Trottseil  die  Mauer 
hinabgelassen;  doch  ist  er  unter  die  Soldaten  geraten,  welche 
ihn  spoliirt,  geschlagen  und  übel  traktiert  haben,  aber  von 
ihnen  nicht  gefangen,  hat  er,  sich  elend  und  mit  grossem 
Kammer  in  das  Schloss  Bildstein  retiriert.:i>  Auch  der  Diakonus 
Matthaus  Piscator  scheint  sich  dorthin  geflächtet  zu  haben; 
nach  dem  Sterberegister  der  Pfarrei  starb  er  dort  den  7.  De- 
zember 1635  an  der  Pest.  Der  Vogt  aber,  Claus  Flach,  war  von 
Bilstein  nach  Markirch  geflohen  ;  als  er  nach  kurzer  Zeit  wieder 
auf  das  Schloss  zurück  sich  begeben  wollte,  verschwand  er 
spurlos  unterwegs.  Das  nächste  Jahr,  1636,  sollte  der  alten 
Feste  den  Untergang  bringen.  Der  schwedische  General  Hörn 
hatte  das  Heer  des  kaiserlichen  Generals  Feria  geschlagen,  und 
eine  Abteilung  des  geschlagenen  Heeres  zog  sich  durch  das 
Rappoltsweiler  Thal  zurück;  dort  wurden  sie  der  Burg  hoch 
auf  dem  Berge  gewahr.  Graf  Schlick,  der  Befehlshaber,  nahm 
sie  durch  Handstreich,  plünderte  und  zerstörte  sie.  Seitdem 
hlieb  sie  eine  Ruine,  ein  beliebtes  Ausflugsziel  für  die  Kur- 
gäste von  Altweier  wie  für  die  Bewohner  von  Rappoltsweiler 
und  Reichenweier. 


—    110    — 

Das  lothringische  Bilstein. 

Dies  Schloss  gehörte  ursprünglich  den  Grafen  von  Dagsbuig; 
allein    im   Anfange   des    13.   Jahrhunderts    heiratete  *  DieboH^ 
Herzog  von  Lothringen  (1213*-1220),  Sohn  des  Herzogs  Frieit* 
rieh,    die    Gräfin  Gertrude   von   Dagsburg,    und    das    Schlos» 
wurde  ihr  als   Heiratsgut   mit  in  die  Ehe  gegeben.    Gleich   io 
dieser  Zeit  diente  es  als  Gefängnis   für    die  Maitresse  Mähers 
(Matthias)^  des  unwürdigen   Propstes   der  Abtei   zu   St.  Didä. 
Irrtümlich  wird  hier  von  vielen  das  Reichenweierer  Bilstein  an 
die    Stelle  des  lothringischen  gesetzt.    Hier  die   VeranlassuQg 
dieser  Gefangenschaft,  wie  sie  Gravier  (Hist.  de  St-Di6y  1836, 
p.  112  sq.)  erzählt.  Mäher  war  der  Sohn  des  Herzogs  Matthias  1. 
von   Lothringen   und    trat  schon  als  Kind   in  das  Kapitel   der 
Abtei  St.  Didel  ein;    1178  erhielt  er  eine  Präbende,  und  1188 1 
wurde  er  zum  Propst  (Grand-Pr6vdt)  erhoben;  im  Jahre  1197 
wurde  er  Bischof  von  Toul.    Infolge  seines  ärgerlichen  Lebens; 
entsetzte   ihn  das  Kapitel  von  Toul   seiner  Würde,  und  er  zog 
sich    nun  in  die  Abtei  zurück,  deren  Propst  er  war.     Er  liess 
zwischen  den  beiden  Kirchen  ein  Haus  erbauen  und  rief  dort- 
hin seine  natürliche  Tochter,  die  er  mit  einer  Nonne  von  Epinal 
gezeugt^  und  mit  welcher  er  blutschänderischen  Umgang  pflegte. 
Sein  Neffe  Herzog  Feny  (Friedrich)  Hess  das  Haus  abbrechen 
und  veijagte  die  Dirne.      Mäher    zog    sich    auf   sein    Schloss - 
Clermont  zurück,  wo  er  mit  etlichen  gleichgesinnten  Kapitularen 
als  Raubritter  lebte,    während  seine  Beischläferin  auf  Bilstein 
verwahrt  wurde.   Herzog  Ferry  belagerte  und  zerstörte  Schloss  j 
Clermont;    Mäher  entging  ihm   und   setzte    sein   räuberisches  I 
Wesen   fort.   Als  Renaud,   Mähers    Nachfolger  im  Bistume  zu  | 
Toul,   in  die  Umgegend   von  St.  Didel   kam  (1215),   legte  ihm  1 
Mäher  einen  Hinterhalt;   Renaud  wurde  getödtet,  und   Mäher  1 
warf  mit  eigener  Hand  den  Leichnam  in  einen  Sumpf.  Didiiolt,  1 
Ferrys  Sohn  und  Nachfolger,    rächte  den  Bischof  von  Tool,  in-  i 
dem  er  seinen  Grossonkel  in  einem  Gefecht  mit  seinem  Spiess  ; 
niederstach. 

Weiterhin  erscheint   des  Schlosses  Name   nach  der  Schladii 
von    Nanzig    (1477),    in   welcher  die    verbündeten   Schweizer, 
Elsässer  und  Lothringer  Herzog  Karl  den  Kühnen  von  Burgund  | 
überwanden.     Ritter    Marx    nahm   in  dem  Handgemenge  den  | 
Grafen  von  Nassau,  ^  den  Schwager  des  Markgrafen  von  Baden,  ^ 


^  In  der  Strassborger  Archivchronik  (Code  bist,  et  dipL  de  la 
ville  de  Strasb.  T.  I  p.  203)  wird  Herr  von  Brettau  genannt:  «Der 
Herr  von  Brettau,  hatt  Margraff  Carles   von   Baden  Schwester,  der 


—  «1   — 

gefangen,  führte  ihn  in  das  Schloss  Bilstein,  wo  er  fünfzehn 
Wochen  im  Verliesä  gehalten  wurde,  bis  er  mit  50,000  Gulden 
sich  löste.  Ritter  Marx  aber  nahm  ein  trauriges  Ende ;  er  kam 
in  Streit  mit  Wilsperger,  dem  bischöflichen  Vogt  zu  Zabem, 
der  ihm  beide  Hände  abhauen  Hess,  aus  Hohn  auf  das  Wappen 
des  Marx,  das  zwei  abgehauene  Hände  zeigt.  Der  sterbende 
Ritter  forderte  den  Vogt  vor  Gottes  Gericht,  und  dieser  fiel  auf 
der  Stelle  tot  nieder. 

Weitere  Nachrichten  über  die  Burg  im  Weilerthal  sind  uns 
nicht  bekannt,  selbst  nicht  die  Zeit  und  Veranlassung  ihrer 
Zerstörung. 


ward  geholt  mit  gewalt  zn  Bilstein  und  lag  mehr  dan  15  Wachen 
in  dem  Tharm  und  ward  geschetzt  mehr  dan  50.000  galden,  ohn  die 
Atznng.» 


V. 


,Das  Vaterunser 

so  im  Elsass  anno  1610  ist  gebetet  worden 

von  den  Banern/ 

Mitgeteilt  von 

AIcuin  Hollaender. 


Ais  im  Jahre  1609  Johann  Wilhelm,  der  letzte  Herzog- 
von  Jülich,  Kleve  und  Berg  starb,  erhoben  der  Kurfürst  Johann 
Sigismund  von  Brandenburg  und  der  Pfalzgraf  Wolfgang  Wilhelm 
von  Neuburg  Ansprüche  auf  die  Erbschaft.  Während  aber  die 
beiden  Fürsten  sich  dahin  einigten,  bis  zur  Entscheidung  der 
Rechtsfrage  die  Lande  gemeinsam  zu  verwalten,  beauftragte  Kaiser 
Rudolf  seinen  Vetter  Leopold,  den  Administrator  des  Bistums 
Strassburg,  dieselben  in  Sequester  zu  nehmen.  Als  letzterer 
sich  durch  Verrat  in  den  Besitz  von  Jülich  gesetzt  hatte, 
rüsteten  sich  Liga  und  Union  zum  Kampfe.  Das  im  Elsass 
Frühjahr  1610  für  Leopold  angeworbene  Kriegsvolk  fiel,  wie 
Strobel,  Vaterländische  Geschichte  des  Elsasses  4,  232  erzählt, 
den  Landleuten,  bei  denen  es  einquartiert  war,  durch  viel- 
fachen Mutwillen  und  grosse  Begehrlichkeit  äusserst  lästig.  Da 
die  Bischöflichen  es  auf  das  dem  Herzoge  von  Württemberg 
verpfändete  Amt  Oberkirch  und  die  obere  Markgrafschaft  Baden 
abgesehen  haben  sollten,  sandteri  die  beiden  hierbei  interes- 
sierten Fürsten  ebenfalls  Truppen  ins  Elsass.  Es  kam  hier  zu 
einer  Reihe  von  Scharmützeln,    und  das  Land  hatte  unter  den 


—     113    — 

Verwüstungen  und  Plünderungen  der  Soldaten  arg  zu  leiden. 
In  jener  Zeit  entstand  das  folgende  im  Strassburger  Stadtarchiv 
aufbewahrte  «  Vateruns^er  y>  : 


(Der  beeden  Forsten  Volk  in  das  Elsass  ist  komen, 
Was  die  Leopoltschen  verlassen,  das  haben  sie  ge- 

nomnien 

Und  Gebeeten,  wie  zu  sehen  an  diesem  Vaternnser 
Haben  docb  nit  viel  darmit  nssgericht  etwas  be- 
sonder. — 
Wenn  der  Soldat  zam  Banem  ist  gangen  hein 
So  hat  er   ihn   mit  nnfrenndlichen   Worten   ge- 

grftsset  fein: 
Danket  im  darneben  zn  diser  frist: 
Baaer  was  du  hast,  alles  ist 
Hirgegen  danket  im  der  Bauer: 
Der  Tenfel  fahr  dich  hin,  du  Laor  ^ 
Se^e  gewiss,  dass  der  dich  noch  strafen  wird 
Der  Herr,  der  oben  auf  regiert 
Ich  glanb  nit,  das  man  einen  find 
Der  nss  disem  verfluchten  Gesind 
Ach  Gott,  kein  Volk  lebt  uf  Erd 
Von  welchem  mehr  gelästert  werd 
Ihr  nechst-es  Wort  ist  jedesmol 
Was  der  Bauer  hat,  dasselbige  soll 
Ach,  lieber  Herr,  wenn  sie  nur  künden, 
Zu  blündem  sie  sich  understünden 
So  dn  sie  alle  werdest  erschlagen 
So,  so  wurd  der  Bauer  dan  sagen: 
Wann  wir  quitt  wurden  dieser  Pein 
So  ward  den  armen  Bauern  sein 
Ich  weiss  nit,  wo  das  Gesind  hiengehört 
Im  Himmel  zu  sein,  sind  sies  nit  werd 
Sie  nemen  uns  Gut  und  Hab 
und  schneiden  uns  vor  dem  Maul  ab 
Dass  wir  alle  in  dieser  Nacht 
Ersehlagen  möchten  mit  unserer  Macht 
Wir  haben  des  gleichwohl  Verschulden 
Doch  nimb  uns  wider  auf  zu  Hulden 
Dan  diser  Leut  wir  nit  thun  lachen 
Sintemahl  sie  nur  thun  grösser  machen 
Aach  thun  sie  grossen  Mutwill  treiben 
Und  wollen  ligen  bey  unseren  Weibern 
Was  nur  sehen  die  Augen  ihr 
Müssen  wir  alles  umbsonst  schier 
Niemand  bleibt  nichts,  darumb  wir 
Müssen  bezahlen  die  Schulden  ihr 


Vater 

Unser 

Der  du  bist 

im  Hinmiel 

geheiligt  werde 

dein  Name 

zukomme  uns 

dein  Reich 

dein  Wille  geschehe 

wie  im  Himmel 
also  auch  uf  Erden 
unser  täglich  Brot 

gieb  uns  heut 

und  vergieb  uns 

unser  Schulden 

als  auch  wir 


vergeben 
unsern  Schuldigem 


1  Der  Lauer:  schlauer,  hinterlistiger  Mensch. 


8 


—    414    — 


Keiner  kann  braachen  die  Rosse  sein 
Ohn  Ünterlass  heisst  es:  Bauer  spann  ein 
Im  Hans  ist  allen  Tag  gnt  prassen 
Gar  oft  nns  selber  in  die  Stuben  lassen 
Welches  uns  schmerzlich  ins  Herz  thut  dringen 
und  manchen  Bauern  oft  thut  bringen 
Auch  alle  die  solch  böss  Thun  treiben 
Die  lass  Herr  Gott  bey  uns  nit  bleiben 
Die  fromen  Bauern  verfahe  gesund 
Und  behüt  sie  zu  aller  Stund 

Amen. 


und  führe  ans 

nicht  in 

Versuchung 

sondern  erlöse 

▼or  allem  üebel. 


(Achnliche  Gebetparodien  Ijegegnen  im  dreissigjährigen 
Krieg :  s.  Wackemagels  Litteraturgeschichie  §  418,  4 ;  und 
noch  näher  anklingend  ein  Bauernvaterunser  aus  Mecklenburg, 
auf  die  Kämpfe  gegen  Napoleon  bezüglich,  welches  in  Prutz, 
Deutsches  Museum,  4855,  2,  769  angeführt  wird : 

Der  Franzos  der  tritt  ins  Haus  hinein 

Und  spricht  zum  Hauswirt  in  falschem  Schein :  Yater^ 

Alles,  was  nun  vormals  war  dein, 

Das  soll  und  muss  nunmehr  sein  Unser. 


Dazu   wird 
Ernst  Meier. 


verwiesen    auf    Schwäbische    Volkslieder   von 

E.  M.) 


VI. 

Gedichte 

von 

Adolf  Stöbor. 

I.    Marie  Antoinette  in  Strassburg.* 

Mai  1770. 
L  Empfang  auf  der  RheininseL 

W  as  strömt  bei  hellem  Festgeläat 

Das  Volk  ans  Strassbnrgs  Maaem  heut 
Hinaas  ans  Bheingestade  ? 
Es  kommt  aas  fernem  Oesterreich 
Ein  Gast  an  Jagendschöne  reich, 
Voll  königlicher  Gnade. 

Es  ist  Theresias  2  Tochter  traat. 
Des  Frankendaaphin  8  holde  Braat, 
Maria  Antoinette. 
Sie  zn  empfangen,  sind  gesandt 
Pariser,  hoch  im  Adelstand, 
Mit  Stern  and  Ordenskette. 


^  Das  100jährige  Jnbiläam  der  französischen  Revolntion  legt 
eben  jetzt  aach  die  Erinnerang  an  die  angltlckliche  Königin  nahe, 
deren  Braatfahrt  hier  aaf  Grand  zweier  Berichte  von  Angenzeagen 
geschildert  wird,  nämlich  yon  Goethe  (Wahrheit  and  Dichtang,  Th.  2, 
Bach  9)  and  yon  Friedrich  V.,  Landgrafen  von  Hessen-Hombnrg.  -- 
Ihr  Brost bild,  «Ton  hoher  Schönheit»,  nach  kanstrichterlichem  Urteil, 
findet  sich  eben  jetzt,  anter  andern  Bildern  aas  der  französischen 
HeTolationsgeschichte,  im  grossen  Loavre-Saal  aasgestellt. 

2  Kaiserin  Maria  Theresia. 

s  Nachmals  (seit  1774)  König  Ladwig  XVI. 


—    116    — 

Bis  Strassbnrg  gab  noch  Oesterrdich 
Der  Kaiserstochter,  abschiedsweich, 
Ein  liebevoll  Qeleite. 
Zusammentrifft  nun  hier  am  Rhein 
Paris^  und  Wiens  Gesandtschaft  ein. 
Der  hohen  Braut  zur  Seite. 

Ans  grünem  Inselwäldchen  schant 
Ein  stattlich  Lnstschloss,  nenerbant. 
Die  Fürstin  zu  empfangen. 
Ihr  weht  entgegen  vom  Balkon 
Die  weisse  Fahne,  dran  die  Krön' 
Und  goldne  Lilien  prangen. 

Musik  und  Hochruf  schallt  voran, 
Es  steigt  die  Ehrentrepp'  hinan 
Die  Braut  mit  ihren  Damen. 
Ihr  steht  bereit  ein  festlich  Mahl 
Im  reichen  Thron-  und  Speisesaal, 
Den  Bilder  bunt  umrahmen. 

Paris  hat  Gobelins  gesandt, 

Die  zieren  rings  der  Halle  Wand, 

Die  prächtigen  Tapeten. 

Manch  heilig  Bild  ist  licbtumstrahlt. 

Wie  Raphael  es  vorgemalt,  ^ 

Vors  Auge  hier  getreten. 

Doch  sieh  —  welch  grauenhaftes  Bild 
Hängt  überm  Thronsitz,  schaurigwild! 
Kreusas  Hochzeitswehen, 
Medeas  Kindermord,  der  Fluch, 
Der  folgt  auf  Jasons  Treuebruch  — 
Die  traurigste  der  Ehen! 

Wer  traf  doch  solchen  Bildes  Wahl, 

Der  armen  Braut  zu  banger  Qual, 

Gar  böse  Ahnung  weckend? 

Wie  schlich  sich,  trotz  dem  Festlichtscbein, 

Doch  dies  Gespensterbild  herein, 

Mit  blutiger  Zukunft  schreckend? 

Betroffen  seufzt  die  Fürstin  auf: 
«Was  steht  mir  für  ein  Leidenslauf 
Bevor  in  diesem  Reiche?» 
Trostsuchend  blickt  sie  schweigend  hin 
Auf  ihre  Schwesternschaar  aus  Wien, 
Dass  ihre  Furcht  doch  weiche. 


^  Ein  Teil  jener  gewirkten  Teppiche  stellte  biblische  Bilder  nach 
Raphaels  Cartons  dar. 


—    il7    — 

Mit  Huldignng  kommt  ihr  zuvor 
Paris  in  seinem  Adelsflor, 
Bringt  Gaben,  Sträusse,  Kränze. 
Da  heitert  sich  ihr  Angesicht, 
Dass  wieder  hell  ihr  Augenlicht, 
Ihr  Hofi&iangsstem  erglänze. 


8.  Einzug  in  die  Stadt. 

Die  Nacht  verging,  der  Morgen  graut, 
Nach  kurzem  Schlaf  erhebt  die  Braut 
In  vollem  Schmuck  sich  wieder. 
Und  mit  ihr  feiert  die  Natur, 
Des  Maies  blütenreiche  Flur, 
Der  Nachtigallen  Lieder. 

Von  grüner  Inseltrift  am  Rhein 
Ergeht  die  Brautfahrt  nun  landein 
Mit  festlichem  Gepränge. 
In  Strassburg  hält  sie  Einzug  heut  — 
Hört  ihr  vom  Münster  das  Geläut 
Und  aller  Glocken  Klänge  ? 

Hört  ihr  vom  Citadellenwall 
Den  donnernden  Kanonenachall 
Aus  hundert  eLmen  Schlünden? 
Der  künftigen  Königin  geweiht, 
Soll  er  dem  Yolke  meilenweit 
Ihr  Kommen  froh  verkünden. 

Sie  naht  der  Stadt,  dem  Mezgerthor .  . 
Doch  nein!  der  Magistrat  erkor 
Ihm  einen  neuen  Namen : 
«Dauphinethor»  so  heisst^s  fortan, 
Als  Ehrenpforte  aufgethan 
Der  höchsten  unsrer  Damen. 

Am  Thor,  in  vollem  Amtsornat, 

Begrüsset  sie  der  Magistrat 

Mit  warmen  Huldigungen. 

Im  offnen  Wagen,  reich  bespannt, 

Fährt  sie  einher,  vom  Volk  erkannt, 

Dess  Hochruf  weit  erklungen. 

In  allen  Strassen  —  welche  Meng*, 
In  allen  Häusern  —  welch  Gedräng, 
Ihr  Angesicht  zu  schauen ! 
Aus  allen  Fenstern  bis  zum  Dach  — 
Wie  freundlich  winken  tausendfach 
Mit  weissem  Tuch  die  Frauen! 


—    118    — 

Die  Tochter  Dentschlands,  gestern  bang, 

Ist  heut  beruhigt  beim  Empfang, 

Den  Strassbnrg  ihr  bereitet, 

Wo  auch  die  Hochschnl  deutsch  noch  lehrt. 

Wo  Goethe  lernend  eingekehrt, 

Von  Herders  Hand  geleitet. 

So  atmet  Josephs  ^  Schwester  auch 
Noch  hier  des  deutschen  Geistes  Hauch, 
Noch  nicht  in  fremder  Sphäre. 
Drum  fasst  sie  wieder  frischen  Mut, 
Und  bald  besiegt  ihr  junges  Blut 
Des  Heimwehs  bittre  Zähre. 

In  langsam  feierlicher  Art 

Erging  zwei  Stunden  lang  die  Fahrt 

Bei  stetem  Glockenschallen. 

Nun  winkt  das  Ziel :  dem  hohen  Gast 

Erschliesst  des  Bischofs  Prunkpalast 

Die  schönsten  seiner  Hallen. 

Am  Eingang,  am  bekränzten  Thor 
Stellt  sich  ein  Musikantenchor 
Und  spielt  die  reinsten  Klänge. 
Und  Z¥n8chen  zwei  Soldatenreihn 
Rückt  in  den  weiten  Schlosshof  ein 
Des  Festzugs  bunte  Menge. 

Voran  ziehn  mit  gezücktem  Schwert 
Die  Leibgardisten  hoch  zu  Pferd, 
Dann  vieler  Wagen  Kette; 
Hofherrn  und  Damen  reich  geschmückt, 
Zuletzt,  die  alle  Welt  entzückt  — 
Maria  Antoinette. 

«Hoch  lebe,  hoch  des  Dauphins  Braut!» 
So  schallt  aus  tausend  Kehlen  laut 
Ein  Jubel,  der  nicht  endet, 
Bis  auch  das  letzte  Reiterkorps, 
Die  Schweizergarde,  hinterm  Thor 
Abschliessend  sich  gewendet. 

3.  Festlichkeiten. 

Der  Braut  und  ihrem  Hofgeleit 
Zu  würzen  auch  die  Abendzeit, 
Will  Strassburg  gern  ihr  dienen. 
Kaum  trat  sie  vor  auf  dem  Balkon, 
So  ist  zu  einem  Schauspiel  schon 
Die  Küferzunft  erschienen. 


1  Kaiser  Joseph  II. 


—    i19    — 

Sie  fahren  anf  zur  Schlossterrass^ 
In  Wagen  mit  bekränztem  Fass, 
Mit  Schlegeln  nnd  mit  Reifen. 
Altdeutsch  ist  ihre  zünft'ge  Tracht, 
Ein  weiss  Gewand,  umsäumt  mit  Pracht, 
Mit  blauen  und  roten  Schleifen. 

Nun  sieh :  auf  einen  Reif  gestellt 

Wird  flink  ein  Glas,  das  doch  nicht  fallt. 

Obwohl  den  Reif  sie  schwingen. 

Wie  kunstvoll  ist  der  Küfertanz ! 

Wie  mag  doch,  fragt  man  staunend  ganz. 

Solch  Zauberstück  gelingen? 

Und  Beifall  spendet  vom  Balkon 
Die  hohe  Braut  mit  holdem  Ton 
Den  wackern  Zunftgenossen. 
Und  horch,  das  Illgestad  entlang 
Hat  Beifallsbrausen  sich  noch  lang 
Von  Mund  zu  Mund  ergossen. 

Nach  so  gelungnem  Meisterstück 
Zieht  froh  die  Küferschar  zurück. 
Wie  im  Triumpheswagen. 
Der  Dauphine  aber  harrt  sofort 
Ein  andres  Abendschauspiel  dort. 
Wo  Komus'  Hallen  ragen. 

Dort  in  dem  hochgewölbten  Saal, 
Wo  hundertfacher  Leuchterstrahl 
Die  Nächte  macht  zu  Tagen, 
Empfangt  die  Loge,  schmuck  und  weit, 
Die  Fürstin  und  ihr  Hofgeleit, 
Lässt  ihr  den  Thronsitz  ragen. 

Zu  ihrer  linken  Hand  sich  reihn 
Die  deutschen  Herrn  und  Damen  fein. 
Wohin  sie  gern  sich  neiget; 
Indess  zur  Rechten  sich  geschart 
Die  Ton  Paris,  so  fremder  Art, 
Dass  scheu  Maria  schweiget. 

Das  Lustspiel  auch,  das  Possenspiel 
In  Frankreichs  Sprach  und  leichtem  Stil 
Mag  nicht  der  Braut  behagen  ; 
Bald  schaut  sie  traurig  vor  sich  hin, 
Bald  zwingt  sie  sich,  zu  wachem  Sinn 
Die  Augen  aufzuschlagen. 

Ihr  Blick  erst  dann  sich  wieder  hellt, 
Da  aus  das  Spiel,  der  Vorhang  föllt. 
Der  Müden  winkt  nun  Friede. 


—    120    — 

Doch  schant  sie  gern  im  Lämpchenglanz 
Beim  Heimgang  noch  erle achtet  ganz 
Die  Münsterpyramide. 

Da  strahlt  ihr  ja  die  Herrlichkeit 
Der  alten  deutschen  Reichsstadtzeit 
Anheimelnd  noch  entgegen. 
Das  Fest  zu  krönen,  sprüht  empor 
Ein  Feuerwerk  zum  Sternenchor 
und  sinkt  als  Stemenregen. 

So  schliesst  die  Braut  in  Frankreichs  Schoss 
Den  zweiten  Tag;  ach,  welch  ein  Los 
Wird  ihr  die  Zukunft  bringen? 
Wohl  Freude,  doch  gemischt  mit  Leid, 
Ein  Thränlein  fliesst  aufs  Brautgeschmeid  — 
Herry  hilf !  lass  wohl  gelingen ! 

4.  Abfiihrt  naoh  Paris. 

Die  Abschiedsstunde  kommt  heran. 
Der  brautlich  holden  Fürstin  nahn 
Alsatiens  Ritterkreise. 
Sie  wünschen  dem  erlauchten  Gast 
Im  fürstbischöflichen  Palast 
Von  Herzen  beste  Reise. 

Herrn  Franz,  den  tapfern  General, 
Den  Herrn  von  Wangen,  traf  die  Wahl, 
Das  Abschiedswort  zu  führen. 
Hut  kurzem  Spruch,  doch  voll  Gefühl, 
Weiss  er,  der  stand  im  Schlachtgewühl, 
Die  Braut  zum  Dank  zu  rühren. 

Sie  folgen  ihr  zum  frommen  Gang, 
Zum  nahen  Dom,  dess  Glockenklang 
Zum  Hochamt  eben  ladet. 
Nicht  anders  mag  die  Königin 
Zur  schweren  Reise  ziehen  hin, 
Als  neu  von  Gott  begnadet. 

Da  weht  sie  an  ein  frommer  Geist, 
Der  sich  im  Steingebild  erweist. 
Beseelt  von  Erwins  Sinne. 
Von  ihm  ist  hier,  in  Stein  gehaun. 
Ein  biblisch  Bilderbuch  zu  schaun. 
Erhaben  bis  zur  Zinne. 

Drei  Reiterbilder  ^  am  Portal ! 
Wer  ist  der  Dritte  in  der  Zahl 


1  Chlodwig  I.,  Dagobert  IL  und  Rudolf  v.  Habsburg;  als  vierter 
kam  Ludwig  XIV.  erst  1828  hinzu. 


—    121     — 

Mit  Krone,  Schwert  and  Schilde? 
Dein  Rudolf  ist^s,  Dein  tapfrer  Ahn, 
0  Habsbnrgs  Tochter,  schau  hinan 
Zu  seinem  Heldenbilde ! 

Von  seinem  Geist  umweht,  tritt  ein 
Zum  Dom,  bei  buntem  Dämmerschein, 
Tritt  in  die  heiVgen  Hallen, 
Wo  Dir  zu  würdigem  Empfang, 
Im  Hermelinkleid,  mit  Gesang, 
Domherrn  entgegenwallen. 

Das  Hochamt  feiert  am  Altar 

Der  Fürstbischof  im  Festtalar, 

Von  Rohans  edlem  Hause.  > 

Und  horeh !  Musik  —  wie  schön  klingt  sie, 

Bald  donnernd,  wie  am  Sinai, 

Bald  liebliches  Gesause !  — 

Nun  aber  mahnt  der  Stundenschlag 
Die  Fürstin  an  den  Abschiedstag; 
Mit  Wehmut  sieht  sie  scheiden 
Die  Wiener  in  die  Heimat  fem; 
Nun  sind's  allein  Pariser  Herrn, 
Die  sie  ans  Ziel  geleiten. 

Und  wieder  dröhnt  vom  Festungswall 
Der  donnernden  Kanonen  Schall. 
Und  alle  Glocken  läuten. 
Bis  an  des  Stadtbanns  Grenze  weit 
Giebt  ihr  der  Oberst  das  Geleit 
Mit  seinen  Edelleuten.2 

Nun  lebe  wohl,  du  Münsterstadt, 
Die  noch  ihr  deutsch  Gepräge  hat, 
Du  Land  an  den  Vogesen! 
Nun  geht  es  erst  der  Fremde  zu; 
0  Braut,  Dir  bangte,  könntest  Du 
Im  Buch  der  Zukunft  lesen ! 

5.  Schreckenskiinde  ans  Paria. 

Ganz  Strassburg  harrt  auf  Post  und  Brief, 
Wie  in  der  Hauptstadt  sich  TerUef 
Das  Fest  der  Dauphinsehe. 
Wohl  war  yoII  Jubels  der  Empfang, 
Doch  schlug  er  um  so  schaurig  bang  — 
0  Hiobspost  voll  Wehe! 


^  Cardinal  Prinz  Ludwig  von  Rohan. 
*  Der  Stadtoberst  mit  der  Nobelgarde. 


—     122    — 

Mit  tausendfachem  Frendenlaat 
Begrüsst  Paris  die  hohe  Braut, 
Der  Dauphin  selbst  vor  allen. 
Ihr  fürstlich  edles  Angesicht, 
Ihr  treues  blaues  Augenlicht 
Weckt  innigst  Wohlgefallen. 

Kanonendonner  grüsst  vom  Wall, 
Von  allen  Türmen  Glockenschall, 
Und  Feuerwerke  sprühen. 
Das  Abenddunkel  weicht  dem  Schein 
Der  Lämpchen,  die  in  bunten  Reihn 
Vor  allen  Fenstern  glühen. 

Da  wälzt  sich  durch  die  Riesenstadt, 
Die  Pracht  zu  schaun,  was  Füsse  hat, 
Ein  zahllos  Volksgemenge. 
Und  horch,  o  welche  Schreckenskund^ 
Verbreitet  sich  von  Mund  zu  Mund, 
Vergällt  das  Lustgepränge? 

In  enger  Strasse  eingeklemmt, 
Wo  Baugerüst  den  Durchgang  hemmt  — 
0  Wehgeschrei  ohn'  Ende ! 
Zerdrückt,  zertreten  in  den  Staub 
Fällt  Jung  und  Alt  dem  Tod  zum  Raub 
0  grause  Schicksalswende! 

Verhängnisvoller  Hochzeitstag, 

Dess  Jubel  sich  mit  einem  Schlag 

Verkehrt  in  Todesklagen ! 

Noch  Schlimmres  harrt  Dein,  arme  Braut! 

Gottlob,  dass  Dir's  noch  nicht  vertraut 

In  Deinen  Flittertagen. 

Dir  werden  zwei  Jahrzehnte  kaum 
Im  Glück  verfiiessen  wie  ein  Traum, 
Dann  wird  das  Blatt  sich  wenden. 
Da  sich  das  Frankenvolk  empört, 
Dir  und  dem  König  Rache  schwört, 
Und  blutig  wird  es  enden. 

Ihr  schmachtet  lang  in  Kerkerhaft, 
Bis  euem  Kopf  das  Fallbeil  rafft. 
Dem  Pöbel  wirft  zu  Füssen. 
So  wird  die  Weissagung  zur  That: 
Dein  Ludwig  muss  die  Missethat 
Der  Väter  mit  Dir  büssen. 


—    123    — 

Gedenk^  an  das  Tapetenbild, 
Das  Dich  als  Braut  im  Rheingefild 
Erschreckt  als  böser  Schatte : 
Krensa  —  die  bist  leider  Da! 
Medea-Gallia  treibt^s  dazn, 
Wie  Jason  stirbt  dein  Gatte ! 

Ach,  so  macht  hier  ein  granser  Flach 
Zum  Spott  den  alten  heitern  Sprach 
Von  Oestreichs  Heiratsglücke  !  ^ 
Ach,  in  dem  Land  der  Blnthochzeit 
Dräat  unter  Rosen  dem,  der  freit, 
Nicht  selten  Schlangentücke ! 


II.  Wie  es  um  Neujahr  schneit,  auch  T^enn's 

nicht  schneit. 

(Strassburger  Mundart.) 

Wie  sonderbar  isch  doch  der  Winter  diss  Johr! 
Narr  einmol  e  bissei  het^s  gschneit; 
Unn  doch  sinn  mer  schun  üwwer  d^Wihnachte  Tor 
Unn  's  Johr  het  sich  widder  erneut. 

E  Christkindelsmärkt  ohne  Schimmer  von  Schnee, 
's  Keujohr  ohne  schneewisses  Kleid  — 
Ach!  fsifze  do  d^Kinder  unn  klaauen:  o  weh! 
Au  grosse  Lit,  Eltren  isch's  leid. 

Do  fallt  jo  ins  Wasser  der  Schneeballe-Jux, 

Wo  d^uewewelt  sich  bumbardiert. 

Do  hört  mer  kein  Schlachtgschrei,  kein  Hurrahgejuchz, 

Wie  sunst,  wenn  der  Find  retiriert. 

Kein  SpassYöjel  bringt  jetz  e  Schneemann  ze  Stand, 

£  Zwergbild  mit  riesiger  Nas, 

Der  droht  mit  dem  Hewel  in  sinere  Hand, 

Mit  fnnkligen  Aue  von  Glas. 

Ach,  niemand  lauft  Schlittschueh,  wil  gfrore  kein  See, 
Kein  Baum  isch  mit  Silwerduft  bhängt. 
Kein  Schlitte  kommt  gfahre  durchs  Feld  ohne  Schnee, 
Kein  Pferd  kommt  mit  Schelleklang  gsprengt. 

0  truriger  Winter,  wenn  wit  unn  breit 
Nurr  Newel  uff  Berri  unn  Thal ! 
0  truris  Neujohr,  wenn  es  gar  nit  schneit 
ünn  ^s  Land  isch  so  öd  unn  so  kahl !  — 


^  Tu  felix  Austria,  nube. 


—    124    — 

Was  saauen  er?  bsinne  euch  besser,  ihr  Lit! 
Isch  wirkli  ^s  Neujohr  ohne  Schnee  ? 
EU,  sehn  er's  nit  schneie  ?  es  schneit  jo  schon  hit, 
Unn  moijen  nnn  später  kommt  meh. 

Es  schneit  jo  ins  Hüs,  bis  in  d*  Stnwwen  erin  — 
E  Schneefall,  der  dTlocke  nit  spart; 
Mer  möcht  ne  verwünschen  ins  Pfefferland  hin, 
Er  isch  nit  von  lastiger  Art. 

Ha,  merken  er^s?  Konto  schneit^s  üwwergenue, 
Vom  Schlosser,  vom  Schriener,  vom  Schmied; 
Baechhändler,  Tuechbändler  unn  Schnieder  derzne, 
Beck,  Metzjer,  Wirth,  —  alles  hilft  mit. 

Na,  Handwerk  nnn  Handel  will  au  sine  Lohn, 
Se  genn  mer,  was  billi  unn  recht. 
Doch  heischt  noch  en  anderi  Profession 
Nenjohrsgeld  —  e  bettelhaft  Gschlecht. 

Jo,  d^  Zit  isch  jetzt  do,  wo^s  an  Bettelbrief  schneit, 
Drinn  steht  von  der  bitterste  Noth. 
«Mit  siwwe  lewendige  Kinderle  schreit 
E  Wittfrau  nooch  taglichem  Brot.» 

Isch^s  Wohret,  se  denk  an  der  Bruederlieb  Gsetz, 
De  Wittwen  unn  Waise  reich  d^  Hand ; 
Oft  awwer  sinn  d^Bettelbrief  Luejegeschwätz, 
Drum  uffgepassi,  gieb  mit  Verstand! 

Schnapsbrüeder  gehn  um  hit,  der  Alt  unn  sin  Bue, 
{  Zuem  Trunk  nurr  bettelt  diss  Korps. 

I  Sie  renne  hit  ihrem  Verderwe  zue, 

I  So  blind  wie  im  vorige  Johr. 

Gott  besseres!  zuem  Heil  fürr  Jung  unn  Alt 
I  Lenk  Er  unsre  ktinftige  Lauf. 

Unn  trüebt  sich  der  Himmel,  so  nemme  mer  halt 
1  Au  Schneegstöwer  mit  in  de  Kauf. 

Jungs  Völkel !  dir  wünsch  i  zum  Wintergenuss 
En  Isbahn  unn  wuchelang  Schnee. 
Do  fahren  er  üewwer  de  gfrorene  Fluss 
Unn  singen  im  Schlitte  Jucheh ! 

Gott  bhüet  euch,  dass  keins  im  en  Isloch  versinkt, 
Er  schütz  euch  vor  allerhand  Gfohr, 
Bis  uff  euerm  Scheitel  der  Alterschnee  blinkt 
Im  achtzigste,  hundertste  Johr! 


—    125    — 


III.  Der  Nussbäume  Klagelied. 

Ach  wie  d^Kriejsfnrcht  sich  verbreitet, 
Wie  sich  d^Welt  znem  Kampf  bereitet  — 
Wie  viel  Opfer  kostet  das ! 
An  mir  armi  Nassbäom  müesse 
Schwer  diss  Waffefiewer  büesse 
ünn  de  blinde  Völkerhass. 

Ländli  still  isch  unser  Lewe, 
Isch  dem  Fridde  ganz  ergewe, 
Andre  wohlzeihnen  bereit. 
D'Vöjel  Ion  mer  lasti  singe 
Unn  durch  nnser  Laabwerk  springe, 
Wo  im  Nest  ihr  Bmet  gedeiht. 

Menschekinder  zen  erfreue, 
Lon  mer  Nüsse  sich  yerstreue, 
Zuem  Genuss  unn  Spiel,  im  Gras, 
unser  Grundherr  losst  sich  presse 
Köstlis  Nussöl,  ToUgemesse 
Wurd  manch  Kruejel,  manches  Glas. 

Wenn  in  schwüeler  Summersmitte 
Gras  gemäjt  wurd,  Weize  gschnitte, 
Unn  dem  Gsind  wurd^s  gar  ze  heiss  — 
0  wie  wohl  thnet  uff  de  Matte 
Unser  breiter  kuehler  Schatte, 
Wo  mer^s  Brod  isst,  frei  vom  Schwdss 

Unn  wenn  d^Mnetterlieb,  im  Winter, 
Christbäum  rust  farr  ihre  Kinder 
Unn  mit  Obst  unn  Nüsse  ziert  — 
Wer  —  mer  saaue^s  nit  mit  Prahle  — 
Wer  isch^s,  der  in  goldne  Schale 
Sie  mit  Nnsskem  regaliert? 

Sehn,  wie  mir  uns  treu  bemüeje 
Euch  znem  Nutsen  unn  Vergnüeje, 
Johr  um  Johr,  ihr  liewi  Lit! 
Drum  au  thuen  mer  wohl  verdiene, 
Dass  der  Mensch  uns  froh  losst  gruene. 
Bis  uns  Gott  den  Abschied  git. 

Awwer  zither  e  paar  Johre 
Hen  sich  widder.uns  verschwöre 
Bure,  die  vor  Goldgier  blind, 
Fällen  uns  mit  Axt  unn  Säje, 
Laden  unsri  Stamm  uff  Wäje, 
Unn  do  geht's  in  d'Fremde  gschwind. 


—    126    — 

Trüri  sehn  mer^s  nnn  verwundert : 
Unsrer  küm  noch  zehn  vom  Hundert 
Bliwe  stehn  im  wite  Feld . . . 
Ach,  Soldate  sinn  halt  knmme, 
Hen  de  Büren  abgenumme 
D^schönste  Bäum  um  schweres  Geld. 

Weshalb  het^s  d^ Armee  errunge? 
Nussbaumholz,  so  festgedrunge^ 
Isch  zue  Flinteschäfte  guet; 
Unn  die  brticht  mer  ze  Millione, 
Wil  dem  Sieger  Legione 
Grolle  mit  verbissner  Wueth. 

Armi  Lit!  o  laie  nidder 
Eure  Hass !  als  Brueder  widder 
Gehn  mitnander  Hand  in  Hand. 
Uns  au  losse  friddli  lewe, 
Fröhli  grüene^  Früchte  gewe 
Euch  ze  guet  unn  unserm  Land. 

Merk,  Soldat!  unn  merke^s,  Bure! 

Kriej  bringt  Tod  de  Kreatüre, 

Fridde  nurr  macht's  Lewe  froh. 

Fridden  isch  e  goldner  Brunne, 

Labt  Mensch,  Thier  und  Pflanz,  wie  d*Sunne. 

Wie  im  Paradies  isch's  do! 


VII. 


Münsterthäler  Anekdoten, 


(Mundart  des  Dorfes  Sulzern.) 


Mitgeteilt  von 


J.    S  p  i  e  8  e  r« 


LkM  dem  im  vorigen  Jahrgang  Seite  72  Gesagten  sei  hier 
noch  folgendes  bemerkt.  Auch  die  hier  veröffentlichten  Anek- 
doten wurden  im  Grossthale  gesammelt ;  sie  erscheinen  nur 
in  der  Sulzerer  Mundart,  um  auch  diesen  Zweig  des  Munster- 
tbäler  Dialekts  zu  seinem  Rechte  kommen  zu  lassen. 

Die  Sulzerer  Mundart  hat  mit  derjenigen  von  Mühlbach 
die  Ersatzdiphthongierung,  i  die  Ersatzdehnung,  «  die  Verwand- 
lung von  n  d  in  n  g  (iq)s  sowie  die  Eigenschaft  gemein,  dass 
sie  nur  zwischen  l^,  r^  und  ny,*  nicht  aber  auch  zwischen 
Ik  und   rk   ein   i    einschiebt.^   Sie    unterscheidet  sich  von  ihr 


1  Z.  B.  Ha.il  cHalde»  (Flurnamen),  wtdn  Wunde,  eim  (mhd.  imbe) 
Biene;  vgl.  Mankel,  Lant-  nnd  Flexionslehre  der  MA.  des  Münster- 
tkles.  Strassbnrg  1886.  Seite  38. 

*  Z.  B.  äsal  Achsel,  t&sal  (mhd.  dehsel)  Qneraxt;  vgl.  Mankel, 
Seite  37. 

s  Z.  B.  hav]  Hand;  vgl.  Mankel,  S.  36. 

^  Z.  B.  kheliX  Kirche,  khluriX  Karren,  menix  (Mühlb.  mänix) 
Mönch;  aber:  folk  Volk,  stark  stark  (in  Münster:  folik,  i^tärik 
ü.  8.  w.) ;  vgl.  Mankel,  S.  27. 


—    1:28    — 


namentlich  durch  den  Verhist  der  Nasalierung,  ^  infolgedessen 
zahlreiche  gleichlautende  Wörter  entstehen.  So  heisst  z.  B.  lät 
«cLand»  und  «LadeD,  käs  «Gans»  und  «Gasi»,  rds9  cgrunzen» 
(Mühlb. :  rä^sd)  und  «rasen»,  kheit  «Kind»  und  «[gefallen,  ge- 
worfen», sei  «sindt>  und  «sei»  u.  s.  w. 

Die  Konsonanten  stimmen  mit  denjenigen  der  Miihlbacher 
MA.  überein,  nur  dass  vor  der  Endsilbe  al  k  (g)  nach  kurzen 
Vokalen  2  meist  in  i  übergeht.  Z.  B.  feil  (M.  fekal)  Feile,  foil 
(M.  fokal)  Vogel,  khäil  (M.  khäkal)  Kegel,  khüil  (M.  khükal) 
Kugel,  näil  (M.  näkal)  Nagel  u.  s.  w. ;  vgl.  auch  aiarstoik 
(M.  akdrstoik)  Hühnerauge,  fieilät  (M.  feklat)  Veilchen ;  jedoch 
ekal  Igel,   prakla  in  Fett  braten,  steklik  (M.  stekal)  steil  u.  a. 

Das  Verhältnis  der  Vokale  und  Diphthonge  der  beiden 
Mundarten  wird  —  seltene  Ausnahmen  vorbehalten*  —  durch 
nachfolgendes  Schema  veranschaulicht  : 


M 

s 

!      M 

i 

s 

M 

S 

M 

S 

• 

1 

i    ' 

i    . 

le,  le 

1 

le 

^i 

ä 

e,  ä 

e 

6,  ä 

c 

6    1 

1 

ei,  ^i 

ei 

äi 

ai 

e 

a 

e,   ^    ; 

^i 

äi 

1 

1     ^ 

äi 

a 

a 

^ 

1 

^,  ai,  ?j 

ai 

! 

i 

k 

1 

ä,  ^ 

ä      ' 

1 

äi 

1  • 
ai 

1 

0 

0 

a.  4^  h\ 

ä      i 

oi 

1 
oi 

i 

« 

u 

u 

6 

9 

0 

ui,  VI 

üi     . 

1 

y 

y 

ü,  \l 

i 

yü 

ya 

9 

9 

4 

9 

y 

1 

yo 

ÜW8    1 

1 

• 

1  In  ähnlicher  Weise  hört  man  znweilen  manche  Elsässer  die 
französischen  Nasale  behandeln;  z.  B.  «sak  fwa  sak  fü  wat-sak»  f&r 
«cinq  fois  cinq  fönt  vingt-cinq>  oder  cHäri  sät  pjä»  fär  «Henri 
chante  bien>. 

2  Nach  langen  Vokalen  and  Diphthongen  wird  das  g  (k)  in 
beiden  Mundarten  gleichmässig  behandelt,  z.  B.  säie  sägen,  Segen 
(anch  säen);  näi  (M.  nei)  nein;  aber  Alka  fliegen;  k^ko  gegen; 
wäke  Wagen  jäkor  Jäger ;  pl6k  Plage ;  kriek  Krieg ;  M.  lyüke,  S. 
lyeke  schauen.  (In  Münster  :  fleäio,  kaie,  wäi9,  jäisr,  plöi,  kreäi,  lyäia). 

3  Dieselben  werden  in  den  nachfolgenden  Dialektproben  jedesmal 
besonders  angemerkt  werden.  Mit  der  Mühlbacher  Mundart  ist  die 
von  Sulzem  hier  verglichen  worden,  weil  erstere  durch  Mankel  eine 
wissenschafthche  Darstellung  erhalten  hat.  — -  Zur  Orthographie  vgl 
die  Anmerkung  auf  S.  73  des  vorigen  Jahrgangs. 


—    129    — 

Schliesslich  bittet  der  Herausgeber  noch  um  Nachsicht, 
wenn  einige  der  nachfolgenden  Anekdoten,  namentlich  in  der 
beigegebenen  Uebersetzung,  etwas  derb  klingen.  Es  hiesse  den 
Volksgeist  falsch  dai'stellen,  wollte  man  alles  entfernen,  was 
den  Geschmack  der  modernen  Bildung  verletzen  könnte.  Die 
Uebersetzung  ist  übrigens  nur  als  Kommentar  beigegeben,  nicht 
etwa  um  selbständig  gelesen  zu  werden.  Darum  wurde  auch 
mehr  auf  getreue  Wiedergabe  des  mundartlichen  als  auf 
Vollendung  des  hochdeutschen  Ausdrucks  gesehen. 

28. 

«£,  ^,  Leias,  würüm  hfes  het  «  Ei,  ei,  Elias,  warum  hast 
ti  streipf  lats  ä?*  hM  amüwal  du  heute  die  Strümpfe  verkehrt 
9  myatar  ta  piewla  kfrökt;»  an?»  fragte  einmal  eine  Mutter 
tamüwa  hhi  ar  ksait :  «6,  üf  ihren  Jungen  ;  darauf  sagte  er : 
tor  ätar  sit  hai  sa  l^ar. »  <  Ei,  auf  der  andern  Seite  haben 

sie  Locher.» 

29. 

tO  j^rakot,  we  e§  tox  ti  walt  cAch  Gott,  wie  ist  doch  die 
so  wit !  >  hat  salar  Sütarnär  Welt  so  weit  I »  sagte  jener 
ksait,  wü-n-ar  iif  ti  filmpriik  Mann  aus  Sondernach,  als  er 
khüraa  es  för  k  Meistar.  auf  die  Elmbrücke  kam  unter- 

halb (vor)  Münster. 

30. 

iSal  liekt  mi,  misiel,  niema  c Damit  lügt  mich,  mein' Seel', 
mie  ä,  äs  äina  ^  s  isapän  fära  niemand  mehr  an,  dass  einem 
wöiflar  khümt,  we'  mar  retyr-  die  Eisenbahnfahrt  billiger  zu 
pilj6  nemt.  i"X  pe  kemtik  üf  stehen  kommt,  wenn  man  Re- 
Kholmar  kse  ün  hä  nys  ü  ri  tourbillets  nimmt.  Ich  war 
äis  kanüma,  ün  s  het  mi  üf  tie  letzthin  in  Colmar  und  nahm 
ärt  ßl  mier  khoSt  äs  süs.»  hin  und    zurück    («hinaus  und 

herein»)   eins,   und  es    kostete 
mir  so  viel  mehr  als  sonst.  » 

31. 

«Tar  Näpöliüm  es  kawes»  «Man  sagt,  Napoleon  sei 
ü?;kanätik  rix-»  —  «^j  hat  ar  ausserordentlich  reich.»  —  «Ei, 
ten  mier  äs  hütart  kh6i  ?»  hat  er  denn  mehr  als  100 
Kühe?» 

1  in  M.  kfryokt. 

2  Accusativ;  in  Münster  lautet  auch  der  Dativ  zuweilen  so. 

3  Das  Wort  ckawes»  bedeutet,  tonlos  gesprochen,  «wie  man  sagt»  - 
betont  dagegen  «gewiss,  sicherlich» ;  ist  also  hier  tonlos  zu  lesen. 

9 


—   i:30  — 


32. 


<Ty  hiruw9ts  äwar  patsita, 
Änameidb,»  het  dmüwal  ti  froi 
pfärdra  tsü  ma  mäitia  ksait, 
wii  met  sewalsä  jüwar  hoyjsit 
khä  hei.  —  «ja,  wesa-n-ar, 
froi  pfärara^»  h^t  s  ksäit^  ci 
miex  nä  net  höxlsit,  wen  s  iif 
mix  äkhäm,  äwar  s  es  hält  o 
so,  üsar  lit  wai  s  hä,  sa  pry/a 
kär  ni'ivvalwainik  epar  fer  tsum 
fe.» 


«Du  heiratest  aber  frühzeitig, 
Anna-Mariechen,»  sagte  einmal 
die  Frau  Pfarrer  zu  einem 
Mädchen,  das  sich  mit  17  Jahren 
verheiratete.  «Ja  wissen  Sie, 
Frau  Pfarrer,»  antwortete  sie, 
«ich  würde  mich  noch  nicht 
verheiraten,  wenn  es  auf  mich 
ankäme,  aber  es  ist  halt  auch 
so,  meine  Eltern  wollen  es 
haben,  sie  brauchen  gar  not- 
wendig jemand  zum  Vieh  (als 
Melker).» 


33. 


S  het  amüwal  a  froi,  wü  sa 
e  ma  nüwaxpQrshys  tsa  stüwana 
etar  tsa  kwalta  ks^  es,  kakläkt, 
äs  e  ^na  kh^  kwat§apäim  wai 
wäsa.  «ix  ^äis  akotsanäma  net, 
was  täs  es,»  säit  sa,  «äh  lit 
pakhüma  kwatsapaim,  äs  m^r 
pakhüma  kheni,  ün  to^  äla- 
müwal,  we'  mar  kwatSapfafar 
khä  hai,  sai  i/^  ti  stäin  !» 


Es  klagte  einmal  eine  Frau, 
als  sie  in  einem  Nachbarhaus 
(am  Tag  oder  Abend)  auf  Besuch 
war,  darüber,  dass  ihnen  keine 
Zwetschenbäume  wachsen 

wollten.  «Ich  weiss  in  Gotlej? 
Namen  nicht,  was  das  ist,» 
sagt  sie,  « alle  Leute  bekommen 
Zwetschenbäume ,  nur  wir 
kriegen  keine,  und  doch  jedes- 
mal, wenn  wir  Zwetschenmus 
hatten,  säe  ich  die  Steine !» 


34. 

«Säka,  höra,  her  toktar,  «Sagen  Sie,  hören  Sie,  Herr 
müs-a-s  wäsar  häisar  s6  äs  Doktor,  muss  das  Wasser  heisser 
kho^ik,  fer  täs  kheit  tsa  päta?»    sein  als  siedend,  um  dieses  Kind 

zu  baden?» 

35. 

S  het  amüwal  a  froi    plyat-  Eine  Frau  holte  einmal  Blut- 

sykar  khölt  e  tar  äpat^k.  ewar  egel    in    der   Apotheke.    Nach 

a  setsla  äna   khnmt   sa   wetar  einer  Weile  kommt  sie  wieder 

tsarük  ün  säit :    «e  was  i  säka  zurück  und  sagt :  «Ei,  was  ich 

wel,  h^r  äpat^kar,  —  i  hati  nä  sagen  will,  Herr  Apotheker,  — 


1  in  M.  hat. 


—    431     — 

M  kär  farkasd  tsd  froka  ^    —  beinalie    hätte   ich    noch    ver- 

prakalt   mar  ti   plyatsykar   em  gessen  zu  fragen  —  brät  man 

Imüis  h{9T  mäxt  mar  a   sösla  die    Blutegel    im     Fett,     oder 

üi?»  macht  man  eine  Sauce  dran?» 

36. 

Ti  Wöwarmei  hfet  amüwai  Die  c  Webermarie*  fragte  ein- 
ti  myatar  kfr6kt :  «loyatar,  es  mal  ihre  Mutter:  «Mutter,  ist 
syfar  wasar  e  tam  ferkla  tüwa,  reinea  Wasser  in  diesem  Zuber 
wü  tar  hienartrak  tren  es?»       da,  in  dem  dieser  Huhnermist 

sich  befindet?» 

37. 

Tewai'a  em  Apfarspa  hai  sa  Drüben  in  Ampfersbach  (An- 
amüwal  e  ma  hys  kametsikt«  nex  vonStossweier[Stüwaswir]) 
khä.  tamüwa  e§  na  ti  khäts  e  hatte  man  einmal  in  einem 
t9  khaiar  katysalt»  ün  bot  a  Hause  geschlachtet.  Da  schlich 
kruwas  §tek  fläi§  fürt,  yvü  sa  (ihnen)  die  Katze  in  den  Keller 
s  ena  wöra  sei,  e§  äinar  e  tar  und  entwendete  ein  grosses 
khats  nüwa^  karent;  äwar  ti  Stück  Fleisch.  Als  man  das  be- 
khäts  es  e  s  tan  ün  ti  läitar  merkte  (inne  wurde),  lief  Einer 
nüf  üf  ta  hoistok  ün  e§  t^rt  der  Katze  nach ;  aber  diese  lief 
cr,ar  ti  taxspära  kälofa.  «wärt,*  in  die  Tenne  und  die  Leiter 
khatsar,  ti^  wel  i/  prena!»  hinauf  auf  den  Heustock  und 
säit  ar  ün  nemt  ar  ti  läitar  schlüpfte  dort  unter  die  Dach- 
awak.  Sparren.     «Warte,    Bösewicht, 

dir  will  ich  einen  Streich 
spielen  (eig.  dich  will  ich 
brennen)!»  sagt  er  und  nimmt 
ihr  die  Leiter  weg. 

38. 

S  bet  amüwai  äinar  pim  ärt-  Es  fing  einmal  Einer    beim 

epfal    talwa    a    särar    läwanik  Kartoffeln      aushacken      einen 

kfäifja.  «tsäi,  was   fer   a  tüwat  Maulwurf  lebendig.  «Sag  (zeig), 

sä  i  jetsika«  e  tam  tüwa  ätü?»  was  für  einen  Tod  soll  ich  jetzt 

frökt'   ar  a  ätarar,  wü  üf  ara  Diesem    hier    anthun?»     fragt 

mat  eir)a  trä   kfi§rt   h^t,    «w^ls  er  einen  Andern,  der  auf  einer 

saka  sa  als  es  tar  wie§t§l  tüwat?»  Wiese    weiter    unten    W^asser- 

—  «e,  täs  khä  ix  ü^®  säka,»  furchen     zog,     «welches    sagt 

säit  tar  ätar,  «ti  älta  lit  hai  als  man  gewöhnlich,  sei  der  grau- 

ksäit,    läwanik   farkräwa   wära  samste  Tod?»  —  «Ei,  das  kann 

1  in  M.  fryoka.        2  kem^tsit.        »  ketyst.        *  nyor.       5  wkrt. 

ßtft  7   fvvnkt.  8  iY. 


«  hiets.        7  fryokt.        «  iX. 


—    432    — 

es  tar  erikst  tüwal.»  —  wü  ich  Euch  sagten.»  entgegnet 
sal9r  tas  h^rt ,  nemt  er  ta  der  Andere,  cdie  alten  Leute 
kröpfa  1  im  hakt  raet  a  tief-  pflegten  zu  sagen ,  lebendig 
lä/ti  lut  e  ta  pöta  ün  kheit  ta  begraben  werden  sei  der 
sarar  tri  im  t^kt  na  met  krüt  schlimmste  Tod.»  Als  jener  das 
tsya  im  säit :  «tüwa  khäs  jfe-  hört,  nimmt  er  den  Karsi, 
tsika  far^ka,  wen  ta  wet,  ty  hackt  damit  eine  ziemlich  tiefe 
wiestar  khäip  ! »  Vertiefung  in  den  Boden,  wirft 

den  Maulwurf  darein,  deckt  ihn 
mit  Erde  zu  und  sagt :  cDa 
kannst  du  nun  krepieren,  wenn 
du  willst,  du  wüstes  Aas!» 

39. 

«Sei  üiar  pyawa  o  em  ksäYj-  «Sind  eure  Söhne  auch  im 
faräin?  üsara  hai  sa  net  pakärt,  Gesangverein?  Den  Unsrigen 
ün  ar  h^t  tox  a  stem  äs  we  hat  man  nicht  gewollt,  und  er 
stek  fi§  ! »  —  « täs  kloi- w-i)^  hat  doch  eine  Stimme  wie  eine 
wäkar,  üsari  hai  pieti  na  käts  Bestie!»  —  «Das  glaube  ich 
tUari  stema,  ün  s  sei  na  fa  ta  wahrlich,  die  Unsern  haben 
kareT;std. »  beide  noch  ganz  andere  Stimmen, 

und  es  sind  noch  von  den  Ge- 
ringsten ! » 

40. 

Ti    H mei    h^t    ksäit       Die  H marie  sagte  zu 

tsü    6ram   mäitla :    «wen   i-/   s  ihrer  Tochter :    «Wenn   ich  es 

e  mina  eltara  kamä/t   hat«  äs  meinen    Eltern   gemacht  hätte, 

we  ty   e   mer,   tie  wiera   mar  wie  du  mir,  die  würden  mir's 

misiel  katsäikt  hä.»  —  «jüwa,  mein*  Seel'  gezeigt  haben!»  — 

6r  wära  säti  Vitara  khä  hä  !»  —  «Ja !  Ihr  werdet  wackere  Efltern 

«älawäi  pröfari  äs  ty  ! »  gehabt  haben  ! »  —    «Jedenfalls 

bravere  als  du  I » 


1  in  M.  kryopfe.        «  hat. 


VIII. 


Zillinger  Sprachproben. 

Sprichwörter  and  Kinderlieder  in  der 
Mundart  des  Dorfes  Zillingen  bei  Pfalzbarg. 

Gesammelt  von 

J.   Spieser. 

W  ie  bei  der  Herausgabe  meiner  früheren  Sammlung 
von  Münsterihäler  Sprichwörtern  im  zweiten  Jahrgang  dieses 
Jahrbuchs,!  kommt  es  mir  auch  hier  vor  allen  Dingen  darauf  an, 
zuverlässige  Sprachproben  zu  bieten.  Wer  es  je  vei*sucht  hat, 
sich  in  eine  fremde  Mundart  einzuarbeiten,  wird  die  Schwierig- 
keiten begreifen,  die  mit  solcher  Arbeit  verbunden  sind,  und 
etwaige  Irrtümer,  die  sich  trotz  aller  Sorgfalt  einschleichen 
können,  entschuldigen.  Ich  werde  für  Berichtigung  solcher  stets 
dankbar  sein. 

Was  von  der  Hirschländer  Mundart  mitgeteilt  ist,  verdanke 
ich  samt  und  sonders  der  Güte  des  Herrn  Lehrers  Andres 
in  Zabem,  dessen  Heimat  Hirschland  ist.  Ich  bin  ihm  über- 
haupt für  das  rege  Interesse,  das  er  an  dieser  Arbeit  nahm, 
zu  wärmstem  Dank  verpflichtet. 


^  Dieselbe  ist  seither  von  85  aaf  über  200  Sprichwörter  an- 
gewachsen. Der  Rest  wird  voraassichtlich  im  nächsten  Jahrbach 
encheinen. 


—     134    — 

Trotz  aller  Beobachtung  ist  es  mir  nicht  gelungen,  über 
das  Zillinger  r  ganz  ins  Reine  zu  kommen.  Wenn  auf  dasselbe 
noch  ein  anderer  Konsonant  folgt,  glaubte  ich  stets  ein  ganz 
kurzes  a  zu  hören,  etwa:  to*f  Dorf,  kä*ta  Garten,  ä«w8t  Ar- 
beit u.  s.  w.  Ich  wählte  dafür  das  Zeichen  ^,  Im  Anlaut 
schien  es  mir  sich  von  dem  r  meiner  Heimat^  das  stets  durch 
Vibrieren  der  Zungenspitze  hervorgebracht  wird^  nicht  zu  unter- 
scheiden. Ebenso  schwankte  ich  darüber,  ob  ich  «löwi^  (schaue) 
oder  löy,  phöw  (Pfau)  oder  phöy,  fraü  oder  fraw  schreiben 
sollte.  Folgt  ein  Vokal  nach,  so  hört  man  deutlich  ein  w 
(«Iöwai>  schauen);  folgt  aber  ein  Konsonant,  so  klingt  das  w 
vokalisch. 

Folgende  Beispiele  mögen  den  Vokal-  und  Diphthongen- 
bestand der  Hirschländer  Mundart  veranschaulichen  und  zugleich 
zeigen,  wie  notwendig  es  ist,  mundartliche  Sprachproben 
phonetisch  und  nicht  etymologisch  zu  schreiben. 

I.  Kurze  Vokale :  stil  Stiele  stel  stiUy  §t^l  sielley  stäl  StdUe^ 
awa  Augeny  stäl  Stally  mÖTQs*  frisch^  zart  {vom  Brot)y  kot 
Gotty  küt  gut,  hyt  Haut,  tröwa  trauen. 

II.  Lange  Vokale :  pir  Bter,  p^r  Birney  p^r  Beere,  par 
Bär,  säwa  sagen,  pär  haar,  pöm  Baum,  röt  rot,  röt  Rute, 
pyr  Bauer,  fröwa  fragen. 

III.  Kurze  Diphthonge :  Hit  lügt,  l^it  liegt,  käis  Geiss, 
Ziege,  fray  Frau,  tröy  (ich)  traue, 

IV.  Lange  Diphthonge :  fliit  fliegt,  kn^i  Knie,  l^it  legt, 
räit  regnet,  jäut  jagt,  plöy  Plage. 

In  Z.  steht  für  ö  (ö) :  ä  (ä) «  (mätjs,  päm) ;  für  ii  (ii) :  ei 
(ei)  (leit,  fl^it) ;  für  äi  :  ai  (kais) ;  für  ay :  au  (frau). 

I.  Sprichv7Örter 

in  Zillinger  Mandart  nebst  Angabe  der   Abweichungen   der 

Hirschländer  Mundart. 

1.  änor  när  mäxt  hünta^'t. 

2.  8  khü  e§8  wi  a  skk;  wä(n)  mar  neks   tren*  tut,  [ün  tö]* 
khän  mar  ä*  neks  arys  näma.  H.  ;  anen,  äu. 


1  6  (gedehnt:  6)  ist  ein  Laut  zwischen  ä  und  o,  etwa  wie  das 
0  in  franz.  komme, 

2  Doch  auch  ö  (H.  rot,  Z.  röt  Rat), 

5  ist.  Präs. :  i/^  sen,  ty  pes,  er  e§,  mar  (9r,  89)  sen;  Conj.  pras.: 
sSw,  —  s,  — ,9;  Conj.  imp. :  war,  —  s,  — ,9;  Imp. :  sfei,  seia;  bif. 
sen;  Part.:  k9wän. 

*  Das  in  [  ]  eingeschlossene  bleibt  in  H.  weg. 


—     135    — 

3.  a  kütar  khümat^rar  *  es  päsar  äs  9  slä;^tar  säfar.  * 

4.  a  kütar  leia*  sät  neks  (wän  mar  na  küt  änprey;!).  H. :  liia.^ 

5.  a  küt  wo't  feifjt*  a  küt  o't. 

6.  ema*  jöta  när  kfält  sin  khäp.  H. :  üma.  ^ 

7.  ema  ksäv]kti>*  ros  löyt«  mar  net  en  s  myl.  H. :  üma  kSerjkta. 

8.  em  träkijra  wäsar  khän  mar  six  net  sywar  wäSa. 

9.  as*  e§  khäm  myl  tsa  tröwa.  "^  H. :  s. 

10.  as*  es  khän  äprel  so  küt,  as*  snäit  am    pyr»   nox  üf  ta 
hüt.  H.  :  s,  s. 

11.  as*  pli®  a  jötar  was  ar  es,  nö  fält*   khän  snitar  iwar  ta* 

tax  ^^-  ^* '  ^y  ^^  ^^^^  ^' 

12.  as*  hat  sün  filmöl  a  plen[t]i   tyw^o  a-n-ä»'ps  kfÜY].  H. :  s. 

i3.  as*  ken  fil  katültixi  söf  en  äna  stäl.  H. :  s. 

14.  as  *  khümt  ä  *  wetar  a  tsit,  wü  t  *  khü  ta  wätal "  pryxt, 
H. :  s,  äu,  ta. 

15.  as  tat*"  als  kär^»  änar  a-n-au    kän*, "  wän   tar  äntar 
khäns  hat.  H. :  s  tat,  ken. 

16.  as*  wä«"!  khän  frosis  kapor,  äwar  artsöy.  >«  H. :  s. 

17.  fil  hä^*"  häni»  päl  a-n-ätj*.  H.  :  hetj,  eyj. 
iS.  fil  hün  sen  s  häsas  tot. 

19.  fil  pr^tara  mäxa  §mäli  k^tara.  i9 

20.  fre§i  wünta  sen  küt  häla. 

21.  für  am   t6iwal«>  khän    mar  six  h^ta,    äwar    für   ta    p^sa 
lit  net. 

22.  h6xmüt  müs  tswäig  Uta. 

23.  klan*  ün  khäk  wä'fl.  ta   krösa[-n-]  en   ta  träk.    H.  :  auch 
klin. 

2i.  kr^ni  winäxta*,  wisi  östara.  H. :  winä/ta. 


1  Anordner.        *  Arbeiter.        3  Lüge.        *  findet.         ^  vgl.  das 
t   in   Liksüm    Lixheim,   Wesüm  Weschheim   n.  s.  w.  ^  schaut. 

^  trauen.      ^  Bauer.      ^  bleibe;  Part. :  kaple  (H. :  keplew).       ^^  blinde 

Taube.  "  Schwanz.  i«  thäte.  Präs. :  tu,  —  s,  —  t,  —  n ;  Part : 
ketön.  13  gerne.  i*  geben.  Präs. :  ke,  —  s,  —  t,  kän  (H. :  ken) ; 
Conj.  imp. :  käp,  —  s,  — ,  kawe.  Part. :  kän  (H. :  ken).  i*  Vielfrass. 
^^  erzogen.  i^  Plnr.   von  hänt.    Andere   unregelmässige  Plorale 

sind:  fen  (fent  Feind),  fSilo  (f5w9l  Vogel,  dem.  fSiale),  hün  (hünt 
Hund),  khen  (khent  Kind),  kr^i  (kruk  Krag),  pUi  (plük  Pflng\  püwa 
(pft  Knabe),  sü  (sük  Schah).  18  haben.  Präs. :  hän,  hks,  hat,  hän ; 
Conj.  präs. ;  hftw,  —  «,—,«;  Conj.  imp. :  het,  —  §,  — ,  9 ;  Inf. : 
hau;  Part.:  khftt.  19  Güter.  m  Teafel.  vgl.  h&wa  Hafen,  Topf; 
0W9  Ofen;  swawal  Schwefel  a.  a. 


—    436    — 

25.  krös  ün  neks  nüts  sen  isw^n  falard. 

26.  küthail*  es  9  stek  fön  t9r  letwlixkhait  *.  H.  :  —  hat,  — 
khät. 

27.  l^tmäs*,  spena  farkas,  ün  pi  tä  ts  nä^t*  käs.  H.  :  lit- 
raäs,  >  s  nä^t  *  (nät). 

28.  Maria  kapün*  §et  t*  ^pla«  üf  l  hü't*»  ün  s  tsöwd[n]äs9 
f\i%  Maria  farkhentikür^  prerjt  s  lsöwa[n]ä.s9  wetarüm;  tar 
bailix*  Sänt  Kai  stölt  s  fö  für  ta  stal,  ün  lar  Sänt  Mänin 
tut  s  fols*  en.  H.  :  kapyH,  ta,  ta  hy't,  häli/,  fols.* 

29.  mar  haut  *  ta  päm  *  net  met  am  e''5ta  strai^*  äp.  H.  : 
hayt,  pöm,  sträy. 

30.  mar  khänt  ta  föwal^  an  ta  fatai*a. 

31.  mar  müs  älawil  mäyOy  tas  t*  kheri)r  em  to'^f  plit.  H. :  ta. 

32.  mar  müs  älawil  s  p^st  hofa,  s  islä^rt  khümt  fän  äsa.  ^ 

33.  mar  müs  n6  sdwa  :  prüna,  an  t6r  treiQk  i/  nimd*.  H.: 
nimä. 

34.  mar  müs  s  isa  smeta,  wän  s  wä^^m  es. 

35.  mar  müs  six  streka  nö*  tar  tökat*.  H.:  nö,  t^k. 

36.  mar  müs  ta  firöwat'  ts*  mo^jats  sü/a.  H. :  s. 

37.  mar  müs  t  frau*  pim  ^«"stalaip*  pröt  tseia*.  H. :  ta  fray, 
]äw,  tsiia. 

38.  mar  müs  tsüm  smet  k^n,  net  tsüm  smetal. 

39.  mar  r^t  fön  tar  khe'w, »  pets  äs*  sa  tö*  es.  H. :    pes,  to. 

40.  mar  wais*  an  sina  p6i*a,  wän  äntar  lit  6ra*  tsiti^^  sen. 
H. :  was,  ira. 

41.  met  krösa  hära  es  net  küt  khe»*sa[-n-]äsa,  sa  wäi'fa  -[n]  am 
t  M\*  an  ta  khop.io   H.  :  ta  slil. 

42.  met  §päk  föiQt  mar  t*  mis,  ün  met  lest  t*  lit.    H. :  ta. 

43.  met  tära  a'vval,  wü  mar  ümk^t,  farsütalt  mar  si^. 

44.  met  tar  käwaN^  es  s  a[-n-]  er,  äwar  met  am  lefal  kreit  * 
mar  mö.    H. :  krfeit. 

45.  mo'Jarllia  ün  wiwarwö  es  nometas  *  neks  m^.i*  H. :  nömetäs. 


1  In  H.:  lit  Licht,  vgl.  n&t  Nacht,  knat  Knecht,  ater^  Achtong; 
fl&8  Flachs,  was  Wachs,  w&se  wachsen  n.  s.  w.  Doch  sind  alle  diese 
Formen  veraltet.  2  AepfeL  *  Brettergerüst.  *  vollends ;  lo 
fols  vgl.  föri^ix  vorwärts ;  h&ls  HaLf,  klünsa  gUuMn,  glimmen,  tttr^e 
(H. :  thürsd)  Stmnk  [vgl  Monsterthal  torse) ;  haise  [H. :  hase)  heissen, 
^tinst  (H. :  sünst)  sonst.  »  Vogel.  ^  von  selbst,  so  wie  so. 

7  Feierabend.  »  Kirchweih.         »  reif.         »«  Kopf.         »  Gabel. 

IS  €  Morgenregen  und  Weiberweh  ist  Nachmittags  nichts  mehi:.» 


—    137    — 

46.  neks  hän  e§  a  ruiy  *  läwa,  äwar  äps*  es  küt.    H. .   r^wi^, 
äpas  1 

47.  parix  itn  täl  khüma  net  tsamd^  äwar  t  *  lit.    H. :  td 

48.  p^sar  9  lys  em  kryt  äs  kär  khän  flais  *.  H.  :  fläs. 

49.  pesar  a  stekal  pröt  em  säk  äs  a  fatar  uf  am  hüt. 

50.  p^r  i^läxt  kfär  äs  küt  kär^-^ 

51.  p6t§'  la  küt,  so  leis*  la  küt. 

52.  s  krös  sen*  es  a[-n-]  ör,  äwar  s  mä^t  ta  kältsäk    lar.    H. 
auch :  s  höfaHix  sen.& 

53.  so  fil  ta  äs  t*  frfesa  für  Jerjald*  kwdkara,  so  fil  wüya  no  * 
har  sen  sa  steh  H. :  ta,  nö. 

54«  sünaplekar,  raiasekar.? 

55.  t*  älta   kh6    kän*«   ta   pütar,   ün  t*  jürja  henara     l^ia 
aiara  *.  H.  :  ta,  ken,  ta,  ta  äiara. 

56.  tir,  wü  ta  säk  hfept,  es  krät   so   fil   äs  wi    tär,    wü   anen 
stekt. 

57.  täs  ros,  wü  ta  häwar  fart^nt,  täs  kr6it*  na  net.  H. :  krfeit. 

58.  tar  mfe**ts  trüka  ün  tar  äprel   nas^   feit  am  pyr  khesta*  ün 
fas.9  H.  :  khesta. 

59.  ta  TT/B  lit  6ra*  tfeytara  ün  ta  [-n-]äfma  lit  6ra*  khälwara  *<> 
sen  päl  alt  kanük.    H.  ira,  ira. 

60.  tar  krük  k^t  an  ta  prüna  pets  äs*  ar  präyt.    H. :  pes. 

61.  tar  man  khän  net  met  ros  ün  wäwa  pif(^a, "  was  t*  fraw 
em  fünüy  »  khän  fün  träwa.  H.  :  ta. 

62.  tar  p^t  häntal*  e^  neks  nüts.    H. :  hänal.'s 

63.  tar  wolaf*  farle't  t*  hör  äwar  t*  nypa**   net.    H. :  wolf, 
ta,  ta. 

64.  t*  kapranta  khen  föriyta  s  fir.   H.  :  ta. 

65.  t*  khen  ün  t*  nära  säwa  t*  wörat.    H. :  ta,  ta,  ta. 

66.  t  klaitara*  mäya  t*  lit  ün  t*  lümpa  t*  lis.  H.  ta  klätara, 
ta,  ta,  ta. 

67.  t*  nöwa  pasa  faia  küt.    H. :  ta. 

68.  t*  röwa  ün  l*  rekhäi^w  khüma  hey;a  nö.*  H. :  ta,  ta,^»  nö. 

69.  ts  näyts*  sen  äli  röti  kh^  swäi'ts.  H.  :  s  näyts  (näts). 

70.  tswön  ryyi  stän  mala  sälta  ran. 


*  etwas.         «  geg«ng«n.         *  bettest.         *  liegst.   Part. :   kela. 

^  Die  Patenschaft.         «  Georgstag  (23.  April).  "*  c Sonnenblicke,. 

Regengender».      >Kühe  geben.      ^  Fässer,  sonst  fdsera.       '0  Kälber 

"  Wagen  herbeif&hren.        »«  Schürze.        i»  Streit.         >*  Bosheiten. 

•  Di?  Re  ae  nnd  die  Rückkörbe  kommen  hinten  nach.» 


—    138    — 

71.  t*  stela  wäsara  sen  t*  äriySta  ^tätafräsare.  H. :  ta,  ta. 

72.  ümasünst  es  tar  tot,  ün  tar  säl  *  khost  s  läwa. 

73.  ümkakh^'t  es  a*  kfär,  äwar  net  krat  anys.  H.  :  äu. 

74.  um  s  kalt  kr6it  *  mar  tsükar.  H.  :  kr^it.« 

75.  ünfarsu^ft  smäkt  net. 

76.  wän  anar  käolt  wel  sen,  müs  ar  höiräta*,  ün  wän  ar 
katopt  vfe\  sen,  müs  ar  stä'wa,  H.  :  häiräta. 

77.  wän  a  phär  anäntar  förnäma,  so  khümt  änar  met  am  hämt 
tarfän*,  ün  tar  äntar  müs  näkiy  laufa*.  H. :  hemt  tafän, 
näka'tiy»  layfa. 

78.  wän  a  saT}^S9U  sätjla  wel,  säv^alt  sa  äsa  jÜT^k. 

79.  wän  mar  alt  wäU*  wi  a  khü,  Wt  mar  älfüU«  noy  ta[r]tsü. 

80.  wän  mar  a  stäniyar  äkar  hat  ün  a  krümar  plük,^  ün  a 
p^si  fraw  em  hys,  (tarnö)  hat  mar  krits  kanük. 

81.  wän  mar  pi  ta  wölaf  *  es,  müs  mar  met  na  hila.  H. :  wäf. 

82.  wän  mar  siy  evjar  t*  kl^ia  mesalt,  [ün  tö]  fräsa[-n-]  äna 
t*  söwa.ö  H.  :  ta,  ta. 

83.  wän  mar  ta  säta  hat,  für  ta  spot  pryyt  mar  net  soriya, 

84.  wän  ma.r  ta  wolaf  nänt*,  [ün  tö]  khümt  ar  karänt.  H. : 
wolf  nent. 

85.  wän  mar  t*  liii-'t  änämt,  müs  mar  sa  ä*  heta.  H. :  ta,  äu. 

86.  wän  mar  wel  höytsit  mäya,  müs  mar  6ra  tswai*  sen.  H. : 
ira  tswai. 

87.  wän  s  äna  net  pränt,  müs  mar  net  plösa. 

88.  wän  s  misal  sät  e§,  es  s  mal  petar. 

89.  wän  s  tar  kais  tsa*  wöl  es,  k^t  sa  üf  s  is  ün  prä^^t  a 
pän.    H.:  kais  sa. 

90.  wän  s  tüna't  iwar  ta  plüta»  wält,  [ün]  so  farsröka  jüt)  ün 
alt.  : 

91.  wän  tar  pär  am  l^ytmäs*  s  nöst  khän  trüka,  trat  ar  s* 
no/  amöl  söks  wüya  anen.    H.  :  litmäs,  s. 

92.  wän  tar  pätalmän  üf  s  ros  khümt,  so  ril  ar  s*  tsa  tot. 
H. :  s. 

93.  wän  tar  t^iwal  hÜY;riy  es,  fräst  ar  müka. 

94.  wän  t*  khätsa  fü^t  sen,  sen  t*  mis  maistar*.  H.:  ta,  ta, 
mä^tar. 


^  tar  säl  jener ;  man  sagt  in  Z.  auch  tar  min  ^tar  «mein  Vater». 
2  kriegt,  bekommt.  Z  :  Conj .  imp  :  kräy.t,  —  ^,  — ,  a  ;  Part. :  kr6it  (H. : 
kreit).  s  nackt.  *  Brennnessel.  ^  Präs. :  war,  —  s,  —  t,  wäre; 
Inf. :  wära  ;  Part. :  wer.  6  immer.  '*  Pflng.  8  Schweina.  ^  bloss, 
kahl,  nnbelaubt. 


—    -139    — 

96,  wän  t*  mos  fol  es,«  lauft*  sa  iwor.  H. :  lo,  layft. 

96.  wän  tswö  frawa  e'  ina  hys  sen,  es  äni   fsa*  fil.    H. :   sa. 

97.  war  en  slü«'pai  kapör  es,  tär  ta'f  en  khän  ätiwal  Slype*. 
H.:  slyfa.« 

98.  war  küt  §m6n,  tän  küt. 

99.  war  neks  woyt,«  kawent  neks. 

100.  war  net  khümt  Isü  räxtar  tsit,  tar  müs  näma,  was  iwri^^ 
plit. 

101.  war  nimänta*  tröyt,*  täm  es  net  tsa  tröwa.   H.  :  nimänt. 

102.  war  sijr  wais*  tsa  seka,  pry/t  si}^  net  tsa  peka.^  H. :  was. 

103.  war  tse'St*  khümt,  malt  tsö-^ät*.    H.  :  sö^st*. 

104.  was  fän  ta  khatsa  tö*  e§,  Wi  raysa.  H.J:  td. . 

105.  was  mar  an  am   pläts*  söyt,*    ferjt    mar  am  äntara.  H.  : 
pläts. 

106.  was  mar  arä'pt,  pryyt  mar  net  [tsa]  arhysa.'^ 

107.  was  mar  net  em  khop  hat,  nät  mar  en  ta  f^s.^ 

108.  was  mar  net  en  tar  hänt  hat,  khän  mar  net  h^pa. 

109.  was  mar  net  khän,  §töt  am  s  löra  w61  an. 

110.  was  mar  net  wais*,    mä^t  am  net  hais*.    H. :  was,  häs* 

111.  was  pät  s  mi^f,»  wän  tar  töiwal  ta  [-n-]  äntara  holt,  ün  i^^ 
müs  ta  fyrlön  patsäla? 

112.  was  si)r  patswait,  patret  s\i  ä.  H.  :  w.  s.  tswäit,  täs  tret 
siy  au. 

113.  wi  mar  en  ta  wält  sr^it,  §r^it  s  am  arköia*.    H.  :  ak^ia» 

114.  wi  s  mal  e§,  wä't  s  pröt. 

115.  wi  tar  här,  so  s  kMr.^ 

116.  wit  fäm  k§ets  ket  älti  sälläta. 

117.  w^ü  fil  he'te  sen,  wä't  Släyt  kh^t. 

118.  wü  kanük  es,  kr^it*  tar   hünt  phäfar   üf   t*    süp.    H.  : 
kräit,  ta. 

119.  wü  neks  es,  hat  tar  khaisar*  s  räyt  farlör.    H.  :  khäsar. 

120.  wü  tar  t^iwal  net  äna  wel,  i^ekt  ar  a  älti  fraw  äna.io 


^  elende  Schahe.  ^  schlupfen.  8  wagt.  ^  traut.  ^  bückeu. 
( scheut.  '^  ersparen.  ^  d.  h.  wenn  man  die  Gedanken  nicht  an- 
strengt (etwas  vergisst),  muss  man  die  Füsse  anstrengen.  ^  hilft  es 
mir.        ^0  Geschirr,  Werkzeuge.        ^^  hin. 


—    440    — 


II.   IQinderlieder. 
A.  Zillinger  Mundart« 


1. 


6. 


Haid  papaid/ 
£lä  s  pipdld*  161 ! 
s  l^il  tar  khän  käkal  s 
ün  fräsl  l9r  tin  pröt. 

2. 

Hailarlüm,! 

t  fraw  es  krüm, 

sa  hat  9  krümar  Isöwa,* 

sd  hypelt»  en  lar  stüp  arüm 

ün  hat  d  sak  fol  sl^wa.* 

3. 

Hau  häka-n-äp,  liau  heka-n-äp 
ün  los  mar  1  stypa^  stön; 
lauf  ta  söna  mailla^  nö 
ün  los  mar  t  wysta  k^n! 

4. 

Maikhdwar,  fl^i ! 

tin  föilar  e§  em  kr6i,^ 

tin  mütar  es  em  Owarlänt,*« 

se  preY;t"  tar  a  s^nas  rösapänt. 

5. 

Pitäa  pätsa  khü/a  1 1 

tar  pök,  tär  hat  s  karüfa : " 

«war  wel  küti  khüxa  pa^a, 

tär  müs  häwa  ^^  sewa  sä^ra : 

pütar  ün  smälts, 

aiar'  ün  sälts, 

melix  ün  mal, 

ün  säfra  mä^t  la  khü/a  käl.» 


Träi  hün  ün  träi  han !  * 
ty  min  16war  Kresän !  ** 
ly  häis  mar  s  farspro/, 
ün  j6ts  mü^s  mi/^  ä  hän. 

7. 

W6warla,  wäwarla,  wek,  wek, 

wek  !i 
mäx.  ni^r  s  lux  trfei  ^la*»  tek, 
los  ta  §püla  laufa ; 
i/^  wel  tar  a  wäka  khaufa. 

8. 

Wisi  pl^mla,  röti  pl^mla 
wäksa-n-en  ta  h^ka, 
maitala,  wän  t'  a  §metsaU*  wet, 
sa  mü§  tix  net  farStöka. 


B.  Hirsohläiider  Mvndart. 

9. 

Reita,  röita  ros!^ 

sa  Päsal  st^t  a  sios^ 

sa  P^sal  §1^1  a  härahys, 

to'^t  Iowa"  tr^i  s^ni  jünfar'  arys. 

ta  änt  §pent  sit,is 

ta  äntar  §pent  wit^ 

ta  tret,  te  spent  a  röta  rok 

für  ünsara  klina  käisapok.  i». 


1  Sinnloses  Flickwort  ^  Hühnchen.  »Ei.  *  Zehe 

^  hüpft.  6  Schlehen.  ?  Strünke.  »  M&dchen.         »  Krieg. 

w  Oherelsass.  *i  bringt.   Part.:   keprüiTi;   Conj.   imp    i/  prijft. 

12  sonst  «kerüft»  gerufen.  i^  sonst  <hän»  haben.  ^*  Christian. 
>ö  Ellen.  >^  KüsBchen.  ><  schauen.  >^  Seide.  ^^  Die  iwei 
letzten  Zeilen  lauten  in  Zillingen : 

«t  tret  spent  hawarströ, 
ün  t  f^^t  ma/ts  krät  9sö  » 


IX. 


Drei  Mitforschern  zum  Gedächtnis 


Von  E.  Mariin. 


Johann  Friedrich  Kräuter. 

Uie  elsässische  Dialektforschung  hat  in  Joh.  F.  Kräuter, 
welcher  am  2.  September  1888  zu  Bern  starb,  einen  ausge- 
zeichneten Mitarbeiter  verloren.  Seine  wissenschaftliche  Thätig- 
keil  beschrankte  sich  jedoch  nicht  auf  das  Gebiet  unserer 
Mundarten :  alles  was  die  Lautlehre,  sein  besonderes  Studium, 
betraf,  hat  er  sich  nicht  nur  im  Anschluss  an  fremde  Unter- 
suchungen anzueignen,  sondern  auch  durchaus  selbständig  nach- 
prüfend und  beobachtend  zu  fördern  gesucht. 

Die  Lautlehre  ist  ein  Grenzgebiet,  auf  welchem  Philologie 
und  Naturwissenschaft  (diese  als  Akustik  und  Physiologie) 
zusammentrefTen.  Die  Kenntnis  der  lebenden  und  der  Sprachen 
der  Vergangenheit,  der  Schriftsprache  und  der  Mundarten  gieht 
das  Material,  für  dessen  Verwertung  zum  Aufbau  einer  Wissen- 
schaft die  naturwissenschaftliche  Methode  massgebend  ist :  Beob- 
achtung mit  möglichst  objektiven,  vor  Willkur  und  Selbst- 
täuschung schützenden  Hilfsmitteln,  wo  möglich  Anwendung 
des  Experimentes,  welches  oft  wiederholt  und  rein  auf  die 
gestellte  Frage  gerichtet  werden  kann.  Gerade  auf  diesem  Ge- 
biete lag  nun  Krauters  Neigung  und  Begabung.  Er  beschäftigte 
sich  viel  mit  physikalischen  Untersuchungen,  er  konstruierte 
Apparate,  er  prüfte  immer  und  immer  wieder  und  überzeugte 
sich  wohl  selbst  gelegentlich,  dass  auf  Wegen,  die  anfangs  viel 
versprachen,  das  Ziel  nicht  zu.  erreichen  war. 


—    142    — 

Zu  dieser  Art  der  Forschung  führte  ihn  seine  Anlage,  aber 
auch  jene  hat  auf  seinen  Charakter  und  in  gewisser  Weise 
auch  auf  sein  Schicksal  zurückgewirkt.  Um  ganz  unbeeinflusst 
durch  andere  zu  forschen  und  zu  urteilen,  zog  er  sich  mehr 
und  mehr  zurück  und  kannte  zuletzt  ausserhalb  der  Familie 
keine  andere  Erholung  mehr  als  einsame  Spaziergänge ;  die  fast 
leiden schatH liehe  Verfolgung  seiner  wissenschaftlichen  Absichten 
musste  vielfach  als  Eigenheit  und  Sonderlingswesen  erscheinen. 
Wie  er  wissenschaftlich  nur  das,  was  er  selbst  wahrnahm,  an- 
erkennen konnte,  so  schien  er  auch  im  Leben  nur  unmutig 
manche  Schranke  zu  empfinden,  welche  in  unseren  so  vielfach 
veiwickelten  Verhäitnissen  nun  einmal  nicht  zu  durchbrechen 
ist.  Daher  auch  wohl  seine  heftige,^zuweilen  herbspottende  Art, 
seine  Gegner  zu  bekämpfen  und  gerade  gegen  die  angeseheneren 
unter  ihnen  die  entschiedensten  Ausdrücke  zu  gebrauchen. 
Dadurch  hat  er  der  Anerkennung  seiner  Arbeiten  eher  ge- 
schadet, aber  freilich  auch  seinen  Ausführungen  einen  Reiz 
gegeben,  welcher,  in  Verbindung  mit  der  Klarheit  seiner  An- 
sichten, auch  jetzt  noch  auf  den  Leser  wirkt. 

J.  F.  Kräuter  war  geboren  zu  Strassburg  am  12.  Februar 
1846  als  Sohn  eines  Buchhändlers.  Er  erhielt  seinen  Unter- 
richt auf  dem  protestantischen  Gymnasium  sfeiner  Vaterstadt, 
von  1863  ab  auf  dem  höheren  Gymnasium  zu  Bern,  welches 
er  1865  mit  der  dortigen  Universität  vertauschte,  um  nament- 
lich unter  der  Leitung  von  Prof.  Rettig  klassische  und  gei- 
manische  Philologie  zu  studieren.  Durch  das  Los  vom  fran- 
zösischen Militärdienst  frei  geworden,  war  er  von  1868  ab  eine 
Zeit  lang  Hauslehrer  bei  Baron  von  Heye  auf  Schloss  Uhenfels 
bei  Urach,  dessen  Töchter  er  unterrichtete.  Nach  dem  Krieg 
fand  er  in  seinem  Heimatland  bald  eine  Stelle  in  dem  neu- 
organisierten Schulwesen,  die  er,  von  früh  an  aufrichtig  deutsch 
gesinnt,  gern  übernahm.  Durch  Verfügung  vom  15.  September 
1871  wurde  er  zum  kommissarischen  Lehrer  am  Gymnasium 
zu  Saargemünd  ernannt,  am  1.  Oktober  trat  er  sein  Amt  an. 
Am  1.  Juli  1872  erfolgte  die  Beförderung  zum  ordentlichea 
Lehrer.  Am  30.  Oktober  1884  verheiratete  er  sich  mit  einer  ihm 
verwandten  Dame  aus  Bern,  welche  selbst  als  Schriftstellerin 
sich  Anerkennung  erworben  hatte,  Sie  schenkte  ihm  zwei 
blühende  Kinder,  und  es  gestaltete  sich  sein  häusliches  Leben 
in  der  glücklichsten  Weise.  Doch  schon  im  Sommer  1887  sah 
er  sich  genötigt,  einen  längeren  Urlaub  zu  nehmen,  um  eine 
bedrohliche  Brustkrankheit  auszuheilen.  Er  sollte  nur  noch  auf 
kurze  Zeit  in  seine  Lehrthätigkeit  zurückkehren.  Als  er  sein 
Ende  nahe  fühlte,  wünschte  er  nur  noch  —  und  dieser  Wunsch 
ward  ihm  erfüllt  —  am  Sedanstag  zu  sterben. 


—    143    — 

Krauters  ]itterarische  Leistungen  bestehen  in  einer  für 
sich  erschienenen  Arbeit  «Zur  Lautverschiebung  »,  Strassburg, 
Trübner  1877;  einem  Programm  des  Gollegiums  zu  Saarge- 
münd  1873  «  Ueber  neuhochdeutsche  und  antike  Yerskunst  ]» ; 
und  in  einer  grossen  Anzahl  von  Artikeln^  welche  in  Fachzeit- 
schriften erschienen  sind.  Von  diesen  standen  ihm  auch  die 
angesehensten  zu  geböte  und  veranlassten  ihn  überdies  zu 
einer  Reihe  von  Recensionen  insbesondere  über  Werke  laut- 
physiologischen  Inhalts.  Noch  zuletzt,  nach  seinem  Tode,  ist 
ein  derartiger  Artikel  im  Anzeiger  für  deutsches  Altertum  XV 
(1889)  S.  1 — 0  zum  Abdruck  gekommen.  Schriften  über  fran- 
zösische Grammatik  besprach  Kräuter  besonders  inl  Literatur- 
blatt für  germanische  und  romanische  Philologie. 

Ich  versuche  es,  die  einzelnen  Fragen,  welche  Kräuter 
hauptsächlich  beschäftigten,  mit  Bezug  auf  die  einzelnen  Arbeiten 
aus  seiner  Feder  aufzuzählen.  Zunächst  galt  es  eine  Uebersicht 
der  Laute,  welche  an  der  Sprache  unterschieden  werden,  zu 
gewinnen  und  wohlgeordnet  vorzuführen,  und  K.  verölTent- 
lichte  hierzu  «:  Das  physiologische  System  der  Sprachlaute  )>  in 
Reicherts  und  du  Bois-Reymonds  Archiv  für  Anatomie,  Physio- 
logie und  wissenschafthche  Medicin  1873,  S.  449 — 477,  mit 
manchen  eigenen  Gedanken.  Näher  an  seine  eigentliche  Auf- 
gabe trat  er  heran,  indem  er  diese  allgemeinen  Sätze  auf  die 
deutsche  Sprache  zur  Anwendung  brachte  und  durch  einzelne 
Beobachtungen  noch  verfeinerte.  Er  zeigte,  dass  wir  in  der 
ober-  und  mitteldeutschen  Aussprache  die  Tenues  k  p  t  meist 
mit  den  geschriebenen  Medien  g  h  d  zusammenfallen  lassen, 
im  Anlaut  aber  durch  Aspiration  davon  unterscheiden,  so  dass 
z.  B.  in  Korn  hinter  k  ebenso  ein  h  zu  hören  ist  wie  in 
Trinkhorn:  c  Die  nhd.  Aspiraten  und  Tenues »  in  Kuhns 
Zeitschrift  f.  vergleichende  Sprachforschung  XXI  (1873)  S.  30 
bis  66;  Michaelis  Zs.  f.  Stenographie  u.  Orthographie  XXI  (1873 
S.  34—43.  Gegen  die  Bezeichnung  der  Medien  und  Tenues 
als  Lenes  und  Foiies,  also  als  schwächer  oder  stärker  aus- 
gesprochene Laute  wendete  er  sich  auf  das  entschiedenste: 
Anz.  f.  deutsches  Alt.  XII  (1886)  S.  121  ff.  Auf  den  Konsonan- 
tismus der  heutigen  Gemeinsprache  bezog  sich  ferner  die  Ab- 
handlung «cDie  Prosodie  der  nhd.  Mitlauter»  in  Paul  und 
Braunes  Beiträgen  II  (1876)  S.  561 — 573,  worin  bemerkt  ist, 
dass  die  Doppelschreibung  lly  nn  u.  s.  w.  keineswegs  eine  dop- 
pelte Aussprache  bedeute,  indem  z.  B.  in  alle  das  U  nicht 
langer  dauere  als  i  in  Ahle,  so  dass  vielmehr  durch  die  Ver- 
doppelung des  Konsonanten  nur  die  Kürze  des  vorhergehenden 
Vokals  bezeichnet  sei ;  Fälle  wie  annehmen  sind  natürlich 
anders  aufzufassen  und  bestätigen  nur  die  Beobachtung.  Solch  e 


—    144    — 

phonetische  Untersuchungen  wandte  K.  in  seiner  Schrift  cZur 
Lautverschiebung  j>  auch  auf  die  ältere  Sprache  an ;  von  all- 
gemeinerer Bedeutung  ist  namentlich  seine  Unterscheidung  der 
Selbstlauter  und  Mitlauter  von  den  Vokalen  und  Konsonanten^ 
die  man  sonst  damit  zusammenfallen  Hess :  ihm  war  z.  B.  in 
Eier  das  i  nur  ein  Mitlauter;  vgl.  auch  Anz.  f.  deutsches 
Alt.  III  (1877)  S.  14.  Mit  Recht  wendet  sich  K.  gegen  die 
Regel :  im  Nhd.  sei  jede  offene  Silbe  lang,  jede  geschlossene 
kurz :  Neue  Jahrbücher  für  Philologie  und  Pädagogik  II.  Abt. 
1879,  S.  401  ff. 

Aus  der  Lautlehre  ergel)en  sich  nun  weitere  Folgerungen, 
zunächst  für  die  Verskunst.  Ganz  vortrefflich  zeigt  K.  in  dem 
schon  angeführten  Programm  von  1873,  dass  der  musikalische 
Vortrag,  den  wir  als  ursprünglich  aller  Poesie  eigen  ansehen 
müssen,  immer  die  Verhältnisse  der  Prosarede  zu  rhythmischen 
Zwecken  verändere.  Selbst  in  unserer  Deklamation  ist  dies 
sichtbar :  Schiller  sagt  in  Don  Carlos  3,  10  «  Stolz  lieb  ich  den 
Spanier »  und  giebt  dem  letzten  Wort  drei  Silben,  während 
es  in  gewöhnlicher  Rede  nur  zwei  hat.  Die  französische  Bühnen- 
deklamation lässt,  um  den  Eindruck  der  Natürlichkeit  zu  machen,, 
die  von  den  Dichtern  als  silbenbildend  gezählten  e  m  uets  weg: 
Zs.  f.  d.  Gymnasialwesen  XXXV  (1881)  S.  746;  Zs.  f.  neufranz. 
Sprache  und  Literatur  III  (1882)  S.  583  ff. 

Sodann  ist  es  die  Orthoepie,  d.  h.  die  Lehre  von  der 
richtigen  Aussprache,  welche  in  manchen  streitigen  Fällen  nach 
den  Grundsätzen  der  Phonetik  zu  bestimmen  ist.  So  trat  Kräuter 
für  die  Aussprache  des  g  nach  süddeutscher  Weise  als  die 
allein  richtige  in  gehobener  Rede  ein,  und  die  in  diesem  Sinne 
erlassenen  Verordnungen  für  die  Berliner  Hoftheater  gaben  ihnv 
eine  wahre  Genugthuung :  Musikalisches  Wochenblatt  X  (1879) 
429  ff.,  Blätter  f.  d.  bayerische  Gymnasial-  und  Realschulwesen 
XV  (1879)  373  ff.,  Herrigs  Archiv  LXIII  (1880)  123,  Anz.  f. 
d.  Alt.  XII  (1886)  S.  128  ff. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  aber  musste  die  Phonetik  für 
die  Orthographie  werden,  sobald  es  darauf  ankam,  die  Schrei- 
bung mit  der  gesprochenen  Rede  in  Uebereinstimmung  zu. 
bringen.  Bekanntlich  hat  die  deutsche  Orthographie  sich  in  ein- 
zelnen Punkten  noch  im  Laufe  unseres  Jahrhunderts  geändert; 
ja,  eine  völlige  Umgestaltung  wurde  durch  Jacob  Grimm  und 
andere  Germanisten  in  Anregung  gebracht,  bei  welcher  ins- 
besondere der  Anschluss  an  das  saubere,  durchsichtige  System 
der  mittelhochdeutschen  Schreibweise  gesucht  werden  sollte^ 
Dieser  etymologischen  Behandlung,  welche  zwar  in  sehr  ver- 
schiedenen Stufen,  doch  bei  einer  grossen  Zahl  von  Sprach- 
forschem bereits   Anklang  gefunden  hatte,    stellte  sich  R.  v.. 


—     145    — 

Räumer  entgegen,  welcher  mit  Recht  die  übergrosse  Schwierig- 
keit einer  orthographischen  Reform  hervorhob  und  betonte, 
dass  eine  ganz  Deutschland  gemeinsame,  wenn  auch  hie  und 
da  fehlerhafte  Rechtschreibung  noch  immer  einer  besseren,  aher 
nur  von  einem  Teile  Deutschlands  angenommenen  vorzuziehen 
sei.  Raumer  bemerkte  weiter,  dass,  wenn  an  dem  herkömm- 
lichen Gebrauche  etwas  verändert  werden  solle,  wie  namentlich 
in  gewissen  schon  zweifelhaft  gewordenen  Fällen,  nicht  die 
Etymologie,  nicht  der  nächste  Anschluss  an  einen  älteren  Sprach- 
zustand, sondern  die  Phonetik  den  Ausschlag  geben,  also  die 
möglichst  genaue  Wiedergabe  des  gesprochenen  Lautes  erstrebt 
werden  müsste.  Der  preussische  Kultusminister  Falk  berief  im 
Januar  1876  eine  orthographische  Konferenz  nach  Berlin,  welche 
Raumers  Vorschläge  begutachten  sollte.  An  der  lebhaften  Ver- 
handlung, welche  dieser  Schritt  in  den  Zeitungen  und  Zeit- 
schriften hervorrief,  beteiligte  sich  auch  Kräuter.  Hatte  er  schon 
1873  in  Michaelis  Zs.  f.  Orthographie  S.  51  eine  Arbeit  von 
Berliner  Gymnasiallehrern,  welche  wesentlich  das  Herkömmliche 
zusammenfassten,  gebilligt,  so  hielt  er  auch  später  die  Sache 
für  noch  nicht  spruchreif:  Herrigs  Archiv  f.  d.  Stud.  d.  n. 
Spr.  LV,  129  fg.  (Braunschweig  4876),  und  äusserte  sich  über 
das  Ergebnis  der  orthographischen  Konferenz,  welche  weder 
den  Raumerschen  Vorschlägen  zustimmte,  noch  unter  sich 
einig  war,  sehr  abfallig:  Herrigs  Arch.  LVI  (1876)  311  fg. 
Der  Erfolg  bestätigte  dies  Urteil :  das  preussische  Ministerium, 
welches  inzwischen  auf  Herrn  v.  Puttkamer  übergegangen  war, 
griff  auf  Raumers  Vorlage  zurück,  welche  dann  für  die  Schul- 
orthographie massgebend  wurde.  Auch  die  Mängel  dieser  Vor- 
lage setzte  Kräuter  auseinander :  Magazin  f.  d.  Lit.  des  In- 
und  Auslandes  1883,  756.  Insbesondere  kämpfte  er  gegen  das 
82  heftig  an  :  Michaelis  Zs.  f.  Stenographie  und  Orthographie 
1875  S.  73  fg.,  Journal  f.  Buchdruckerkunst  1879,  487  fg., 
507  fg.,  «Ein  orthographisches  Ungeheuer  »  Herrigs  Archiv  LXII, 
1879,  193.  Die  Frage  nach  der  Bezeichnung  der  s-Laute  ist 
namentlich  dadurch  erschwert,  dass  die  lateinische  Schrift  (An- 
tiqua) von  der  sogenannten  deutschen  (Fraktur)  hierin  abweicht. 
Die  Abschaffung  dieser  letzteren  befürwortete  auch  Kräuter 
auf  das  lebhafteste:  Mag.  f.  d.  Lit.  d.  In-  und  Auslands  1885, 
748  =  Reform,  Zs.  d.  Ver.  f.  vereinfachte  Rechtschreibung 
1886  S.  25  fg. 

Was  der  Schriftsprache  gegenüber  an  unüberwindlichen 
Schwierigkeiten  scheiterte,  das  war  an  den  Mundarten  durchaus 
durchführbar  und  durchführenswert :  eine  genaue  Bezeichnung 
der  gesprochenen  Laute.  Es  kam  nur  darauf  an,  so  einfach,  so 
klar  und  so  umfassend   wie  nur  möglich  die  Zeichen   für   die 

10 


—    140    — 

Laute  zu  wählen.  Hier  ist  Krauter  in  jeder  Weise  am  glück- 
lichsten gewesen.  Seine  Art,  mit  Benutzung  fast  nur  der  über- 
lieferten Schriflzeichen  Klang,  Hervorbringungsweise ,  Dauer 
der  Laute,  sowie  bei  den  Vokalen  die  etwaige  Nasalierung  zu 
kennzeichnen,  ist  vollkommen  durchdacht  und  gegenüber  zahl- 
reichen Vorschlägen  anderer  auch  aus  späterer  Zeit  wohl  vor- 
zuziehen. Kräuter  hat  sie  mehrfach  als  c  Zwölf  Sätze  über 
wissenschaftliche  Orthographie  der  Mundarten  »  zusammengefasst 
und  besonders  ausführlich  dargelegt  in  Frommanns  ZeitschriH: 
Die  deutschen  Mundarten  Bd.  VII  (Halle  4877)  S.  305—335; 
vgl.  dazu  Herrigs  Archiv  LVIII  (1877)  S.  43  fg.,  Anz.  f.  d. 
AU.  IV  (1878)  S.  299  fg.,  Bartschs  Germania  23  (1878)  S.  123  fg., 
Korrespondenzblatt  f.  niederd.  Sprachforschung  (1879)  S.  2  fg., 
e Grundgesetze  der  orthographischen  Wissenschaft»  Zs.  f.  Orthogr. 
(1881)  S.  170  fg. 

Diese  Schreibung  der  mundartlichen  Laute  hat  dann  nament- 
lich auch  bei  denen  Annahme  gefunden,  welche  sich  mit  den 
elsassischen  Dialekten  befasst  haben,  bei  Mankel,  Lienhard^ 
Spieser  u.  a.  Einzelne  Abweichungen  wurden  nur  aus  Rück- 
sicht auf  den  Typenvorrat  der  Druckerei  und  auf  leichtere 
Aneignung  seitens  der  Leser  für  nötig  befunden. 

Die  Kenntnis  der  elsässischen  Mundarten  hat  Kräuter  auch 
in  historischer  Beziehung  erheblich  gefordert,  insbesondere  dui'ch 
seinen  Aufsatz  über  «  die  schweizerisch-elsässischen  ei,  öy,  oh 
für  alte  l,  p,  iZ»:  Zs.  f.  d.  Alt.  21  (1877)  S.  258  fg.,  femer 
durch  die  in  Birlingers  Alemannia  IV  (1877)  S.  255  fg.,  V 
(1877)  S.  186  fg.  abgedruckten  Untersuchungen  «  Das  elsässische 
y  für  gemeinalemannisches  u  ]»  und  cc  Die  mitlautenden  Längen 
im  Altelsässischen  »,  cc  Die  alten  g  und  j  im  Elsässischen  j^. 

Eine  umfassende  Darstellung  gedachte  er  von  dem  Stra:i:<- 
burger  Dialekt  zu  geben.  Die  Arbeit  sollte  schon  1874  gedruckt 
werden,  und  ein  Teil  fand  sich  handschriftlich  in  Reinschrift 
unter  den  nachgelassenen  Papieren.  Allein  auch  dieser  Teil 
zeigt  durch  spätere  Zusätze,  Striche  und  Umarbeitungen,  dass 
Kräuter  selbst  mit  dem  ersten  Entwurf  später  nicht  ganz 
zufrieden  war.  Immerhin  wird  diese  Arbeit  nicht  verloren  gehen. 
Nach  einer  gütigen  Mitteilung  der  verwitweten  Frau  Dr.  Kräu- 
ter hatte  der  Verfasser  zuletzt  noch  gewünscht,  dass  sie  in 
meine  Hände  gelegt  werde :  sie  wird  für  unser  elsässisches 
Idiotikon  und  die  sich  daran  anschliessenden  grammatischen 
Arbeiten  dankbar  benutzt  werden. 

Ich  schliesse  diese  Uebersicht  über  Kräuters  Arbeiten  mit 
dem  Hinweise  auf  einige  Aufsätze  allgemeineren  Inhalts,  welche 
in  anziehender  Weise  die  von  ihm  wissenschaftlich  behandelten 
Gegenstände    einem    grosseren    Leserkreise  zugänglich  machen 


—    147    — 

sollen :  « Sprache  und  Schrift »,  Zs.  f.  Orthogr.  I,  Rostock 
1880|8i,  «Die  Verkommenheit  der  Mundarten»,  Arch.  f.  n. 
Spr.  LVIl  (1877)  189—210.  Manche  eigentümliche  Gedanken 
und  die  klare,  lebendige  Darstellung  werden  auch  jetzt  noih 
den  Leser  dieser  Aufsätze  anziehen  und  fesseln. 

Wilhelm  Mankel. 

Auf  dem  Gebiet  der  elsassischen  Dialektforschung  ist  auch 
W.  Mankel  thätig  gewesen ;  seine  Bearbeitung  einer  elsässischen 
Mundart  sichert  ihm  einen  bleibenden  Anspruch  auf  unseren 
Dank. 

Wilhelm  Mankel  war  geboren  am  16.  August  1881  zu 
Wachenbuchen  in  Hessen,  im  jetzigen  Regierungsbezirk  Kassel. 
Sein  Vater  war  Förster.  Seine  Ausbildung  erhielt  er  auf  der 
Oberrealschule  in  Hanau,  wo  er  auch  von  1855  bis  1860  als 
Lehrer  an  der  Bürgerschule  thätig  war.  Am  4.  Juli  1858  ver- 
heiratete er  sich  mit  Amalie  Langsdorf,  der  Tochter  eines  Lehrers, 
die  ihn  nach  langer  glücklicher,  wenn  auch  kinderloser  Ehe 
überleben  sollte.  1860  an  die  Realschule  zu  Hanau  übergegangen, 
kehrte  er  von  1864  ab  zu  den  Studien  zurück  und  hörte  von 
Ostern  1863  bis  1864  in  Paris  die  Vorlesungen  an  der  Sorbonne 
und  am  College  de  France;  bezog  dann  von  1864  bis  1866  die 
Universität  Marburg  und  sah  sich  hier  insbesondere  durch  den 
Sprachforscher  Justi  gefordert.  1866  ward  er  als  ordentlicher 
Lehrer  an  der  Realschule  in  Hanau  angestellt,  wirkte  von 
Ostern  1874  bis  Herbst  1875  an  der  höheren  Bürgerschule  zu 
Frankfurt  a.  M.,  hierauf  ein  halbes  Jahr  an  der  Sekundärschule 
zu  Winterthur,  ward  1876  an  der  Realschule  zu  Münster  im 
Oberelsass  angestellt  und  ging  von  hier  aus  zu  Ostern  1882  an  die 
Realschule  zu  St.  Johann  in  Strassburg  über.  Am  28.  Januar  1889 
raffte  ihn  eine  rasch  sich  entwickelnde  Brustkrankheit  hinweg. 
An  seinem  Grabe  sprach  Herr  Direktor  Wingerath  mit  vollster 
Anerkennung  von  der  ausgezeichneten  Treue  und  Gewissen- 
haftigkeit, mit  welcher  Mankel  sein  Lehramt  verwaltet  hatte. 

Dieser  Zug  gewissenhafter  Sorgfalt  ist  nun  auch  den  wissen- 
schaftlichen Arbeiten  Mankels  eigen.  In  Münster  hatte  er  im 
Auftrage  der  Realschule  zwei  Schriften  veröifentlicht :  eine  Fest- 
rede zu  Kaisersgeburtstag,  « Ueber  die  Traue  in  Sage  und  Dich- 
tung des  deutschen  Volkes  (Colmar  1877)  »,  und  eine  Programm- 
abhandluug,  «Ueber  das  Sinnenleben  und  dessen  Entwickelung 
zur  Intelligenz»  (Colmar  1877).  Zugleich  sammelte  er  in  Münster 
den  Stoff  zu  mundartlichen  Arbeiten,  die  er  in  Strassburg 
vollendete.  In  den  Strassburger  Studien  Bd.  II.  S.  113 — 2W, 
auch  in  Sonderabdruck,  Strassburg  1883,  erschien :  «  Die  Mund- 


—     148    — 

aii  des  Münsterthales^  grammatisch-lexikalischer  Beitrag  zur 
Erforschung  der  deutschen  Sprache  im  Elsass.i»  Die  gram  malische 
Einleitung  erweiterte  Mankel  zu  einer  €  Laut-  und  Flexionslehre 
der  Mundart  des  Münsterthaies  i),  welche  er  als  Strassburger 
Doktordissertation  1886  drucken  hess. 

Die  zuletztgenannten  Arbeiten  Mankels  bieten  eine  treff- 
liche, auch  phonetisch  höchst  soi^faltige  Sammlung  des  Sprach- 
schatzes einer  Mundart  des  Oberelsass,  welche  infolge  ihrer 
Abgeschlossenheit  eine  besondere  Reinheit  und  Fülle  bewahrt 
hat.  Im  Wörterbuch  ist  mit  erstaunlichem  Fleisse  alles  zur 
Vergleichung  herangezogen,  was  in  verwandten  Dialekten  eben- 
falls vorliegt.  Eine  auserlesene  Bibliothek  hatte  Mankel  sich  zu 
diesem  Zwecke  selbst  gesammelt. 

So  war  er  denn  in  vorzuglicher  Weise  vorbereitet  zur  Mit- 
arbeit an  einem  Elsassischen  Idiotikon,  welches  —  mit  Be- 
nutzung des  von  August  Stöber  lebenslang  gesammelten  Stoffes 
—  nach  dem  Muster  hauptsächlich  de«  neuen  Schweizerischen 
Idiotikons  geplant  wurde.  Diesen  Plan  entwickelte  MaUkel  in 
einem  anregenden,  klaren  und  reichhaltigen  Vortrag  in  der 
allgemeinen  Versammlung  unseres  Zweigvereins  1887.  Der  Aus- 
führung dieses  Plans  die  ruhigen  Tage  des  kommenden  Alters 
zu  widmen  war  seine  Hoffnung.  Sie  sollte  sich  nicht  erfüllen. 
Uns  aber  werden  die  sorgfaltigen,  schön  geschriebenen  Beiträge, 
welche  er  hinterlassen  hat,  immer  wieder  an  den  lieben,  be- 
scheidenen, tüchtigen  Mitarbeiter  erinnern. 

Johannes  Grüger. 

Der  dritte  Mitforscher,  dessen  Tod  wir  beklagen,  hatte 
seine  Thätigkeit  der  Litteraturgeschichte  zugewendet.  Von  den 
zahlreichen  Arbeiten,  die  er  noch  in  jungen  Jahren  veröffent- 
licht hat,  bezieht  sich  nur  ein  Teil  auf  das  Elsass;  doch  hatte 
er  eine  grössere  Schrift  über  die  Theatergeschichte  des  Elsass 
seit  längerer  Zeit  vorbereitet.  Ueber  das  Leben  des  Frühgeschie- 
denen  hat  dessen  Vater  gütigst  folgende  Mitteilungen  gemacht. 

«Dr.  Ferdinand  Julius  Johannes  Grüger  ist  am  21.  Juni 
1861  zu  Eisleben  geboren.  Sein  Vater  Dr.  Job.  Grüger  war 
damals  erster  Lehrer  am  Schullehrer-Seminar  zu  Eisleben,  seine 
Mutter  heisst  Julie  Grüger,  geb.  Boehr.  Den  ersten  Unterricht 
erhielt  der  Knabe  in  der  Stadtschule  zu  Oranienburg  bei  Berlin, 
wohin  sein  Vater  als  Direktor  des  Seminars  zu  Michaelis  1861 
versetzt  worden  war.  Von  Michaelis  1872  an  besuchte  Johannes 
das  Gyiunasium  zu  Neu-Ruppin  und  verliess  dasselbe  mit  dem 
Zeugnis  der  Reife  Michaelis  1878 ;  von  der  mundlichen  Ab- 
gangsprüfung war  er  dispensiert  worden.  Er  studierte  sodann 


I 


—    149    — 

Philologie  auf  der  Universität  Leipzig  von  Michaelis  1878  bin 
Mich.  1879,  zu  Strassburg  von  Mich.  1879  bis  Mich.  1880,  zu 
Leipzig  von  Mich.  1880  bis  Ostern  1881,  zu  Bonn  von  Ostern 
1881  bis  Ostern  1882,  und  nachdem  er  einige  Monate  lang  die 
Bibliothek  zu  Zürich  durchforscht  hatte,  zu  Strassburg  von 
Michaelis  1882  bis  Ostern  1883.  Am  29.  Juli  1883  wurde  er 
hier  nach  bestandenem  Colloquium  und  auf  Grund  der  Pro- 
motionsschnft  «Der  Entdecker  der  Nibelungen j»  zum  Doktor 
der  Philosophie  promoviert.  Nachdem  er  am  1.  August  1884  das 
Examen  pro  facultate  docendi  bestanden  hatte,  leistete  er  sein 
Probejahr  von  Michaelis  1884  bis  Michaelis  1885  am  Lyceum 
zu  Strassburg  und  wurde  am  1.  April  1885  Adjunkt  an  dieser 
Anstalt.  Am  21.  September  1885  trat  er  am  protestantischen 
Gymnasium  als  wissenschaftlicher  Hilfslehrer  ein.  Im  Anfang 
des  Jahres  1888  hat  er  viel  an  einem  schmerzhaften  Rheuma- 
tismus gelitten,  kam  in  den  Sommerferien  krank  im  elterlichen 
Hause  zu  Neu-Ruppin  an  und  fiel  aus  einem  gastrischen  Fieber 
in  eine  Darmkolik,  dann  vsrieder  in  ein  gastrisches  Fieber.  Im 
Oktober  gestaltete  sich  die  Krankheit  zu  einer  mit  hohem 
Fieber  verbundenen  Gehirnentzündung;  anfangs  November  trat 
ein  Schlaganfall  ein,  durch  welchen  die  Zunge  und  die  rechte 
Seite  des  Patienten  gelähmt  wurden.  Die  Lahmung  verbreitete 
sich  langsam  weiter,  lichte  Augenblicke  waren  selten.  Der 
Tod  trat  ein  am  27.  Februar  1889.  y> 

Diesem  Berichte  des  Vaters  darf  wohl  hinzugefiigt  werden, 
dass  Dr.  Cruger  im  persönlichen  Verkehr  sich  durch  frisches, 
frohes  Wesen,  durch  Freundlichkeit  und  Gefälligkeit  zahlreiche 
treue  Freunde  erworben  hat,  und  dass  seine  unermüdliche 
Arbeitslust  und  Arbeitskraft  wahre  Achtung  einflössen  musste. 
Seine  wissenschatitliche  Neigung  und  Begabung  ging  dahin,  das 
was  man  neuerdings  cc Archive  der  Litteratur)»  genannt  hat, 
jene  handschriftlichen  Sammlungen  von  Briefen,  von  unge- 
druckten Litteraturwerken  oder  Entwürfen  dazu,  an  das  Licht 
zu  ziehen  und  für  die  Litteraturgeschichte  nutzbar  zu  machen. 
Zuerst  gedachte  er  die  Dichtungen  des  Göttinger  Hainbundes 
in  dieser  Weise  zu  behandeln ;  allein  es  gelang  ihm  nicht,  sich 
das  Material  vollständig  zuganglich  zu  machen,  und  so  erschienen 
als  Ei^ebnisse  dieser  Studien  nur  einzelne,  noch  dazu  meist 
erst  später  veröffentlichte  Artikel :  1)  Zwei  Vossische  Gedichte 
in  früherer  Fassung.  Archiv  f.  Litt.  Gesch.  XI  (1882)  S.  449 
bis  453;  2)  Das  erste  neuhochdeutsche  Minnelied.  Zs.  f. 
deutsche  Philol.  XVI  (1884)  S.  85—88;  3)  Bundesbuch  und 
Stammbücher  des  Hains:  Akadem.  Blätter  S.  600—605(1884); 
4)  in  der  Viert eljahrsschrifl  f.  Litt.  Gesch.  soll  demnächst 
erscheinen    Halms  «Hölly».   Weit  ergiebiger  erwies  sich  der  in 


—     150    — 

Zürich  aufbewahrte  Nachlass  von  Bodmer  und  Breiiinger,  und 
insbesondere  die  auf  die  altdeutschen  Studien  der  Schweizer 
wie  ihres  Gegners  Gottsched  bezüglichen  Aufsätze  Crügers 
haben  volle  Anerkennung  gefunden:  5)  Der  Entdecker  der  Ni- 
belungen (Diss.),  Frankfurt  a.  M.  (1883) ;  6)  Die  erste  Gesamt- 
ausgabe der  Nibelungen,  Fkf.  a.  M.  (1884);  7)  Briefe  von 
Schöpfiin  u.  a.  Strassburger  Gelehrten  an  Bodmer  und  Brei- 
tinger  :  Strassb.  Stud.  2  (1884)  S.  440—498 ;  8)  Bodmer,  SUdt- 
vogt  Renner  in  Bremen,  Wiedeburg  in  Jena:  Zs.  f.  d.  Philo!. 
XVI  (1884)  S.  197—221.  Mehr  die  allgemeine  Litteraturge- 
schichte  betreffen :  9)  Die  Recension :  Vier  kritische  Gedichte 
von  J.  J.  Bodmer,  hg.  v.  Bachtold:  Arch.  f.  Litteraturgesch. 
XII  (1884)  S.  488—502 ;  40)  Zwei  Wielandbriefe :  Arch.  XIII 
220—228  (1885);  11)  Ein  Stück  des  Messias  in  erster  Fassung : 
Arch.  XIII  (1885).  S.  411—413;  12)  Bodmer  und  Goethe 
1773—1782:  Goethejahrbuch  V  (1884)  S.  117—216;  13)  Ein 
grösseres,  zusammenfassendes  Buch :  Joh.  Christ.  Gottsched 
und  die  Schweizer  J.  J.  Bodmer  und  J.  J.  Breitinger  hg.  v. 
J.  Cruger  in  Kürschners  Deutsche  National litteratur,  42.  Bd., 
Berlin  u.  Stuttgart  o.  J. ;  14)  Aus  Handschriften  der  Strass- 
burger Bibliothek  stammt :  Zu  den  Briefen  von  Christiane  Croethe 
an  Nie.  Meyer,  Goethejahrbuch  VII  (1886)  S.  304,  305.  Ich 
reihe  hier  noch  an  15),  16),  17)  Miscellen :  Akadem.  Blätter 
S.  548—550;  Anz.  z.  Zs.  f.  d.  Alt.  X  (1884)  S.  275—278; 
XI  (1885)  S.  179,  180;  und  ferner  18)  eine  halb  scherzende 
Polemik  gegen  Combes  Types  de  la  litt^rature  allemande,  Grenz- 
boten 1888,  I.  125—136;  172—180.  Was  noch  zu  nennen 
ist,  gehört  der  elsassischen  Litteratur-  und  Kulturgeschichte 
an:  19)  Ein  Brief  von  1782  über  Strassburger  Zustände  (Ca- 
gliostro):  Els.-Lothr.  Landes-Zeitung,  Dez.  1882;  20)  Englische 
Komödianten  in  Strassburg  vor  dem  Ende  des  30jährigen  Kriegs, 
Strassb.  Post  1886  N.  359-361 ;  21)  Englische  Komödianten 
in  Strassburg:  Arch.  f.  Litt.  Gesch.  XV  (1887)  S.  113—125; 

22)  Der  Schwerttanz  in  Strassburg :  Strassb.  Post  (1888)  N.  295 ; 

23)  Zur  Strassburger  Schulkomödie  (Calaminus) :  Festschrift 
zur  Feier  des  350jährigen  Bestehens  des  protest.  Gymn.  (1888) 
S.  305 — 354;  24)  Das  Strassburger  Theater  von  der  Refor- 
mation bis  zum  30jährigen  Krieg :  Vortrag  (auszüglich)  in  den 
Verhandlungen  der  39.  Versammlung  deutscher  Philologen  und 
Schulmänner  zu  Zürich  :  Leipzig  1888,  S.  186—189. 

Ich  schliesse,  indem  ich  dankbar  bemerke,  dass  bei  dieser 
Zusammenstellung  Herr  stud.  Hermanny  mir  behilflich  war, 
ebenso  wie  für  Kräuters  Arl)eiten  einer  seiner  ehemaligen 
Schüler,  Herr  J.  Dreyfuss,  mir  zur  Hand  gegangen  ist. 


/ 


X. 


Volkstümliche 


Feste,  Sitten  und   Gebräuche 

in  Elsass-Lothringen. 

1888. 


Uie  diesjährigen  Mitteilungen  verdanken  wir  zum  grÖssten 
Teil  den  Steuerkon troleuren  Herrn  Jansen,  früher  in  Rothau^ 
jetzt  in  Molsheim,  und  Herrn  Schrader,  früher  in  Mols- 
heim, jetzt  in  Bischweiler.  Ferner  steuerten  bei  die  Herrn 
Oberlehrer  Dr.  v.  Dad  eisen  in' Geh  weiter  und  Forstassessor 
Bargmann  in  Rothau.  Herr  Regierungsbaumeister  Bühl  er 
sandte  uns  das  wertvolle  Trachtenbild  aus  dem  Münsterthale, 
das  den  Band  schmückt.  Möchten  unsere  Mitglieder  auch  ferner- 
hin offen  Auge  und  Ohr  für  das  Volksleben  hal)en  und  durch 
Aufzeichnen  zu  retten  suchen,  was  noch  zu  retten  ist. 

Neqjahr. 

Kleeburg  (Kreis  Weissenbarg).  —  Das  Jahr  wird  angeschossen. 
Nenjahrsgrass :  Ich  wünsch  Dir  ein  glückseliges  neues  Jahr  und  alles, 
was  Dir  lieb  ist.  —  Ich  wünsche  Dir  desgleichen.  Die  Kinder  er» 
halten  von  ihren  Paten  Wecken. 

St089weier  (Kreis  Colmar).  —  Die  Kinder  sagen  den  Glück- 
wunsch: I  weisch  eich  e  güets  neis  Johr,  viel  Glüeck,  Gesundheit  an 
e  längs  Läwe,  das  eich  der  lieb  Gott  möcht  gäwe. 

OdrcUzheim  (Kreis  Molsheim).  —  Die  Kinder  wünschen  ihren 
Paten  das  Neujahr  und  werden  beschenkt. 


—    15'J    — 

Maria  Lichtmess  (2.  Februar}. 

Saales  (Kreis  Molsheim).  —  Von  Maria  Lichtmess  bis  ersten 
Fastensonntag  wird  <  Manage »  gemacht :  die  Barschen  schleichen 
sich  in  die  Küchen  and  verstellen  sämtliche  Küchengeräte.  Wird  man 
überrascht,  so  schwärzt  man  mit  den  absichtlich  rassig  gemachten 
Händen  dem  Störer  das  Gesicht. 

Petri  Stnhlfeier  (22.  Febroar). 

Bangölsheim  (Kreis  Molsheim).  —  Zar  Erinnerang  an  die  Ter- 
treibang  der  Jaden  aas  der  Gemeinde  durchziehen  die  Schalkinder 
das  Dorf  and  rufen :  <  Kröten  und  Schlangen  laufen  ins  Taterle  Hosen 
herum! » 

Die  Kinder  erhalten  von  den  Leuten  Nüsse  und  andere  Kleinig- 
keiten. Kein  Jude  lässt  sich  an  diesem  Tage  im  Dorfe  sehen. 

FaMtnacht. 

8t.  Blaue  (Kreis  Molsheim).  ~  Es  brennen  Fastnachtfeuer.  Froher 
wurden  glühende  Rädchen  mit  Gerten  in  die  Luft  geschleudert.  Man 
ruft  die  Paare  beim  Feuer  aus. 

^  Sonntag  nach  Fastnacht  (Kiachlesonntag). 

Saales  (Kreis  Molsheim).  —  Am  Sonntag  nach  Aschermittwoch 
werden  auf  einem  Hügel  grosse  Feuer,  «bures»  genannt,  angezündet; 
um  dieselben  tanzen  Burschen  und  Mädchen  singend  herum. 

Schirmeck  (Kreis  Molsheim).  —  Auf  den  Höhen  brennen  Feaer, 
«feir  des  birs»  genannt.  Es  werden  Scheiben  geschlagen  und  Paare 
ausgerufen. 

Odrateheim  (Kreis  Molsheim).  —  Es  werden  Küchle  gebacken.  Es 
brennt  abends  ein  grosses  Feuer.  Die  Knaben  ziehen,  nachdem  das 
Feuer  niedergebrannt  ist,  mit  brennenden  Fackeln  und  singend  in 
das  Dorf  zurück. 

SuUshad  (Kreis  Molsheim\  —  Das  Kiachlelied  wird  am  ersten 
Sonntag  in  der  Fastenwoche  gesungen.  Das  Küchelbacken  ist  fast  in 
Vergessenheit  geraten.  Die  Gaben,  die  man  den  singenden  Kindern 
giebt,  bestehen  meistenteils  aus  Obst.  Früher  war  es  Sitte,  am  Mittag 
nach  der  Vesper  die  <  £!chürwacke  >  zu  schlagen.  Dieselben  waren 
runde  Holzstücke,  die  durchbohrt  mit  Hilfe  einer  Gerte  brennend 
den  Berg  herab  geschnellt  wurden. 

D^  Schürwacke  hanmer  geschlaje. 
^s  Kiachele  wellemer  hole. 
7.  Veiele,  Rose,  Bliamele. 
Mer  senge  um  des  Eüachele. 
Kiachele  arüs,  Kiachele  arüs. 
Wensche  Gleck  en  ejer  Hüs. 

Der  Herr  het  a  scheuer  Schopf, 
Owene  nof  drowe  ne  a  scheuer  Knopf. 
*/•  Veiele,  Rose,  Bliamele  etc. 


—    153    — 

Der  Herr  het  a  schene  Käller, 
Ar  hangt  ganz  voll  Moschgadaler. 
•/.  Veiele,  Rose,  Bliamele  etc. 

Der  Herr  het  a  schener  Hund. 
Ar  esch  ganz  köjelrund. 
7.  Veiele,  Rose,  Bliamele  etc. 

Mer  stehen  of  em  a  kalte  Stein, 
Gan  is  a  Kiächele,  no  genner  heim. 
7.  Veiele,  Rose,  Bliamele  etc. 

Gressweüer  (Kreis  Molsheim).  —  Es  werden  Scheiben  geschlagen. 
Stwsweier  (Kreis  Colmar).  —  Die  Schulbaben  ziehen  umher  und 
sammeln  <  Fastnachtkichle  >,  indem  sie  dabei  singen  : 

«Kiechle  nus,  Kiechle  nüs, 
Oder  i  schla^  e  Loch  ins  Hüs. » 

Die  Küchle  werden  an  lange  Stöcke  gesteckt. 

MöUkirch  (Kreis  Molsheim).  —  Noch  vor  wenigen  Jahren  brannte 
ein  grosses  Fener^  warden  Scheiben  geschlagen  und  wurden  die 
Paare  ausgerufen. 

1.  ApriL 

Saaks  (Kreis  Molsheim).  —  Am  1.  April,  dem  sogenannten  Tage 
des  tpoisson  d^avril»,  und  vierzehn  Tage  vor  dem  6.  Dezember  gehen 
abends  die  grösseren  Knaben  in  Bischofskleidern  von  Haus  zu  Haus 
mit  einem  aus  Stroh  verfertigten  Esel« 

Anfang  Mai. 

Bükhen  (ELreis  Bolchen).  —  In  einzelnen  Orten  des  Kreises,  wie 
Hessdorf,  Falck,  Machern,  ziehen  anfangs  Mai  die  jungen  Mädchen 
in  die  Ortschaften  und  von  Haus  zu  Haus,  singen  geistliche  Lieder 
xmd  sammeln  Beitr&ge  für  die  Marienandacht. 

Ostersonntag. 

Saales  (Kreis  Molsheim).  —  Am  Ostersonntag  werden  die  kleinen 
Kinder  vom  Priester  in  der  Kirche  öffentlich  gesegnet. 

Christi  Himmelfahrt. 

SteitUhai  (Wildersbach,  Kreis  Molsheim).  —  Am  Tage  vor  Christi 
Himmelfahrt  treffen  sich  viele  Leute  aus  dem  Steinthale  auf  den 
freien  Berghöhen.  Dort  wird  bei  lodernden  Feuern  und  Musik  ge- 
schmaust und  begrüssen  sich  alte  Bekannte,  die  sich  oft  das  ganze 
Jahr  nicht  gesehen  haben.  In  früheren  Zeiten  waren  mit  diesem  Feste 
auch  Spiele  verbunden,  wie  Springen,  Ringen,  Wettlaufen  u.  s.  w. 
Die  Sieger  erhielten  Preise,  oft  wurden  sogar  dem  einen  oder  andern 
Triumphbogen  gebaut  Das  Fest  hat  an  Bedeutung  nachgelassen ;  doch 
finden  noch  jetzt  Zusammenkünfte  statt,  besonders  auf  dem  Berg- 
sattel zwischen  Wildersbach  und  Waldersbach,  genannt  «Berheux» 
(Berghöhe?),  und  zwar  an  dem  Platze,  auf  dem  Oberlin  seine  Pre- 
digten öfters  zu  halten  pflegte. 


—     15i    — 

Pfingsten. 

EJeeburg  (Kreis  Weissenbarg).  —  Die  Schulbuben  durchsieben 
den  Ort,  um  Eier  und  Speck  zu  sammeln.  Einer  von  ihnen,  mit  ge- 
schwärztem Gesicht  und  mit  Stroh  umwunden,  erbittet  die  Gaben; 
die  andern  rufen : 

Speck  und  Eier  heraus! 

Sonst  schicken  wir  den  Martel  ins  Hühnerhaus ! 
Am  Abend  werden  die  Gaben  in  einem  befreundeten  Hause  ver- 
zehrt. 

Pfingstmontag. 

Dangolsheim  (Kreis  Molsheim}.  —  Am  Pfingstmontag  wird  all- 
jährlich ein  Knabe  vollständig  mit  Stroh  oder  Ginster  umwickelt 
Dieser,  tPfingsteseU  genannt,  wird  an  einem  Seil  von  der  DorQugend 
von   Haus   zu  Haus  geführt  und  dabei  folgender  Spruch  hergesagt: 

Guten  Morgen  beisammen! 

Da  haben  wir  einen  stockblinden  Mann, 

Der  niemand  sehen  kann. 

Droben  im  Eimer  Forst 

Hat  er  seinen  Horst. 

Er  hat  seine  Zähne  an  einem  alten  Eichbaum  ausge- 
bissen und  kann  nichts  fressen  als  Eier  und  Speck  und 
Wein  saufen.  Wir  sind  schon  bei  vielen  Doktoren  gewesen, 
und  sie  haben  uns  geraten,  wir  sollen  ihn  in  weissem 
und  rotem  Wein  baden.  Ja,  ja,  ja ! 
Darauf  erhalten  die  Kinder  von  den  Leuten  Eier,  Speck  oder 
Wein.  Am  Abend  wird  das  Gesammelte  gemeinschaftlich  verzehrt 

OdrcUzheim  (Kreis  Molsheim).  —  Auch  hier  wird  der  <Pfing8tesel> 
herumgeführt  und  Gaben  gesammelt. 

Johanni  (24  Juni). 

StiUbad  (Kreis  Molsheim). 

Kanzti  (Johannis)  han  a  Fier, 

Kanzti  han  a  Stier, 

Kanzti  han  a  Peternall, 

Gän  is  aui  a  Hawaii. 
Am  Abend  des  Johannistages  wird  das  Kanztilied  von  den  Knaben 
gesungen.  Sie  gehen  von  Haus  zu  Haus  und  erhalten  eine  €  Rebwelle». 
Ursprünglich  sammelte  man  nur  das  Holz  von  den  Reben,  das  im 
Frühjahr  abgeschnitten  war,  jetzt  nimmt  man  auch  anderes  Holz. 
Früher  war  es  Sitte,  an  den  vier  Ausgängen  des  Dorfes  je  ein  Feuer 
abzubrennen,  jetzt  wird  nur  eins  abgebrannt  Das  ganze  Dorf  ist 
darum  versammelt.  Sobald  das  Holz  verbrannt  ist,  springt  alles 
über  den  Gluthaufen. 

Oressweüer  (Kreis  Molsheim).  —  Es  brennen  Johannisfeuer. 

Trinitatis. 

Saales  (Kreis  Molsheim).  —  Am  Feste  Trinitatis  lässt  jedes  Haus 
vom  Priester  Salz  weihen. 


—     155    — 

Andreastag  (30.  November). 

Gebweüer  (Kreis  Gebweiler).  —  Um  die  BeBchaffenheit  des  zakünf- 
tigen  Gatten  zu  erfahren,  wird  von  den  Mädchen  folgender  Brauch 
geübt.  Das  Mädchen  lässt  sich  von  einer  jungen  Witwe  einen  Apfel 
schenken,  zerschneidet  denselben  in  zwei  Hälften  und  isst  die  eine 
davon.  Die  andere  nimmt  sie  abends  mit  in  das  Bett  und  spricht  vor 
dem  Einschlafen  die  Worte: 

Heiliger  Andreas,  i  bitti 
Ins  Bett  tritti, 
Zeig'  mir  diese  Nacht 
Mein  Herzallerliebst 
In  menschlicher  Gestalt, 
Ist  er  jung  oder  alt. 

Zeigt,  ihr  dann  der  Traum  einen  Geliebten,  wie  sie  ihn  sich 
wünscht,  so  reibt  sie  sich  am  Morgen  mit  der  Apfelhälfte  den 
Nabel  ein. 

1.  Dezember. 

ScuUes  (Kreis  Molsheim).  —  In  der  Nacht  vom  30.  November  zum 
1.  Dezember  kochen  die  jungen  Mädchen  den  Spüllappen  auf  und 
glauben  in  dem  aus  dem  Topfe  aufsteigenden  Dampf  das  Gesicht 
ihres  zukünftigen  Freiers  erkennen  zu  können. 

St.  Nikolaus. 

Si,  BkUse  (Kreis  Molsheim).  —  Aeltere  Buben  verkleiden  sich  als 
St  Nikolaus,  reiten  auf  einem  Esel  durch  das  Dorf  und  belohnen 
die  guten,  bestrafen  die  bösen  Kinder. 

Odratsheim  (Kreis  Molsheim).  —  Aeltere  Burschen  durchziehen 
maskiert  das  Dorf,  belohnen  die  guten,   bestrafen  die  bösen  Kinder. 

Weihnachten. 

Kleeburg  (Kreis  Weissenburg).  —  Ein  als  Christkind  verkleidetes 
Mädchen  geht  herum  und  beschenkt  die  Kinder. 

Stoastoeier  (Kreis  Colmar).  -—  Christkindle  und  <  Fickesel  >  ziehen 
berum,  belohnen  die  artigen  und  bestrafen  die  bösen  Kinder. 

MoUkireh  (Kreis  Molsheim).  —  In  der  Christnacht  bekommt  das 
'  im  Hause  befindliche  Vieh  vor  Mitternacht  Futter,  damit  es  während 
der  feierlichen  Stunde  nicht  schlafe. 

Sylvesterabend. 

Stassweier  (Kreis  Colmar).  —  Das  Neujahrschiessen  nimmt  ab. 
Man  spielt  in  der  Nacht  grosse,  sogenannte  «r  Neujahrswecken  »  und 
« Brettstellen  >  aus. 

Sduüea  (Kreis  Molsheim).  —  In  der  Neujahrsnacht  stellt  jeder  junge 
Barsche  vor  das  Haus  seines  Mädchens  ein  junges,  mit  Bildern  und 
Bändern  geschmücktes  Tannenbäumchen. 

Oä^cUzheim  (Kreis  Molsheim).  —  Es  werden  grosse  Brettstellen 
in  der  Nacht  ausgespielt. 


—    156    — 

Taufe. 

(rrendelbruch  (Kreis  Molsheim).  —  Zu  dem  Kindstaufschmaus 
liefert  der  Taufpate  den  Wein,  die  Taufpatin  Brot,  Fleisch  und  Käse. 
Beim  Imbiss  erhält  die  Hebamme  das  grosse,  sogenannte  «Hebammen- 
glas».  Bei  4er  Rückkehr  aus  der  Kirche  wird  die  Wohnstubenthur 
zugehalten  und  nur  gegen  ein  Trinkgeld,  das  der  Taufpate  zahlen 
muss,  geöffnet. 

Wird  die  Taufpatin  ausgesegnet,  so  bringt  der  Taufpate  den  so- 
genannten «  Kindbettenlaib ». 

Hochzeit. 

Kleeburg   [Kreis  Weissenburg).    ~    Hochzeiten    finden    meistens 
Dienstags  oder  Donnerstags  statt.  Der  Hochzeiter  und  die  Hochzeiierin 
laden  vierzehn  Tage  vorher  zwei  Burschen   und  zwei  Mädchen,  die 
Schmollburschen  und  Schmollmädchen  genannt  werden.  Die  Schmoll- 
burschen laden  dann  acht  Tage  vorher  die  ganze  Freundschaft  ein,  die 
Schmollmädchen   helfen  drei   Tage  vor   der  Hochzeit  bei   den    Zu- 
rüstungen.  Beim  Kirchgang  führt  der  älteste  Schmollbursche  die  Braut. 
Braut  und  Bräutigam  müssen  Geschenke  au  die  Schuljugend  geben, 
die  Ketten  über  den  Weg  gespannt  hat.  Die  Mädchen  tragen  Kränze 
auf  dem  Kopfe,  die  Burschen  einen  Strauss.  Nach  der  Trauung  schenkt 
die  Braut  den  Schmolljungfem  eine  weisse  Schürze  mit  breitem  Band 
und  Spitzen.  Nach  dem  Essen,  das  sich  lang  hinzieht,  wird  getanzt. 
Die  ersten  drei  Tanze  tanzt  das  Brautpaar  allein,  den  folgenden  der 
Brautführer  mit  seinem  Mädchen,  dann  darf  alles  tanzen.  Am  nächsten 
Tage  wird  im  Hochzeitshause  nochmals  zu  Mittag  und  Abend  gegessen, 
bei  reichen  Leuten  auch  getanzt;  ebenso  am  dritten  Tage. 

Gressweüer  (Kreis  Molsheim).  —  In  der  Kirche  opfert  die  Braut- 
jungfer für  die  Braut  ein  Taschentuch,  welches  sie  beim  Opfergange 
auf  den  Altar  legt. 

Westhalten  (Kreis  Molsheim).  —  Früher  war  es  Sitte,  das  jedes 
neuvermählte  Paar  auf  der  Allmend  einen  Obstbaum  setzen  musste. 
Noch  heute  steht  auf  dem  Girste  (Geierstein)  eine  grosse  Anzahl  von 
Obstbäumen,  die  bei  solchen  Anlässen  gepflanzt  wurden. 

Wüdershach  (Kreis  Molsheim).  —  Bei  Hochzeiten  ist  es  heute 
noch  Sitte  und  Brauch,  dass  gleich  nach  der  Suppe  eine  zugedeckte 
Schüssel  herumgereicht  wird  Mit  dem  Herumreichen  beginnt  man  » 
zur  linken  Hand  von  dem  Sitze  der  Braut,  so  dass  sie  zuletzt  in  die 
Hände  der  Braut  gelangt.  Erst  von  Seiten  der  Braut  wird  die 
Schüssel  geöffnet,  um  sich  des  darin  befindlichen  vermeintlichen 
Gerichts  zu  bedienen.  Aber  zum  Erstaunen  aller  befindet  sich  nur 
eine  Pitschel-  (Wickel-)  Puppe  darin,  womit  das  Sinnbild  einer 
gesegneten  Ehe  angedeutet  werden  soll. 

Die  Braut  lässt  dann  die  offene  Schüssel  noch  einmal  im  Kreise 
herumreichen,  damit  sich  ein  jeder  Gast  von  dem  Inhalt  überzeugen 
kann,  wobei  er  jedoch  nicht  vergessen  darf,  in  die  Schüssel  zu  der 
Puppe  ein  Geldstück  in  beliebiger  Höhe  zu  legen.  Das  so  ge- 
sammelte Geld  wird  aufbewahrt  und  gehört  der  eventuellen  Erst- 
geburt als  Taufgabe  oder  gleichsam  als  Notpfennig. 


W.BüJiUr.  _    -.    ^,    .^  .         '■'.;'-  Flidu-T/ud-      i 


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THE  NEW  YORK 

PUBLIC  LIBRARY 

ASTOR,  l  EN'-'X   AND 


—     157    — 

Saales  (Kreis  Molsbeim).  —  Es  ist  gebräuchlich,  jedem  nen- 
Termählten  Paare  in  der  Brantnacht  die  sogenannte  Sappe  zn 
reichen.  Sie  besteht  aus  Rotwein,  Pfeffer,  Salz,  Oel,  Essig,  Äsche 
u.  8.  w. ;  damit  pflegt  man  sie  im  Bette  zu  überraschen. 

Ist  eines  der  Brautleute  bereits  verheiratet  gewesen,  so  wird 
dem  Brautpaare  am  Abend  vor  der  Hochzeit  eine  Katzenmusik 
gebracht. 

Todesfall. 

Grenddbruch  (Kreis  Molsheim).  —  Stirbt  jemand,  so  wird  sofort 
der  Spiegel  mit  einem  Tuche  verhangen,  die  Wanduhr  zum  Stehen 
gebracht,  das  Weinfass,  die  Sauerkrauttonne,  die  Bienenkörbe,  die 
gefüllten  Mehlsäcke  und  sonst  ähnliche  gefüllte  Gegenstände  gerüt- 
telt und  dabei  der  Name  des  Verstorbenen  genannt. 

Stirbt  eine  Frau  im  Kindbett,  so  bekommt  sie  Schuhe  an,  damit 
sie  wieder  zum  Kinde  kommen  kann. 

Engenthal  (Kreis  Molsheim).  —  Der  letztere  Gebranch  findet 
sich  auch  hier. 

^8ch  (Kreis  Molsheim).  —  Derselbe  Gebrauch. 

Tracht. 

\terihdl.  —  Im  oberen  Münsterthal  ist  eine  eigenartige  Tracht, 
;h  im  Schwinden  ist  (in  Metzeral,  Mühlbach,  Breitenbach, 
ih,  Stossweier,  Sulzern,  Hohrod).  Die  alte  Tracht  in  ihrer 
igkeit  und  den  lebhaften  Farben  —  die  jetzige  kennt  nur 
'arben  —  stellt  die  beigegebene  Abbildung  dar.  Dieselbe  ist 
'n  Baumeister  Bühler,  früher  in  Metzeral,  nach  einer  noch  im 
einer  Familie  befindlichen  vollständigen  Tracht  gezeichnet, 
jetzige  Tracht  ist  in  dunklen  Farben  gehalten.  Farben  am 
lebt  es  nicht.  Es  werden  zwei  besonders  grosse  Taschen  mit 
mar  um  den  Leib  befestigt.  Der  «Tschobed»  (Jacke)  ist  am 
[emlich  weit .  ausgeschnitten,  sonst  aber  eng  anliegend,  und 
sogenannte  n  Schnecken».  Der  ausgeschnittene  Teil  wird 
durch  ein  grosses,  zwei-  bis  dreimal  um  den  Hals  gewundenes 
Tuch.  Das  Haar  ist  in  der  Mitte  auf  den  Kopf  gewunden,  bedeckt 
ist  derselbe  mit  der  «Näwelkapp»,  die  mit  ihrem  aLätsche»,  Seiden- 
band, an  den  oberen  Teil  vorn  geknüpft  ist.  Die  beiden  unteren 
Flügel  der  Kappe,  an  denen  Bänder  zum  Knüpfen  unter  dem  Kinn 
befestigt  sind,  bedecken  die  Ohren. 

Kleeburg  (Kreis  ^eissenburg).  —  Die  Jungen  Burschen  tragen 
Hosen  and  ein  kurzes  Wams  aus  schwarzem  Tuch,  ein  weisses 
Hemd  mit  sehr  hohem  Kragen  und  ein  schwarzseidenes  Halstuch 
ganz  schmal  zusammengelegt  und  um  den  Hals  gelegt.  Schwarzen 
runden  Hut.  Die  verheirateten  Männer  tragen  einen  dreieckigen 
Hut  nnd  einen  langen,  bis  an  die  Knie  reichenden  Rock  (<  Mutzen  > 
genannt),  vorn  zwei  Reihen  Knöpfe,  hinten  fast  bis  an  die  Hüften 
aufgeschnitten;  die  beiden  Teile  heissen  Zipfel.  Sonstwie  die  Burschen. 
Die  Ifödchen  tragen  auf  dem  Kopfe  eine  schwarze  Kappe  (<  Nebel- 
kappe >  genannt),  jedoch  nur  bei  dem  Kirchgang,  dann  einen  Mutzen, 


—    158    - 

der  bis  auf  die  Hüften  reicht.  Auf  diesen  Mutzen  wird  von  hinten 
ein  buntes  Halstuch  geheftet,  das  vom  eingesteckt  wird.  Schwarzer 
Rock  und  schwarze  Schürze,  weisse  Strumpfe  und  ganz  niedere 
Schuhe.  Die  Frauen  tragen  sich  ebenso,  nur  dass  sie  kein  buntes^ 
sondern  ein  schwarzes  Halstuch  tragen.  Bei  der  Heuernte  tragen  die 
Mädchen  weisse  Schürzen,  keine  Mutzen,  die  Hemd&rmel  bis  znm 
Ellbogen  aufgebunden  und  über  die  Brust  das  «Leibel«. 

SpiniiBtaben. 

KUeburg  (Kreis  Weissenburg).  —  Es  werden  Spinnstuben  in  der 
gewöhnlichen  Weise  abgehalten. 

Stassweier  (Kreis  Colmar).  —  Es  werden  Spinnstuben  abgehalten, 
man  nennt  es  « z'quelten  gehen  •. 

Griesheim  (Kreis  Molsheim).  —  Es  werden  Spinnstuben  abgehalten. 

ErdnEiänneL 

Romansweiler  (Kreis  Molsheim).  —  um  die  Kinder  vor  dem  Erd- 
männel,  das  denselben  Alpdrücken  verursacht,  zu  schützen,  werden 
in  das  Wiegenseil  drei  Knoten  gemacht;  dieselben  sollen  die  heilige 
Dreieinigkeit  bedeuten  und  das  Erdmännel  verscheuchen. 

Aberglauben. 

MoGkirch  (Kreis  Bolchen).  —  Zieht  ein  Qewitter  über  das 
Dorf,  so  verbrennt  die  Hausfrau  ein  geweihtes  Kränzlein  oder  einen 
Palmzweig,   um  dadurch  die   Gefahr  des  Einschiagens  abzuwenden. 

Wenn  im  Hause  ein  Buchfink  (Rotbrüschtl)  nistet,  so  giebt  die 
Kuh  rote  Milch. 

Wer  am  10.  August  (Lorenzius)  zwischen  11  und  12  Uhr  mittags 
in  der  Erde  gräbt,  findet  kleine  Kohlen,  die  das  Haus  vor  Hexen 
schützen. 

Im  Sternbild  der  Jungfrau  säen  die  Leute  nicht,  weil  sie  glauben, 
dass  die  Pflanzen  falsch  blühen  und  deshalb  keine  Frucht  bringen. 

Wenn  die  Bohnen  am  Urbanustag  gepflanzt  werden,  so  gedeihen 
sie  und  tragen  reichUch. 

Wenn  es  in  der  Kirche  Wandlung  läutet  und  zu  gleicher  Zeit 
die  Uhr  schlägt,  so  sagen  die  Leute :  Jetzt  stirbt  bald  jemand  im 
Dorf. 

Kinder,  die  an  den  Fronfasten  zur  Welt  kommen,  sehen  aach 
an  den  Fronfasten  des  Nsu^hts  Geister. 

Saales  (Kreis  Molsheim].  —  Nach  Läuten  der  Abendglocken  wird 
Milch  nur  dann  über  die  Strasse  getragen,  wenn  sie   vorher  etvs 
Salz  erhalten  hat. 

Bosenweiler  (Kreis  Molsheim).  —  In  der  Fasten-  und  Adventxeit 
zeigt  sich  öfters  in  den  engen  Gassen  und  Schlüpfen  das  sogenanntej 
Zotteltier,  das  die  Späteingehenden  verhext,  irreführt  und  viel  Ünhi 
anrichten  kann. 


—    159    — 

Hat  jemand  junge  Schweine  gekaaft,  so  nimmt  er  sie  zuvor  in 
die  Stube,  trankt  sie  mit  Milch  und  führt  dieselben  dann  erst  rück- 
wärts schreitend  in  den  Stall.  Dadurch  schützt  er  sie  vor  den  Hexen. 

Nach  der  Betglocke  wird  von  vielen  Weibern  keine  Milch  mehr 
aber  die  Gasse  verabreicht,  weil  sonst  die  Kühe  verhext  werden. 

Läuft  in  der  Nacht  jemandem  eine  Katze  über  den  Weg,  so  soll 
man  einen  anderen  Weg  einschlagen,  oder  wenn  dies  nicht  möglich, 
neben  dem  Weg  gehen,  sonst  verirrt  man  sich. 

BäBbronn  (Kreis  Molsheim).  —  War zenvertreiben.  Um 
Warzen  zu  vertreiben,  wird  folgendes  Mittel  angewendet.  Ist  man  in 
der  Kirche  und  sieht,  dass  zwei  Personen  miteinander  schwatzen,  so 
fahrt  man  dreimal  mit  der  Hand  über  die  Warze  und  spricht  dabei : 

Was  ich  seh*,  das  ist  eine  Sund', 
Was  ich  streiche,  das  verschwind'! 
Im  Namen  Gottes  des  Vaters,  des  Sohnes  und 

des  heiligen  Geistes. 

Zimmermannsspruch.  Nach  Aufschlagung  eines  neuen 
Hauses  sagt  der  Zimmermann  vom  Dachfirst  herab  den  Zimmermanns- 
sprach,  leert  ein  Glas  Wein  und  wirft  es  hinab.  Zerbricht  dasselbe 
nicht,  so  bedeutet  es  Unheil  für  das  Haus, 

Bärach  (Kreis  Molsheim).  —  Verirrt  man  sich  im  Walde,  so  soll 
man  die  Schuhe  wechseln. 

BaUbrann  (Kreis  Molsheim).  —  Raupenvertreiben.  Setzen 
sich  im  Herbst  Baupen  auf  den  Kohl^  so  soll,  wenn  zufälligerweis«^ 
in  der  Nähe  Kilbe  ist,  die  Hausfrau  dort  unangeredet  einen  neuen 
Beisbesen  kaufen,  damit  in  den  Garten  gehen,  den  Kohl  damit 
kehren  und  dabei  sprechen :  « ler  Rübbe  gehen  uf  de  Kilb,  ier  Bübbe 
en  uf  de  Kilb  >,  so  werden  die  Baupen  verschwinden. 


Westhofen  (Kreis  Molsheim).  —  Baumpflanzen.  Wurde  ein 
Obstbaum  gesetzt,  so  nahm  man  einen  Knaben  mit,  gab  diesem  nach 
erfolgtem  Setzen  eine  Ohrfeige  und  erklärte  demselben  auf  Befragen : 
« Du  sollst  daran  denken !  • 

Ueber  der  Stallthüre  war  immer  ein  mit  den  Beisern  gegen  die 
Thore  gekehrter  Besen  angebracht  zur  Fernhaltung  von  Hexen. 

An  einem  Mittwoch  zur  Welt  gekommene  Schafe  wurden  nicht 
aufgezogen. 

Vor  ungefähr  50  Jahren  war  es  bei  den  Juden  Brauch,  dass  das 
Vieh,  das  an  einem  Sabbath  geboren  wurde,  entweder  nach  Frankfurt 
gebracht  oder  an  einen  Andersgläubigen  verschenkt  werden  musste. 

Witterungswechsel. 

GrendeWrueh  (Kreis  Molsheim).  —  «Hört  man  im  Falkensteinwald 
das  Hündlein  bellen  und  sieht  man  im  Grendelbruchthal  das  Feuer 
brennen,  so  tritt  langanhaltendes  Begenwetter  oder  grausiges  Schnee- 
gestöber ein.»   Allgemein  wird  angenommen,  dass  das  Hündlein,  das 


—     160    — 

viele    gesehen  haben  wollen,   ein    verwunschener   nnehrlicher  Wald- 
hüter sei. 

Sprnch. 

Baübronn  (Kreis  Molsheim). 

Ein  Mädchen,  das  pfeift, 
Und  ein  Huhn,  das  kräht. 
Sind  beide  nichts  wert. 


I 
I 


XI. 


Chronik  ftlr  1888. 


29.  Januar:  Graf  Ferdinand  Eckbrecht  von  Dürckheim, 
Verf.  von  «Lillis  Bild»  (Nördlingen  1879)  und  der  «r Erin- 
nerungen alter  und  neuer  Zeit»,  II  (Stuttgart  1887),  stirbt 
föjährig  zu  Schloss  Edia  in  Oesterreich. 

5.  März :  Professor  Ohleyer  in  Weissenburg,  geb.  20.  Juni 
1816,  hochverdient  um  die  Geschichte  und  um  die  Wiederher- 
stellung des  Doms  zu  Weissenburg,  stirbt  ebenda. 

18.  März:  Trauerfeier  für  S.  M.  Kaiser  Wilhelm  I. 

8.  April :  Eröffnung  des  städtischen  Kunstgewerbemuseums 
in  Sirassburg. 

15.  Juli :  Einweihung  des  auf  Kosten  von  Herrn  Sengen- 
wald erbauten  Glockenturms  ^d er  Neuen  Kirche  zu  Strassburg. 

24.  Juni :  Trauerfeier  für  S.  M.  Kaiser  Friedrich  III. 

1.  2.  August:  Jubelfeier  des  350jährigen  Bestehens  des 
protestantischen  Gymnasiums  zu  Strassburg. 

13.  Oktober :  Oberlehrer  Waldner  an  der  Realschule  zu 
Wasselnheim,  geb.  26.  März  1836  zu  Basel,  Vorsteher  der  bo- 
tanischen Sektion  des  V.  G.,  stirbt  zu  Mannheim  (s.  Progr.  der 
Realschule  zu  Wasselnheim  1888). 

26.  Oktober:  Goethes  Bildnis  wird  in  einer  Reproduktion 
von  W.  Eberbach  an  dem  von  Goethe  1770 — 1771  bewohnten 
Hause  zu  Strassburg  (Alter  Fischmarkt  36)  angebracht. 

7.  November  :  Hägeli,  Pfarrer  zu  Nordheim,  Verf.  von 
Dramen  für  Jünglingsvereine,  stirbt  48jährig. 

17.  November:  Johannes  Thomas  Mangold,  Pastetenbäcker 
zu  Ck)lmar,  Dichter  der  «Golmererditsche  Komedi»  (1878),  stirbt 
(geb.  1816). 

19.  Dezember:  Der  Rössel manns-Brunnen  in  Colmar,  ein 
Werk  des  Bildhauers  Bartholdy,  wird  durch  den  Verschönerungs- 
verein der  Stadt  Ck)lmar  übergeben. 


11 


XII. 


Sitz  ung-sprotokoUe . 


Voi'otamlu.sitziiiis. 

11.  November  1888,  im  städtischen  Kunst-Gewerbe-Museum. 

Anwesend:  die  Herren  Barack,  Erichson,  Franke,  Martin, 
Mündel,  Sc-hricker,  Wiej^and.  Ihr  Ausbleiben  baljen  entschiil- 
di^'f  die  Herren  Hering  und  Lutlinier. 

Die  lVfitteilun<;en  für  die  Genoral- Versani in luny:  werden 
vorbereitet  sowie  einige  für  das  Jahrbuch  einj'elaufene  Arbeiten 
vor^ele^t  und  zur  Berichterstattung-  verteilt. 

Die  nächsle  Vürstandssitzuny;  wird  auf  Freita;^  den  "28.  De- 
zember anberaumt. 

Ks  fol^t  die 

Allgemeine  Sit^^uug. 

Prof,  Martin  eröffnet  die  Sitzung  und  erstattet  den  Reelien- 
schattsbeiicht  über  die   Entwickeln nj,^  des  Zweigvereins  im  ab- 
elaufenen  Jahre.    Die  Mitgliederzahl  betrug  1029. 

Die  Kasse  ergab  einen  Ueberschuss  von  *M  109. 

Der  Kassenbericht   des   Herrn  Mündel  wird  von  zwei  Mit- 
liedern der  Versammlung  geprüft  und  richtig  befunden. 

Herr  Museums- Direktor  Dr.  Schricker  hält  einen  Vortra^r 
Über  die  Entstehung  und  Entwickelung  der  Kunst-Gewerbe- 
Museen  sowie  über  ihre  Dienste  für  das  Kunsthandwerk  und 
fülirtdann  die  Anwesenden  durch  die  Sammlungen  des  Museums. 

Zum  Schluss  wird  der  bisherige  Vorstand  durch  Accla- 
mation  wiedergewählt. 


—     163    — 

Nach  der  Sitzung  vereinigen  sich  die  auswärtigen  Mitglieder 
mit  mehreren  hiesigen  zum  Mittagessen  in  der  ßahnfiofs-Rc- 
stauration. 

Vorstandssitzimg. 

28.  Desember  1888,  im  Bezirks-Archiv. 

Anwesend  :  die  Herren  Barack,  Erichson,  Harbordt,  Ihnie, 
Maiün  und  Wiegand. 

Ihr  Ausbleiben  haben  entschuldigt  die  Herren  Euting, 
Franke,  Herrenschneider,  Mündel,  Rathgeber  und  Schlumberger. 

Die  für  das  Jahrbuch  1889  eingelaufenen  Beiträge  werden 
voi^elegt  und  zur  Berichterstattung  verteilt. 


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JAHRBUCH 


FÜR 


li  GESCHICHTE.  SPRACHE  UND  LITTERATÜR 

El^ASS-LOTHRINGENS 


HERAUSGEGEBEN 


VON    DEM 


HISTORISCH-LITTERARISCHEN  ZWEIGVEREIN 


DES 


VOGESEN-CLUBS. 


VI.  JAHRGANG. 


STRASSBURG 

J.    H.    ED.    HEITZ   (HEITZ   .'^    MÜNDEI.) 

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JAHRBUCH 


FÜR 


GESCHICHTE.  SPRACHE  UND  LITTERATUR 


ELSASS-LOTHRINGENS 


HERAUSGEGEBEN 


VON    DEM 


HISTORISCH-LITTERARISCHEN  ZWEIGVEREIN 


DES 


VOGESENCLUBS. 


VI.  JAHRGANG. 


STRASSBURG 

J.    H.   ED.    HEITZ  (HEITZ  &  MÜNDEL) 

1890. 


T }  i  K  X  ^■.  w  N'  O  [ ;  K 
iüLLlc  LIBRARY 

ASTOR,  LENOX  AND 
TILDSN  FCXJ'.'OAUON«, 

R  •         19'  3  L 


Inhalt. 


Seite 

I.  Drei  lateinische   elsässische    Kaisergedichte    aus    alter 

Zeit.  Uebersetzt  von  Theodor  Vulpinns     .    .    .        1 

II.  Das  Stift  Jung-St.  Peter.  Beiträge  zn  seiner  Geschichte 

von  Wilhelm   Horning 11 

1.  Kapitel.  1.  FundatioD  des  Moaasteriums. 

a.  Das  Monasterium  bis  zum  Jahre  1081. 

2.  Kapitel.  Das  Stift  von  1061  ab.  Sein  Wachstum 

8  1.  nach  innen. 
%  2.  nach  aussen. 
.3  Kapitel.  Ernennungsmodus  der  Canonici,  Würdenträger  und 
Beamten,  Summissarien,  untergeordneter  Clerus. 

4.  Kapitel.  Stiftscultus    und    StiasgewJinder.    Gedächtnistage. 

Begräbnisfeierlichkeiten. 

5.  Kapitel.  Die  Stiflshäuser. 
G.  Kapitel.  Die  Stiftsschule. 
^7.  Kapitel.  Das  Stiflsarchiv. 

8.  Kapitel.  Der  Stiftsspeicher. 

9.  Kapitel.  Die  Stiftskeller. 
10.  Kapitel.  Die  Stiftsbäckerei. 

Anhang : 

1.  Verzeichnis  adeliger  Stiftsherren. 

2.  Einzelne  Notizen  über  Stiftsherren.  —  Der  Stiftsprobst  Mau- 

ritius Ueberheu  (15en— 160^). 
U.  Verhältnis  des  Stifts  zur  Aussätzigen-Kirche  auf  Uutleuteu 
(<St.  Helena*]. 

4.  Verhältnis  des  Stifts  zum  Stift  Allerheiligen. 

5.  Die  das  Jung-St.  Peterstift  umliegenden  Gassen. 

in.    Memorabilia  quaedam  Argentorati  observata.  Mitgeteilt 

von  AlexanderTille 62 

IV.    Auszug   aus    der    Chronik    der   Stadt   Ingweiler.    Von 

Fritz  Letz 69 

V     Drei  Lieder  auf  Strassburgs  Uebergabe  1681.  Mitgeteilt 

von  J.  B ölte  (1  u.  2)  und  von  £.  Martin  ....      76 

VI.    Bilder   zum  Siegfriedslied  von  1580  (?).  Mitgeteilt  von 

E.  Martin     .    .    .    .^ 84 

VII.    Per  Goethehügel  bei  Sesenheim.  Von  E.  M  a  r  t  i  n    .    .      97 


—      IV      — 

VIII.   Einige  angedruckte  Gedichte    von  August  Stöber. 

Mitgeteilt  von  JuliusRathgeber 108 

IX.   Dichtung 113 

Ein  Steckelburjer-Ausfiug  Ein  Schifferstechen  auf  der 
m.  Knabenliedchen  im  Mai.  An  Adolf  Stöber.  Lebens- 
wege. Ein  Brautpaar.  Der  Rosheimer  Kellerkrieg. 

X.   Georg  GayeUn.  Von  Friedrich   L  auch  er  t     ...    121 

XI.  Elsässer  Sagen.  Von  Bargmann 131 

XII.   Elsässische  Kinder-  und  Wiegenlieder,  Kinderreime   Bfit- 

teilung  von  C.  Eber 133 

XIIL   Elsässische    Sprichwörter  und  sprichwörtliche   Redens- 
arten. Mitgeteilt  von  Julius  Rathgeber      ...    138 

XIV.   Münsteithäler    Sprachproben.    Sprichwörter.   Mitgeteilt 

J.  Spieser 144 

XV.   Zum  Elsässischen  Idiotikon 154 

XVL   Volkstümliche  Feste,  Sitten  und   Gebräuche  in  Elsass- 

Lothringen  1889.  Mitgeteilt  von  Bruno  Stehle     .    161 

XVII.    Chronik  für  1889 181 

XVm.   Sitzungsprotokolle 182 


I. 


Drei  lateinische  elsässische 


Kaisergedichte  aus   alter  Zeit. 


Uebersetzt  von 


Theodor   Vulpinus. 


I. 

In  einem  alten  Buche  der  Pariser  Bibliothek  (vgl.  Monu- 
inenla  Germaniae  historica  bezw.  Dümlers  Poelae  latini  ae\i 
Carolini,  Bd.  I,  S.  88  und  93)  finden  sich  auf  122  Blattern  die 
drei  Bücher  eines  alten  Grammatikers  namens  Diomedes.  Auf 
dem  123.  Blatt  wird  mitgeteilt,  dass  Karl  der  Grosse  im  Jahre 
780  einen  gewissen  Adam,  Haynhards  Sohn,  in  Worms  beauf- 
tragt habe,  das  Werk  des  Diomedes  abzuschreiben.  Die  Pariser 
Handschrift  ist  eine  Abschrift  dieser  Arbeit  Adams.  Auf  dem- 
selben Blatt  sind  aber  auch  Verse  Adams  wiedergegeben, 
die  er,  offenbar  bald  nach  des  Kaisers  Tod,  wehmütigen  Dankes 
voll  an  denselben  gerichtet  hat.  Wir  ersehen  daraus,  dass 
dieser  Adam  ein  Elsässer  war.  Der  Kaiser  hatte  ihm  zum 
Lohn  für  geleistete  wissenschaftliche  Dienste  das  Kloster  Mas- 
munster  geschenkt.  Die  Wormser  Arbeit  Adams  fällt  in  das 
Jahr  780,  das  Gedicht  in  die  Zeit  um  814 ;  Adam  erwähnt, 
dass  er  780  genau  30  Jahre  gezählt  habe;  als  er  sein  D^nk- 
gedicht  schrieb,  war  er  also  etwa  65  Jahre  alt,  und  das  Ge- 
dicht selbst  hat  sich  durch  10  Jahrhunderte  bis  in  unsere  Zeit 


—    2    — 

erhalten.  Ich  denke,  es  verlohnt  sich,  dieses  ehrwürdige  Altertum 
in  deutsche  Worte  zu  kleiden  und  es  dadurch  allen  verständlich 
zu  machen  : 

Adam  voa  Masmünster  an  Karl   den  Grossen. 

Um  814. 

Als  in  dem  Laufe  der  Zelten  der  Erdkreis  siebenmal  glücklich 
Hundert  der  Jahre  vollendet  und  etwa  noch  zehenmal  achte, 
Seit  durch  Christi  Geburt  Heil  über  die  Zeiten  gekommen, 
Und  zwölf  Jahre  bereits  Du  trügest  das  Scepter  der  Franken, 

^  Hat  Dir,  Karl,  Du  Geliebter  des  Herrn,  mein  König,  das  Buch  hier 
Adam  geschrieben,  zu  Worms  in  der  Stadt,  Dein  treuester  Diener, 
Haynhards  Sohn.  Doch  eigentlich  nennt  er  des  glücklichen  Elsass  ^ 
Bacchusgesegneten  Gau,  wo  die  Wiege  gestanden  ihm,  Heimat. 
Damals,  als  er  es  schrieb,  war  alt  soeben  geworden 

10  Dreissig  der  Schreibende.  Dann  hast  Du,  Karl,  gnädiger  König, 
Ihm  Mcismünster,^  das  Kloster,  verliehen,  wofür  Dir  der  Himmel 
Droben  mit  ewigem  Lohne  gewähre  die  reichste  Vergeltung!  — 
Waffengewaltiger  König  und  Held  Karl,  sei  mir  gegrüsset! 
Dein  demütiger  Knecht,  Dein  Adam  bittet:  Gedenk'  sein, 

1^  Schaue  hernieder  auf  ihn,  Du  fürstlicher  Völkergebieter; 
Dein  demütiger  Knecht  ist  immer  zu  Dienst  Dir  gewärtig! 
So  fest  stehet  hienieden  und  droben  Dir  Fülle  des  Ruhmes, 
Dass  Du  die  Krone  gewannest  nun  auch  in  dem  himmlischen  Reiche, 
Wo  stets  Eintracht  herrschen  und  endlos  währender  Friede/ 

^^  Wo  mit  den  Sternen  sich  labt  Dein  Geist  auf  himmlischer  Weide  ! 

II. 

Unser  zweites  Kaisergedicht  ist  an  Kaiser  Maximilian 
gerichtet,  den  «letzten  Ritter»,  und  stammt  aus  der  Feder 
Sebastian  BrantSy  des  berühmten  Verfassers  des  «Narren- 
schiffesD,  der  mit  dem  Kaiser  wiederholt  auch  in  persönliche 
Berührung  gekommen  ist.  Brant  war  nach  der  Art  seiner  Zeit 
für  allerlei  Vorzeichen,  wie  wunderbare  Missgeburten  u.  dgl., 
sehr  empfanglich  und  hat  derartiges  mehreremale  in  seinen 
Gedichten  verwertet.  Zu  dem  hier  mitgeteilten  bietet  ihm  ein 
«Vogelwunder»  Anlass,  das  aber  vor  den  anderen  den  Vorzug 
naheliegender,  ungezwungener  sinnbildlicher  Deutung  voraus 
hat.  —  Seit  Adam  von  Masmünster  sind  681  Jahre  verflossen, 


,  1  Alsatia  felix 

Est  propria  fecunda  bcmo  cui  patria  Bacho. 
2  Masunvilare. 


—    3    — 

aber  die  mittelalterliche  Kaiservorstellung  ist  auch  im  Zeit- 
alter des  vorreforma torischen  Humanismus  noch  lebendig :  Seb. 
Brant  fordert  Maximilian  vor  allem  auf,  über  die  Alpen  zu 
ziehen  zum  Empfange  der  römischen  Krone,  und  beschwort 
die  deutschen  Fürsten,  ihn  auf  diesem  Römerzuge  zu  begleiten. 
Maximilian  ist  bekanntlich  nicht  im  alten  Sinne  Kaiser  ge- 
worden, sondern  hat  den  Titel  ^erwählter  römischer  Kaiser» 
angenommen  ;  sein  Vater  t'riedrich  III.  war  der  letzte  Kaiser 
gewesen,  der  sich  in  Rom  (1452)  hat  krönen  lassen.  —  Das 
Gedicht  ist  trotz  mancher  Weitschweifigkeit  und  Redekünstelei 
lesenswert. 

Sebastian  Brant  an  Kaiser  Maximilian. 

1495. 

(Ad  divnm  serenissimumque  Maximilidnum  Romanorum  regem 
invictissimnm  semperqne  Angnstnm  anspicii  falconam  prope 
Thann  in  comitatn  Phirretarnm  de  mense  Janii  anno  1495 
Tisorum  explanatio.  — -  S.  Rrant.) 

Wenn  es  Dir,  gütigster  König,  beliebt,  auf  den  Sänger  zu  lauschen 
Und  ein  gnädiges  Ohr  seinem  Gesänge  zu  leihn, 
Wie  schon  früher  des  öftem  und  jüngst  erst  wieder  Gehör  Du 
Schenktest,  erhabener  Herr,  meinem  bescheidenen  Spiel, 
^  Will  ich  von  Wundem  erzählen,  die  wahr  sind,  die  sich  am  hellen 
Tage,  yon  vielen  geschaut,  haben  begeben.  —  Vernimm: 
Hoher  Gebieter,  Du  kei^ist  in  der  Grafschaft  Pfirt  ja  die  Stadt  Tluinn, 
Aach  BäUchtceiler^  vielleicht  (beide  gehören  dir  zu), 
Wo,  wer  da  südwärts  schreitet,  nach  Basel  gelangt  und  vom  Himmel 

i<^(Dort  in  der  Gegend  geschah^s)  fiel  der  geschleuderte  SUin.^ 
Als  eintausend  man  schrieb  vierhundert  und  neunzig  und  fünf,  just 
Mitten  im  Juni  (am  Tag  war  es  des  heiligen  Veit), 
Und,  und  von  den  Zwillingen  scheidend,  im   Zeichen   des   Krebses 

die  Sonne 
Wandte  den  Lauf  und  des  Jahrs  längester  Tag  sich  genaht, 

1^  Kamen,  den  Feldern  zu  setzen  das  schützende  Zeichen  des  Grenz- 
steins, 

1  —  Phirreti  de  comitatu 
Oppida  Thann,  Balsvil. 

'  Der  bekannte  Ensisheimer  Meteorstein,  den  Brant  gleichfalla 
als  ein  grosses  Himmelszeichen  in  zwei  lateinischen  Gedichten  be- 
sungen hat.  Eines  davon  ist  auch  dem  Kaiser  Maximilian  gewidmet 
nnd  trägt  die  Ueberschrift :  Fulgetrae  immanis  jam  nuper  anno  XCII 
septimo  idus  Novembris  prope  Basileam  in  agros  Suntgaudiae  jacu- 
latae  in  Naeniam  mortis  optimi  imperatoris  Friderici  consolationeok 
et  exhortationem  Divi  Maximiliani  explanatio.  (S.  Brant.) 


—    4    — 

Jeder  auf  eigenem  Gmnd,  Äckerer  rings  aus  dem  Land. 
Dort,  in  der  Mitte  des  Gaus  steht  einsam,  ranschend  die  Krone^ 
Ein  hochragender  Baum,  weithin  beschattend  die  Flur. 
Aber  die  Bauern  erblicken  ihn  heut  voü  Vögel;  es  wimmelt 

^0  Schwarz  auf  den,  Aesten ;  wer  mag  zählen  die  flatternde  Schar  ? 
«Das  sind  Beben  ja  wohl,  vielleicht  auch  Weihen,»  so  schien  es 
Allen,  die^s  sah^n  um  den  Baum  fliegen  und  sitzen  darauf! 
Einer  jedoch,  dem  die  Art  nicht  als  die  gewöhnliehe  vorkam, 
Hatte  sogleich  sich  dem  Schwärm,  recht  ihn  zu  schaun,  sich  genaht, 

^  Und  bald  wurd^  es  den  übrigen  auch  an  dem  tönenden  Fluge 
Zweifellos  klar  und  gewiss  jedem,  dass  FaUcen  es  sei^n! 
Wohl  an  die  sechzig  beziffern  die  einen  die  Zahl,  und  die  andern 
Meinen,  es  könnten  doch  rund  achtzig  gewesen  auch  sein. 
Einer  der  Vögely  mit  schwarzem  Gefieder  und  kräftigen  Leibes, 

30  Ragte  hervor  aus  dem  Schwärm,  schien  von  erlesnerer  Art. 
Um  ihn  scharte  sich  auch,  rings  wimmelnd,  der  übrige  Haufen, 
Gleich  als  wär^  er  für  sie  Fürst  und  gebietender  Herr. 
Und  dann  traten  die  Reise  sie  an  aufwärts  in  die  Lüfte 
Ueber  der  Alpen  Gebirg  weit  nach  Italiens  Flur! 

3^  Gütigster  König,  ein  Zeichen  wie  dies  ist  wert  der  Beachtung, 
Wunderbar  ist  es,  und  Heil,  wisse,  verkündigt  es  Dir! 
Ein  Auspicium  war  es.  So  früh  schon  im  Sonmier  der  Vogel 
Südwärts  drängende  Hast,  sag',  was  bedeutet  sie  wohl? 
Zudem  gab  die  Natur  dem  Geschlechte  der  Falken  den  Trieb  nicht, 

40  Dass  sie  sich  scharen ;  zu  zweit  fliegen  sie,  selten  zu  dritt. 
Alle  die  Vögel,  bei  denen  die  Klauen  gebogen  nach  rückwärts 
Oder  wie  Krallen  gekrümmt,  sieht  man  sie  jemals  gesellt? 
Nein,  sie  vereinigen  nie  sich  zu  Schwärmen,  ein  jeglicher  sucht  sich, 
Einsam  kreisend,  mit  Gier,  was  ihm  zur  Beute  behagt. 

45  Darum,  wenn  einer  einmal  sie  in  Menge  gewahrte,  der  wisse, 

Dass  er  ein  Zeichen  von  Gott,  dass  er  ein  Wunder  geschaut! 

Jene  beflügelte  Schar,  ihr  seid  sie,  Herzöge,  Grafen, 

Ritter  der  deutschen  Nation,  Adel  des  heiligen  Beichs! 

Alles  was  Damwild  heisst,  folgt  willig  als  Führer  dem  Damhirsch, 

*o  Wo  er  auch  hingeht,  durch  Wälder  und  Flur  und  Gebirg. 
Auch  für  die  Falken  geziemt  es  sich  so :  sie  versammeln  sich,  aber 
Ihnen,  den  edeln,  voran  fliegt  (und  sie  folgen)  der  Aar! 
Und  wenn  der  Schlachtschrei   schallt,    dann   scharen    die   Falken 

sich  um  ihn, 
Dass  in  der  Mitte  bekommt  Jupiters  Vogel  den  Platz!  — 

^5  So,  mein  König  und  Herr,  stehst  Du  mit  dem  Schmucke  des  Adlers 
Auch  als  führendes  Haupt  unter  den  Rittern  des  Reichs, 
So  wird  Deutschland  Dir  nachfolgen  und  Deinen  Panieren, 
Fürsten  und  Volk,  und  wem  edel  das  Herz  in  der  Brust! 
Mit  Dir  ziehen  sie  gern  nach  Italien  über  die  Alpen 

^  Oder  zu  Wasser,  wohin  wenden  die  Segel  Du  heisst! 
Alle  beseelt  ein  Sinn,  ein  Geist  hingebender  Treue; 
Dir,  Du  Zierde  des  Reichs,  folgen  sie  willig  als  Herrn! 
Lass  Dich  begleiten  von  ihnen,  o  König !  Wenn  sie  Dich  umgeben, 
Sind  nicht  Waffen  und  Wall  nötig,  um  sicher  zu  sein! 


<>^ Weshalb  lehrt  die  Natur  scharweise  zu  fliegen  die  Vögel? 
Weil  der  gemeinsame  Flug  über  das  Land  und  die  See 
Sicherheit  ihnen  gewährt  und  die  Sorge  verscheucht  vor  Gefahren. 
Feindlicher  Angriff  wagt  minder  an  sie  sich  heran, 
Namentlich,  wenn  nach  der  Kraniche  Brauch  als  Herzog  und  König 

7<^  Einer  von  ihrem  Geschlecht,  den  sie  begleiten,  sie  fuhrt. 
So,  Maximüian,  sollst,  mildherziger  Held,  in  der  Fürsten 
Edlem  Geleit  auch  Du  wallen  als  Führer  und  Haupt, 
Kommen  mit  ihnen  als  Vater  Italiens^  Vater  der  Kirche, 
Um  Dir  zu  setzen  aufs  Haupt  feierlich  üoms  Diadem ! 

^^  Reise  geschwind,  mein  König,  auf  den  schon  lange  sie  harren, 
Glaube,  die  Zeit  traf  ein  günstiger  Sterne  für  Dich! 
Auf,  nach  Italien,  auf,  ihr,  Deutschlands  heilige  Fürsten, 
Sprossen  des  göttlichen  Teut,  ziehet  gen  Süden  in  Eil! 
Dort  heisst  neu  das  Geschick  euch  Scepter  und  Krone  gewinnen, 

^Doii  sind  Ehren  und  Ruhm  männlichen  Helden  bereit! 
Euerem  Haupte  gehorcht,  dem  erhabenen  König,  in  süsser 
Lehnspflicht,  leistet  ihm  gern  alle  den  schuldigen  Dienst! 
Auf,  frisch  auf,  und  erwerbt  euch  selber  und  eueren  Enkeln 
Weiten  unstarblichen  Ruhm,  ritterlich  regend  den  Arm! 

^Droben  erwartet  euch  dann  nach  beendetem  Laufe  die  bessre. 
Einzig  beglückende  Lust  himmlischen  Ruhmes  und  Heils! 
Tapfere  Deutsche,  bewahret  in  Ehren  den  Namen  der  Vorzeit : 
AlemannenA  —  Ja  zeigt  Äüe,  dass  Mannen  ihr  seid! 
Trauet   dem  Schicksal  und   folget   der  Stimme;   die  Himmlisclien 

haben 

^  Wahrlich  genug  euch  gemahnt,  wahrlich  gerufen  genug ! 
Gott  schafft  Sieger  und  Sieg,  ist  Schöpfer  und  Spender  des  Lorbeers; 
Alles,  was  Ruhm  nur  heisst,  wird  uns  von  oben  geschenkt! 

in. 

Kaiser  Maximilian  starb  1519,  Seh.  Brant  1521.  Aus  dem 
Todesjahre  des  letzteren  stammt  unser  drittes  Kaiserf^eflicht, 
die  an  Kaiser  Karl  V.,  den  Enkel  Maximilians,  ^»-erichtete  Pane- 
g)Tis  Carolina  «  des  Humanisten  Hieronymus  Gebwiller  (Strass- 
bu%  Februar  1521).  —  Gebwiller,  um  1473  in  Kaysersher«^ 
geboren,  hatte  in  Basel   als  Schüler  Brants  studiert  und  wurde 


1  Theutones  o  fortes,  nomen  retinete  venustum : 
Sitis  Alemanni;  fortiter  ire  decet. 

3  Hieronymi  Gebvilerii  Panegyris  Carolina  cum  ejusdem  notis, 
in  quibus  Alsatia  et  Argentoratum  brevi  descriptione  illustrantur. 
Gewidmet  ist  das  Werkchen  bezw.  in  einer  Vorrede  empfohlen 
nobih  ac  magnifico  viro  Dom.  Joanni  Hannart.  vicecomiti  de  Lom- 
beco  etc.  Sacrae  Caesareae  et  Catholicae  Majestät is  consiliario  ac 
primario  Secretario.  —  Eine  zweite  Ausgabe  erschien  1641  (in 
Strassburg,  typis  Mulbii). 


—    6     -~ 

4501  Rektor  der  Schule  in  Schleltstadt.  Acht  Jahre  später 
])erief  ihn  das  Domkapitel  als  ersten  Laien  zum  Rektor  der 
Munsterschule  nach  Strasshurg,  wo  er  auch  bald  der  neu- 
gegründeten sodalitas  litteraria  als  eifriges  Mitglied  l)eitrat.  Als 
in  Strassburg  die  reformatorische  Bewegung  um  sich  griff, 
siedelte  Gebwiller  nach  Hagenau  über  zur  Leitung  der  Schule 
von  St.  Georg  dortselbst.  Denn  obgleich  er  die  Notwendigkeil 
kirchlicher  Verbesserungen  selbst  einsali  und  forderte,  bheh 
er  doch  der  alten  Kirche  treu  und  bekämpfte  die  Reformation 
bis  zu  seinem  Tode  (1545)  aufs  lebhafteste.  Die  Panegyris 
Carolina  stammt  aus  seiner  Strassburger  Zeit.  In  der  Vorrede 
erzählt  er,  dass  nach  alter  Sitte  am  Nikolaustag  (6.  Dezember) 
die  Schüler  in  Strassburg  einen  aus  ihrer  Mitte  zum  Bischof 
zu  erwählen  ptlegten.  Dieser  werde  dann  um  die  Weihnachts- 
zeit in  bischöflicher  Tracht  in  feierlichem  Zug  von  Kirche  zu 
Kirche  (per  civitatis  templa  vicosque)  geführt  und  dabei  sten- 
torea  voce  ein  passendes  Lied  gesungen.  Diesmal  (also  Ende 
1520)  sei  die  Reihe,  solch  ein  Lied  zu  schaffen,  an  ihn,  den 
Rektor^  gelangt,  und  keinen  geeigneteren  Stoff  habe  er  flnden 
können  als  eben  die  Bagrüssung  des  neuen  Kaisers.  —  Karl  V. 
war  1520  nach  Deutschland  gekommen  ;  es  ist  lehrreich,  auch 
aus  unserem  Gedichte  zu  ersehen,  mit  welchen  Hoffnungen 
man  in  den  kiix^hlich  konservativ  gesinnten  Kreisen  seiner  Re- 
gierung entgegensah.  Von  ihm,  von  oben  herab,  sollte  die 
Besserung  in  die  Hand  genommen  werden,  um  die  von  unten 
drohende  Gefahr  gewaltsamer  Aenderung  zu  beseitigen.  Leider 
war  der  spanische  Karl  nicht  der  Mann  hierfür ;  gerade  das 
Jahr  1521  wurde  infolge  des  Wormser  Ediktes  das  Geburts- 
jahr der  kirchlichen  Spaltung  Deutschlands.  —  Von  dieser 
zeitgeschichtlichen  Seite  abgesehen,  ist  das  Gedicht  aber  auch 
deshalb  für  uns  anziehend,  weil  darin  hauptsächlich  das 
elsässische  Volk'  aufgefordert  wird,  dem  Kaiser  huldigend 
entgegenzuziehen.  Der  Rhein,  die  III  und  alles  Gewässer  vorn 
Wasgau  soll  herankommen,  ihn  zu  begrussen,  der  als  Sprosse 
der  Habsburger  zum  Elfiass  gehöre.  —  Die  Anmerkungen 
Gebwillers  zu  dem  Gedicht  enthalfen  eine  der  ältesten  geo- 
graphischen Beschreibungen  des  Landes.  Eine  eingehendere 
descriptio  Alsatiae,  die  er  vorhatte,  ist  leider  nicht  zustande 
gekommen.  Die  Anmerkungen  konnten  hier  nicht  mitübersetzt 
werden ;  doch  sind  die  zu  den  Versen  31  bis  36  gehörigen 
(samt   diesen    Versen)    im  Grundtext    mitgeteilt.    —    Dass  die 


1  Gebwiller  in  der  Vorrede :  «Igitnr  in  ejus  occai'sum  hoc  heca- 
toBÜcho  elegiaco  carmine  Qermanos  ac  praecipne  Alsatas  adhortati 
sumus,  ut  dignis  officiis  etc.  exciperent.» 


—     7      — 

Schüler  der  Münsterschule  bei  ihrem  Umzug  im  Jahre  1520 
dieses  Gedicht  gesungen  haben  sollen,  können  wir  uns  übrigens 
kaum  vorstellen  ;  das  decantare  stentorea  voce  wird  wohl  nur 
eine  Art  lautes  Zusammensprec/ie/i  gewesen  sein.  Stentor  war 
ja  nach  Juvenal  ein  Mann,  der  so  stark  —  schreien  konnte, 
wie  fünfzig  zusammen  ! 

Hieronymus  Gebwiller  an  Kaiser  Karl  V. 

Panegyris   Carolina. 
1520. 

Jubelt  mit  Schall,  ihr  Knaben,  nnd  ihr,  ehrwürdige  Qreise, 

Manniglich  freae  sich  hell,  dass  nnn  der  Kaiser  erscheint; 

Er  (das  hoffen  wir  fest!)  bringt  Heil  und  Segen  der  Menschheit, 

Führt  ihr,  schirmend,  herauf  wieder  die  goldene  Zeit ! 
^  Bald  wird  schauen  geschlossen  des  Janus  Tempel  der  Erdkreis, 

Und  rings  atmen  die  Welt  Frieden  und  friedlichen  Sinn! 

Schwerter  verwandelt  in  Sicheln  der  Schmied,  ans  kriegerischen 

Helmen 

Hämmert  er  Waffen  der  Flur :  Karste,  das  Feld  zu  behauen ! 

Ablegt  sicheren  Mutes  der  Wandrer  die  eherne  Lanze, 
^^  Furchtlos  beschreitend  sogar  unter  Barbaren  den  Weg ! 

Reissende  Tiere  verschonen  den  Menschen  und  seine  Gehöfte, 

Zahm  wird  werden  und  fromm  Tiger  und  Panther  und  Leu ! 

Hase  verkehren  und  Hund,  mit  der  Angel  versöhnt  sich  das  Fischlein, 

Je  ein  Wolf,  ein  Lamm  bilden  ein  Brudergespann ! 
'^  Unter  dem  nämlichen  Laub  mit  dem  Habicht  nistet  die  Taube, 

Selber  die  Eule  gesellt  anderen  Vögeln  sich  gern! 

Zwischen  den  Sterblichen  wird  kein  Rest  mehr  bleiben  von  Zwie- 
tracht, 

Da  nun  der  Kaiser  erschien,  Karl,  der  den  Frieden  verbürgt !  — 

Möge  beschirmen  ihn  treu  die  Gebärerin  Gottes,  Maria, 
^Ihn  und  das  Reich,  dass  er  lang  lebe  wie  Nestor  dereinst! 

Weiche  von  hinnen,  Beüana,  du  starke,  hinweg  mit  dir,  Ares, 

Weil  nun  ein  höherer  Gott,  weil  nun  der  Kaiser  gebeut! 

Geister  der  Rache,  verschwindet!  Es  bleibt  euch   nichts  auf  der 

Erde, 

Das  noch  eurer  Gewalt  dienstbar  erweisen  sich  mag ! 
^Fort  in  den  Orkus  mit  euch,  bluttriefende  Kriege!  Die  Schatten 

Möget  verwunden  ihr  dort,  aber  sie  fürchten  euch  nicht! 

Karl  kommt  an,  und  er  bringt  für  DeiUschland  Frieden ;  die  Feinde 

Müssen  ihm,  wer  sie  auch  sei^n,  beugen  die  Nacken  ins  Joch! 

GdUiens^  schwellenden  Kamm  und  die  Fluten  der  Adria^  wird  er 


1  Franz  I.  von  Frankreich  hatte  sich  nach  Maximilians  Tod  um 
die  deutsche  Krone  beworben. 

2  Venedig. 


—    8     — 

^0  Bändigen  schnell  und  den  Trotz  watend  gewordenen  Stiers  !i 
Roms  habgierigen  Schlund  wird  stopfen  der  Kaiser,  die  Scylla. 
Welche  die  Deutschen  verschlingt,  welche   zu  Bettlern   sie  macht! 
Nicht  wird  dulden  er  mehr  in  den  kirchlichen  Aemtern  Schmarotzer, 
Sondern  dem  würdigen  Mann  geben  den  würdigen  Preis, 

^^  Bessern  in  Klerus  und  Volk  die  entarteten  Sitten  und  spüren 
Lassen  die  Räuber  im  Land  seine  zei*malmende  Faust  !^ 


^  Anspielung  auf  die  Bauernunruhen,  die  dann  1524  zum  vollen 
Ausbruch  kamen. 

2  Obstruet  hie  Caesar  Romanae  guttura  Scyllae. 
Haec  quia  Germanos  pauperat  atque  vorat; 
Nee  sinet,  ut  levibus  dentur  sacra  munera  scurris, 
Pro  meritis  pendens  prsemia  digna  viris. 
Corriget  hie  mores  cleri  vulgique  malignos 
Grassantumque  trucem  perdet  ubique  gregem. 

In  seinen  Anmerkungen  schreibt  der   Dichter   bei  dieser  Stelle 
[  ^  folgendes : 

!  Zu     c  Obstruet  > :     Quot    aucupils     misera     Germania    pecnniis 

'<;  Romam    mittendis    emungatur,     Sanctissimo    domino    nostro    Papa 

Leone  illiusque  sacrosancto  Cardineo  senatu  per  sacratissimam  Cae- 
saream  ac  Catholicam  Majesttttem  informatis,  modus  procul  dubio  ac 
,  frenum  imponetur, 

>  Zu    €  Levibus   scurris*:    Histrionibus,    cachinnonibus,    parasitis, 

lenonibus,  colacibus  et  simili  faeci  hominum. 

Zu    <  Sacra    munera  > ;   Beneficia,    sacerdotia,   populosae   parro- 

chiae,  dignitates  et  praelaturae,  doctis  duntaxat  conferendae,  Dii  boni, 

quae  scandala,  quae  seditiones,  qui  tumultus,   quae  plebis  in  clemm 

I  invidia  hac  una  ex  causa  profluunt,   quod  a  pastoribus  interdnm  et 

mercenariis,  nee  moribus  nee  literis  probatis,  in  quibus  praeter  saemm 
ordinem,  quod  laude  dignum  sit,  reperies  nihil,  pascantur?  Nonigitar 
nobilis  Germania  temere  desolatam  se  ac  nebulonibus  prostitutam 
luget,  quod  paueos  nonnunquam  exemplo  et  vita  ipsam  pascentes 
habeat  pastores :  quaeritur  profeeto  lana,  ovium  autem  cura  ferme  nalla. 

Zu  <Digna  praemia» : Quot  honestissimi  hodie  cives  filios 

suos  proba  indole  praeditos,  nullis  expensis  parcendo,  sacris  literarom 
maneiparent?  Si  saltem  uUam  spem  eisdem  ob  adeptae  doctrinae 
merita,  sueerdotiis  aliquando,  citra  Simoniacam  labern,  provisnm  iri 
sperarent;  qua  iniquitate  band  mediocris  seditio,  diseordia  atque 
laetiferum  int  er  sacerdotes  odium  passim  oritur. 

Zu  < Corriget*:  Reformabit,  in  meliorem  statum  redigei 
Zu  <maIignosy :  Perversos.  enormes,  distortos,  a  Justitiae  amnssi 
omnino  declinantes. 

Zu  €Cleri»: neeesse  igitur  erit,  luxum,  Simoniam,  impudi- 

citiam,  ambitionem,  dTTo^Tagiav  et  id  genus  similia  in  clero  sedari, 
quod  nisi  factum  fuerit,  gregario  ariete  per  avia  palante,  totam  pecas 
aberrabit. 

Zu  « Vulgique» :  Petulantiam,  desidiam,  factiones,  inobedientiam, 
vulgi  nemo  ignorat.  Quocirca  reformatione  indiget  etc. 


-    II   — 

Ihm  wird  schreiten  zur  Rechten  Asträa  mit  schwebenden  Schalen, 
Wägend,  was  jedem  gebührt,  fördernd  und  gebend  das  Recht, 
und  auf  der  Linken,  gewärtig  des  Winks,  holdselig  der  Frieden, 

^'^  Durch  den  mächtig,  er  neu  baut  das  zerrüttete  Böich!  — 
Billig  beeilst  du  dich,  elaäaser  VoUc,  ihm  entgegenzuziehen; 
Aas  dsässischem  Stamm,  edelstem,  sprosst  er  hervor. 
Wolltest  du's  leugnen,  so  sag^  doch,  aus  welchem  Geschlechte  der 

grosse 
KuMf  von  Habsburg  ist,  wessen  Erzeugter  er  war. 

^Schmückt  euch,  Najaden  des  Bheins  (Gold  bergen  die  wogenden 

Fluten), 
Tauschet  das  Alltagskleid  heute  mit  festlicher  Zier ! 
Schick'  auch  du  zu  des  Königs  Empfang  die  erlesensten  Nymphen 
In  dem  erlesensten  Schmuck:  purpurbekleidet,  o  Main! 
Eilet  herbei,  Flussgötter  der  Lauterf  der  Queich  ^  und  der  Sauer, 

^  Bringet  auch  mit  des  Gebirgs  Götter  zum  Feste  herab ! 
}ioder  und  Zorn  soll  senden  vereint  jungfräuliche  Chöre, 
Dass  sie  mit  Spiel  und  Gesang  scheuchen  die  Sorgen  hinweg 
Möchte  die  Mossig  da  halten  zu  Haus  ihr  göttliches  Völklein? 
Nein,  im  Geleite  der  Breusch  kommt  sie,  der  sanften,  heran, 

^Kommen  heran,  und  die  lU,  die  fischreich  fliesst  in  der  Ebne, 
Geht  in  der  Kleineren  auf,  lasset  den  Namen  der  Breusch, 
Die,  jetzt  schwellend  in  Stolz,  Schön-Strassburg,  deine  Gemäuer 
Auf  drei  Seiten  umspielt,  leise  gemächlichen  Laufs, 
Und,  was  der  lU  sie  genommen,  bis  weit  in  die  Mitte  der  Stadt  trägt : 

^^  Köstliches  Bacchusgeschenk,  Schiffe,  beladen  mit  Wein ! 
Aber  die  lü  wird  kommen  doch  auch  mit  wimmelnden  Fischen, 
Sie,  die  dem  Elsassland  einst  ja  den  Namen  verlieh, 
Und  die  Gewässer  zumal,   die   sie  aufnimmt,    Kinder   der    Berge, 
Welche  des  Wasgaus  Schoss  unter  Metallen  gebiert!  — 

^  So,  mit  den  Göttern  des  Lands,  komm\  elsässer  Volk,  und  dem  König, 
Den  dir  der  Himmel  geschenkt,  rüste  den  wärmsten  Empfang! 
Einen  erwählt,  der,  wie  Nestor  beredt,  vor  dem  König  uns  alle, 
Wohllautatmenden  Worts,  Folgendes  sprechend,  vertritt: 

•Heil  sei  Deinem  Erscheinen!  Das  wünschen  wir,  hehrester  Kaiser, 
^^  Weihen  Dir,  oberster  Herr,  was  wir  besitzen  und  sind : 

Frauen  und  Kinder  und  werte  Verwandte,  der  heimische  Boden, 

Herden  und  Hirten  und  Hof,  alles,  Gebieter,  sei  Dein! 

Sorge  nur,  dass  uns  verbleibe  der  Glaube  der  Väter,  und  Weisheit, 

Welche  von  aussen  uns  kommt,  jage  zum  Lande  hinaus! 
^^Die  zu  Dir  aufschaun  treu,  blick*  an  sie  mit  gnädiger  Miene, 

Auf  die  Empörer  jedoch  fasse  den  heftigsten  Grimm ! 

Wir  (seid  Zeugen,  ihr  Himmlischen  droben  !)  versprechen  dagegen, 

Deine  Befehle  zu  thun,  tapfer  und  ohne  Verzug ! 

Treibe  die  Räuber  zu  Paaren,  die  frech  an  den  Strassen  sich  lagern, 
^  Bringe,  den  Bürgern  ein  Freund,  Friede  und  Ruhe  znrück ! 


i  Glanae? 


1 


~     10     — 

Wird  es  doch  Keiner  vermögen,  dem  Willen  des  Königs  zu  trotzen, 
Welchem  der  Erdkreis  lauscht  samt  dem  umgebenden  Meer! 
Sei  Dir  dauerndes  Leben  beschert,  ein  sokratisches  ^  Alter, 
Welches  das  irdische  Los:  Krankheit  und  Schwäche,  nicht  kennt! 

^  Und  in  dem  nämlichen  Mass  wie  Salomon  kleide  Dich  Weisheit, 
Als  ein  beharrlicher  Freund  immerdar  stützend  den  Thron! 
Schöner  als  Helema  sei,  wie  Penelope  züchtig  die  Gattin, 
Beide  besiegend  an  Wert,  welche  dir  Venus  bestimmt! 
Möge  gebären  sie  Dir  Nachkommen  so  reichlich,  dass  Söhm 

^  Vater  dich  nennen,  so  viel  Danaos  Töchter  gehabt ! 

Möge  der  Söhne  Vermählung  sodann  stets  wachsende  Reihen 
Enkel  dir  bringen,  auf  dass  ewiglich  blühe  der  Stamm ! 
Hat  ihn  der  Rhein  doch  gehegt  schon  neun  Jahrhundert^  und  dräber, 
Und  des  hercinischen  Walds  ^  Tannen,  sie  kennen  ihn  längst! 

95  Trc^a  gab  dem  Qeschlecht  in  der  Urzeit  leuchtende  Väter, 
Und  heut  beugen  sich  dir  Tiber  und  Ttnjo  zu  Dienst! 
Auf  dich  hoffen  als  Herren  Jerusalems  Bürger,  und  schweigend 
Harret  das  heilige  Land,  dass  Du  den  Türken  Terjagst! 
Vor  Dir  bleichen  die  Grössten  der  Grossen !  Wen  nennen  wir  gross 

noch  ? 

^00  Keiner  erreicht  Dein  Mass !  Heil  uns,  dass  unser  Dn  bist ! 


^  Gellius  lib.  2,  cap.  1  wird  von  einem  Sokrates  erzählt,  der 
sehr  alt  geworden  und  niemals  krank  gewesen  sei. 

^  H.  Gebwiller  bemerkt  zu  dieser  Stelle,  das  Haus  der  Grafen 
von  Habsburg  sei  damals  schon  940  Jahre  im  Besitze  der  elsässischen 
Landgrafschaft  und  der  Herrschaft  Breisgau  gewesen. 

3  Der  Schwarzwald. 


II. 


Das    Stift   Jun^-St.  Peter. 

Beiträi^e  zu  sinner  Geschichte 


von 

Wilhelm  Horning 

Pfarrer  an  Jang-St.  Peter. 

Einleitung. 

An  die  Nordseite  der  Jung-St.  Pelerkirche  lehnen  sieh 
floch  heute,  wenn  auch  vielfach  verbaut  und  entstellt,  die  Ge- 
bäuiichkeiien  des  Stifts  von  Jung-St.  Peter  an. 

Von  dem  gcut  erhaltenen,  teilweise  der  Zeit  des  ersten 
Baues  der  Kirche  (1075)  entstammenden  Kreuzgange  aus  über- 
blickt man  Östlich  das  Kapitelhmis  mit  seinen  noch  aus  der 
Verbauun^^  erkennbaren  rundbogigen  hohen  Fenstern,  ivestlicli 
Resle  von  Zellenfenstern,  7iördlich  den  im  Jahre  178()  eben- 
falls neu  erbauten  und  später  mit  Wohnungen  besetzten 
Stiftsspeicfier. 

Als  ich  zum  ersten  Mal  diese  Trümmer  des  alten  Stifts 
sah,  konnte  ich  eines  wehmütigen  Gedankens  an  die  inhalt- 
schwere Vergangenheit  von  acht  Jahrhunderten,  die  über  diesem 
hochalterigen  Bau  verflogen  war,  mich  nicht  erwehren.  Die 
tausend  faltigen  Erlei)nisse  der  einzelnen  Kirchen-  und  Stifts- 
diener, vom  Stiftspropst  an  bis  zum  Stiftspedell,  welche  hier 
ihren  Herufslauf  in  den  verschiedensten  Gemütsverfassungen 
volltTihrl    hatten,    und    deren    Gebeine   langst   wieder   mit   dem 


1 


—    \2   — 

Stück  Erdreich  vereinigt  sind,  auf  dem  sie  amtlich  gewirkt, 
fesselten  meine  Phantasie. 

Die  alten  Gründer  des  Stifts^  die  Strassburger  Bischöfe, 
gingen  mit  der  Schar  der  Stiftspröpste  und  Stiftsherren,  mit 
Fahnen,  Infuln,  Pallien  und  Rauchfassern  vor  meinem  Auge 
vorbei,  und  zwischendurch  schlug  die  alte  Turmglocke  dumpfe, 
wie  aus  der  Ewigkeit  her  über  tönende  Schläge. 

Was  alles  mag  in  den  nunmehr  verfallenen  und  ver- 
bauten Zellen  der  Stiftsbrüder  vorgegangen  sein!  —  wie  viele 
heimliche  Zerwürfnisse  zwischen  Untergebenen  und  Obern, 
wie  mancherlei  Spannungen  und  Intriguen  zwischen  geist- 
lichen und  weltlichen  Beamten,  wie  vielerlei  Sorgen  um 
Vermehrung  zeitlichen  Besitzes,  bis  das  grosse  Stiflsgut  zu- 
sammengebracht, registriert,  versichert,  behauptet,  durchpro- 
zessiert, in  seinen  Gerechtsamen  geordnet  und  festgestellt, 
vor  fremdartigen  Eingriffen  bewahrt,  und  dann  endlich  doch 
in  ganz  andere  Hände  kam! 

Ferner,  das  Wechseln  der  Kriegs-  und  Friedenszeiten,  die 
mannigfache  Mitleidenschaft,  in  welche  bald  der  Sturm,  bald 
die  linde  Luft  des  städtischen  und  politischen  Lebens,  jene  Stifls- 
herren  zog;  die  Jahre  des  Ueberflusses  und  der  Teuerung, 
der  Gesundheit  und  der  Pest,  die  Zeit  der  Reformation,  der 
Gegenreformation  und  ihrer  wechselnden  Anforderungen;  dies 
alles  und  tausend  Aehnliches  rückte  an  meinem  Gemüt  in 
leisen  Umrissen  und  verschwimmenden  Gestalten  vorbei. 

Und  als  nun  die  800  Jahre  dieses  Stifts  vor  meiner  Seele 
vorübergezogen,  erhob  sich  die  unabweisliche  Schlussfrage: 
Was  hat  wohl  Gott  der  Herr  von  diesen  Generationen  gewonnen 
für  die  Ewigkeit  ?  Welche  Lebensfrucht  hat  ihm  dieses ,  Stift 
mit  den  Verschlingungen  seiner  Zeitläufte  getragen? 

Die  Neugierde,  etwas  tiefer  in  die  Geschichte  des  Stiftes 
hineinzuschauen,  bewog  mich,  das  in  der  Revolution  durch 
Gendarmen  wie  ein  Nest  ausgehobene  und  in  das  Bezirksarchiv 
überführte  Stiftsarchiv  durchzu forschen. 

Ich  lege  die  Ergebnisse  meines  Forschens  auf  die  folgenden 
Blätter  nieder. 

KAPITEL  L 

Gründung   des   Monasteriums   und    sein   Stand 

bis  1031. 

§  1.  Gründling  des  Monasteriums. 

Die  alten  Charten  des  Stifts  sind  verloren  gegangen.  Wie? 
durchs  Feuer,  durch  den  Krieg,  durch  die  Nachlässigkeit  ?  Wir 


-    13    — 

Genug,  die  Pergamente  und  Urkunden,  aus  denen  wir  gerne 
Licht  über  die  Anfange  des  Stifts  hätten  schöpfen  können,  sind 
unwiederbringlich  dahin. 

Vielleicht  in  derselben  Zeit,  als  an  der  SQdseite  Strassburgs 
an  den  Ufern  der  Breusch,  ein  hölzernes  Monasterium  mit  dem 
Kircblein  St.  Thomä  extra  muros  gegründet  wurde,  ^  erhob  sich 
ebenfalls  extra  muros  an  der  Nordseite  der  Stadt  die  hölzerne 
Capelle  St.  Columbariy  die  ebenfalls  an  ein  kleines  Hospitium 
oder  Monasterium  angebaut  wurde.  Sie  wurde  nach  St.  Co- 
lumban  genannt,  dem  irländischen  Mönche,  welcher  mit  12  Brü- 
dern Irland  am  Ende  des  6.  Jahrhunderts  verliess,  um  in 
Gallien,  Germanien  und  Helvetien  das  Panier  des  Christentums 
aufzuwerfen.  Dass  Columban  selbst  gegen  590  nach  Strass- 
burg  gekommen,  davon  weiss  die  Geschichte  nichts.  Dass  aber 
der  Irländer  Florentius  hundert  Jahre  hernach  sich  hier  nieder- 
liess  und  St.  Thomä  gründete,  ist  historisch  erwiesen. 

C.  Schmidt,  der  in  seinem  Werk  «Le  Chapitre  de  St.  Thomas» 
(Strasbourg  1860)  die  Gründung  der  Thomaskirche  bespricht, 
neigt  zur  Ansicht,  dass  der  Stifter  dieser  Kirche,  der  für  die 
Fischer  am  Ufer  der  Breusch  ein  Bethaus  gründete,  hier  für 
die  Landbevölkerung,  welche  die  Aecker  und  Wiesen  baute, 
die  das  Terrain  der  späteren  Steinstrasse  bildeten,  ebenfalls  ein 
Gotteshaus  errichtete. >  Zur  Zeit  Koßnighofens  hatte  man  den 
Ursprung  der  Kirche  so  vergessen,  dass  dieser  Chroniker  den 
Namen  des  Columban  mit  dem  der  St.  Columba  vertauschte.^ 
Diese  Heilige  aber  war  im  Elsass  gänzlich  unbekannt;  sie  figurirt 
auf  keinem  Kalender  der  Strassburger  Kirche,  während  St.  Co- 
lumban schon  frühe  genannt  wird  (24.  Oktober).  Auch  Wim- 
pheling  begeht  den  Irrtum.'^  Der  einzige  Chronist,  der  da.<f 
Richtige  trifft,  ist  Bernh.  Hertzog:  <S.  Columbani  zu  Ehren. »^ 

Die  Fratres  im  Monasterium  befolgten,  wie  in  den  meisten 
Klöstern  irländischer  Herkunft,  die  Regel  von  St.  Columban, 
welche  noch  viel  strenger  war  als  die  des  hl.  Benedikt,  und  die 
geringsten  Abweichungen  von  der  Disciplin  mit  körperlicher 
Zucht  strafte.  In  der  Mitte  des  8.  Jahrhunderts  wurde  in  ^Uen 


1  Es  kamen  erstmolen  heilige  mann  ans  Schotlandt,  die  des  glauben 
halb  drin  vertriben  wurden,  wiederum  heruss,  die  haben  erstlichen 
ein  clussen  bawn  zu  dem  alten  castell  do  itzund  S.  Tomaskirch  ligt. 
(Specklin.) 

2  p.  6. 

«^  «In  honore  sauctae  Columbae  virginis.»  Chron.  lat.,  ms. 

*  Xenodochium  sanctae  Columbae  (Catalogus  episcop.  Argent.; 
Strassb.  1660,  in  4^,  p.  41). 

^  Elsass.  Chronik;  Strassb.  1592,  in  fol.  lib.  VUI,  p.  113. 

2 


-    14    — 

Klöslern  Germaniens  Benedikts  Kegel  eingeführt ;  die  irländischen 
Klöster  im  Elsass  mussten  sich  derselben  fügen;  sie  verloren 
ihre  Freiheit,  und  es  wurde  ron  da  an  das  Band,  das  sie  an 
Rom  und  an  die  Bischöfe  der  Diöcese  knüpfte,  fester.^ 

Die  auf  die  Gründung  des  Monasteriums  folgende  Zeit  ist 
von  Schatten  belegt,  die  nicht  die  geringste  histoiische  Nach- 
richt zerstreut.  Es  lässt  sich  aber  denken,  dass  dieser  neue 
Feuerherd  religiöser  Wärme  eine  grössere  Bevölkerung  anzog. 
Doch  behielt  die  Kirche  samt  dem  Monasterium  ein  ärmliches 
Aussehen,  da  sie  nur  von  den  Almosen  und  den  Zehnten  der 
Gläubigen  unterhalten  ward.  In  der  ersten  Hälfte  des  11.  Jahr- 
hunderts steigt  ihr  Ansehen. 

KAPITEL   IL 

Erhebung  des  Monasteriums  zu  einem  iTv^elt- 
lichen  Stift.  —  Sein  ^STachsthum  nach  innen 
und  aussen. 

§  1.  Das  Stift  unter  den  Bischofen  Wilhelm  I.  und  UetzeL 

Im  Jahre  1031 «  befreite  der  Bischof  WiUielm  die 
Klosterbrüder  von  der  mönchischen  Regel  und  verwandelte  sie 
in  Canonici  oder  weltliche  Domherren.  Er  baute  die  Jung- 
St,  Peterkirche  ^  und  stiftete  8  a:  thurmherrenpfrunden,  gab 
gross  gut  darzu  ».^  Zufallig  existiert  noch  eine  Stelle  aus  der 
Stiftungsurkunde  des  Kapitels,  in  einer  schriftlichen  Arbeit 
über  das  Besitztum  des  «Kirchhofes»  oder  Kirchplatzes  von 
Jung  St.-  Peter,  im  Stadtarchiv.^ 

Zwei  Adelige  mit  Namen  Wezil  und  Hatto  schenkten 
dem  neuen  Stift  ihre  in  Rtiestenhart  und  Wittersheim  liegenden 
Güter,  Diese  auf  Bitte  des  Bischofs  Wilhelm  gemachte  Donation 


1  Schmidt,  •  Chapitre  de  St.  Thomas  »,  p.  6. 

Anno  788  hat  Carolas  Magnns  auf  dem  Synod  zu  Worms  ver- 
schafft, dass  man  in  allen  Stiften  und  Klöstern  aüe  Canones  und 
Decreta  des  Nicänischen  und  anderer  Concilioram  und  Patram  ein- 
schreiben müssen,  welche  Bücher  noch  in  der  Bibliothek  vorbanden 
sind.  (Specklin.) 

^  Grandidier,  Oeuvres  in^dites  11,  p.  14. 

^  Siehe:  Die  Jung-St.  Peterkirche  and  ihre  Kapellen  (mit  be- 
sonderer Berücksichtigang  der  restaurierten  Zornkapelle).  —  Eine 
archäologische  Studie  ^mit  Bildertafeln).  —  Von  W.  Boming,  Pfarrer 
an  Jung-St.  Peter.  —  Strassbarg  1890. 

^  Specklin,  Bulletin  de  la  SociStS  pour  la  conservation  des  mo- 
numents  historiqaes,  1889,  p.  204. 

»  Lade  46,  Nr.  11. 


-    i5    — 

wurde  im  Anfang  des  Jahres  1040  bestätigt.    Der  Act  wurde 
von  38  Zeugen  unterschrieben.^ 

Bischof  Heizel,  Wilhelms  Nachfolger  im  Jahre  1047,  ver- 
mehrte die  Fundation  und  errichtete  6  andere  Kanonikate.' 

§  2.  Die  StiftogebänUchkeiten. 

Auf  der  Nordseite  der  Kirche  lag  (und  liegt  noch  in  lieber- 
resf en) '  das  Monasterium,  mit  dem  freien  viereckigen  Hofraum 
in  der  Mitte,  welchen  die  verschiedenen,  die  eigentliche  Clau- 
sur  bildenden  Baulichkeiten  umgaben. 

Um  den  Klosterhof  stand  und  steht  noch  der  Kreuzgangy 
der  sowohl  für  Grabstätten  als  für  Processionen  und  zum  Lust- 
wandeln der  Brüder  und  der  Stiftsherren  diente.  Einige  Säulchen 
seiner  Arcatur  zeigen  das  11. — 12.  Jahrhundert  an.  —  Die 
nördliche  Lage  des  Kreuzgangs  entspricht  nicht  der  gewöhn- 
lichen Regel,  kraft  welcher  derselbe  mit  dem  Monasterium 
südlich  von  der  Kirche  gebaut  wurde  (gegen  Norden  von  dieser 
geschützt  und  mit  sonniger  Lage  des  rings  umschlossenen 
Rasenplatzes).'^  Durch  Nebenportale,  die  noch  heute  sichtbar  sind, 
stand  der  Kreuzgang  mit  dem  Seitenschiff  der  Kirche  in  Ver- 
bindung. —  Der  westliche  Flügel  des  Monasteriums  enthielt 
wohl  die  Mönchszellen ,  das  Wohnhaus  mit  der  Warm- 
Stube  (calefactoria  domus)  unten  und  dem  Schlafsaale  (dormi- 
torium).  —  Der  nördliche  Flügel  enthielt  den  mit  der  Kleider- 
kammer  (vestiarium)  übersetzten  Speisesaal  (refectorium),  der 
wegen  des  Duftes  der  Speisen  entfernt  von  der  Kirche,  bei  der 
Küche  lag.5  Hier  war  auch  die  Votratskammery  und  unter  dem 
Erdgeschoss  erstreckten  sich  in  zwei  Etagen  die  weitläufigen 
Keller. 

Im  vierten,  an  der  östlichen  Seite  des  Kreuzganges 
hinlaufenden  Flügel  war  der  Kapitelsaal,  Dieser  Saal  pflegte 
in  der  Nähe  der  Kirche  zu  liegen  und  war  von  dem  Kreuz- 
gang  häufig    nicht    durch    eine   geschlossene  Thür,    sondern 


1  ürkundenbuch  der  Stadt  Strassbnrg  I,  46  nr.  54. 

s  Grandidier,  Oeuvres  in^dites  II,  15. 

3  De  no8  joars  encore  TEglise  de  St.  Pierre-le -Jeane  offre  cela 
d'intlressant,  quelle  existe  encore  dans  son  plan  cPetisemble,  avec  une 
gründe  partie  des  anciens  hätiments  daitstraux.  —  Le  cloitre  subsiste 
encore.  II  accase  deux  ^poqnes  bien  distinctes.  La  partie  ancienne 
paralt  dater  du  IX^;  la  partie  plus  r6cente  au  contraire  ne  semble 
remonter  qn'an  XV.  sidcle.  (Schnöegans,  ms.  Stadtbibliothek.) 

*  Otte,  Kunst-Archäologie  I,  p.  78. 

5  Otte,  p.  80. 


—    16    — 

nur  durch  offene  Bogenstellungen  getrennt.  Im  Jung-St.  Pefer- 
Monasterium  ist  er  noch  heute  zu  sehen  ;  dort  besteht  er  aus 
vier  Jochen  und  zeigt  eine  schöne  Wölbung  mit  konservierten 
Schlusssteinen.  (Er  dient  jetzt  als  Weinkeller.)  Später  wurde 
er  in  den  ersten  Stock  verlegt^  wo  seine  fünf  gotischen,  mit  roter 
Farbe  bestrichenen,  jetzt  oben  durchgebrochenen  und  verbauten 
Fensterrahmen  noch  zu  sehen  sind.  Er  diente  für  die  Beratungen 
des  Konvents.  Im  Innern  war  ringsherum  eine  Steinbank 
angebracht  für  die  Brüder,  die  sich  hier  auch  taglich  nach  dem 
Morgengottesdienste  unter  dem  Vorsitze  des  Stiflspropstes  ver- 
sammelten zum  Vortrage  eines  Kapitels  aus  der  Ordensregel,  zu 
richterlichen  Verhandlungen  und  Beratungen,  etc.* 

Der  erste  im  Erdgeschoss  liegende  Kapitelsaal  diente 
zum  Begräbnis  der  Kapitularen.  Er  ist  jetzt  noch  mit  Gra6- 
steinen  belegt,  auf  welchen  Gestalten  von  Stiflsherren  mit 
Inschriften  zu  sehen  sind. 

In  allen  Klöstern,  d.  h.  geistlichen  Verbrüderungen,  die 
nach  Art  der  Mönche  ein  gemeinsames  Leben  in  einem  und 
demselben  Gebäude  führten,  war  stets  eine  besondere  Ab- 
teilung vorhanden  zur  Aufnahme  erkrankter  Brüder  und  An- 
gehöriger, sowie  vor  der  Pforte  eine  Herberge  für  fremde 
Pilger.^  Für  Jung-St.  Peter  können  wir  uns  die  Lage  dieser 
Häuser  nicht  mehr  denken.  —  Nördlich  von  der  Kirche  lag  der 
«Kirchhoff»  oder  «Goemelerium» ,  der  aber  schon  vor  dem 
13.  Jahrhundert  auf  die  westliche  Seite  versetzt  wurde  und 
den  Namen  «Leichhoff^  oder  <(Leuthoff»  hatte;  er  war  der 
Gottesacker  der  gewöhnlichen  Leute. 


i  Wie  dieser  Kapitelsaal  im*  Jahre  1638  möbliert  war,  ersehen 
wir  aus  einem  Inventarium,  das  folgendes  berichtet: 

«Im  Jahr  1633  verfügten  sich  die  Herren  Deputirten  aus  dem 
Magistrat  hinanf  in  die  grosse  Kapitelstube  und  protokollirten : 

«In  gemelter  Capitelstueben  seint  zu  befinden  wie  folgt: 

Item  ^  nngleiche  grosse  gemalte  Tafeln, 

1  grosse  AUar-Tafelj   mit  des  Decani  Hanss  Heinrich  Mer- 
ckels  Bildnns, 

Item  hinter  derselben  ein  Wandkänsterlein  («wanth  Kensterlin«) 
mit  4  Thüren,  darinnen:  1  alter  beschlässiger  Trog,  darinnen  aller- 
handt  gerümpel  von  Bachern  vnd  Kirchenzierde, 

1  offener  Büchersdirank  mit  8  nnterschlichen  Fächern,  darauf 
allerhandt  alte  Mess-  und  Chorbücher  in  folio  und  in  4'. 

1  Schaft  mit  4  Fächern,  darinnen  viel  hölzerne  vergälte  bilder^ 
so  anf  dem  hohen  Altar  sollen  gestanden  sein, 

2  grosse  messingene  Lichtstöck, 

1  geschriebene  Calender-  and  Planeten-Tafel.  •  (Bezirksarchiv.) 
-i  Otto,  K-A.  I.,  p.  94. 


—    17    — 

§  3.  Das  Stiftsleben. 

um  sich  einen  Begriff  von  dem  Leben  der  ersten  Canonici 
zu  machen,  iifenugt  es,  die  Hauptregeln  des  Stiftslebens  sich 
anzusehen,  wie  dieselben  definitiv  auf  dem  Konzil  816  bestimmt 
waren. 

Das  Kloster  verblieb  die  Behausung  aller  Stiflsglieder,  mit 
einem  gemeinsamen  Schlaf-  und  Esssaal ;.  nur  die  gebrechlichen 
und  greisen  Canonici  durften  ein  Privatzimmer  benutzen.  Um 
jede  Ursache  von  Unruhe  und  Unordnung  von  der  Stifts- 
wohnung fernzuhalten^  wurde  sie  von  einer  ziemlich  hohen 
Mauer  umgeben,  die  niemand  gestattete,  anderswo  aus-  und 
einzugehen  als  durch  das  Thor. 

Die  Besitztümer  des  Kapitels  bildeten  ein  gemeinsames  Fer- 
mögen;  über  sein  Privatvermögen  konnte  jeder  Canonicus  frei 
verfügen.  Aus  der  gemeinsamen  Kasse  erhielten  die  Stifls- 
herren  gleiche  Portionen  von  Nahrung  und  Wein ;  sie  hatten 
auch  einen  gewissen  Teil  an  dem  Opferstock,  mit  dem  sie  sich 
begnügen  sollten,  um  sich  nicht  den  Vorwurf  zuzuziehen,  als 
ob  sie  den  Armenteil  verringern  wollten. 

Es  durften  auch  Kinder  Mitglieder  des  Stifts  werden;  ein 
Canonicus  musste  ihnen  den  Unterricht  erteilen. 

Die  Zeit  war  für  die  Stiflsglieder  folgendermassen  geregelt : 
Zwei  Uhr  nachts  standen  sie  auf,  um  die  Matutinen  zu  beten ; 
in  der  ersten  Tagesstunde  und  in  der  ersten  Nachtstunde  gingeu 
sie  in  den  Chor,  um  zu  singen  und  zu  beten,  worauf  ihnen 
verboten  war  Nahrung  zu  sich  zu  nehmen  und  miteinander  zu 
reden.  Ohne  Erlaubnis  sollte  niemand  aus  dem  Kloster  gehen. 
Ausser  der  gottesdienstlichen  Beschäftigung  mussten  sie  stu- 
dieren, ein  jeder  das  Fach,  für  welches  er  am  meisten  Fähig- 
keit besass.  Während  der  Mahlzeit  las  ein  Bruder  aus  einem 
Erbauungsbuche  vor. 

Das  Hospitiurriy  für  die  armen  Reisenden  eingerichtet,  stand 
unter  der  Aufsicht  eines  Bruders ;,  während  der  Fastenzeit  war 
den  Brüdern  geboten,  den  Armen  die  Füsse  zu  waschen.  — 
Ein  Bruder  hatte  die  Thorwache ;  er  empfing  die  Fremden  und 
fahrte  sie  zu  dem  Propst,  dem  er  auch  bei  einbrechender  Nacht 
die  Schlüssel  des  Klosters  verabreichte.  Er  bewohnte  die  an 
das  Claustrum  angebaute  Custorey  (hinter  der  Kirche  gebaut), 
cweil  der  Custos  die  Pforten  Claustri  und  der  Kirchen  müssen 
in  Achtung  haben,  die  er  auff-  und  zuschliessen  lassen:s>.* 

Ursprünglich  waren  die  Hauptbeamten,  ausser  dem  Pförtner y 
dem  Herhergsbruder  und  dem  Schulrektory  nur  der  Propst,  der 


>  Stadtarchiv,  Nr.  81. 


1 


—     18    — 

die  Verwaltung  der  Guter  innehatte,  der  Kantor  und  der  Cel- 
larius,   der  unler  sich  den  Stiftsbäcker  und  die  Köche  halte. 

Wie  überall  Hess  man  im  Jung-St.  Peter-Slifl  die  für 
reiche  Canonici  zu  strengen  Regeln  in  Vergessenheit  geraten. 
Zugleich  wurde  die  Zahl  der  Beamten  durch  die  Kreierung  eines 
Dekans  und  eines  Custos  vermehrt,  und  erlitten  auch  die 
Dienstleistungen  der  durch  das  Konzil  816  kreierten  Beamten 
Veränderungen.  Die  wichtigste  Verletzung  der  kanonischen 
Regel  war  die  Verzichtleistung  auf  das  gemeiiisame  Lehen. 
Sie  war  verursacht  durch  das  wachsende  Vermögen  des  Ka- 
pitels und  die  Ernennung  zu  den  Pfründen  von  Adeligen, 
deren  eingewöhnte  Lebensweise  eine  bequemere  und  freiere  war.* 

Wir  können  nicht  mehr  ermitteln,  wie  viel  Bmder  das 
Jung-St.  Peterkloster  hatte,  ehe  es  in  ein  Stift  verwandelt 
wurde.  Zur  Zeit  seiner  Erweiterung  wurden  44  Kanonikate 
errichtet. 

Die  sieben  ältesten  waren  Priester^  Diakonen ;  von  den 
sieben  jüngsten  wurde  nur  der  Grad  des  Suhdiaconus  gefordert. 

§  4.  Wachstum  des  Stifts  nach  innen« 

Im  letzten  Viertel  des  iO,  Jahrhunderts  wurde  die  Ge- 
meinsamkeit des  Stitlslebens  fast  allgemein  aufgehoben.  Nach- 
dem in  Strassburg  das  Münsterstift  auch  hierin  vorang^;angen, 
folgten  die  anderen  Stifte  nach. 

Um  jedoch  dem  Buchstaben  der  ursprünglichen  Regel  ge- 
recht zu  werden,  der  von  einem  Stiftskloster  redete  (claustrum 
canonicorum),  wurde  den  Stiftshäusem  der  Name  curiae 
claustrales  (Klosterhäuser)  beigelegt  und  die  Bestimmungen 
des  ursprünglichen  Artikels  über  die  gute  Verwahrung  und 
gute  Instandhaltung  des  Klosters  wurden  auch  auf  die  Stifts- 
häuser  ausgedehnt. 

Das  Wort  Monasterium  kommt  freilich  noch  in  einer 
Urkunde  des  Kaisers  Heinrich  VI.  im  Jahre  1196  vor:  «Mo- 
nasterium sancti  Petn  Apostoli  in  suburbio  Argentinensi» ;  *  aber 
dieses  Wort  wird  auch  dem  Münsterstift  noch  beigelegt,  lange 
nach  dem  Aufhören  des  gemeinsamen  Lebens.  Es  wurde  eben 
zuerst  bald  der  alte  Name  c Monasterium j»,  bald  der  neue  Name 
«Kapiteb  gebraucht.  Das  gemeinsame  Haus  wurde  fortan  nur 
von  den  minorennen  Stiftsherren  bewohnt.  Eine  Zeitlang  erhielt 
sich  noch  unter  den  Stiftsherren  die  Sitte  des  gemeinsamen  Essens. 
Von  dem  13.  Jahrhundert  jedoch  an  entsagten  sie  ihr,  und  sie 


i  Aus  und  nach  C.  Schmidts :  «Le  Chapitre  de  St. -Thomas  > 
2  Urkandenbuch  der  Stadt  Strassburg  I,  110  nr.  34. 


—    19    — 

beschlossen,  die  Besoldung  der  Köche  der  Kirche  zuzuwenden.  ^ 
Von  der  Zeit  an  wurden  keine  anderen  Stiftsmahlzeiten  gehalten 
als  die  an  grossen  Festen,  oder  wenn  es  galt,  einen  fremden 
Würdenträger  zu  ehren.  Das  Refektorium  wurde  auch  als 
Kapitelstube  gebraucht. 

Im  Jahre  1200  wurde  das  Stift  in  die  Stadterweitei*ung  mit 
allen  damit  verbundenen  Rechten  und  Pflichten  gezogen.  < 
Zur  Dankbarkeit  dafür,  «dass  das  Stift  die  Stadt  begriflen,  be- 
schützet vnd  geschirmet  worden,  hat  das  Stift  eine  singende 
Mess  oder  Danklied  abzusingen  vnd  zu  begehen  auffgesetzet, 
worzu  Einer  nahmens  Magister  Heinricus  DiethmaruSy  ein 
piu'bendarius  prdobendar  Episcopi  in  demselbigen  Stillt,  durch 
sein  Legatum  verordnet,  wie  folgt :  citem  1  flf  iij  ß  ad  can- 
tandum  de  Bta  Yirgine  pro  salute  communitatis  civitatis  ratione 
tuitioDis.>s 

Im  Jahre  1225,  unter  dem  Propst  Ulrichy  verteilten  die 
Stiflsherren  («fratres»)*  unter  sich  die  Einkünfte  der  Güter  in 
Hunheym  und  Vendenheim,  in  Antschussheym,  Umesheim  und 
in  Bersted,  Kriegsheym,  Phulgriesheim,  Dingksheym,  Hume- 
lotesheyra,  in  Mulnheym  und  in  Brumat,  in  GeyspoUzheym, 
Hirckheysheim,  Kugenheym,  Duntzheym,  Pfettesheym,  Kune- 
heym,  Oßenheym,  Franckenheym,  Atzenheym,  Königshoflen, 
und  die  Güter,  die  vor  der  Stadt  lagen. 

«(Wie  viel  (meldet  ein  Manuskript  aus  dem  17.  Jahr- 
hundert^) von  der  Zeit  an,  da  die  Kirch  neu  erbaut  (1290 — ^1320) 
l^^utherzige  Leut  darzu  gestifflet,  ja  eigene  Gapellen  daran  ge- 
bawen  (als  der  Zornen  Gapell)  und  Häuser  dai*zu  legiret]»,  davon 
könnte  uns  das  Liher  anniversarium  «überflüssigen  Bericht 
mittheilen]»  (wenn  es  noch  existierte).  Aber  weder  im  Bezirks- 
noch  im  Stadtarchiv  fand  Schreiber  dieses  seine  Spur. 

«Von  dieser  Zeit  an  hat  auch  das  Stiflt  Jungen  St.  Peter 
eine  gantz  andere  fadem  (Ansehen)  bekommen,  und  ist  nach 
und  nach  zu  solchem  ansehenlichem  Gollegiat-StifTt  erwachsen. 


1  Schmidt,  ibid.,  p.  lö. 

2  Königshovens  Strassb.  Chronik  fol.  273:  «Also  wart  die  Al- 
mende u.  zum  Jungen  St.  Peter  und  der  Rossemerket  za  der  Statt 
begriffen  o.  vmbgemnret» 

{Ahnende  hiessen  die  Gemeindegüter  um  die  Stadt.) 

3  So  in  Liber  Anniversariornm,  «welches  von  dreyen  Jahren  zu 
dreyen  Jahren  and  in  ao.  1323  schon  ans  den  ältesten  dergleichen 
Büchern  jeweiln  abcopiret  und  wieder  restituirt  worden».  (Stadt- 
archiv Nr.  81,  47  Lad.) 

^  Divisimas  inter  nos  fratres,  agros  sc.  fragiferos  sitos.  (S.  Be- 
zirksarchiv.) 

^  Stadtarchiv,  Lad.  47.  Nr.  11. 


—    20    — 

«Das  Wort  clauslruin  (Kloster)  wird  in  folgenden  (den 
nachherigen)  Statutis  sehr  rar  mehr  gefunden^  da  es  doch 
vorhero  zum  öfRern  vorgekommen  .  .  . 

«Und  viel  anders  mehr  ward  zu  des  Stiffts  weilerm  flor 
und  Ansehen  änderst  als  zuvor  eingerichtet.]!» 

Im  Anfang  des  44.  Jahrhunderts  ist  unter  den  Legaten, 
die  der  neuerhauten  Stiftskirche  gemacht  wurden,  das  be- 
trächtliche (21,000  Gulden)  \on  Hugo  Zorn^  dem  Stiflspropst, 
zu  verzeichnen  (4317,  Sonntag  vor  Oculi). 

Es  ist  auf  etlichen  Pergamenten  geschrieben  und  mit  dem 
Piopsf Siegel  versehen  und  noch  heute  im  Bezirksarcbiv  vor- 
findlich« 

Das  erste  Pergament  beginnt  mit  den  Sätzen  : 
«ein  Nomine  Domini,  Amen.  Cum  nihil  certius  sit  morte, 
nihil  vero  incertius  sit  hora.  Item  ego  Hugo  praepositus  Ec- 
clesiae  S.  Petri  Argentinensis  corpore  per  Dei  gratiam  sanus  et 
pariter  mentis  compos,  cogitans  de  extremis,  Et  ne  videar  dis- 
cedere  intestatus  de  rebus  meis  mihi  a  Deo  collatis,  In  quibus 
haeredes  mei  post  obitum  meum  de  jure  nullam  habent  capem 
portionem,  praesertim  cum  ipsa  res  neque  paterna  haereditate 
vel  materna,  sed  pro  redditus  et  proventus  Ecclesiae  meae 
S.  Petri  praedicti  ad  me  sunt  delata  seu  comparaverim  mihi 
ipsas,  propter  quod  praecipue  ipsae  res  ad  pios  converli  ex  de- 
bito  debere  usus,  meum  Testamentum  seu  ultimam  voluntatem 
ordine  facio,  statuo  et  exprimo  pro  praesentem  slatuum,  ordi- 
navi,  feci.  In  hunc  motum  meae  animae  ad  salutem,  progeni- 
torum  omnium  et  parentum  :  Primo,  etc.i* 
Die  folgenden  Testamente  enthalten: 

2.  Donatio  inter  vivos  omnium  in  praescripto  Instrumento 
Contentorum  nee  non  reddituum  G.  Librarum  (Geld)  facta 
Ecclesiae  nostrae  per  Dm.  Hugonem  praepositum  (8  Idus 
Novbris  1349)  «ob  Dei  honorem,  meoque  et  progenitorum  meo- 
rum  animarum  remedium  et  salutem. j» 

3.  Interpretatio  et  Modificatio  per  Dominum  Hugonem 
Praepositum  locum  quae  prius  disposuit  et  legavit  (1.  Idus  No- 
vembris  1319). 

4.  Oixlinatio  per  Dominum  Hugonem,  Praepositum  de  cera 
ministranda  ad  festa  et  Anniversaria  per  eum  instituta  (40  Gal. 
Martii  1321). 

Hugo  Zorn  hatte  Güter  in  Kestenholz  und  Scherweiler 
(bona  vinifera),  in  Doroltzheim  (Dorlisheim),  Svindratzheym, 
Geyspolsheim,  Stytzheim  (vi IIa m  meam),  in  Hettesheim  (cum 
vinario  meo  ibidem),  Dingksheim  (tres  agri  et  unum  pratum). 
Er  knüpfte  das  Erbteil  an  die  Bedingung,  dass  kein  Ganonicus 
oder  Vicarius  Anspruch    haben    könne   auf  Zinsen  dieses  Yer- 


—    21    — 

mächlaisses,    wenn  er  in  der  ersten  Stunde  den  ersten  Psalm 
nicht  gesungen  hätte.  ^ 

§  5«  Wacbstnm  des  Ansehens  des  Stifts  nach  anssen. 

Von  seiner  Stiftung  an  war  auch  das  wellliche  Ansehen 
des  Jung-St.  Peter-Kapitels  immer  mehr  gewachsen.  Bald  nahm 
es  unter  den  Stiften  Strassburgs  und  des  Elsass  eine  der 
ersten  Stellen  ein.  Mit  dem  Thomasstift  wurde  es  in  die  erste 
Reihe  nach  dem  Munsterstift  gestellt. 

In  den  ersten  Jahren  des  12.  Jahrhunderts  figurieren  die 
Stiflsherren  von  Jung-St.  Peter  mit  denen  von  St.  Thomas  als 
Zeugen  in  den  meisten  bischöflichen  Akten.  Im  Jahre  1105 
wohnt  der  Propst  von  Jung-St.  Peter  Hetzel  mit  Conon,  Propst 
von  St.  Thoma,  dem  Akt  bei,  durch  welchen  Friedrich  IL, 
Graf  im  Elsass  und  in  Schwaben,  die  Fundation  des  Monaste- 
riuins  von  Sanct-Fides  zu  Schlettstadt  bestätigte.*  Im  Jahre  1133 
ist  der  Propst  von  Jung-St.  Peter  Eberhart  mit  dem  St.  Tho- 
maspropst Bertold  Zeugen  der  Bestätigung  der  Abtei  von  Baum- 
garten durch  den  Bischof  Gebhart. * 

Manchmal  wurden  Stiflsherren  vom  Papst  und  seinen  Ge- 
sandten zu  Aufträgen  gebraucht,  leisteten  den  Bischöfen  Dienste 
oder  wurden  als  Schiedsrichter  in  streitigen  Fällen  herzugezogen. 
Ein  Beispiel.  In  Hugesrute  (bei  Dettweiler)  wurde  der  Wald 
oft  von  den  Bewohnern  der  Nachbarorte  verwüstet ;  die  Herren 
von  Lichtenberg  selbst,  welche  die  Gegend  beherrschten,  nahmen 
teil  an  diesen  Räubereien  und  verursachten  dem  Strassburger 
Thomasstift,  das  diese  Güter  verpachtet  hatte,  grossen  Schaden. 
Das  Stift  liess  seine  Klage  bis  nach  Rom  zu  dem  Papst  Inno- 
cenz  VI.  gelangen,  der  den  Jung-St.  Peterkantor  Nikolaus  mit 
der  Prozessführung  betraute.  Am  10.  Februar  1356  sprach 
dieser  den  Bann  gegen  den  Grafen  Ludwig  und  die  Bauern, 
die  ihm  gehorcht  hatten,  aus.  Er  befahl  den  Priestern  und 
Kapellanen  von  Lichtenau,  von  Scherzheim,  von  Bischofsheim, 
von  Hugesgenite,  von  Linggries,  von  Leulesheim  und  von  Werde 
die  Schuldigen  aufzufordern,  auf  dem  Munsterplatz  in  Strass- 
burg  sich  einzustellen,  um  dem  Thomasstift  Genugthuung  zu 
geben  oder  die  Folgen  des  gegen  sie  geschleuderten  Bannes  zu 
tragen.  Da  niemand  sich  einstellte,  proklamierte  Nikolaus  vor 
der  Eingangsthüre  des  Münsters  am  3.  Februar  des  folgenden 


1  Nallns  Canonicornm  vel  Vicariorum  praedictoram  distribatio- 
nem  aliqnam  de  hajasmodi  redditibns  recipiat,  si  in  hora  prima 
neglezerit  primam  Psalmam.  Test.  Hag.  Zorn. 

2  Grandidier,  Bist.  d'Alsace  II,  p.  199. 

3  Ibidem,  p.  285. 


—    22    — 

Jahres  das  Urteil,  das  den  Grafen  zu  einer  Geldbusse  von  100 
Nfark  Silber,  als  Räuber  eines  Kirchengutes, .  strafte.  Jetzt  erst 
schlug  ihnen  Ludwig  einen  Vergleich  vor.  Am  23.  Juni  hob 
Walther  von  Mülnheimy  Nachfolger  von  Nikolaus  als  Kantor 
von  Jung-St.  Peter,  auf  die  Bitte  des  Kapitels,  den  Bann, 
wieder  auf.  Das  Kapitel  machte  Ludwig  den  Vorschlag,  ihm 
den  Wald  abzutreten.  Die  Abtretung  erfolgte  durch  Kontrakt 
vom  2.  Juni  1360,  mit  Einwilligung  des  Bischofs  Johann. 
St.  Thomä  erhielt  dagegen  den  Zehnten  vom  Korn,  Wein  und 
Heu  sowie  auch  die  Lehenzinse,  welche  die  Herrschaft  Lichtenberg 
im  Bann  von  Kuenheim  auf  dem   Kochersberg  besessen  hatte.i 

Sogar  zu  Bischöfen  konnten  die  Stiftsherren  gewählt  werden. 
Im  12.  Jahrhundert  war  der  Strassburger  Bischof  Burkard 
Propst  von  Haslach  und  von  Jung-St.  Peter  zugleich,  sowie 
Canonicus  und  Archidiaconus  des  Münsterstiftes. 3 

Das  Stift  von  Jung-St.  Peter  wusste  sich  Vorrechte  zu 
sichern,  die  sein  Ansehen  erhöhten.  Das  von  Heinrich  V.  im 
Jahre  1122  dem  Munstei^stift  verliehene  Privilegium ,  dass 
seine  servientes  oder  Huber  von  jeglicher  Stadt-  und  Land- 
steuer befreit  sein  sollten,  wurde  auf  Bitten  des  Bischofs 
Burkarl  von  Kaiser  Friedrich  L  in  Strassburg  (Januar  1156) 
auch  auf  das  Jung-St.  Peter-Stift  ausgedehnt.»  Anno  1196 
erneuerte  der  Kaiser  Heinrich  VL  bei  seinem  Aufenthalt  in 
Ehenheim  (Elsass)  die  Befreiung  von  Abgaben,  die  den  Hubern 
(servientes  monasteriorum  s.  Thomae  et  s.  Petri)  von  den 
früheren  Kaiser  gewährt  worden  waren.* 

KAPITEL  HL 

Ernennungsmodus  der  Canonici.  —  Würden- 
träger und  Beamten,  Summissarien.  Unter- 
geordneter Klerus. 

§  1.  Ernennangsmodns. 

Wie  wir  schon  hörfen,  erwähnen  die  ursprünglichen  Regein 
des  Klosterlebens   eine  gewisse  Zahl   von   Beamten,  beauftragt. 


1  C.  Schmidt,  «Le  Chapitre  de  St.-Thomas»,  p.  86. 

^  Zeistholf,  Castos  von  Jnng-St.  Peter,  berichtet  in  einer  Charta 
vom  Jahr  1143 :  «Dominus  noster  Bmchardns  episcopas  qni 
tnnc  temporis  etiam  noster  fnit  prepositus.»  (Qrandidier,  0.  i.  II, 
p.  394.) 

3  Schmidt,  p.  16. 

*  F.  Lagnille,  Bist.  d'Als.,  Strasb.  1727,  fol.  I,  p.  20&.  Die  Charte 
redet  von  Jung-St.  Peter,  nicht  von  Alt-St.  Peter,  das  damals  noch 
keine  Canonici  hatte. 


-    23    — 

den  verschiedenai-tigen  Erfordernissen  des  Dienstes  im  Kloster 
und  im  Chor  6eQÜ<!;e  zu  leisten.  Diese  Funktionen  wurden  im 
Lauf  der  Jahre  in  Wurden  verwandelt,  oder,  wie  man  auch 
sagte,  in  Personaten. 

Es  gab  anfangs  14,  später  15  praebendae  canonicales  fun- 
datae,  sub  Lilteris  A.  B.  C.  D.  E.  F.  G.  H.  I.  K.  L.  M.  N.  0.« 

Unter  den  15  Canonici  waren  die  fünf  ältesten  presbyteri 
(Priester),  fünf  diaconi  und  fünf  suhdiaconi. 

In  Hinsicht  auf  die  Ernennung  und  die  Wahl  der  Cano- 
nici waren  die  Bestimmungen  der  Konkordate  Deutschlands 
zwischen  Papst  Nikolaus  V.  und  dem  Kaiser  Friedrich  III.  mass* 
gebend.  Nach  denselben  sollte  die  Ernennung  und  «provisio» 
im  Februar,  April,  Juni,  August,  Oktober  und  December  ge- 
schehen. Die  Mehrheit  der  Stimmen  des  Kapitels  gab  den  Aus- 
schlag, oder  das  Kapitel  erwählte  nach  gemeinsamer  Verab- 
ßndung.  Die  Investitur  geschah  in  der  Weise,  die  in  den  alten 
Bestimmungen  festgesetzt  war.s  Getaufte  Juden  und  uneheliche 
Kinder  waren  nicht  wahlfähig.  Der  Kleriker  sollte  das  10.  Lebens- 
jahr zurückgelegt  haben  und  sonst  tüchtig  und  vermögend  sein. 

Wir  hörten  oben,  dass  von  Anfang  an  Kinder  zum  Genuss 
der  Prabenden  gezogen  werden  durften,  die  zum  Dienst  der 
Kirche  herangebildet  werden  sollten.  Im  Prinzip  war  der  Ge- 
danke kein  übler;  die  Eltern  meinten  im  Interesse  des  Seelen- 
beils ihrer  Kinder  zu  handeln,  indem  sie  sie  frühzeitig  dem 
geistlichen  Stande  widmeten.  Sie  hofften,  dass,  in  der  Stille  des 
Klosters  erzogen,  von  Kindheit  an  die  Strenge  der  Zucht  ge- 
wöhnt und  umgeben  von  ernsten  und  pflichttreuen  Männern^ 
ihre  Kinder  nützliche  Glieder  der  Geistlichkeit  und  fromme 
Muster  für  die  Gläubigen  werden  würden.  —  Diese  Kinder 
wurden  der  Leitung  des  Scholasticus  anvertraut,  den  sie  erst 
verliessen,  als  sie  ihre  Studien  an  einer  Universität  vollenden 
wollten;  gewöhnlich  empfmgen  sie  bei  ihrer  Ruckkehr  die 
Weihe. 

Was  aber  in  dieser  Einrichtung  löblich  war,  verschwand 
bald  wieder.  Die  Sitte,  Kanonikate  Kindern  aufzubewahren, 
wurde  die  Ursache  eines  der  grössten  Missbräuche  in  der  Kirche 
des  Mittelalters;  man  dachte  bald  nicht  mehr  daran,  Kinder  für 
den  Dienst  der  Kirche  erziehen  zu  lassen,  sondern  die  Zukunft 
des  jüngsten  Familiengliedes  durch  eine  reiche  Präbende  zu 
sichern.  Es  stellten  sich  im  Lauf  der  Geschichte  des  Stifts 
noch  andere  Missbräuche  ein. 


1  Ans :  «  Statuta  et  Consnetudines  Ecclesiae  Sti.  Petri  Jnnioris  in 
noYam  et  snccinctiorem  formam  redncta«.   (Bezirksarchiv.) 
'  Ibidem. 


n 


—    24    — 

Ursprünglich  genügte  es,  um  in  das  Kapitel  gewählt  zu 
werden,  Vorliehe  für  den  geistlichen  Stand  zu  haben;  man 
machte  keinen  Unterschied  zwischen  Büi^em  und  Adehgen.  Noch 
im  13.  Jahrhundert  gab  es  Canonici  von  bürgerlicher  Herkunft. 
Bald  aber  wurde  der  grösste  Teil  der  Kanonikate  durch  Söhne 
von  Rittern  und  reichen  Patriziern  besetzt.  Das  Wachstum  des 
Vermögens,  die  kirchliche  und  politische  Bedeutung  des  Kapitels 
zogen  die  Glieder  der  Strassburger  Aristokratie  und  des  elsassischen 
Adels  an.  Die  Namen  der  Kayenecky  der  Mnlnheinty  der  Zorn 
Gndet  man  des  öfteren  und  besonders  bei  den  höchsten  Würden- 
trägern des  Kapitels.^ 

Das  Recht  der  Investitur  eines  gewählten  Canonicus  stand 
dem  Propst  zu  und  in  seiner  Abwesenheit  von  der  Diöcese, 
dem  Dekan  und  dem  Kapitel.  Die  Gebühreny  die  dem  Propst 
für  die  Investitur  zukamen,  waren 

für  das  Kanonikat  10  Gulden  (floreni) 
für  das  Vikariat        ö       » 
für  die  Capeilenie     4      » 
für  feudo  4      )) 

für  das  Haus  20      » 

Die  Stiftseinkünfte  der  «Canonici  residentes»  waren 

40  Viertel  (feiner)  W^eizen, 
10       »      Weizen 
und  10       »      Gerste. 

Anstatt  des  Weines  bezogen  sie  aus  dem  Stiftsspeicher 
10  Viertel  Weizen,  10  Viertel  feinen  Weizen  und  10  Viertel 
Korn. 

In  Geld  bezogen  sie  300  Gulden  (floreni).  Die  Vikare, 
«Chori  Residentes»,  bezogen  150  florenos  als  Präsenzrechte; 
aus  dem  Stiftsspeicher  aber  nichts.^ 

Weil  am  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  die  Einkünfte  der 
Fabrik  so  gering  waren,  dass  aus  derselben  die  Kosten  der 
Unterhaltung  der  Stiftsgebäulichkeiten  nicht  bestritten  werden 
konnten,  so  wurde  in  den  Jahren  i421  und  1452  mit  Be- 
willigung und  Bestätigung  der  Bischöfe  Wilhelm  und  Ruprecht 
ein  Statut  herausgegeben,  welches  jeden  neuernannten  Canonicus 
oder  auch  «den  zur  Präbende  Sculteti»  Gewählten  verpflichtete, 
bevor  er  in  den  wirklichen  und  leiblichen  Besitz  seines  Kanoni- 
kats  aufgenommen  werde,  50  Rheingulden  (florenos  Rhenenses) 
von  echtem  Grolde  und  gesetzlichem  Gewicht  der  Kirchenfabrik 
zur  Restaurierung  der  Ornamente  des  Hochaltars  (und  nur  zu 
diesem  Zwecke)  auszuzahlen. 


^  C.  Schmidt:  « Le  Chapitre  de  St.-Thomas. • 
2  Statuta  a  Riccio. 


—    25    — 

Ueber  die  Aufnahme  der  Canonici  zu  den  Kapitel" 
$iiiungen  war  bestimmt:  Kein  Canonicus  wird  in  dem  Jahr 
seines  strikten  Aufenthalts  (stricta  residentia)  und  in  den  zwei 
folgenden  Jahren  zu  den  Kapitelsitzungen  zugelassen,  wenn  er 
auch  als  Unterdia kon  oder  presbyter  geweiht  worden.  Kein 
Caoonicus,  der  über  seine  Erwählung  als  solcher  und  seine 
Präbende  Processe  führt,  kann  zu  den  Kapitelsitzungen  zugelassen 
werden,  bis  er  in  den  friedlichen  und  ruhigen  Besitz  des  Kanoni- 
kats  oder  der  Präbende  gekommen  ist.i 

Da  die  Canonici  ausser  der  Stiftspfründe  noch  Privatein- 
kommen  hatten  und  ihre  besonderen  Ehrentitel,  so  wurden 
diese  Personate  der  Gegenstand  des  Gelüstens  von  Seiten  der 
päpstlichen  Höflinge.  Durch  ihre  «apostolischen  Briefen»  ver- 
mochten die  Päpste  diese  Würden  auszuteilen ;  was  den  De- 
kreten der  Koncilien  und  der  Konkordate  im  15.  Jahrhundert 
zum  Trotz  geschah.  Die  "Würden  verloren  auf  diese  Weise  ihren 
dienstlichen  Charakter,  da  der  Dienst  von  abwesenden  Stifls- 
herren  nicht  verrichtet  werden  konnte.^  —  Auch  die  Kaiser 
suchten  ihre  Macht  und  Gunst  in  dieser  Hinsicht  geltend  zu 
machen.  —  Aus  diesen  päpstlichen  und  kaiserlichen  Vergünsti- 
^ngen  erwuchsen  für  das  Kapitel  eine  Menge  von  Verlegenheiten, 
deren  Beilegung  dasselbe  in  lange  und  kostspielige  Prozesse 
verwickelte.  Manchmal  hatte  das  Kapitel  eben  erst  eine  vakante 
Präbende  verliehen,  als  plötzlich  ein  unerwarteter  Bewerber 
sich  einstellte,  eine  apostolische  Provision  oder  eine  erste  kaiser- 
liche Bitte  vorzeigend.  Daher  Streitigkeiten,  Intriguen,  Anstren- 
gungen der  Kompetitoren,  um  sich  gegenseitig  aus  dem  Sattel 
zu  heben,  und  endlich  Prozesse,  in  denen  die  Kapitel  selten 
Sieger  wurden.  Wegen  der  durch  solche  Streitigkeiten  ver- 
ursachten Kosten  wurde  von  1367  an  jeder  neue  Canonicus  ge- 
zwungen, zwei  Bürgen  zu  stellen,  welche  einen  Kautionsver- 
Irag  unterschriebeu  für  alle  etwaigen  Kosten  oder  Verluste, 
welche   die  Beanstandung  der    Wahl  mit  sich  bringen  konnte. 

Einer  der  merkwürdigsten  Prozesse  in  dieser  Hinsicht  wurde 
im  Jahre  i449  geführt.  Der  Bischof  Ruprecht ^  verschwenderisch 
und  habsüchtig,  hatte  sich  selbst  eine  päpstliche  Provision  für  ein 
Kanonikat  in  Jung-St.  Peter  verschaflFl.  Aber  Paul  Munthart, 
Canonicus  von  St.  Thomä,  hatte  schon  einen  älteren  Brief  für  die- 
selbe Präbende  in  Händen.  Er  protestierte  daher;  der  Bischof 
appellierte  an  den  Papst,  und  das  Kapitel  von  St.  Thomä,  statt 
sich  seines  Stiflsherrn  anzunehmen,  unterstützte  den  Appell  seines 
Bischofs.    Die    Rit'er    Burkart    von   Mülnheim   und    Arhogast 


1  Ibidem. 

2  C.  Schmidt,  Ibidem. 


—    26    — 

von  Kagenecky  der  Ammeister^  Leon/^ard  Dt'achenfels  und  der 
AUammeister  Jakob  Wurmser  stellten  sich  als  Bürgen  für 
St.  Thomä.  Wie  es  scheint,  unterlag  der  Bischof,  denn  später 
figuriert  Munthart  unter  den  Stiftsherren  von  Jung-St.  Peter. 

Darum  beschlossen  im  Jahre  1518  die  in  Strassbui^  gegen- 
wärtigen Canonici,  dass  niemand  mehr  eine  Wurde  bean- 
spruchen könne,  ohne  schon  vorher  ein  Kanonikat  erhalten  zu 
haben,  und  dass  kein  Würdenträger  das  Einkommen  seiner 
Pfründe  beziehen  könne,  ohne  in  Strassburg  selbst  seinen 
Wohnsitz  zu  haben. i 

• 
8  £.  Würden  and  Aemter. 

Die  in  der  ersten  Zeit  der  Stift sfundation  vorkömmlichen 
Funktionen  erlitten  in  der  Folge  verschiedenartige  Modifika- 
tionen ;  ausserdem  wurden  nicht  alle  während  des  ganzen 
Mittelalters  beibehalten  ;  einzelne  wurden  als  unnütz  abgeschafTl, 
andere  dem  untergeordneten  Klerus  auferlegt.  Erwähnen  wir 
zunächst  die  Funktionen,  die  nie  abgethan  und  nur  Stiflsherren 
verrichten  konnten.  Wir  folgen  hier  wörtlich  den  vortrefflichen 
Ausführungen  von  Ch.  Schmidt  in  seinem  Buche  über  die  Ge- 
schichte des  Thomas-Kapitels.« 

Der  Propst  (praepositus,  pr^vot).  Er  war  hauptsächlich 
mit  der  Administration  des  Eigentums  betraut  und  mit  der 
Ehre,  das  Kapitel  bei  feierlichen  Gelegenheiten  zu  repräsen- 
tieren. Er  wurde  durch  den  Bischof  investiert  und  investierte 
dann  auch  die  anderen  Stiftsmitglieder  und  Beamten. 

2.  Der  Dechant  (decanus,  doyen).  Er  wachte  üljer 
die  Stiflsdisziplin  und  verrichtete  die  Seelsorge  an  den  Stifts- 
herren und  den  Vikarien,  deren  Beichtvater  er  war.  Ursprüng- 
lich war  der  Propst  mit  dieser  Thätigkeit  betraut;  allein  in  Junjr- 
St.  Peter  wde  in  St.  Thomä  und  anderen  Stiften  hatte  man 
die  Regel  durch  listige  Exegese  umgangen  ;  man  ))ehauptete, 
dass  der  Dechant,  «quia  prae  aliis  positus  est»,  auch  in  ge- 
wissem Sinne  als  praepositus  gelten  könne. 

3.  Der  Kastei*  (thesaurarius  sive  custos).  Er  hatte  den 
Schatz  der  Kirche,  d.  h.  die  Reliquien,  die  Ornamente  und  die 
heiligen  Gefasse  zu  verwahren.  Der  Unterhalt  der  Ornamente 
und  überhaupt  die  Sorge  um  die  beim  Kultus  gebrauchten 
Gegenstände  lag  ihm  ob.  Er  musste  den  Stiftsherren  die  Kerzen 
liefern  für  die  Prozessionen  und  für  die  Messen  an  bestimmten 
Festtagen,  die   über   dem   Hochaltar   brennende   Lampe  unter- 


i  Ch.  Schmidt,  ibidem. 
2  Ch.  Schmidt,  p.  54  f. 


—    27    — 

halten,  die  chappas  und  die  albas  besorgen,  die  Altartücher 
reinigen  und  die  liturgischen  Bucher  des  Chors  einbinden 
lassen.  Die  Kosten  dieses  Unterhalts  wurden  teils  durch  das 
Stiftsvermögen,  teils  durch  die  Fabrik  getragen.  Sein  wichtigstes 
Amt  aber  war,  die  Pfarrei  zu  regieren,  die  Seelsorge  der  Pfarr- 
kinder zu  betreiben,  wozu  er  ihre  Opfergaben  für  sich  in  Em- 
pfang nahm. 

Unter  ihm  stand  der  den  letzten  Rang  im  Kanonikat  inne- 
bal)ende  Plebanus  oder  Pfarrer.  > 

Da  die  Stiftskirche  eine  «Pfarre»  war,  so  wurde  der  Ple- 
banus^  durch  den  Dekan  und  das  Kapitel  erwählt  und  inve- 
stiert. Er  schwur,  dass  er  Sorge  dafür  tragen  werde,  dass  die 
Glieder  der  Parochie  in  allen  notwendigen  seelsorgerlichen  An- 
gelegenheiten durch  die  gesunde  Arznei  des  göttlichen  Wortes 
und  der  Sakramente  gepflegt  werden;  dass  er  besonders  an 
den  Sonn-  und  Festtagen  der  «sei.  Jungfrau»  und  der  Apostel 
und  an  anderen  Feierlichkeiten  eine  Predigt  halten  die  Ge- 
heimnisse der  Messe  ehrfurchtsvoll  behandeln  und  nichts 
unterlassen  werde,  was  einem  wachsamen  Pfarrer  zu  thun  ge- 
bühre. —  Im  übrigen  sollte  er,  wenn  die  Bedienung  seiner 
Pfarrei  es  ihm  erlaubte,  auch  die  Pflichten  seines  Kanonikats 
erfüllen  und,  angethan  mit  dem  Stiflsgewande,  im  Chor  samt 
den  Stiftsherren  das  Lob   der  göttlichen   Majestät   verkünden.^ 

4.  Der  Schulherr  (Scolasticus  oder  Schulmeister,  ecolätre). 
Er  stand  dem  Unterricht  der  minorennen  Canonici,  der  Chor- 
knaben und  der  Kinder,  welche  die  Gemeinde  in  die  Kirchen- 
schule sandte,  vor. 

5.  Der  Kantor  (V^orsänger)  leitete  den  Gesang  während  des 
Gottesdienstes  und  den  Gesangunterricht  der  jungen  Stiftsherren 
sowie  der  Chorknaben.^ 

Lange  Zeit  waren  obige  Funktionen  nur  ziemlich  allgemein 
bestimmt  und  konnten  in  einer  Zeit,  wo  die  Sitten  streng  und 
die  Administration  des  Stifts  weniger  verwickelt  war,  zu 
keinerlei  Streitigkeiten  unter  den  damit  Betrauten  Anlass 
geben.  Im  grossen  und  ganzen  durch  die  Regel  des  Jahres  816 
festgesetzt  und  in  etlichen  Einzelheiten  durch  das  Herkommen , 
hatte  man  nicht  Sorge  getragen,   sie  durch  schriftliche  Regeln 


1  Sein  Kanonikat  wurde  im  Jahre  1551  anter  dem  Bischof 
Erasmns  mit  seinem  Plebanat  vereinigt. 

s  Plebanus  von  Plebs,  das  Volk. 

3  Siebe :  •  Von  dem  FkbaniM  und  seiner  Pßicht  und  Competentia*  in : 
De  CoUegio  Junioris  Sti  Petri.  (Bezirksarchiv.) 

^  Siehe  auch :  Reglement  du  chapitre  sur  radmission  des 
chantres  et  enfants  de  chcBur,  h,  la  distribution  du  pain  (1B03).  — 
Bezirksarchiv  G.  4707. 


—    28    — 

zu  fixieren.  Die  Veränderung,  die  das  Kapitel  erlitt  durch  den 
Zuwachs  seines  Vermögens,  durch  den  bei  Wahlen  den  Ade- 
ligen und  Patriziern  gegebenen  Vorzug,  durch  die  Ernennung 
von  fremden  Mitgliedern,  durch  die  Häufung  von  Pfründen, 
übte  auch  auf  die  verschiedenen  VS^ürden  einen  verändernden 
Einfluss  und  wurde  die  Ursache  mancher  Streitigkeiten ;  denn 
die  einen  verweigerten  ihren  Dienst,  andere  überschritten  den- 
selben. Im  14.  Jahrhundert  stritt  man  über  die  Funktionen 
des  Propstes,  des  Dechant,  des  Kantors  und  des   Scholasticus.» 

Ausser  diesen  Würdenträgern  gab  es  ursprünglich  noch 
etliche  andere  Stiftsherren,  die  bei  dem  Aufhören  des  Zu- 
sammenlebens und  der  Wandlung  der  Stiftsgüter  in  Präbenden 
als  unnütz  aufgehoben  worden,  während  ihre  Einkünfte  dem 
Kapitelvermögen  einverleibt  wurden. 

Es  sind  die  folgenden: 

1.  Der  Cellarius,  der  die  allgemeine  Verwaltung  der 
Keller,  der  Küche,  der  Nahrung  der  Brüder  hatte.  —  Sein 
Amt  wurde  im  Jahre  1688  zum  Besten  der  Kirche  und  der 
Stiftsherren  ganz  abgethan,  nachdem  die  in  Mutzig  (Mutzigensi) 
gelegenen  Weinberge  des  Kapitels  mit  Approbation  des  Ordi- 
narius im  Jahre  1688  verkauft  worden.  Die  Einkünfte  der  Cel- 
laria   wurden    mit  ihren  Lasten   dem  Kapitel   und    der  Fabrik 

einverleibt.* 

2.  Der  Dapifer  (Tafelmeister),    der   das    Refectorium   und 

die  Mahlzeit  beaufsichtigte. 

3.  Der  Pincerna  (Mundschenk,  bouteiller),  der  die  Reben- 
kultur und  die  Weinverteilung  besorgte. 

Diese  beiden  Funktionen  waren  manchmal  in  demselben 
Canonicus  vereinigt ;  aber  schon  am  Anfang  des  13.  Jahrhun- 
derts w^urden  sie  untergeordneten  Klerikern  vertraut,  die  der 
Gellarius  ernannte. 

Zwei  Aemter,  die  vom  16.  Jahrhundert  an  von  den  Stifls- 
herren  auf  Vikare  übertragen  w^urden,  waren  die  des  Portners 
und  des  Kämmerers, 

Der  Portener  (Portarius,  Portenarius)  war  ursprünglich  der 
Verteiler  der  Almosen  an  der  Klosterpforte.  Da  bei  dieser  Thüre 
das  Hospitium  sich  befand,  wurde  dieser  Name  porta  dem 
Hospitium  selber  beigelegt  und  der  mit  dem  Empfang  der 
Fremden  und  der  Armen  betraute  Bruder  mit  dem  Titel  por- 
tarius j]feschmückt.3    Zu  den  Almosen    kamen    auch  die  Zinne 


1  Schmidt,  ibidem 
'^  Statuta  a  Riccio. 

9  Siehe    über    den    Portarius     die    Fascikel    im    Bezirksarchir 
H**— 15'  S    —   Liber   portae   secundns    sancti  Petri   janioris   argen- 


-^    29    — 

der  Armenlegate.  Da  die  Herberge  in  den  meisten  Kapiteln, 
von  der  Zeit  des  gemeinsamen  Lebens  an,  geschlossen  wurde, 
so  ]ag  es  dem  Portarius  ob«  das  Almosen  und  die  Legate  zu 
verwalten,  einzunehmen  und  auszugeben,  den  Stiftsherren  und 
den  Armen  ihren  Anteil  zu  verabreichen,  wovon  er  dem  De- 
chant  Rechnung  stellte.  Während  in  anderen  Stiften  die  Würde 
des  Portarius  an  Wert  verlor,  so  verblieb  sie,  wie  im  Münster, 
so  auch   in  Jung-St.  Peter  eine  der  Hauptwürden  des  Stifts. 

Im  13.  Jahrhundert  wurde  die  Partaria  zu  Gunsten  der 
Schaffenei  abgethan  und  wurden  ihre  Einkünfte  samt  ihren 
Lasten  dem  Kapitel  einverleibt,  i 

Nennen  wir  noch  den  Camerarius  und  den  Darmentarius, 

Der  Catnerarius  hatte  bis  zum  13.  Jahrhundert  ein  Kano- 
nikat  inne.  Später  wurde  die  Cameraria  einem  einfachen  Vikar 
anvertraut.  Der  Camerarius  läutete  die  Glocke  zur  Mette,  zu 
den  Metten  und  Vespern.  In  den  Hören  und  bei  der  grossen 
Hesse  sang  er  verschiedene  Antiphonen.  Bei  den  Metten  der 
grossen  Feste  stand  er,  angezogen  mit  der  cappa  und  ein  Rauch- 
fass  in  der  Hand,  in  der  Mitte  des  Chors.  Er  war  auch  über 
die  priesterlichen  Gewänder  gestellt  und  musste  die  Orna- 
mente und  die  Bücher  in  die  ^ccamera»  oder  in  die  Kammer 
tragen  lassen,  wo  sie  unter  seiner  Verantwortlichkeit  aufge- 
hoben waren.'  Im  13.  Jahrhundert  wurde  sein  Amt  zum 
Unterhalt  der  Schaffenei  abgethan  und  dessen  Einkünfte  mit 
den  Lasten  dem  Kapitel  inkorporiert.  Ein  einfacher  Vicarius 
wurde  mit  dem  Dienst  betraut.^ 

Dem  Dormentarius  (dormenter)  lag  ursprünglich  die  Pflicht 
ob  den  gemeinsamen  Schlafsaal  zu  besorgen,  und  die  Bruder  zu 
den  Hören  in  der  Nacht  aufzuwecken.  Als  das  gemeinsame 
Leben  aufhörte,  erlitt  das  Amt  eine  Verwandlung.  Man  ver- 
änderte  dormentarius  in   dormitarius   und   übergab   ihm    das 


tinensis;    —  copie   de  titres  de  propri6t6   divers,   constitutions    de 
rentes,  renoavellements,  transactiöns.    (Volume  in-folio.)  —  G.  4902. 

1.  Arbitrage  entre  Nicolas  de  Bunan,  chanoine  de  St.-Pierre-le- 
Jenne,  et  J.  Sigebert,  porüer  da  chapitre,  an  sujet  d'une  rente  af- 
fect^e  ä  Toffice  du  portier  sur  des  biens  k  Kintzheim  (1303).  — 
G.  4790. 

2.  Ooltz  Hüttendorff  vend  ä  Conrad  Schultheiss,  portier  de 
St.-P.-l.-J.,  nne  ferme  avec  d6pendance  (1334).  —  G.  4803. 

3.  Bail  emphyth^otiqne  entre  le  portier  da  Chapitre  de 
St.-P.-1.-J.  et  Catherine,  veave  de  Nicolas  de  Bassensheim  (1366;. 
-  G.  4739. 

1  Statuta  a  Riccio. 

^  Schmidt. 

3  « Statuta  >  (Riccias). 

3 


—    3()    — 

Amt  der  Beerdigung  derer,  die  im  Sterben  entschlafen  wai'en. 
Dormitorium  hiess  der  Gottesacker. 

Starb  ein  Pfarrkind,  so  war  (nach  der  Verordnung  von 
1403)  der  dormitarius  beauftragt,  die  Canonici  von  der  Leichen- 
feier zu  benachrichtigen.  Mit  dem  camerarius  bereitete  er 
den  Leichnam  zum  Begräbnis,  verteilte  die  Kerzen  für  die 
Leichenfeier,  sammelte  nach  dem  Gottesdienst  in  dem  Deckel 
des  Kelches  Gaben  ein  und  übergab  sie  dem  Schaffner.  Bei  den 
Vigilien  der  Verstorbenen  sang  er  die  Strophe  requiem  aeter- 
nam  und  wohnte  täglich  dem  Hochamt  bei.  Sein  Sitz  im  Chor 
war  zur  Seite  der  Stöhle  des  Dekans,  gegenüber  dem  Schul- 
rektor ;  an  den  Sonn-  und  Festtagen  sang  er  oder  der  Rektor 
den  5.  Vers  der  Metten.  —  Er  wurde  der  Pedelly  Bote  und  allge- 
meiner Diener  aller  Canonici.  Er  berief,  auf  Befehl  des  I>ekans, 
zu  den  Kapitelsitzungen,  stand  an  der  Thure  des  Saales  wäh- 
rend der  Verhandlungen  und  nahm  Notiz  über  die  Mitglieder, 
die  zu  spät  oder  gar  nicht  kamen. 

Im  Jahre  i47i  Hess  sich  das  Kapitel  St.  Thomä  durch  den 
Bischof  Ruprecht  bevollmächtigen,  die  Dormentaria  abzuschailen 
und  deren  Einkünfte  in  tägliche  Verteilungen  an  die  Canonici 
und  Vikare,  die  den  Gottesdiensten  beiwohnten,  umzuwandeln; 
doch  scheint  er  nicht  darauf  eingegangen  zu  sein,  sondern  er- 
neuerte im  Jahre  1518  einfach  das  Statut  von  i403  über  die 
Eigenschaften  und  Einkünfte  des  Dormentarius.'  Im  Stift  Jung- 
St.  Peter  begegnen  wir  dem  Dormentarius  noch  im  17.  Jahr- 
hundert.« 

Da  die  Würdenträger  des  Stifts  nur  unter  den  Stifts- 
priestern gewählt  werden  sollten,  und  diese  nicht  imstande 
waren,  den  ganzen  Chordienst  zu  übernehmen,  so  richtete  man, 
um  sie  zu  entlasten,  Vikariate  ein,*  die  mit  gewissen  Pfründen 
versehen  waren.  Die  Vikarien  sollten  den  Dienst  versehen  und 
die  Stiftsherren  demselben  in  ihren  Chorstühlen  beiwohnen. 

Es  gab  Ohervikare  und  Untervikare.  Die  ersteren  erhielten 
den  Namen  Summissarien  (summissarii,  fronmesser),  weil  sie 
die  summa  missa  (Hauptmesse),  die  am  Hauptahar  gelesen 
wurde,  zu  hallen  hatten,  zu  welchem  Altar  die  Canonici-Priester 
allein  den  Zugang  hatten. 


1  Schmidt,  p.  147,  148. 

«  Montag  den  21.  Aprilis  1614,  nachdem  ich  in  der  Wantzenav  ge- 
wessen vndt  meinen  gai'ten  hab  lassen  anssbntzen  vndt  dess  Abendts 
heimkhommen,  vndt  albereit   vber  Disch   gesessen,  kompt  über  den 

nacht  Innbiss  noster  Dormitarius  u,  zeigt  an (Extractos 

Prothocolli  de  anno  1614). 

3  1494 :  —  Reglement  sur  le  serment  des  fonctionnaires-vicaires. 
Bez.-Arch.  G.  5081.  Nr.  12. 


-    31     — 

Es  gab  in  Jung-St.  Peter  14  Vikanate,  unter  welchen  die 
Summissaria  Episcopi  und  die  Summissaria  des  Propstes  den 
ersten  Rang  einnehmen ;  die  anderen  folgten  je  nach  dem  Alter 
ihres  Amtsantritts. ^ 

Die  Canonici,  die  noch  nicht  in  sacris  waren,  folgten  in 
der  Rangordnung  den  Summissarien  des  Chors  und  hatten  ihre 
Sitze  in  den  unteren  Stühlen  vor  den  übrigen  Vikaren. < 

Eine  Summissaria  oder  Präbenda  Sculteli  genannt,  wurde 
auf  Befehl  des'  Bi^hofs  Ruprecht  und  Bestätigung  des  Papstes 
Nikolai  V.  im  Jahre  1450  unter  dem  Buchstaben  P.  gestiftet.* 
Da  die  Obervikare  den  Untervikaren  das  Beispiel  der 
Pünktlichkeit  und  des  Eifers  in  Kultussachen  geben  sollten, 
betitelte  man  sie  einfach :  Summissarii  assidui  (welcher  Titel 
später  in  das  ironische  assisii  verwandelt  wurde).  Sie  genossen 
Präbenden,  welche  den  gleichen  Wert  hatten  vsie  die  der 
Canonici^  deren  Funktionen  sie  ja  auch  verrichteten.  Im  feier- 
lichen Zuge  schritten  sie  unmittelbar  hinter  ihnen ;  doch  waren 
sie  von  den  Kapitelsitzungen  ausgeschlossen  und  unterschieden 
sich  auch  durch  ihre  Kleidung  von  ihren  Patronen.  Sie  wurden 
von  dem  Propst  und  dem  Dechant  vereidet  und  schwuren  die 
Statuten  zu  befolgen,  in  Strassburg  zu  wohnen  und  sich  nicht 
ohne  Erlaubnis  zu  entfernen. 

Von  dem  14.  Jahrhundert  an  werden  auch  semi-summis" 
sarien  angestellt,  welche  nur  die  Hälfte  des  Einkommens  haben 
und  Vikare  der  StiHsvikare  waren. 

Eine  Menge  Kaplane  schloss  die  Reihe  der  untergeoixlneten 
Stiflsbeamtenwelt.  Sie  wurden  durch  den  Propst  investiert,  ver- 
sprachen Gehorsam  dem  Dechant,  und  schworen,  ausser  dem 
Altaixiienst,  den  sie  selbst  verrichteten,  den  Chorgottesdiensten 
beizuwohnen.  Sie  händigten  auch  dem  Custos  die  Gaben  der 
Gläubigen  ein.  18  Kappellanien  (Capellania)  zählte  die  Kirche, 
verschiedene  Titel  tragend  und  «  unter  der  Anrufung  der  Heiligen 
stehend»,  welche  ihre  Patrone  waren.*  Zwei  dieser  Kaplane 
oder  Vikare  wurden  animissarii  (Seelmesser)  genannt,  da  sie 
speziell  für  die  Totenmessen  Ixjstimmt  waren. » 


^  Statuta  a  Biccio. 

'  Ibidem. 

'  Statuta  a  Biccio. 

*  De  CoUegio  St.  Petri  junioris.  Statuta  (B.-A.). 

»  Bezirks- Archiv.  Serment  pr§t6  par  Valentin  Hypper,  61u  vicaire 
de  St.-P.-1.-J.  (1518).  —  G.  4718.  Albert,  6v6que  de  Strasbourg,  con- 
finne  la  fondation  de  la  vicairie  de  la  Trinit6,  faite  par  Simon  de 
Kirchberg,  chanoine  de  St.-P.-l.-J.  (1591)  —  G.  4716. 


—    32    — 

KAPITEL  IV. 

Stiftskultus  und  Stiftsgev^änder.  —  Gedächtnis- 
tage.  —  Begräbnisfeierlichkeiten. 

§1. 


In  den  Stiftskirchen  wurde  der  Kultus  viel  feierlicher  ge- 
halten als  in  den  Leutkirchen,  der  Gesang  besser  gepflegt  und 
reichlicher  gestaltet,  die  Messe  pomphafter,  die  Ceremonien 
herrlicher  gehalten.  Doch  muss  man  zwischen  dem  Kultus  im 
Chor  und  dem  für  die  Pfarrei  unterscheiden.  Dererstere,  dem 
die  Laien  im  Schiff  beiwohnen  konnten,  war  nicht  für  sie  bestimmt, 
er  wurde  nur  für  die  Stiflsherren  gehalten.  Der  zweite  war  ge- 
leitet durch  den  Pfarrer  und  seinen  Kapellanen,  welcher  erstere 
Stellvertreter  des  Kapitels  war;  nur  durch 'ihn  handelte  dasselbe 
mit  den  Pfarrkindern,  dem  es  fast  als  solches  fremd  blieb. 

Die  hauptsächlichsten  Kultuspflichten  erfüllten  die  Stifls- 
herren im  C/ior,  darin  jeder  seinen  Chorstuhl  hatte.  Der  Propst 
sass  zu  allererst  rechts  neben  dem  Hauptaltar,  der  Dechant  zu 
allererst  links ;  die  anderen  Mitglieder  folgten  auf  beiden  Seiten 
im  Altersrang,  doch  so,  dass  die  Canonici-Priester  den  Ganonici- 
Diakonen  vorangingen.  —  Die  Beaufsichtigung  und  die  Disziplin 
im  Chor  war  dem  Dechant  anvertraut;  er  wachte  über  die 
Kleidung  eines  jeden,  über  das  Verbleiben  in  dem  Chorstuhi  bis 
zu  Ende  des  Gottesdienstes ;  er  litt  nicht,  dass  geredet  wurde, 
und  verwehrte  den  Ausgang  ohne  Erlaubnis. ^ 

Im  Chor  sang  man  u.  a.  unter  der  Leitung  des  Kantors 
die  kanonischen  Haren  und  die  verscRiedenen  Antipho7ien  der 
Fest-  und  Sonntagsliturgie.  Dieser  Kultusteil  wurde  nach  dem 
Münsterritus  gebildet. ^ 

Eine  eigene  Messenthätigkeit  waren  die  «Anniversarien» 
oder  Gedächtnistage.  Es  waren  Stiftungen  von  Verstorbenen, 
die  den  Qualen  des  Fegfeuers  entrinnen  wollten.' 

Die  Namen  aller  derer,  die  das  Recht  zu  einer  jährlichen 
Messe  hatten,  wurden  durch  den  Custos  in  das  Lebensbuch 
(über  vitae)  eingetragen,  einer  Art  von  Kalender,  in  welchem 
bei  jedem  Datum  die  zu  feiernden  Gottesdienste  aufgezeichnet 
waren  mit  den  Geldern,  die  den  beiwohnenden  Stiftsherren 
ausgeteilt  werden  sollten.    Reiche   Stiftsherren  stifteten  für  sich 

1  Ch.  Schmidt,  S.  120  if.,  dem  ich  uach  hier  mich  aufs  engste 
anschliesBe. 

<  Hugo  Zorn  stiftete  Anniversarien  für  sich,  seinen  Vater,  seine 
Matter,  seinen  Bruder,  den  Dekan  des  Thomasstifts,  « in  animomm 
re medium  earundem,  cum  visitatio  sepulchri  in  Vigilia  et  in  Missa 
cum  plenis  vigiliis  •.  (Testament.) 


J 


—    33    — 

Gedächtnistage  in  verschiedenen  Kirchen;  so  hinterhess  im 
Jahre  1517  der  Scholasticus  Johann  Sigrist  Vermächtnisse  in 
St.  Thomä  und  Jung-St.  Peter. 

Die  Feierlichkeit  an  einem  solchen  Gedächtnistag  bestand, 
nach  dem  Gesang  der  Totenvigilien  am  Vorabend  des 
Tages,  in  einer  Totenmesse  des  Morgens,  nach  welcher  das 
Kapitel  in  feierlicher  Procession  an  das  Grab  zog.  Der  Propst 
ging  voran;  ihm  folgte  der  Dechant  mit  dem  ältesten  Stifts- 
mitglied,  dann  gingen  zu  zweien  die  anderen  Stiftsherren  der 
Ähersreihe  nach;  nach  ihnen  die  Kapellanen  und  die  Vikaren 
mit  den  Chorknaben;  endlich  die  Pfarrkinder.  Die  Stiftsherren 
und  Priester  trugen  Kerzen,  die  der  Würde  nach  grösser  oder 
kleiner  waren.  An  das  Grab  gekommen,  wurde  Weihwasser 
gesprengt  und  Weihrauch  gebrannt,  der  Psalm  Miserere  und 
eine  bezügliche  Litanei  gesungen. i 

Nicht  selten  stifteten  die  Schenkgeber  Lampen  oder  Kerzen 
über  ihren  Gräbern,  teils  um  «ewig»  darüber  zu  brennen,  teils 
um  in  verschiedenen  Zeiten  angezündet  zu  werden.  Das 
Testament  Paul  Muntharis,  Propst  von  Jung-St.  Peter, 
der  auch  Canonicus  von  St.  Thomä  war  und  im  15.  Jahr- 
hundert lebte,  ordnete  einen  Luxus  auf  seinen  Gedächtnistag  an, 
wie  ihn  die  früheren  Jahrhunderte  nicht  kennen.  Er  befahl 
nämlich  (1480),  dass  am  Morgen  und  am  Abend  30  Beghmen 
(Bettelnonnen)  sein  Grab  mit  Kerzen  besuchen  sollten.  Da- 
gegen solle  das  Kapitel  ihnen  eine  Mahlzeit  überreichen. 

Die  Personen,  die  eine  Aliarpräbende  stifteten,  wählten 
gewöhnlich  ihren  Begräbnisort  in  der  Nachbarschaft  dieses 
Altars.  Die,  welche  ein  L^^t  dem  Kapitel  machten,  ohne 
anderen  Zweck  als  den  der  Feier  ihres  Gedächtnistages,  beliebten 
den  Ort  zu  bezeichnen,  wo  sie  begraben  zu  werden  wünschten. 

Die  armen  Pfarrkinder  wurden  im  ^Leichhof»  beerdigt  ; 
die  reicheren  in  dem  Kreuzgang  oder  in  der  Kirche  selbst,  wo 
sich  auch  die  Gräber  der  Stiftsherren  befanden. 

Die  Begräbnisfeierlichkeiten  der  letzteren  wurden  unter  der 
Leitung  des  Custos  vorgenommen  und  bestanden  in  einer  Pro- 
cession (iter)  mit  Kerzen  und  Gesängen^  durch  die  Kirche  bis 
an  das  Grab. 

Manche  Canonici  ordneten  selbst  den  Verlauf  ihres  Begräb- 
nisses. 

Am  15.  Mai  1480  machte  der  obgenannte  Paul  Munthart 
in  Gegenwart  von  Geiler  von  Kaisershergy  des  gelehrten  und 
frommen  Licentiaten  Engelin    von   Braunschweig   und    etlicher 


1  Eine  singende  Seelenmesse;    tüber  das  Grab  gehn  mit  rauch 
geben». 


—    34    — 

Stiflsherren  und  Doktoren  sein  Testament,  worin  er  verord- 
nete, dass  sein  Leib  neben  dem  Altar  von  St.  Peter  in  der 
Jung-St.  Peterkirche  beerdigt  würde,  angezogen  mit  der  tunica, 
dem  Ueberrock  und  dem  Kugelhut,  dass  der  Sarg  von  30  ßegfainen 
begleitet  und  zwei  grosse  brennende  Kerzen  vor-  und  nach- 
getragen würden.  1 

Sein  Grabstein  wurde   im    Sommer  1888  im   Schiff  unter 
der  Orgel  vorgefunden  und  in  die  Zornkapeile  transportiert. 

Munthart  machte  zwei  Testamente  ;  eines  am  6.  Mai  1480, 
in  welchem  er  seine  Bibliothek  dem  Thomasstifl  vermachte; 
das  zweite  am  15.,  worin  er  sein  BegraJmis  anordnete  und 
den  Rest  seiner  Habe  verteilte :  den  Kindern  seines  Bruders 
Jakob  vermachte  er  60  Gulden,  seinem  Bruder  Nikolaus 
60  Gulden ;  seinem  Bruder  Conrad  nichts,  weil  er  seine  Frau 
verlassen ;  den  Nonnen  von  St.  Magdalena  200  Viertel  zu  einem 
Gedächtnistag;  dem  Bischof  sein  «cbicerium  argenteum  deaura- 
tum  cum  suo  coopeilio» ;  den  Kapiteln  von  St.  Thomä  und 
Jung-St.  Peter  den  Rest  seiner  Güter  zu  gleichen  Teilen ;  das 
Kapitel  von  Jung-St.  Peter  soll  anfertigen  lassen  ein  «über 
lectionarius  epistolarum  missarum  et  ometur  seu  circumferatur 
argento  de  aurato,  ut  ibi  est  liber  evangeliorum  argento  deau- 
rato  ornatus  cum  imaginibus  beatissimorum  apostolorum  Petri 
et  Pauli»;  es  soll  Muntharts  Siegel  drauf  drücken,  cut  sciatur 
quod  de  bonis  relictis  per  me  factus  sit,  in  finem  ut  aüi  do- 
mini  canonici  post  me  ad  similia  inducanturi»  .< 

§  2.  Stiftagewänder. 

Für  die  kirchlichen  Feierlichkeiten  und  den  Chordienst 
trugen  die  Strassburger  Stiflsherren  priesterliche  Gewänder, 
deren  Form  durch  den  allgemeinen  Gebrauch  geregelt  war. 

Das  für  den  Horengesang  und  überhaupt  für  das  Amt  in 
der  Kirche  unentbehrliche  Gewand  war  der  ^üeherrockn  (su- 
perpellicium,  surplis),  in  weisser  Leinewand ;  den  Ueberrock 
tragen  hiess  im  Amt  sein  (superpelliciatus  sive  in  religione). 
Wenn  die  Glocke  zur  Mette  wie  zu  den  andern  Gottesdiensten 
geläutet  hatte,  sollten  die  Canonici  mit  diesem  Gewand  im  Chor 
sich  zeigen.  Da  sie  nicht  selten  diesem  Befehl  nicht  nachkamen, 
verbot  ihnen  die  Synode  von  Strassburg  im  Jahre  1335  und 
das  Konzil  von  Basel  im  Jahre  1431,  den  Chor  ohne  dies  Ge- 
wand zu  betreten.3 


i  C.  Schmidt,  «Le  Chapitre  de  St.  Thomas.» 
2  C.  Schmidt,  «Le  Chapitre  de  St.  Thomas-,  p.  144. 
»  Synode  von  1335,  art.  18.  Martene,  Thesanr.  nov.  anecdot.,  IV. 

äl  e.  Dücange,  Glossar.  VI,  p.  446.  (Schmidt,  ibidem«) 


—    :)5   — 

Zum  Messelesen  wurde  die  alba^  die  seidene,  mit  Silber  ge- 
stickte Casiila^  und  die  cappay  eine  Art  vorn  zugehäkeltes 
Mänteichen,  *  getragen.  Diese  Kleider  wurden  auch  für  Proces- 
sionen  gebraucht.  > 

Das  Haupt  war  bedeckt  mit  dem  «Kugelhutj»  (sive  kutzhut, 
Almutia  sive  caliendrum),  eigens  von  dem  Konzil  zu  Basel  ver- 
ordnety  anstatt  der  Hüte,  deren  etliche  Canonici  sich  hatten  be- 
dienen wollen.  Im  Jahre  1432  wurde  verordnet,  dass  jeder  Gano- 
nicus  und  Vikar  dieser  Kin^Jie,  der  den  Chor  oder  die  Kirche 
zur  Zeit  der  Gottesdienste  ohne  die  Almutia  betrat,  aller  Prä- 
senzen und  täglichen  Austeilungen  verlustig  gehe;  in  der  Nacht 
aber  oder  des  Morgens  stehe  es  dem  Canonicus  frei,  ohne  sie  aus- 
zugehen. 

In  Bezug  au(  diese  Kopfbedeckung  entspann  sich  zwischen 
lien  Stiften  von  Strassburg  ein  sonderbarer  Streit.  Während 
man  auf  dem  Konstanzer  Konzil  die  grössfen  Interessen  der 
Kirche  verhandelte,  zankten  sich  die  Stiftsherren  in  unserer 
Stadt  um  den  Stoff  ihrer  Kappen  dermassen,  dass  Kaiser  und 
Papst  sich  ins  Mittel  legen  mussten,  als  handelte  es  sich  um 
eine  Lebensfrage  für  die  Christenheit.  Die  Hüte  der  Münster- 
heri'en  waren  von  Hermelin,  die  der  unteren  Stifter  von  Eich- 
hornshaut (eichhernelin  kutzhuete),  die  der  Münstervikarien  von 
Schafshaut  in  Schwarz  gefärbt.  Von  Dezember  14i4  an  wur- 
den Papst  und  Magistrat  in  Bewegung  gesetzt  und  eine  Un- 
summe Geldes  vergeudet  im  Prozess  wider  die  Münsterherren, 
die  für  ihre  Vikarien  das  Recht,  ebenfalls  wie  die  Canonici 
eichhömsche  Hüte  zu  tragen,  durch  päpstliche  Erlaubnis  er- 
langt hatten.  Die  Stiftsherren  von  Jung-St.  Peter  und  St.  Thomä 
durften  von  da  an  hermelinsche  Hüte  tragen. 3 

KAPITEL  V. 
Die  Stiftshäuser. 

Das  Stift  kam  im  Lauf  der  Jahrhunderte  in  den  Besitz 
einer  Menge    von   Häusern,   die    teils    Schenkwigen^   waren, 

1  Die  Canonici  waren  verpflichtet,  sobald  sie  ihre  Einkünfte  be- 
zogen,  «cappam  sericam  vel  purpnream  qna  decenter  nteretnr  in 
Testis  ipsis  Ecclesiae  sibi  facere  ad  minas  valoristriam  marcarnm  ar- 
gentia  et  apnd  Ecclesiam  perpetao  debent  remanere*,  bei  Strafe  der 
Entziehang  der  Einkünfte.  (Statuta  p.  30.) 

2  Statuta. 

3  Schmidt,  ibidem. 

4  Donation  faite  an  Cbapitre,  par  Metza  et  Catherine  Zoller,  de 
deux  maisons  sises  nie  dite  Criegesgasse  (1336).  —  Bezirksarchiy 
G.  4827. 


--.    36    — 

teils   als  Kapitalienanlage  vom  Stift  selbst  angekauft  wurden 
und  verzinslich  (feudales  et  censuales)  waren. ^ 

Nach  Aufhören  des  gemeinsamen  Klosterlebens  erhielt  jeder 
Ganonicus  seine  eigene  Wohnung,  die,  wie  wir  oben  sahen, 
um  den  von  einem  Claustrum  redenden  Statuten  gerecht  zu 
bleiben,  curia  claustralis  oder  Klosterhaus  genannt  wurde.  Sie 
hiess  auch  feudum  claustrale,  KlosteWe^eii,  weil  sie  den  Stifts- 
herren gleichsam  verlehnt  oder  als  Lehen  zu  lebenslänglichem 
Genüsse  gegeben  wurde.« 

Als  Süftswohnungen  wurden  im  Lauf  der  Zeiten  14  Häuser 
benutzt,  die  alle  um  die  Kirche  lagen,  so  dass  das  Stift  fast  die 
ganze  Blauwolkengasse,  die  Burggasse,  das  Krappengässlein,  die 
jetzige  Fadengasse,  die  Grosskirchgasse,  die  Thomanngasse  u.  s.  w. 
als  Eigentum  besass.  Die  zwei  ersten  Häuser  waren  für  die 
Präpositur,  das  dritte  für  das  Plebanat  bestimmt.  Zwölf  andere 
Häuser  waren  für  die  anderen  Stiftsherren  bestimmt,  davon  eines 
dem  Kanonikat  und  ein  anderes  der  Präbende  Sculteti  einver- 
leibt war.  Der  jüngste  Ganonicus,  der  kein  Haus  hatte,  musste 
auf  eigene  Kosten  sich  eine  Wohnung  verschaffen. 

Die  Verleihung  (Gollatio)  der  Kanonikats-Häuser  war  Ob- 
liegenheit des  Propstes,  mit  Ausnahme  von  dreien,  die  für  den 
Dekan  und  das  Kapitel  bestimmt  waren. 

Alle  Canonici  und  Vikare  waren  verpflichtet,  ihre  Häuser 
in  gutem  Stande  auf  eigene  Kosten  zu  erhalten. 

Es  war  ihnen  erlaubt,  ihre  Häuser  zu  vermieten.  Doch 
ehe  das  Stift  in  die  Ringmauer  der  Stadt  begriffen  wurde, 
<rund  auch  lang  hernach»,  war  es  üblich,  dass  die  Canonici 
allerlei  Leute  ohne  Unterschied  des  Berufs  in  ihre  Häuser 
setzten,  «weil  der  Kirchplatz  so  lustig  mit  Bäumen  besetzet 
ward»,  «ahn  Würthen  lociret»,  und  einige  unter  ihnen  sogar 
Wein  ausschenkten  und  öffentlich  Wirtschaft  trieben.  Beides 
wurde  am  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  verboten.  Der  Ganonicus 
musste  darauf  sehen,   dass  seine   Mieter    rechtschaffene  Leute 


1  Concept,  Copiae,  ga.  über  die  Hänser  in  dem  Brach,  «reiche 
das  Stift  zum  Jangen  St.  Peter  der  Stadt  and  ihren  Bürgern  abge- 
kauft hat,  ga.  (Stadtarchiv,  Lad.  46.) 

Seind  Kaaffbrieffe  über  die  neue  stab.,  ibid.  Satzbrieffe  and  son- 
ders über  Zinnas  and  Gülten,  dem  Stifft  gehörig.  Sonderlich  über  die 
Häasser  in  dem  Brach  gelegen.  —  Transaction  entre  les  h^ritiers 
MoUinger  et  le  Chapitre,  au  sujet  cTune  rente  sur  1*  maison  entre  k 
cimetiere  et  la  caur  Marbach  (170ö).  —  R^parations  faites  k  la  maison 
da  Chapitre  de  St-Pierre-le-jeane,  ä  Geiepatsheim  (1678-1691);  compta- 
bilit6  y  relative.  —  Bez.  Arch.  G.  4761. 

s  Siehe:  Statatam  de  Divisione  Cariaram  Claastraliani;  de  Anno 
1334.  (SUdtarchiv.  Lad.  47,  Nr.  11.) 


—    37    — 

seien,   die   der   Kirche   keine   Schande   zu   machen  im    stände 
wären. 1 

Dass  nach  Einschluss  des  Stifts  in  die  Ringmauern  Strass- 
burgs  die  Stiftshäuser  sich  auch  in  die  städtische  Häuser- 
Ordnung  fügen  mussten,  ist  selbstverständlich. < 

Auch  dem  Almendgeld  waren  die  Stiftshäuser  unterworfen, 
wie  folgende  Stelle  aus  einem  Manuskript  berichtet:  cc Weilen 
auch  bey  Erweiterung  der  Stadt,  die  Kirch  und  die  Häiisser 
des  Canonicorum  des  Stiffls  Jungen  St.  Peter  in  die  Ring- 
mauern dergestalten  eingeschlossen  worden,  dass  selbige  hart 
an  die  Mauren  und  Thören  gestossen,  war  nöthig  an  diessem 
orth  die  Almend  zu  conserviren  und  Versetzung  zu  thun,  wie 
die  Extract  besagen  aus  den  alten  Almend  Büchern  gezogen. 
Ueber  das  auch  zu  den  Thürmen  und  Zinnen  zu  setzen  und  zu 
kommen,  der  Zugang  frey  und  ongehindert  seyn  müssen. 
Welche  Thüre  etwann  denen  Canonicis  omb  ein  Jährl.  Zinnsz 
verliehen  worden  je  .  .  .»* 

Das  Inventarium  des  Jahres  1633  giebt  uns  ein  genaues  Ver- 
zeichnis der  Stiftshäuser  in  jenem  Jahrhundert.  Wir  teilen 
dasselbe  hier  mit  und  begleiten  es  da  und  dort  mit  Notizen. 

1.  Die  Propstei  (jetzt  cKastnerhausj»,  früher  Lehrerinnen- 
seminar). 

Der  Propst  sollte  sich  mit  seiner  Propstei  begnügen  und 
auf  seine  eigenen  Kosten,  wie  die  anderen  Stiftsherren  und 
Prabendarien,  sie  unterhalten  und  restaurieren.  Es  war  ihm 
nicht  erlaubt,  unter  ii^end  welchem  Vorwand  ein  anderes  Stifls- 


1  <  Statatnm  de  non  ponendis  Laicis  in  curias  nostras  Ciaastrales 
principaliter  inhabitanti  <»,  de  Anno  1334.  —  «  Canonicns  principaliter 
Hospitium  ipsis  Cnriae  sine  fraude  observet.  Nee  talis  etiam  Canoni- 
cos  S.  clericns  publice  tabernam  tanqnam  hospes  pnblicus.  .  .  reat 
in  eadem.  Item  Statuimos  et  ordinamus,  ut  nnllns  Canonicorttm 
Cüriam  snam  claostralem,  qnam  per  se  inhabitare  non  volnerit,  locare 
poBsit  alicTii  hospitii  publico,  hospites  indistincte  recipienti,  sed  per- 
Bonis  honestis  per  qnas  Ecclesia  nostra  nullam  infamiam  contrahet 
▼el  incnrrat  >  Stadtarchiv  Lade  47,  Nr.  11. 

2  Anno  1354,  Idns  Octobris :  «In  Signum  commonionis  (maras 
et  transitos  zweyer  Canonicathäuser  wird  alhier  gemeint)  Cunis 
imponator,  ut  in  eis  conservantor  fenestrae  dictae  blinde  fenster  et 
qoaelibet  curia  ejusdem  muris  utator  in  edificando  super  et  juxta 
eos  prout  potest  et  debet  fieri   secundum  consuetudinem  civitatis.» 

—  Anno  1431  die  Mercnrii  XVIII  mensis  Mai-tii :  «Magister  Mar- 
tinus  se  et  suos  successores  in  dicta  curia  ne  ipsam  cnriam  dixit 
graYari  contra  consuetudinem  civitatis.» 

8  Stadtarchiv,  Lade  47. 


—    38    — 

haus  zu  besitzen,  wenn  er  auch  Besitzer  des  Kanonikats  H. 
oder  der  Präbende  sculteti  wäre ;  in  diesem  Fall  war  er  ge- 
nötigt, das  Haus,  das  mit  dieser  Präbende  verbunden  war,  dem 
nächsten  Canonicus,  der  ohne  Haus  w*ar,  zu  überlassen. ^ 

Ein  Mietsvertrag  des  Jahres  1624  lässt  uns  einen  Blick  in 
die  GebäuHchkeiten  der  Propstei  thun  : 

«Die  Probstey  Behausung  wird  dem  Domherrn  Henott  von 
Köln  (1624)  vermiethet  zusampt  dem  obern  und  untern  Garten, 
neben  dem  Hof,  Schopp,  Stallung,  Badstüblein,  gross-  und 
kleinen  Keller,  die  untere  grosse  Wohnstube^  die  grosse  Küche 
daran,  zusammt  dem  kleinen  spindlin  über  dem  kleinen  Keller. 
Die  obere  Prohstei  oder  Chorstube^  zusammt  den  2  Kammern 
daran. 

«Und  dann  auf  dem  anderen  Stock,  die  3  kleineren  Neben- 
kammern, wie  nit  weniger  die  Kammern  und  Kästen  über  der 
Probstei  Schaffnei,  Stuben  und  Kammer,  darauf  man  über  den 
hölzinen  Gang  und  die  kleinere  hölzine  siegen  im  obern 
Garten,  gehet. 

«Hingegen  aber  sind  Ihr.  Hochw.  vorbehalten,  die  obere 
kleinere  Stube,  zusammt  der  Kammer  daran,  und  dann  die 
Kammer  daneben  durch  welche  man  in  das  Archiv  gehl.  Item 
gemelte  Probstei  Schaffnei  Stuben  und  Kammer  daran,  im 
kleinen  obern  Garten  gelegen. 

«Item  die  Capell  in  gemeltem  o})ern  Garten.  Sodann  auf 
dem  anderen  Stock  der  grossen  Behausung,  gleich  an  der 
Stegen  auf  der  linken  Hand,  der  Weizenkasten  und  kleinei*er 
Kasten.  Ueber  der  Thorstube,  und  sonsten  alle  die  Kasten,  so 
von  der  3  Stegen  hinauf  bis  unter  das  Dach :  wie  nicht 
weniger  auch  alle  Gemach  und  Kasten,  so  sich  über  dem  stall, 
von  der  untern  Stegen  hinauf  im  ganzen  Stock  sich  beßnden. 
Die  hintere  kleinere  Thür  in  den  Theilhof  soll  Entlehner  nit 
gebrauchen.  »2 

2.  Die  Dechanei  (dem  Decan  gehörig).  Das  jetzige  Haus 
Schützenberger  am  Ende  des  Jung-St.  Petergässleins. 

Im  Jahre  1356  wurden  Befestigungswerke  im  Propsteihof 
aufgeworfen.3 

Die  jetzige  Fac^ade  datiert  vom  Jahre  1783,  sowie  eine  den 
Bedürfnissen  der  Zeit  angemessene  totale  Veränderung  der  Ge- 
bäuHchkeiten (unter  de  Rochebrune,  dem  letzten  Propst  von 
Jung-St.  Peter). 


1  De  Collegio  Janioris  Sti.  Petri.  Statuta.  Stadtarchiv,  Lade  46. 

2  Das   neue   Rebenfeld  im   obern   Qarfen  (Ibidem),  Stadtarchiv 
Lade  47,  Nr.  1. 

3  Strobel  II,  S.  375. 


—    39    — 

In  der  Revolution  (1793)  wurde  das  Haus  als  National^ 
eigentum  an  einen  Herrn  Nagel  verkauft,  dem  Schwiegervater 
eines  Herrn  Lotzbeck  von  Lahr,  der  mit  zwei  Brüdern  in  der 
Revolutionszeit  sich  in  Strassburg  angesiedelt  hatte. 

Der  berüchtigte  Eulogius  Schneider  machte  das  Haus  zu 
seiner  Wohnung.  Er  hatte  sich  am  13.  Dezember  1793  in 
Barr  mit  einer  schönen  und  reichen  Person  verheiratet,  welche 
die  Schwester  war  des  Bürgers  Stamm,  Flügeladjutant  des 
Generals  Custine.  Sie  hatte  nicht  gewagt,  dem  Tyrannen  auf 
seine  Anfrage  eine  verneinende  Antwort  zu  geben.  Am  andern 
Morgen  war  er  mit  ihr  in  einem  offenen,  von  sechs  Pferden  ge- 
zogenen Wagen,  in  Begleitung  der  Mitglieder  des  Revolutions- 
gerichts und  der  berittenen  Nationalgarde,  nach  Strassburg 
gefahren,  einen  feierlichen  Einzug  daselbst  haltend.  Diesen 
aristokratischen  Akt  benutzten  seine  Gegner,  um  sich  seiner 
zu  entledigen.  Am  Abend  des  14.  Dezember  (24.  Frimaire 
an  H)  ertönte  der  Saal  der  früheren  Propstei,  der  so  oft  zu 
den  bacchanalischen  Festen  der  Jacobiner  hatte  dienen  müssen, 
zum  letzten  Mal  von  Gläserklang  bei  dem  Hochzeitsfest 
Schneiders.  In  der  Nacht  wurde  das  Haus  von  Gendarmen 
umzingelt,  und  Schneider,  der  Regierungskommissar,  durch 
den  General  Diäge  arretiert  und  in  das  jetzige  Bezirksgefangnis 
abgeführt. 

Noch  eine  Zeitlang  blieb  die  Schwester  Schneiders,  Marianne, 
in  der  Propstei.  (Die  zweitägige  Gattin  Schneiders  aber  heira- 
tete einen  Immigranten  Friedrich  Gotla.)  Das  Haus  blieb 
Eigentum  des  Herrn  Lotzbeck.* 

3.  Das  Haus  zum  Thürlin  (gehört  dem  Herrn  Scholasticus). 

4.  Das  Haus,  der  PeghofT  genannt. 

5.  Das  Haus  am  kleinen  Kirchgässlein. 

6.  Das  Kanonikathaus  am  Krengel. 

7.  Der  Kanonikathof  gegen  dem  Landt  PergerholT. 

8.  Der  Kanonikathof,  der  Schultheissenhof  genannt. 

9.  Der  Kanonikathof  stosst  gegen  Herrn  Zorn'schen  Hof 

am  KirchhoiTgässlin,    jetziges  Jung-St.  Petergasslein. 

10.  Der  Preithof. 

11.  Der  KanonikathoiT  daneben. 

12.  Der  Kanonikathof  auf  dem  Kirchhof. 

13.  Die  Behausung  so  dem  Kanonikat  A  gehörig. 

14.  Ein  Vikariathaus  im  kleinen  Kirchgässelin. 

15.  Ein  Vikariathaus  im   Pfundtzollergässlin   (Fadengasse). 

16.  Ein  Vikariathaus  in  gemeltem  Ort. 


1  Aus  «Piton,  Strasbourg  illu8tT6>,  S.  273—276. 


—    40    — 

17.  Ein  Vikariathaus  in  erwähntem  f^ässlin. 

18.  Ein  Vikariathaus  auf  der  Burggasse. 

19.  Ein  Vikariathaus  mitten  in  der  Burggasse. 

20.  Ein  Vikariathaus. 
21—22.  2  Präbenden-Häuser. 

23.  Ein  Vikariathaus  neben  der  Propstei. 

24.  Ein  Vikariathaus  auf  dem  Kirchhoff,  gehört  zum  StifR. 

25.  Ein  Vikariathaus. 

26.  Eine  Behausung,  der  Pfarrhoff,  bewohnt  im  Jahre  1633 

von  Schallesius,  der  Pfarrherr  (Blauwolkengasse  3). 

27.  Eine  Behausung  auf  dem  Kirchhof  (bewohnt  im  Jahre 

1633  von  dem  Helfer  zum  Jungen  St.  Peter).    (Jetzt 
Jung-St.  Peterplatz  5.) 

28.  Eine  Behausung  in  der  Kirchgasse  (bewohnt  im  Jahre 

1633  von  dem  anderen  Helfer).  (Jetzt  erstes  Pfarrhaus.) 

29.  Eine  Behausung,  die  Pfisterey. 

30.  Eine  Behausung   im  Pfundtzollergasslin  (bewohnte  im 

Jahre  1633  der  Schulmeister). 

1712,  —  üMaison  de  VEcole  luthärienne.:» 
<rConsentons  que  Mons.  sieur  le  Gomte  du  Bourg  fasse 

r^tr^ir   la   maison  de  l'Ecole  .situ^e  dans  la  rue  dite 

pfundzollergass. 

—  «Maison  d'Ecole  et  son  jardin  situös  dans  la 
pfundzollergass  et  attenant  au  jardin  de  Mr.  le  Gomte 
du  Bourg,  commandant  de  la  province.»  (B.-Ä..,G.  5151.) 

31.  Eine  Behausung  auf  der  Burggasse  (bewohnt  im  Jal^ 

1633  von  f  Mag.  Lipp's  Tochter). 

32.  Eine  Behausung  in  der  kleinen  Kirchgasse. 

33.  Eine  Behausung  in  gemeldter  Gasse  (bewohnt  im  Jahre 

1633  von  dem  Sigrist). 

34.  Eine  Behausung  bei  dem  Pfenningthurm. 
35 — 37.  3  kleine  Häusslin  daselbst. 

38.  Eine  Behausung:   die   Schaffenei   (1427—1712).    Das 
jetzige  Gerichtshaus  in  der  Blauwolkengasse. 

Kaiser  Friedrich  III.  herbergle  in  dem  Stifls- 
haus  des  Kustos  von  Jung-St.  Peter  (Jetziges  Ge- 
richtshaus). Er  investierte  daselbst  den  Herrn  Jakob 
von  Lichtenberg  mit  dem  Grafentitel.  (Piton,  Stras- 
bourg illustre,  S.  283.) 

—  «cAuch  die  Schaffeney  ausser  dem  Hoff  ange- 
ordnet. V^elches  Haus  die  Stadt  in  anno  1335  an  das 
Stifft  verkauflfl.»    (Ms.  Stadtarch.,  Lade  47.) 

—  Arbitrage  entre  le  Chapitre  et  la  famille  de  Lands- 
perg  au  sujet  de  la  maison  du  receveur  du  Chapitre 
[1542].  (B.-A.,  G.  4727.) 


—    41    — 

—  Siehe  noch  weiter  im  Bezirksarchiv: 

Vente  de  rente  laud^miale  assise  sur  nne  maison 
dans  \e  Stuhenwegtgtesseliny  parGerirude,  veuveZorn, 
en  faveur  du  Chapitre  [1394].  (G.  4831.) 

—  Vente  de  maisons  dans  la  rue  de  la  Corneille 
(1557). 

—  Sentence  d'immission  concernant  la  maison  sise 
contre  lepont  du  faubourg  de  Pierre  [1501].  (G.  4837.) 

—  Liiige  entre  le  cur6  de  St-Pierre-le-Jeune  et  le 
Chapitre,  au  sujet  d'une  maison  canonicale  ä  Vur- 
sage  du  curä  (1707);  memoire;  sentence.  (G.  4729.) 

KAPITEL  VI. 
Die  Stiftsschule. 

Das  Stift  von  Jung-St.  Peter  hatte  seine  Schule.  Ein  Ca- 
nonicus  war  beauftragt,  sie  zu  leiten.  Er  trug  den  Namen 
€Scolasticus9y  und  es  war  die  ^Scolastriai^  eine  der  Hauptwürden 
des  Stifts. 

Vom  13.  Jahrhundert  an  war  es  nicht  mehr  der  Scolasti" 
cus^  der  den  Unterricht  erteilte.  Wie  der  Kustos  die  Seelsorge 
einem  Pfarrer^  der  unter  seiner  Aufsicht  stand,  anvertraute, 
so  entledigte  sich  der  Scolasticus  seines  Schuldienstes  zu  Gunsten 
eines  Meisters  oder  Rektors,  den  er  nach  Belieben  ernannte, 
sich  selbst  nur  die  obere  Leitung  des  Unterrichts  reservierend. 
Der  Rektor  durfte  Priester  oder  Diakon  sein ;  er  hatte  die  Be- 
soldung und  den  Rang  eines  Chorvikars ;  sein  Chorstuhl  stand 
nicht  weit  von  dem  des  Propstes. 

Die  ursprüngliche  Bestimmung  der  Schule  war,  den  Kin- 
dern, welche  Kandidaten  eines  Kanonikats  waren  (pueri  sive 
minuti)  den  Segen  des  Unterrichts  zu  erteilen.  So  lange  sie 
nicht  majorenn  waren,  stunden  diese  Canonici  minores  oder 
domicellarii  unter  der  Zucht  des  Scholasticus  und  bewohnten 
das  gemeinsame  Kapitelhaus,  selbst  dann  als  die  Canonici 
majores  ihre  besonderen  Häuser  erhalten  hatten. 

Ausser  diesen  Kanonikatsschülern  wurden  die  Pfarrkinder 
aufgenommen.  Zwar  waren  die  Stittsschulen  nicht  die  ein- 
zigen Schulen  Strassburgs  im  Mittelalter ;  es  gab  auch'  Laien- 
schulen,  deren  Existenz  man  aber  kaum  kannte.* 


1  Im  Jahre  1395  wird  cOtheman  Kregelin  de  Ricbenshoven,  in- 
stmetor  pneromm  laicomm  civitatis  Argen t.>,  genannt,  der  das  Hans 
<znm  birmenter  in  smidegasse*,  Pergamentergasse  in  der  Schlosser- 
gasse) bewohnt.  Zur  selben  Zeit  war  in  der  Heüelichtergasse  ein 
Hans  genannt  zu  der  Schulen.  (S.  Schmidt,  <Le  Chapitre  de  St-Tho- 
mas»,  p.  186,  dessen  Darstellung  ich  mntatis  mntandis  hier  wiedergebe.) 


—    4ti    — 

Docli  ist  anzunehmen,  dass,  da  die  Stifts-  und  Kloster- 
schulen den  Schülern  eine  grundlichere  Bildung  gaben,  sie  den 
Vorzug  hatten.  Die  adeligen  Familien  und  die  Patrizier  der 
Jung-Sl.  Petergemeinde  schickten  ihre  Kinder  in  die  Stifls- 
schule,  und  hier  haben  gewiss  viele  der  bedeutenden  Ratsherren 
Strassburgs  ihre  erste  Bildung  erhalten. 

Doch  waren  die  armen  Kindet*  nicht  ausgeschlossen.  Die 
Stitlsherren  machten  Legate  zu  ihren  Gunsten.  So  Hugo 
Zorn  im  14.  Jahrhundert.  Sein  Testament .  .  .  cdat  quatuor 
Scholaribus  pauperibus  duodecim  quarte  siliginis  in  pneben- 
darum  suarum  augmentationem ;  Item  in  Augment,  dictarum 
pncbendarum  cedunt  redditus  unique  quart.  Siliginis  de  reddi- 
tibus  sex  sexlarioruni  siliginis  in  Svindratzheim.)>  (Beziks-Archiv. 
lib.  Instrument  L.  XVII.  B.  folio  39.)  —  Die  armen  Schulkinder 
wunlen  zu  Choristen  gebildet,  von  dem  Dechant  dazu  be- 
zeichnet und  zur  Prüfung  vor  den  Scholasticus  gebracht,  der 
sie  nuf  aufnahm,  wenn  sie  im  Lesen  und  Singen  ziemlich 
geübt  waren.  Sie  allein  durften  den  Chor  betreten  ;  zwei 
standen  neben  dem  Propst  und  dem  Dechant  als  Helfer;  zwei 
trugen  die  Leuchter ,  reichten  das  Weihwasser  und  hatten 
im  allgemeinen  denselben  Dienst ,  den  jetzt  die  Chorknaben 
haben.  Sie  sangen  die  Hören  und  mussten  bei  der  Messe  conventuali 
dienen,  und  wurden  durch  den  Dekan  zum  Akolitenamt  befordert. 

•Während  des  Gottesdienstes  standen  die  andei^n  Schul- 
kinder im  Schiff;  obwohl  der  Rektor  seinen  Stuhl  im  Chor 
hatte,  so  wünschte  man  doch,  dass  er  bei  den  Schülern  bleibe, 
um  sie  zu  beaufsichtigen  und  ihren  Gesang  zu  leiten. ^ 

Alle  Schulkinder  wohnten  der  Begräbnisfeierlichkeit  der 
Stiftsherren  und  den  Prozessionen  bei.  Die  Canonici  minores 
durften  dem  Festessen  der  Kapitelherren  bei  grossen  Feierlich- 
keiten beiwohnen.  Am  Nikolausfest  und  am  Tage  der  un- 
schuldigen Kindlein  vereinigten  sich  die  Schulkinder  mit  denen 
der  anderen  Kirchen,  um  im  Münster  der  Installation  eines 
BiscJwfs  der  Kinder  beizuwohnen.  Dieser  possierlichen  Cere- 
monie  wollte  Peter  Schott,  ein  Canonicus  von  Jung-St.  Peter, 
einen  ernsteren  und  litterarischen  Charakter  geben,    hatte  aber 


1  Ihnen  wurde  durch  Statnt  vom  Jahre  1303  als  Besoldung 
12  Viertel  Weizen  znerteilt,  davon  das  Kapitel  8  and  der  Scho- 
lasticus 4  lieferte.  Bezirksarchiv,  folio :  Statuta. 

Nota.  <  Quatuor  Scholares  quae  freqaentat  chorum  et  ad  horas 
cantant  ad  arbitrinm  Decani  ipsos  panes  ministrando,  cui  et  Decanns 
qnos  choro  viderit  expedire  assumet  scholares.  Potest  et  decanus 
scholares  assumere  et  repellere  et  matare  eosdem  et  corrigere  toties, 
qnoties  Choro  videbitur  expedire.  (De  Statut  praebendis  Quatüor 
Scholarinm,  et  ad  quem  eoram  collatio  pertinet.)  Fol.  Stat.  p.  39. 


—    43    — 

wenijj    Erfolg.     Mit    der    Reformation    verschwand     auch    der 
kindüche  Bischof. 

Was  den  Schulunterricht  selbst  betrifft,  so  wissen  wir 
hierüber  wenig.  Da  gegen  Ende  des  12.  Jahrhunderts  der 
Unterricht  überall  so  ganzlich  vernachlässigt  war ,  dass  man 
selbst  in  vielen  Kirchen  die  Präbende  des  Scholasticus  abschaffte, 
befahl  Alexander  III.  im  Jahre  1109,  sie  wieder  herzustellen, 
idamit  der  Unterricht  den  jungen  Klerikern  und  den  armen 
Schulkindern  gratis  gegeben  werden  könnte]» ;  und  im  Jahre 
1215  gebot  Innocenz  III.  ,  dass  in  jeder  Stiftskirche  die 
lateinische  Grammatik  gelehrt  würde.  Die  Grammatik  des 
Priscian,  des  Donaf ,  dann  die  versificierte  ocDoctrinale  Alexandri]!>, 
brachten  die  ersten  lateinischen  Elemente  den  Schülern  bei. 
Um  ihnen  Stilübungen  zu  geben,  lehrte  man  sie  etliche  Verse 
machen,  oder  auf  Pergament,  nicht  Stellen  aus  Klassikern, 
die  man  ja  nicht  besass,  sondern  Kontraktsformulare  oder 
Akten  kirchlicher  Procedur  schnitzeln. 

Die  Schule  blieb  auf  dieser  niedrigen  Stufe,  bis  die  Univer- 
sitäten gegründet  wurden,  auf  welchen  die  domicellani  dann 
ihre  Studien  vollendeten. 

Schon  im  12.  Jahrhundert  finden  wir  manchen  Magister 
Ganonicus.  Das  Stift  sandte  im  nächsten  Jahrhundert  seine 
gelehrigen  Schüler  nach  Frankreich  und  nach  Italien ;  später 
nur  nach  Italien  ;  von  dem  15.  Jahrhundert  ab  auch  nach 
Erfurt,  Freiburg  und  Heidelberg.* 

Anfangs  des  iO.  Jahrhunderts  verbesserten  sich  die 
Schulen  merklich.  An  die  Spitze  der  Jung-St.  Peterschule 
wuixle  der  Scholasticus  Conrad  Caroli  gestellt,  der  den  Knaben 
Wimphelin'gs  Adolescentia  erklärte,  und  Johann  Gallinarius 
von  Heidelberg  docierte  die  Rhetorik.« 

Gelehrte  Stiftsherren  finden  wir  deren  etliche  im  15.  Jahr- 
hundert, dem  Jahrhundert  der  Rechtsgelehrten  und  Kanonisten : 

Doktor  Martin  Reiichlin,  Scholasticus  von  Jung-St.  Peter, 
Advokat  am   bischöflichen  Hof. 

Paul  Munthartf  Ganonicus  von  Jung-St.  Peter,  geist- 
licher Richter  des  Bischofs  Ruprecht.  Er  war  einer  der 
gelehrtesten  Ganonici  von  Jung-St.  Peter  und  besass  eine 
der  reichsten  Bibliotheken.  Er  hatte  das  Recht  in  Italien 
studirt  und  alle  Manuskripte  und  Rechtsbücher  und  Ka- 
nonistensammlungen ,    die    er    dort    erhaschen    konnte ,     an- 


»  C.  Schmidt,  ibidem,  p.  188. 

2  1688.  Catalogue  de  la  biblioth^que  de  St-P.-l  -J. ;  livres  de 
thSologie,  de  philosopliie  scolastiqae,  de  droit  (canoniqae  et  civil); 
de  grammaire  et  de  rh^torique.  —  Bezirksarchiv  (G.  4917). 


—    44    — 

gekauft.     In  Strass^burg  hatte  er  die   meisten  Bücher,  die  aus 
der  Buchdruckerei  von  Mentelin  &  E^gestein   kamen,  sich  an- 
geschaut.   Als  leidenschaftlicher  Liebhaber  von  Büchern    halte 
er  das  Einkommen   seiner   verschiedenen   Präbenden   an   seine 
Bibliothek  verschwendet,  welche  bei  seinem  Tode  zu  60  Bänden 
Manuskripte,  meistens  Pergament,  und  23  der  ältesten  Inkunabeln 
herangewachsen  war.i   Sie  war  eine  der  reichsten  Sammlungen, 
die  man  in  einem  Privathaus  sehen  konnte.  Die  Theologie  war 
wenig  vertreten.  In  Manuskripten  war  nur :   das  Rationale  von 
Duranti  und  die  Poatillen  des  Nicolaus  von  Lyra ;  zu  Drucken  : 
eine  grosse  Bibel,  von   Eggestein  herausgegeben,   die   MoraUa 
über  Hiob  von  Gregor  dem  Grossen,  die  Etytnologien  von  Isi- 
dorus,    die   Kommentarien    von    Thomas    Aquinus    über    die 
Evangelien,    das    Leben  Jesu    von    Ludolph    von   Saxen,    der 
Traktat  Alberts  des  Grossen  De  laudibus  heatae  VirginiSy  das 
Fortalitium   fidei    des   spanischen    Franziskaners    Alphons  de 
Spina.  Munthart  vermachte  sen  e  ganze  Bibliothek  dem  Thomas- 
Stift,  damit,  wie  er  sagte,  dasselbe   Mittel    habe,   seine   Rechte 
zu  verteidigen,  und  den  gelehrigen  Stiftsherren  die  Gelegenheit 
verschaffen  könne,  sich  zu  belehren  und  das  Volk    mit    Gottes 
Wort  zu  nähren.     Er  verlangte,  dass  das  Stift  seine  Bücher  an 
einem    besonderen,    mit    Schäften,    Bänken   und    Ketten   ver- 
sehenen Orte  aufbewahre.  Würde  dieser  Wunsch  nicht  berück- 
sichtigt werden,  so  solle  die   Bibliothek  dem  Jung^St.    Peter- 
Stift  gegeben   werden,   und   falls    dieses  die  Bedingung   auch 
nicht  eingehe,  dem    Münsterstift.     Kein   Buch   sollte  verkauf!, 
vertauscht,  noch  einer  Person    ausserhalb   des   Kapitels   verab- 
reicht werden,  welche  Würde  sie  auch  trage;  nur  wenn  einer 
seiner   NefTen    das    Recht    studieren    wolle,    könne    man   ihm 
Bücher  gegen   sichere    Kaution    zur    Benutzung    einhändigen. 
Das   Epitaphium   Muntharts   in    St.  Thomä   meldet,    dass 
das  Kapitel  seinen  Wunsch  erfüllte  und  einen  besonderen  Saal 
baute. * 

Peter  Schott,  Dr.  Juris,  —  Am  Ende  des  15.  Jahrhunderts, 
als  die  Theologie  anfmg  aufzublühen  und  die  Renaissance  der 
klassischen  Studien  den  Eifer  jüngerer  Geister  reizte,  zählte  das 
Jung-St.    Peterstift    einen    der   ersten    und    ausgezeichnetsten 


1  Siehe  Schmidt,  Chapitre  de  St-Thomas,  Docnments,  l:^. 

'  Anno  domini  MCCCCLXXI.  XIX  Marcii  obüt  spectabilis  ma- 
gister,  magister  Paulas  Munthart,  decretomm  licentiatus,  prepositiu, 
S.  Petri  innioris  et  hnjos  canonicns  et  benefactor  ecclesiamm  libra- 
rieque  hie  noviter  erecte  futidator.  Orate  pro  eo.  —  Alles  aus  Schmidt 
ibidem. 


—    45    — 

Strassburger  Humanisten,  Peter  Schott^  zu  seinen  Mitgliedern. ^ 
Die  Jung-St.  Peterkirche  hat  das  Andenken  ihres  Canonicus 
Peter  Schott  durch  ein  Epitaphium  verewigt,  das  in  der  Zorn- 
kapelle aufgestellt  wurde.  (Siehe  hierüber  Ausfuhrlicheres  in 
meiner  Schrift:  Die  Jung-St.  Peterkirche.) 

Ausser  Paulus  Munthart  und  Peter  Schott  ist  noch  als 
gelehrter  Canonicus  zu  nennen : 

füThomas  Wolfj  von  Eckbolsheim  gebürtigt,  Canonicus  der 
drei  Stifte  St.  Thomä,  Jung-  und  Alt-St.  Peter,  Doktor  des 
kanonischen  Rechts,  Canonicus  in  Basel  und  in  Worms,  der 
ein  groser  Liebhaber  der  Philologie  und  der  Künste  war.»« 


1  Petrus  Schottns  Argentinensis,  abi  neante  aevo  bonas  litteras 
sednlo  colnil  Primnm  enim  in  pairia  nostra,  oppido  Sietstattioo 
Qrammatices  et  Dialectices  mdimenta  sab  Ludovico  Dringenbergensi, 
Westphalo;  deinde  in  Galliis  Philosophiam,  Oratoriam,  Poeticam, 
Historias  et  Cosmographiam,  Caesareasqne  et  Pontificias  leges  cam 
graecis  etiam  literis  hansit.  Adeo  nt  band  facile  crediterim  similem 
Timm  nostro  praesertim  saecnlo,  Qermaniam  habaisse.  .  .  Fuit  in 
Petro  decora  et  innocentissima  vita,  nnlli  molesta,  mitis  gravitas, 
placida  constancia,  bland asqne  vigor  animi.  .  . 

In  parentes  pins,  in  domesticos  homilis,  in  aequales  beniguus, 
in  Deom  vero  semper  devotissimus  fnit.  .  .  Tranquillns  mansuetas 
et  sobrins.  .  .  landi  propriae  pertaesos,  calta  simples,  yeste  frugalis, 
piaebendas  ecclesiasticas  cnmalare  recnsans,  etc.  > 

Aus  Wimphelings  Vorrede  dat.  ex  pago  Salce  prope  Mollischeyme 
Argent  direces.  sexto  Kalend.  Sextiles  1498  —  vor  dessen  Heraas- 
gabe von  Petri  Schotti  Lucnbratinncalae  ornatissimae  Argent.  1498. 
4*>.  Briefe,  Gedichte  und  Abhandlangen  Schotts  and  einiger  Zeitgenossen 
enthaltend.  Ein  far  die  Litterargeschichte  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
wichtiges,  aber  seltenes  Bach.  (Aas  Roehrichs  Mittheil.  II,  p.  91,  92.) 

«  Schmidt,  p.  193.  —  Sein  Andenken  haben  die  vielen  InscJwiften 
erhalten,  die  er  teils  bei  dem  Alten-St.  Peter,  wo  sein  Bruder  Johann 
den  Rang  eines  Dechanten  hatte,  teils  in  seiner  Behausung  bei  dem 
JungenrSt  Feter  aufstellen  Hess.  Zum  Beispiel  oben  in  dem  Treppen- 
haas ist  folgendes  za  lesen:  «Ita  amicam  habeas  posse  at  facile 
fieri  hanc  inimicam  potes:  Kai.  aag.  1494.»  (Strobel,  III,  S.  549.) 

Siehe  noch  über  die  Scholastici  im  Bezirks- Archiv:  •  Constitation 
d^ane  rente  sar  ane  maison  sise  entre  les  ponts,  en  favear  de  l'^col  ätre 
de  St -Pierre-le- Jeane  (1302).  G.  4826. 

—  Aatorisation  donn6e  par  le  commandear  de  Klingenowe  (Ordre 
de  St -Jean),  lientenant  da  Grand-Mattre  de  TOrdre,  en  Allemagne, 
ä  Hngaes  de  Vegersheim,  commandear  de  la  maison  de  Schlestadt, 
de  vendre  ane  rente  en  favear  de  l'öcoUtrerie  de  St.-Pierre-le-Jeane 
(1323).  G.  4821. 

—  Acqnisition  dMne  maison  in  dem  Tamenloch,  par  r^colätrerie 
da  St-Pierre-le-Jeune  (1358).   G.  4829. 

4 


—    46    — 

KAPITEL  VlI. 
Das  Stiftsarchiv. 

tOben  im  den  Kreuzgang  sehend»  war  das  cStiftsgewölb».! 
Die  cäussere  und  andere  Thür  des  Geiwölbs  ging  inn  ein 
Stub»*'  Hier  befand  sich  das  Stiflsarchiv.  Die  für  die  Inventar- 
aufnahme des  Stifts  im  Jahre  1584  gesandten  Herren  Stadt- 
deputierten protokollierten  in  folgenden  Worten  den  Stand  dieses 
Archivs : 

In  dem  Gewölb  war  : 

1.  £in  Kasten f  mit  64  unterschiedlicJien  Laden^  mit  allerlei 
des  Stiffls  Brieffen  und  Sachen  den  Praebenden  und  Pfründen 
nach  abgesundert.  Auf  der  ersten  Lade  stund  geschrieben  : 
Decanatus  Nr.  1.  (Die  ältesten  Briefe  waren  aus  dem  14.  Jahr* 
hundert.)  2 :  praebenda  Thuiibulariae  (Rauchfaaserehea'-^PFä-' 
benden)  de  GoUatkme  Deeanatus. 

2.  Ein  Lmdenken9terlem  mit  6  untersehiedHchen  Laden, 
dttrin  des  Stiffls  Kapellaneyen-Brieff  begrifiRin  stndt. 

3.  Ein  dreyff.  beschlüssiffe  Lad  mit  Ysen  bandaui^ 
mit  Litera  B,  darinn  allerhand  Gelty  von  kleinen  und  grossen 
Sorten,  so  sie  die  Capitularen  zu  täglichem  gebrauch  bewahren. s 
Bei  der  Inventarisierung  i.  J.  1633  fand  sich  da^  in  dem  lederen 
Säckel: 

1  vierfache  Spannische  Duf)lQBy  so  falsch. 

1  Wolfacroa. 

i^lt  italienische  eron. 

2  sehotlendische  €ron  für  5  ß. 
2  Goldgulden. 

1  halb  Engelisch  Crönlin  für  1^  ß. 

1  halb  güldener  Albertus,  so  falsch, 
/n  dem  kleinen  rothen  lederen  Säckel: 

29  thaler  zu  13  balzen  gerechnet,  =  12  flf  11  ß  4  -J.» 

Weiter  fand  man  hier  die  über  die  Stiftskapitaliea,  Pfennig 
Zinss,  Hauptgüter,  gefertigi&n  noiaridlen  Briefe.  Lauter  Per* 
gamentrolien^.  die  noch  jetzt  im  Bezirkaarchiv  liegen«  Sie  wwden 
folgendermassen  registriert :  150  ß  (balzen)  geben  Herr  Abbt  und 
Gonvenl  des  Klosters  zu  Gegenbach  Jahrs  ufJohannis  Baplistae 
fallenl,  lössig  mit 3000  ß 

Darüber  besagt  ein  Brief  de  dato  24.  Juni  Nr.  1618^  Dafür 
ein  Brief  von  Ertzherzog  Ferdinand  besagt  8000  ß  zu  unter 
Pfund  verlegt. 


1  Inventarium  1584.  Stadtarchiv.  Lade  47.  Nr.  3. 
*  Ibidem. 
»  Ibidem. 


^    47    — 

Item  8  ß  ^eltSy  gibt  Hanns  Faust,  Capelan  zum  Jungeu 
St.  Peter  zu  Strassburg  auf  St.  Antonitag>  Idssig  mit    .    200  ß 

Darüber  sagt  ein  Pergamentenerbrief  anfangend :  Wir 
Christoff  von  Gottes  Gnaden  Markgrav,  zu  Badens  mit  6  an- 
hangenden Siegeln  de  dato  uff  Antcmi,  Tag  anno  1491. 

Item  71  U  Zinss  Jars  auf  purificationis  Maria  uf   dein  Ho-^ 

spital  zu  Hagenau  ablössig  mit 3000  ß 

gehört  dem  Legato  Trunci  absentium  zu. 

Darüber  sagt  ein  deutscher  Pergamentener  Brief,  anfangend : 
Wir  hienacb  benannte  etc.,  dessen  Datum  den  6.  Februarii  anno 
161^  mit  3  anhangenden  Insiglen. 

Item  32  af  20  ß  gibt  die  Stadt  Hagenau  Jahrs  uf  Laetare, 
ablössig  mit   ...  1,300  ß 

Darüber  besagt  ein  Pergamentener  Brief,  mit  der  Stadt  Ha* 
genau  anhangende  Insiegel^  datiert  den  26.  Martii  1697 
gehört  auch  m  das  Legat  absentium. 

Item  25  B  gibt  gemelte  Stadt  Hagenau  Jars  uf  Udalrici, 
lössig  mit    .    . 1500  ß 

Darüber  sagt  ebenmässig  ein  Brief  mit  der  Statt  anhangendem 
Insiegel  datiert  den  4.  Juli  1606,  gehört  ebenmässig  in  völliges  Legat'. 

—  Item  100  tt  uf  Asumptjonis  Mariae,  uf  detii  Ampt 
Berenstein,  lössig  mit 4,000  ß 

Darüber  ein  pergamentener  Brief  von  Erzherzog  Leopold^ 
Bischof  zu  Strasshurg,  mit  sein  und  des  Dechants  Insiegeln,  de 
dato  14.  Augusti  1609,  gehört  in  das  Legatum  Hugonis  J.  Dithmari. 

—  Item  7  flf  10  ß  geben  die  Gemeindt  WaUenheim  und 
Mittelhausen  jahrs  uf  Trium  Regum,  ablössig  mit  .     .     300  ß 

Daiüber  sagt  ein  pei^gamentenfer  Brief,  mit  2  anhangenden 
Insiegeln,  datiert  den  6.  Januar  1608. 

Gehört  in  das  Legat  Matutinal :  Abb.  et  Kctgeneck, 

—  Item  25  Sl  gibt  die  Gemeind  Luttisheim  in  der  Grafschaft 
Hanau  gelegen,  ablössig  mit 500  flf 

Darüber  besagen  2  unterschiedliche  Briefe,  jeder  500  ß 
sambt  beigefügter  Abschätzungsbriefen,  dessen  Datum  uf  Me- 
dardi  anno  1607,  gehört  auch  in  das  Lisgat  Trunci  Absent.» 

Weiter  Wurden  im  Stiftsarchiv  auch  aufbewahrt : 
die  bischoflichen  und  kaiserlichen   Privilegia   des  Stifts, 
lauter  Dokumente  in  Pergament  mit  vielen  angehängten  Wachs- 
Insiegeln  (alle  noch  jetzt  im  Bezirksarchiv  vorfindlich) ; 

sowie  die  Protokolle  der  Stiftssitzungen^  die  von  den 
Scholastici  niedergeschrieben  wurden  und  teils  noch  vor- 
handen sind.i 


1  Inventarinm  1633.  Stadtarchiv.  Lade  47.  Nr.  8. 


—    48    — 

Endlich  waren  im  Stifts^ewölb  auch  in  «Trogen»  die  Kleiiv- 
odien  und  Kirchenornate  aufbewahrt,  die  im  Inventarium  des 
Jahres  1633  wie   folgt  inventarisiert  wurden. 

«Trog  Nr.  4,  darinnen  die  Kleinodien  und   Kirchenornat : 

Ein  silbern  zum  theil  verguldt  Rauchfass. 

Trog  Nr.  3 :  1  vergülter  Kelch  mit  der  Patene  in  einer 
hölzernen  Büchse. 

1  kleiner  silberner  Kelch. 

1  inwendig  vergülten  Kelch  sambt  der  Patene  mit  der 
Jahreszahl  1516. 

In  einem  vierecketen  höltzenen  Trog  mit  Eissen  beschlagen 
mit  alten  litera  B.  notirt: 

1  silbern  theils  vergult  CrucifiXy  mit  etlichen  Edelgestein 
oder  Dupleten  versetzt,  an  den  4  Ecken  die  vier  Evangelisten, 
wiegt  6  Marck  7  Loth. 

1  klein  christallin  täfelin  Christi  und  der  Apostelbilder,  mit 
dieser  Schrift :  Pax  vobis,  accipite  spiritum  sanctum,  in  silber 
vergult  eingefasst,  wiegt  2  Marck,  4  loth. 

1  klein  silbern  vergult  Critci/Lc,  in  der  mitten  ein  vierfach 
unterscheidt  aus  Kupfer  mit  4  silbernen  Evangelisten,  und  4 
Engelsköpilin,  wiegt  1  Marck,  9  loth,  2  quintlin. 

1  CrucifiXy  in  die  runde  gefasst,  silber  vergult,  wie  man 
an  die  Chorkappen  braucht,  sampt  34  kleinen,  einem  grossen 
Perlin  und  Saphire,  wie  man  meint,  wiegt  1  Marck  und 
i)s  Quintlin. 

1  christallen  Kreutz  mit  silber  vergülteten  banden,  und 
Christi  Bildnis,  sampt  einem  Todtenkopf,  wiegt  i  Marck  und 
1  Vs  quintlin. 

1  silber  theils  vergult  Marienbild  mit  dem  Kindlin  Jesu, 
wiegt  1  Marck,  4  loth  1  ifg  quintlin. 

1  klein  Monsträntzlin  silber  vergult  mit  allerhand  heilig- 
thum,  wiegt  14  loth  3  quint. 

1  klein  silbern  Altärliny  darinnen  allerhand  heiligthumb, 
mit  6  Granaten  wiegt  8  i/j  loth. 

1  grosser  silberner  vergülter  Kelch j  mit  einer  Patene  gra- 
virt  und  beschnitten,  wie  auch  mit  alten  Bildern  erhaben,  und 
allerhand  Steinen  versetzt,  wiegt  4  Marck,  15  loth,  1  quintlin. 

1  silber  vergülter  Kelch  sampt  der  Patene,  wiegt  1  Marck, 
15  loth,  1  quinüin. 

1  silbervergulter  Kelch  ohne  Patene,  wiegt  14  loth, 
1  quintlin. 

1  silbern,  theils  vergult  heyligthumshandt  wiegt  2  Marck, 
10  loth,  1  quintlin. 

1  grosse  silberne  vergulte  Agnus  Dei  Kapsel,  wiegt 
1  Marck,  2  loUi,  3  quintlin. 


—    49    — 

1  silbern  vergalt  Altärlin  mit  zweien  aus  Elfenbein 
geschnittenen  fiildem  Sancti  Martin  und  St.  Anna,  wiegt 
1  Marck,  7  loth,  2  quintlin. 

2  silberne  vergulte  MesskäntUnn^  deren  eines  zum  theil 
christallin,  wiegen  1  Marck,  13  loth. 

1  silbern  vergult  durchbrochen  Altärlin  mit  verschnittenen 
Bildern  in  Perlenmuther,  als  Coronationis  B.  Mariae  Virginis, 
Apostolorum  und  ein  Crucifix  von  Perlenmutter,  sampt  dem 
heiligthumb  vom  heiligen  Kreutz,  videgt  1  Marck,  6  loth, 
1  ifs  quintlin. 

1  kleines  Altärlifiy  silber  vergult,  mit  12  gefachlin,  wiegt 
6  loth. 

1  kleine  silber  vergulte  Monstrantz,  mit  einem  geschnit- 
tenen Kristall,  wiegt  13  loth  1  i|t  quintlin« 

1  kleine  silberne  SchelL  theils  vergult,  wiegt  8  loth  und 
i{s  quintlin. 

1  silbern  hild  mit  dem  Salvatore,  wiegt  1  Marck,  5  loth, 
3  quintlin. 

1  höltzern  Altärlifiy  aus  Ebenholz,  in  welchem  1  gülden 
Bild  des  Salvatoris  und  der  3  Könige,  wiegt  2  Mark,  2  quintlin. 

1  Agathen-£rud/ia;  in  gold  gefasst,  wiegt  13  Marck  und 
6  loth. 

1  grosse  orientalische  Robintafel  auf  einem  Eck  mit 
einem    Regenbogen,   in  einem   güldenen    Ring  versetzt,   wiegt 

1  loth. 

1  silbern  vergult   geschirlin  sampt    einem   Deckel,    wiegt 

2  Marck,  10  loth.i 

KAPITEL    VIII. 
Der  Stiftsspeicher  (Granarium). 

Die  Güter,  die  das  Stift  besass,  waren  unzahlig.  Fast  in 
allen  Ortschaften  des  Unter-  und  Ober-Elsass  und  von  Kehl 
hinauf  bis  nach   Baden  waren   Stiflsäcker  oder   Stiftswiesen.  * 


1  «Diese  Stuck  sind  den  16.  Novemb.  1610  dem  Stifft  von  dem 
Bisthnmb  Strassburgs  zur  Abzahlung  dess  im  Blsass  geworbenen 
Keyserlicfaen  Volks,  um  2&00  flf  Versetzt  worden,  und  wiegen  zu- 
sammen» sampt  anderen  Stück,  so  nicht  in  dieser  Designation  be- 
griffen gewesen  51  Marck,  6  loth  und  3  quintlin.  >  (Inventarium 
1633.  Lade  47,  Nr.  8.) 

<  Die  *D%nghöfe*  in  den  verschiedenen  Dörfern  spielten  eine 
besondere  gerichtliche  Rolle  zwischen  dem  Stift  und  der  Bevölkerung. 
(Siehe  über  dieselben  Strobel,  Geschichte  des  Elsass,  S.  234—236.) 


—    50    — 

Im  Bezirksarchiv  fanden  wir  die  Namen :  Achenheim,  AltdorfT, 
Altenheim,  Andlau,  Avolsheim  und  -Avenheim  (1302),  Baur- 
bach  ,  Balbronn ,  Barr ,  Batzendorf  (1392) ,  Benfeld  ,  Berg- 
bieten,  Bemolsheim,  Bernardswiller  (12.  Ahrhundert),  BibÜs- 
heim,  Bischheim,  Bischoffsheim,  Bisch^ller,  Blodelsviler, 
Brumath  (1299),  Burgheim,  Golmar  (1313),  Dachstein  und 
Dahlenheiih  (1307),  Eckbolsheim,  Ekendorif,  Eckwersheim 
(1346),  Ernolsheim  (1326),  Erslein,  Sand  und  Ettendorf  (1311), 
Hürtigheim  (1333),  Altsweyer,  Appenweyer,  Auenheim,  Baden- 
Baden,  Bischoifsheim,  Buhl,  Kehl,  Kork,  Legelshurst,  Orten- 
berg.  Renchen,  Willslett,  Wolfach  und  Hausen  (1336),  Hagenau 
(1376)  etc.  etc.  Öie  Titel  dieser  Güter  liegen  noch  alle  im 
Bezirksarchiv. 

Von  allen  diesen  Aekern  erntete  das  Stift  jährlich  eine 
Unmasse  von  Weizen,  von  Roggen,  von  Gerste  em,  die  nach 
Strassbui*g  in  den  Siiftsspeieher  gefahren  vmrde.  Derselbe  be- 
fand sich  an  der  Nordseite  der  Kirche.  In  seiner  ursprüng- 
lichen Grestalt  existiert  er  heute  nicht  mehr.^ 

Im  Jahre  178  .  .  wurde  er  durch  einen  neuen  ersetzt,* 
der  s^tdem  baulichen  Veränderungen  unterworfen  wurde. 

Speziell  dazu  beauftragte  Kapitelherren  mussten  ihn  beauf- 
sichtigen. Man  hiess  sie  ^spicherherreni^  (domini  granarii) ; 
nur  unter  ihren  Augen  durfte  der  ^Komkouffer^  oder 
«Kornwerffer»  •  (venditor  annonae)  das  Getreide  messen,  das 
zum  Kauf  auf  dem  Markte  oder  für  die  Probenden  bestimmt 
war.  Dieser  KornkoufTer,  ein  Laie,  Mitglied  der  Zunft  der  Kom- 
händler,  musste  jeden  Markttag  (Freitag)  den  Schaffner  von 
dem  Preis  des  Korns  benachrichtigen. 

Bei  Verfertigung  des  Inventariums  im  Jahre  1633  fanden 
sich  li9  Viertel  €netie  F^riichte^  auf  dem  Granarium,  laut 
folgender  Rechnung: 


^  «Extract  Eines  Blochs  Tit  Relationen  von  dem  Pfenninjgthnrm 
in  a**  160Ö  geschr.  —  c'Sijiift  znm  jungen  S.  Peter  hat  vori^an  neben, 
der  Einfahrt  thres  Speiehers  ein  kleins  Winckelin  oder  Allmend- 
plätzlin  (so  Herrn  Johann  Schmassmann  desselben  StiJG^  Canonifii 
durch  Bauw  Herren  n.  Drey  umb  VI  ß.  Järl.  gelts  su  seiner  Be- 
hausung, ah  er  den  gedeckten  gang  vömeii  off  seiner  nüiur  ge- 
bawen  vert&hen  worden  ist)  belftbgefid^  ete  »  (Stodtarehiv,  Lad.  4^ 
Nr.  17.) 

*  Herr  KeUer,  Komhfindler,  Urgrossvater  der  (Gattin  des  Yer- 
fassersy  kaufte  deü  Bältsspeicher  Äeth  Staat  ab,  als  das  Hiius  in  der 
Revolutionszeit  mit  dem  übrigen  Stiftsgut  versteigert  wurde. 

3  Der  «Kornwerffer  in  unserm  Stifft».  (Prot,  tfeberheu  Thomas- 
archiv.) 


—    51    — 


«Frücltten  so  auflf  dem   Gatten  iigendt 

befunden 

worde». 

Item  an  Neuen  fruchten,  ohngefahrlich 

,      ' 

an  Weitzen 

60  Viertel 

an  Hocken 

40 

» 

an  Gersten 

20 

» 

an  Sack  von  Kömern 

3 

» 

item  alte  Früchte  an  Weitzen 

500 

:> 

Mehr  gleicher  Gattung 

50 

» 

an  Rocken 

50 

» 

Mehr  Rocken 

6 

^ 

Summa  :         729  Viertel .  »i 

Im  Jahre  4663  betrug  der  Verkauf  von  Roggen  :  150  livres.* 
Für    das  Jahr  1715  ßndet   sich   folgende   Rechnung  vor: 
cO^pense  en  c^r^ies:  2329  reseaux,  2  setiers;  —  boni  restant 
en  grains:  1372  r^zeaux  ä  setiers  2  Ms  mesurettes.^e»' 

KAPITEL  IX. 
Die  Stiftskeller. 

Unter  dem  Stiftsspeicher  liegen  die  Stiftskeller,  SSie  sind 
jetzt  Privateigentum«  Mit  dem  Hause,  deiea  Unterlage  sie 
bilden,  wucden  sie  in  der  RevoUiiionszeii  von  dem  Staat  an 
den  Meisihietendett  vepaieigert  vmA  sind  jetzt^  wie  sie  es  seitdem 
wohl  imiEer  noveM^  an  dmat  Wemhändlier  vermietet. 

In  zwei  Stöcken  liegen  sie  übereinander.  Wer  sie  besucht, 
ist  erstaune,  da  unten  ein  kleines  Labyrinth  mit  Strassen  und 
Seitengässlein,  versteckten  Kammern  und  Nischen,  gewölbten 
Durchgängen  und  vermauerten  Ausgängen  zu  entdecken.  Tief 
drinnen  steht  eine  schön  bearbeitete  uad  ornamentierte  Holz^ 
Säule. 

Auf  der  Südseite  der  Keller  sieht  «um;  die  Fua^iinente  der 
Kirche,  die  gar  gewsdtig  massiv  sich  erheben.  Noch  liegcfn  hier 
Fässer^  die  sehon  am  En<ie:  des  vov^peaJahrhwRdeFts  ^b  gelegen 
haben  müssen,  and  dem  Alter  naeh  in  (He  Jia^rhunderfe'  hinauf- 
reichen. 

Das*Stift  war  reich  an  Reben.  In  Rosheim  (1323),  in  Dohlen- 
heim^  in  Avolsheim,  in  Mutzig,  in  Gimbret,  in  Scherlenheim,  in 


i  InvonisaTilini.  1698.  Stadiaarchiry  Lauer  47,  Ife.  8. 
'  BezirksarchiT  0.  atl7. 
3  Ibidem. 


—    52    — 

Wejje,  in  Westhofen,  in  Wangen  und  an  vielen  anderen  Orten 
besass  es  Weinberge.' 

Der  bezogene  Wein  wurde  teils  gebraucht,  teils  verkauft. 
Es  liegt  eine  Rechnung  vor  aus  dem  Jahre  i62d — iGQO,  nach 
der  wir  uns  einen  Begriff  von  dem  Weinvorrat  machen  können : 

cSummarum  alles  weinss  so  diess  Jhar  erkaufit  worden  ist. 

xiiij  fuoder  xxij  Ohmen^  xviij  mass  das  Remanet  des  vorigen 
Jahrs  darzuo  gelegt  ij  fuoder 

Sumarum  alles  Weins  so  sampt  dem  frueren  wein  in  den 
keller  bracht  worden  Ihut  zusamen 

xvy  fuoder  ohmen  xviij  mass.  Davon  ist  diss  Jhar  auf, 
und  in  druossen  abgangen  zusammen : 


1  Vente  de  Vignes  k  Rosheim  an  Cbapitre  par  J.  Grünlin  (1328). 
Q.  4814. 

—  Walther  et  Fr6ddric  de  Wangen  vendent  au  doyen  du  Chapitre 
de  St-Pierre-le-Jenne  des  vignes  sises  ä  Wangen  (1347).  G.  4843. 

—  Marc  Bnllin,  chanoine  dlttenwiler,  vend  h,  Henri,  de  Sallen- 
thal,  prSbendier  de  St.-Pierre-le-Jenne,  des  vignes  sises  h  Westhoffen 
(1362).  G.  4844. 

—  Catherine  Bohrin  de  Molsheim  donne  ane  rente  snr  nne  maisoa 
et  des  vignes  ä  Wege,  an  Chapitre  de  St.-Pierre-le-Jenne,  poor  fon- 
dation  d^anniversaire  (1371). 

1669.  Dßpenses  coUong^res  kDahienheim;  —  20  oct.  1669;  pour  frais 
de  voitnrage  de  vin:  4  livres  5  Schillings  6  deniers;  —  droit 
de  p6age  de  ce  vin:  14  Schillings  3  deniers.  G.  5122. 

1660.  Frais  de  transport  du  vin:  3  livres  16  Schillings.  {DahUnheim 
k  Strasbourg.)  G.  5114. 

1661.  Recette  en  vin  &  Ävcisheim:  25  ohmen ;  —  k  Mutsig:  40  ohmen. 
G.  Ö115. 

1662.  D^pense  poor  vendanges;  —  19  aoüt,  an  vigneron,  pour  frais 
de  jonrn6e:  18  Schillings;  —  pour  vin:  1  livre.  G.  5116. 

1682.  Recette  en  vin  &  Gimbrett;   la  commone  fonmit  13  ckmen  % 
partager  entre  les  capitnlaires.  G.  5133. 
«Umgeld  oa  p6age  du  vin.» 

1657.  Döpenses  pour  les  vignes  et  vendanges.  G.  5111. 

1658.  Ddpenses  ponr  vendanges  k  Matzig;  18  avril,  frais  de  ronte: 
2  livres  13  Schillings  4  deniers;  —  pay4  an  vigneron  17  Schil- 
lings 5  deniers   G.  5112. 

16r9.  Frais  de   voiture  ponr  transporter   le   vin  de  Dahlenheim  i 

Strasbourg:  1  livre  12  Schillings.  G.  5113. 
1686.  Recette  de  vin  coüonger  k  Scherlenheim ;  14  octobre :  le  pr6v5t 
dn  lien  fonmit  48  ohmen ;  —  30  oct. :  le  pr6v6t  du  liea  fooniit 
26  ohmen.  G.  1686. 
—  Bail  de  3  ans  concemant  la  dlme  da  vin  et  da  bU  ä  Matzig; 
fermiers  Reyss  et  consorts  (1768  ä  1783).  G.  4881. 

Rentes  en  vin   k   Matzig;    les   h6ritiers    de   J.   Meyer   donnent 
1  o  hmen  9  maas.  G.  4941. 


—    53    — 

yj  fuoder  x  ohmen 
xviij  mass. 

Verbleibt  also  nach  disser  rechnung  in  dem  Keller  x  fuoder. 

So  geschehen  den  27.  September  1630.» 

Die  Rechnung  specificiert  «Muscateller,  weisser  wein,  rotter 
Wein». 

(Colligenda  Canonicatus  Fr.  dicti  Sculteti,  Feudi  in  Herzveldt 

et  Gapeilaniae  Stae  Columbae  virginis  in  Ecclesiae  Sti  Petri 

Junioris  Argt.  (1629—1630).» 

Der  von  den  Mietern  in  den  Stiftskeller  gebrachte  Wein 
wurde  von  dem  Pincema  besorgt.  Dieser  Beamte  mass  auch 
die  Weinportionen  für  die  Mahlzeiten  im  Refektorium,  während 
nach  Aufhören  des  gemeinsamen  Lebens  er  jedem  Stiftsherm 
seinen  Teil  für  das  ganze  Jahr  lieferte. 

KAPITEL  X. 
Die  Stiftsbäckerei. 

Ausser  dem  Getreide,  das  die  Stiftsherren  als  Eintrag 
ihrer  Präbende  bezogen,  erhielten  sie  noch  Brotportionen  (panes 
claustrales). 

Zur  Bereitung  dieser  Brote  lieferte  bis  zum  14.  Jahrhundert 
der  Ceüerarius  einem  städtischen  Stiftsbäcker  (Pistor)«  wöchent- 
lich ein  vereinbartes  Quantum  Frucht  aus  dem  Stiftsspeicher,  wo- 
wofür  der  Bäcker  so  und  so  viele  Brote  buk.  Aus  Anlass  mandier 
Unzuträglichkeiten  wurde  im  Jahre  1312  dieser  Dienst  der 
Celleraria  durch  Beschluss  des  Bischofs  Johann  abgeschafft  und 
wurden  seine  Gefälle  zu  den  Stiftspräbenden  geschlagen.  Dagegen 
wurde  das  Bäckeramt  {Officium  pistrini),^  das   in   der  Gross- 


1  Stadtarchiv.  Lade  46.  Nr.  24. 

2  Pistor  s=  ein  Stampfer,  der  das  Getreide  in  einem  Mörser  stampft 
oder  in  einer  Handmühle  zerreibt,  nach  unserer  Art  ein  Müller, 
HandmuBeTy  der  zugleich  auch  Bäcker  war.  (Georges,  latein.-dentsches 
Lexicon.) 

s  Pistrinum  =  die  Stampf  mühle,  der  Ort,  wo  das  Getreide  vor  Er- 
findung  der  Mühlen  in  bohlen  Klötzen  oder  Mörsern  gestampft  wurde. 
Späterhin  wurden  solche  Mühlen  durch  Pferde  oder  Esel  getrieben 
(Ibidem.) 

Instrumentum  super  officio  pistrini  incorporato  Capitulo  anno 
1312. 

Reglement  concemant  l'incorporation  du  moulin  fonlon  relevant 
du  cellerier  du  Chapitre.  (B.  A.  G.  4707.  Nr.  3.) 

Accord  fait  par  le  Chapitre,  pour  incorporer  avec  le  Chapitre 
les  droits  sur  un  moulin  ä  fonlon  relevant  du  cellerier  du  Chapitre. 
(1313.)  (B.  A.  G.  4707.) 


—    54    — 

kirchgasse  lag,  dem  Stift  inkorporiert  und  abgethan,  dei^stalt 
«dass  die  fructus  davon  künftig  in  usus  Canonicorum  selten 
angewendet  werden,  ein  pfister  (Bäcker)  aber  in  das  Haus 
gesetzet,  den  das  Kapital  wieder  zu  beurlauben  Nfacbt  hätte»,  i 
Im  Jahre  1340  wurde  ipit  deni  Bäcker  Henußnn  und 
seinem  Bruder  Nikolaus^  Vikar  an  der  Jung-St.  Peterkirche, 
ein  Vertrag  geschlossen,  der  den  Backer  verpflichtete^  wöchent- 
lich 15  Weizenbrote  jedem  Canonicus  7x\  liefern.  Aus  einer 
späteren  Zeit  datiei*t  eine  E^id^fomiely^  durch  welche  der 
Bäcker  dem  Stift  Treue  schwor : 

«Juramentum  Pistons  Ecclae  St.  Petri  Junioris  Argen- 
Hnetisis. 

<rlch  G.(emeiner)  Brotthecker  meiner  Herrn  Probst  Dechan  und 
Capitel  der  Stifft  zu  dem  Jungen  Sant  Peter  zu  Strassburg, 
schwer  und  verheisse,  das  Ich  denselben  minen  Herrn  Probst, 
Dechan  und  Capittei  getrewe  (unleserlich) 

«Item  Ich  will  auch  d^  tveia^  (Weizen)  u.  Bocken,  den 
man  mir  zu  bachen  gibt  nit  mischen  mit  anderm  Korn,  es 
sye  myn  oder  ander  Lille  (Leute),  vnd  wiUe  dasaelbige  kom  malen 
u.  bachea  also  gutt,  als  man  mir  daa  gilit  u.  allen  symekm 
(Semmelmehl)  u.  gwiesen  ?  by  miner  Herrn  brott  lassen  hhfbe  <n 
alle  geverde  (gefUirde). 

oritem  Ich  will  auch  kein  Pfrufvdhrott  buchen^  den  (deoo) 
miner  Herren  Pfruadbroi,  Beeh  niemande  zu  kauff«!  geben,  es 
sei  umb  gelt  oder  umb  weissen  oa  aUe  geverde. 

«Item  Ich  will  auch  alle  wochen buc^ieii  zwei  humiert 

u.  dryen  &^hzig  Pfrutihro  (66$  Pfrunbrow) ;  ESn  Pfmnde  zu 
geben  an  Zistagey  die  ander  am  ßorttslo^  u.  •  die  dritte  an 
Saanbetagey  mit  vollem  ii.  gantzein  gewicht. 

«Item  ich  soll  u.  will  auch  alle  wochen  meinen  Herr»  geben 
—  fünfzelien  pfrunden,  jeder  pfrundea  acht?  BAMükej»  breit  alle 
sa^bstage.    Doch  voo  dem  ßertol  Rocken  Ix  (6Q)  h^^M  u.  nit 

mr  (mehr). 

«Item  dtarztt  soMen  mir  milie  Herrn  der  Probet  Beebai»  «. 
Capitel  nach  Innehalten  Ihrer  Statuten  mir  alle  wochen  ateo 
viel  gutes  weissen  u.  gutes  rocken  geben  u.  handreichen,  als 
vil  dass  zu  den  obgepan^^ten  pfrundehrotten  u.  rockenbrotten 
nottürftig  sein  würde. 

«Ijtem  yßh  soll  vn.d  wi|)l  auch  kfiin  synunelbrjott  hache^,  es 
sy  dan  mit  miner  Herrn  willen  u.  erlaubunge  vnd  also  lang 
mtne  Herrn  mir  das  vei^goeaten  sollen. 


1  Mb.  Stadtarchiv.  Lade  47.  7.  Augxist  1312. 


—    55    — 

«Item  Ich  wil  auch  guet  brott  einem  als  dem  andern  auch 
recht  u.  gantze  gewicht  geben,  on  alle  geverde« 

«Also  helfife  mir  Gott  u.  die  Heiligen Evangelisten.:»^ 

Noch  im  Jahre  1670  ist  das  «Beckenhauss  in  der  grosse 
Kirchgas^efi».  ^JXifi  Dire  (Thür)  im  Qaohhau3$  ist  verbrochen.» 
(Au§  einem  CffAtachten  zwqier  WerHi^^ist^r  an  d^n  Rat.  3.  Märt 
1670.) 

KAPIJ^EL   XI. 
Des  Stiftes  jäher  XJnterg^f^rii^  in  d€(r  ]E\^voli^tion. 

Bis  zur  grosQ^  ](leYOi|ution  b^stan^  das  im  1^.  Jahrhundert 
von  Bischof  Wilhelm  L  g^rü^dete  Stift  von.  Jui^g-St.  Pet^r» 

Unmittf^lbar  vor  dem  Ausbruch  derse^iien  schrieb  Gran^ 
didier  in  seiner  ipfi  Jahre  17§7  als  A^anviskript  hint^rlass^ent 
(und  erst  ifli  i[^re  1878  gedru^l^teiO  grossen  W^rk  «L'Eglise 
de  Sti^asbour^» : 

«Das  Stift  von  Jung-S.t.  Peter  existiert  noch  heute  in 
Strassburg;  wir  werden  s^nderswo  eingebender  hierüber  her 
richten.  Es  ijpiesteht  heuts^utage  a\is  1J5  KanonikateAJ  die  mit  den 
15  ersteijL  Buchstaben  des  Alphabets  bes^eicl^et  werden.  Die 
14  ersten  sind  die  durch  die  Bischöfe  Wilh^l;^  U^d  Hetzel  ge- 
gründeten- Ds^s  Iß.  ist  die  ^,]pnmissaria  Spudleti  (des  Schult  heiss)^ 
die  als  Kanoni^at  i^  Jahre  145P  durch  4eQ  B|sc]|;iof  Rupre<^,t 
von  Bayern  errichtet  wurde.  Es  sind  in  diesen  Kanonikaten 
zwei  Würben»  die.  Propstei  und  die  Deqhaneiy  und  drei  Per- 
sonate, die  Kustodie,  die  Kantorei  und  die  Scholaria.  Die  Aemter 
des  CeüariuSy  Portarius  und  Cameraritis  sind  erloschen  und 
ihre  Einkünfte  zum  Gebrauch  der  F^bi^ik  verwanc^. 

«D^s  germanische  Konkordat  wiixl  in  Anw^n^ung  gebracht 
für  die  I^rop^tei  un,d  die  va^antei^  K9.nonik94e  üi  den  Moi^aten 
des  hi^3^^  StM^.  Pas  Ij^püel  ejwMU  de^,  Dea^hiint  ^nd  ver^ 

leiht  die  JRer^onüt^* 

«In  dem  hiß(^'älk.  PeterMift  giebt  es  noah  14  priesterlicke 
Vikariatej  welche  zu  verschiedenen  Zesien  gegründet  sind^ 
deren  hier  residiwende  Inhaber  nur  4oder  &siBd^  und'19«andere 
Vikariate  oder  Capellanieriy  deren  Besitzer  nicht  hier  zu  resi- 
dieren verbunden  sind.9< 

Und  heutey  am  Schluss  des  19.  Jah]chundert8»  ist  das 
reiche,  angesehene  Jung-St.  Peterstift,  vergangen,  vernichtet^ 
verklungen. 


1  Stadtarchiv.  Lade  46.  Nr.  24. 
>  Oeuvres  inödites  IT,  p.  16. 


—    56    — 

Die  Revolution  von  1790  hat  alle  Stiftsgüter  mit  einem 
Schlag  verschlungen,  säkularisiert  und  damit  die  Geschichte  eines 
sieben  Jahrhunderte  alten  Instituts  zu  einem  jähen  Abschluss 
gebracht. 

Am  27.  November  4790  dekretierte  die  Pariser  Reichsver- 
Sammlung y  dass  alle  Kanonikatey  Prohsteieny  Probenden  und 
alle  anderen  geistlichen  Stiftungen  und  Bruderschaften^  wie  sie 
auch  Namen  haben  mögen,  <jetzt  und  ewig»  in  Frankreich  ab- 
geschafil  sein  und  bleiben  sollten.* 

«Der  Verkauf  der  geistlicJien  Güter  gmg  aller  Dro- 
hungen ungeachtet  ruhig  von  statten.  Allenthalben  fanden  sidi 
Käufer  genug^  die  diese  Guter  ohne  Furcht  an  sich  steigerten. 
Nirgends  wurde  die  öffentliche  Ruhe  gestört. 

«Das  Stift-Archiv  wurde  in  das  Archiv  der  Distrikts-Ver- 
waltung überfuhrt»  •  (wo  es  sich  noch  befindet). 

«Am  Morgen  des  15.  Januar  1791  Hess  die  VerwaUurtg 
des  niederrheinischen  Departements  den  Chorherren  im  Münster, 
im  alten  und  jungen  St.  Peter  und  bei  Allerheiligen  ankündigen, 
dass  ihr  Amt  aufhöre^  dass  der  Chor  in  allen  diesen  Kirchen, 
dem  Gesetz  gemäss,  sogleich  geschlossen  werden   müsste. 

«Die  Domherren  unterwarfen  sich,  und  dieses  Geschäft  ging 
gegen  alle  Erwartung  ruhig  vorbei. »« 

In  der  Folgezeit  wurden  die  mittelalterlichen  Gräber  der 
Stiftsherren  in  der  Kirche  geöffnet  und  geplündert. 

Dies  das  Ende  eines  der  bedeutendsten  Stifte  Strassburgsl 


1  Friese,  Vatcrl.  Gesch.  V.  S.  92. 

*  Als  am  3.  Jan.  1791  eine  Kommission  des  Distrikts  die  Schriften 
aus  dem  Archiv  des  Stiftes  AU-St.  Jung  abholen  wollte,  um  si^  in 
dem  Archiv  der  Distrikts- Verwaltung  aufzubewahren,  entstand  ein 
grosser  Auflauf  bei  dieser  Kirche,  der  durch  übelgesinnte  Menschen 
angerichtet  zu  sein  schien.  Sobald  aber  die  bewaffiiete  Macht  herbei- 
geeilt war,  zerstreute  sich  der  Haufe,  ohne  dass  ein  beträchtliches 
Unglück  geschehen  wäre.  Die  Nacht  hindurch  gingen  starke  Pft- 
trouillen,  und  den  anderen  Tag  wurden  die  Schriften  unter  einer 
starken  Bedeckung  wirklich  abgeholt  und  in  das  Archiv  des  Distrikts 
gebracht.  (Friese,  Vaterl.  Geschichte  Y,  S.  94.) 

8  Friese  1.  c,  S.  94,  95. 


—    57    -- 

Anhang. 

1.  VerjEeichnis  tob  Adeligen  Stiftoherren. 

(Ans  Kindler  von  Knobloch :   Das  goldene  Buch.) 

I   TEIL. 

Hugo  Abt,  Cellaritu,  1424,  48,  f  9.  Angast  1450,  wohl  der  letzte 
seines  Geschlechts.  Sein  Siegel  an  einer  Urkunde  von  1433  zeigt 
im  gerandeten  Schilde  einen  Abtsstab.  (Siehe  Bild   1  Knobloch } 

ülrieh  Bertschin  van  Haue,  Scholasticns  1487  (1517  Canonicus  von 
St.  Thomas),  lebte  meist  in  Rom. 

Niedlaus  Bienckdy  Kantor  1354,  schon  1350  Canonicns. 

Wcifgimg  BöckUn  wm  Böcklinsau,  J.  D.  D.  (Propst  von  Alt-St.  Peter) 
Canonicns  von  Jnng-St.  Peter  und  St.  Thomas,   lölO  bis  1530. 

Erhard  Deutner,  Dechant,  führte  1432  das  Wappen  Bild  92. 

Heinrich  Ehenheim,  Kantor,  f  l^^* 

Phäipp  Endingen,  Dr.,  Canonicns,  f  11.  December  1505. 

Läwekind  oder  Leo  von  Firdenheim,  Domherr  zn  Jnng-St.  Peter  1396. 

Friedrieh  Fleekenstein,  Domherr,  1447. 

Johannes  GeispoUheim,  1423  Cnstos,  später  Thesanrarins  (Chorkönig 
des  Münsters),  f  1439. 

Nieoiaue  Geudertheinif  Canonicns,  f  1375. 

Heinrich  Grostein,  Thesanrarins  eccl.  S.  Petri  arg.,  tot  1340. 

WeUdo  GrosUin,  Canonicns  1337,  1343,  1377  Cellarins. 

Cuno  Grosteiny  1337  Canonicns. 

Gotto  Grostein,  1353,  1356  Canonicns,  1355  Decan,  1362,  1376  Propst 
t  1376  in  die  beaü  Galli. 

Beimbolt  Haslach,  Canonicns  1293. 

Anton  Heämann,  Dechant  1432  (1417—1450  Canonicns  von  St.  Thomfi), 
t  1457. 

Heinrich  von  Hochfdden,  cantor  eccl.  S.  Petri  arg.  1371. 

Voitto  Hueffel,  1370  Canonicus,  138:3  Kantor,  f  1394  oder  95. 

Heinrich  Ottfriedrich,  Canonicus 

NicoUtus  Friderici,  1346,  1366  Scholasticns,  zuletzt  Propst.  Sein 
parabolisches  Siegel  zeigt  einen  Doppeladler,  darüber  das  Haupt 
Johannis  des  Täufers  in  einer  Glorie,  darunter  den  Wappen- 
schild, 1366. 

Hugo  PamphiUn  (Pamphilin,  eine  Linie  der  Zorn),  Canonicus  1298, 
t  30.  April  1303. 

Wühelm  von  Parma,  1387,  1398  Scholasticns,  1391  Vicedekan,  1408 
Thesanrarins,  f  1411. 

Leopold  Beich  von  Reichenstein,  Domherr  von  Jung-St  Peter,  führte 
nach  dem  Armorial  de  la  g^n^ralit^  d^Alsace :  Des  gueules  ä 
deux  faces  abaiss^es  d*argent  et  en  chef  au  lion  naissant  de 
m^me.  Dies  Wappen  gleicht  dem  der  Reich  von  Kienzheim. 

Georg  Stehelin,  Domherr  vom  Jung-St   Peter,  f  1431. 

Iktcharius  Trachenfels,  Domherr,  f  1450.  Dies  Geschlecht  hat  seinen 
Namen  von  dem  pfalzischen  Rittergeschlechte  von  Drachenfels, 
Burgruine  zwischen  Dahn  und  Weissenburg,  von  dem  einzelne 
Glieder  in  Strassburg  wohnten  und  dessen  Wappen  (ein  Hirsch- 


—    58    — 

geweih  im  Schilde}  noch  an  dem  Giebel  eines  Ebtnses  in 

der  BraderhoüigaflBe  sn  sehen  ist. 
Beymbodus    Veuer  de   Gamundia,  canon.  eccl.  S.  Petri  arg.   1306, 

1484  (Alt-St.  Peter  ?). 
Mbertus    Wiese,  Decan    1406^  fühtte    im   parabolischen   Siegel  ein 

Schildchen  mit  einer  zweisprossigen  Leiter  (Bild  471). 
Meiwich   WodfeHn  von  Hochfelden^  cantor  eccl.  S.  Petri  arg.  (Alt 

St.  Peter?). 

Johannes  Zorn,  1302  rector  eccl.  S.  Petri  arg. 

Hugo  Zorn,  1294,  1320  Propst,  tot  1^2. 

Berthold  Zorn,  1314,  idl6  Thesanrarins,  tot  lä32'. 

<]ieorg  Zorn  von   Eckerich  (resignierte  1453   als  Tnesaorarins  von 

St.  Thomas),  Propst  1453,  1466. 
(Die  Ahnhen*en  des  jetzigen  Baron  Hugo  Zorn  von  Bulach  in 

Osthansen.) 

Heinrich  kolin,  1303  Scholasticos,  f  1334. 

^ötze  Kolin,   1293   Thesaurarius,   1307 .  Küster.   (Sie   warüi  Bruder, 

Ihre   beiden   gut  erhaltenen  Siegel   stellen   Heilige  dar.  Haben 

aber  keinen  Schild.) 
JKicolaus  von  Kuettolsheim,  1400  Canonicus,  1408  Propst,  f  1420. 
Egendf  von   Landiberg,    1272    canonicus,    1283    praepositus   eccl. 

S.  Petri  arg. 
JPeter  Merstoin,  1319  Canonicus. 
JSifrid  Merstoin,  1370  Propst. 
€onrad  Merewin^  Canonicus  (auch  von  St.  Thomas),  tot  1391. 

TL  TKIL. 

Miälenheim,  MiUnheim  (die  Ahnherren  des  jetzigen  Baron  Hermann 
von  MfUlehheim-Bechberg  in  Stifässtorg) : 

>  Walter,  1296  Canonicus,  130ä  Dekan,  tot  1306. 

>  Walter,  1323,  1338  Canonicus,  1350  Custos,  1361,  136&  Ka:ntor, 

tot  1364. 

>  Conrad,  I32i6  Theäaui-ariüs,  f  ^-  ^^  ^'3^- 

>  Gosso,  Custos  1356. 

>  Eberlin  senior,  1381,  1416  Canonicus. 

>  Heinzo,  1396  Kantor. 

2.  Einzelne  Notizen  über  SÜltiOiexifeii. 

Berthöld  de  G^eroldseck,  fröre  de  Bnrohard  I*'  et  d'Othim  U, 
•chanoine  de  la  cath6drale  en  1160,  6tait,  en  1193,  grand-chantre  de 
la  mSme  ^glisö. 

II  6tait  en  mtoie  temps  priv6t  de  Sttint-Pierre^-Jeume,  «Bertoldos 
prepositus  S.  Petri«,  est  nomm4  parmi  les  chanoüies  de  la  cath6- 
<lrale  dans  un  acte  de  11^.  (Orandiiüer,  0.  L  DI,  p.  5.). 

Parmi  les  chanoines  de  Saint-Pierre-le-Jeune  se  rencontre  en  1366 
un  Henri  Erwin,  dont  je  ne  saurais  6tablir  la  filiaüon.  (C.  Schmidt, 
Kote  sur  Erwin  et  sur  sa  famille.  Bulletin  1876,  p.  83.) 


—    59    — 

Bühler  nennt  in  seiner  Chronik  1545  einen  Herlin,  Canonicus  zu 
Jang-Si.  P^er,  dMsen  Solmeetet  den  WdHberühiifttefi  kiüistreichen 
liator  Jölumnet  Bttldong  (f  St^AMbufg  1545)  äür  the  gehabt.  (Atitt 
Bdhfioli*s  Mik^r.  KotiMli  ^  die  Sdhalen.) 

Jean  Knapp,  clianoin^  de  Saint-Pierre-le-Jeone,  laissa  lO  livres 
pour  ötre  partagies,  en  nne  (ok,  entre  ton»  les  Uprevx  pr^sents  k 
Strasbourgs  indig^nes  ou  ötrangers  (Liber  Vitae).  (C.  Schmidt,  Notice 
sor  r^glise  rouge  et  la  Uproserie  de  Strasbourg.  Bnlletin  1876  h 
1878,  p.  258.) 

3.  Der  anter  Dr.  Pappne  cor  eyang^-lath.  Kirclie  übergetretene 

Stiftspropst  Manritins  Uebernea  und  sein  Denkmal. 

(1597-1607.) 

Zu  St.  Marx  in  Sträsöbürg  befindet  sieb  in  der  Schreiberstube 
das  schöne  Denkmal  von  Mauritius  üeberheu,  Propst  von  Jüng- 
st Peter,  der  (in  seinem  Alter)  zur  lutherischen  Itirche  übertrat  und 
Tor  seinem  vTode  (f  1608)  sein  ganzes  Vermögen  (60,000  Gulden) 
St.  Marx  stiftete,  tirorunter  ein  Itapital  von  8000  Gfulden  zur  Unter- 
stützung für  studierende  Bürgersöhne,  dessen  Zinsen  noch  heute  zu 
dem  bezeichneten  Zweck  fallen.  (Eöhrich,  Gesch.  d.  Elsass  Qt,  S.  60.) 

•Die  äusserst  reiche  Umrahmung  des  Bildes  ist  eine  der  schönsten 
nnd  stilvollsten  Holzarbeiten  der  Renaissance  im  Elsass.  Die  das 
Bild  umstellende  Säulenarchitektur  ist  geradezu  vollendet.»  (Kraus, 
Kaast  tfnd  Altertum  im  Elsass  I»  p.  553.) 

Die  PhotogEsphie  des  Denkmals  imd  seiner  Inschriften  bei^det 
sich  ini  «Dkilletiii  de  Uk  Soei6t6  pour  la  consertatien  des  mottuments 
hiiloriques  de  TAlsace»  X,  200,  201. 

Siehe  auch  Bezirksarchiv  G.  4905 :  Protokollbuch  der  Sitaungto 
des  Kapitels  von  Jnng-St.  Peter,  geschrieben  von  Mauritius  Ueberheu. 

Im  Stadtarchiv  siehe  Ihe  Citation  des  Propstes  vor  den  Kardinal 
von  Lothringen. 

4.  Verhältnis  des  Stifts  zur  Anssätsigen-Rirche  auf  Gntleuten 

(„St.  Helena''). 

n  y  avait  quelques  relutions  mal  d^finies  entre  Ste-Hüene  et  le 
chi^itre  de  Saint-Pierre-le-Jeune ;  la  seule  chose  positive  que  Ton 
Sache,  c'est  que  le  25  avril,  jour  de  Saint-Marc,  les  chanoines  faisaient 
k  Bbthenhirchen  (IVglise  rouge  de  Ste-HöUne)  la  procession  des  rogations 
dite  la  grande  litanie.  («25  aprilis  fit  processio  in  Rotenkirchen.» 
lAber  vitae  de  Saint-Pierre-le-Jeune.  Grandidler,  Oeuvres  in^dites, 
t.  VI,  p.  290.)  (Aus  :  C.  Schmidt,  Notice  sur  Töglise  et  la  l§proserie 
de  Sü-asb.  Bulletin  1876—1878,  p.  240.) 

Tous  les  Upreux  de  la  l^proserie  de  Strasbourg  (Ste-H6Une) 
qui  se  prßsentaient  pouvaient  assister  au  repas  donn6  le  mercredi  de 
la  Semaine-Sainte  par  le  chapitre  de  Saint-Pierre-le-Jeune.  La  ils 
^taient  sous  la  surveillance  d^un  agent;  quand  il  sonnait  3  heures, 
il  les  faisait  sortir  par  la  porte  de  Pierre.  (Ibidem.) 


-    60    — 

5.  Verhältnis  des  Stifts  su  dem  Stift 

1327  baute  Bitter  Heinrich  van  Müb^heim  in  der  Steinstnoe 
eine  Kirche,  welche  er  mit  Gütern  beschenkte  und  dem  Jung-Si.  Beter» 
Stift  unterstdUe,  indem  er  sich  und  seinen  Nachkommen  das  Palronat 
Torbehielt.  Er  kaufte  auch  von  dem  Kapitel  das  Ho&errenxecht 
(dominium)  über  den  Pflngershof  (grosser  Gartneishof,  den  Otto 
Pfluger  als  Erbkhn  vom  KapiUH  zwn  Jungen  St,  BeUr  besessen  hatte. 

Siehe  hierüber  die  Quellenarbeit:  «DasBethaus  von  AllerheiÜgeji» 
von  Hermann  von  MÜUenheim-Bechberg,  Strassburg  1860. 

6.  Die  das  Jnng-St«  Petorstifl;  WBliegendea  Gassen. 

(Aus  C.  Schmidt,  fiiiiser-  und  Gassennamen.) 

Als  man  am  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  die  Stadt  nach  dieser 
Seite  hin  erweiterte,  errichtete  man  unweit  der  Kirche,  an  der  Hl 
beim  Eingang  der  Burggasse,  einen  Thorturm,  Burgthor  oder  porta 
S.  Petri  junioris  genannt. 

Die  heutige  Blanwolkengasse  wird  noch  1587  nicht  anders 
bezeichnet  als  *am  Basemarkt  (Brogliej  um  d<i8  Eck  hinum  nach  dem 
Jungen  St.  Peter  hinab».  In  dieser  Gasse  stand  u.  a.  : 

Der  Hof  der  Aebtissin  von  Andlau  1466,  1479. 

Der  Hof  der  MiUnheim,  der  Kirche  gegenüber.  1396,  1449. 

Eine  Curia  dicta  zu  dem  Wolmecher,  Hof  der  Kagenecke,  gegen 
der  Kirche  über,  1395,  1396. 

Eine  Curia  dictorum  Zorn  de  Bulach  1396,  1432. 

Die  Bnrggasse  wurde  1291,  1687  nach  dem  vor  alters  bei  der 
Kirche  zum  Jungen  St  Peter  stehenden  Burgthor  benannt. 

In  dieser  Gasse  stand  im  Mittelalter  ein  Kapiteihaus  des  Jungen 
St.  Peter  im  Jahr,  1317  von  dem  Canonicus  Peter  von  Schöneck 
bewohnt. 

Die  heutige  Grosskirchgasse  heisst  in  den  Urkunden : 
Vicus  S.  Petri  junioris   1296,   Kirchgasse  1376,   1427,  die  grosse 
Kirchgasse  1587  ^  Grande  rue  de  TEglise). 
In  der  Gasse  war : 

1.  die  Bäckerei  des  Kapitels   zum  Jungen  St.  Peter  1376,  1466. 

2.  Domus  zu  Hübelin  1388;  wahrBcheinlich  dasselbe  Haus  wie 
das  zum  Bühet,  in  dem  1568  Mathis  Pfarrer  starb.  Hübel,  Bühl 
kleiner  Hügel. 

Dieser  Mathis  Pfarrer ^  Atnmeister  1527,  1583,  1539,  1545,  1551, 
1 557,  1563,  und  Kirchenpfieger  zu  Jung-St.  Peter,  hatte  zur  Frsu 
die  Tochter  des  Seb.  Brant^  Esther  genannt  (nach  andern  Euphrosine), 
•hat  gewohnt  in  dem  grossem  Eckhus  urtten  an  der  grossen  Kirch- 
gasse».  vBühelers  Chronik.) 

Als,  nach  der  7.  Wahl,  er  seines  Alters  und  seiner  Gebrechlichkeit 
wegen  das  Amt  verweigerte,  machte  der  Rat,  um  ihn  umzustimmen, 
eine  Ausnahme  mit  ihm  und  versprach  ihm  sein  Nachtessen  an 
jedem  Abend,  den  er  vorschriftsmässig  im  Rathhaus  zubnngen  sollte, 
in  seine  Wohnung  zu  senden,  wo  ihm  auch  erlaubt  wurde,  die  öfFent' 
liehen  Angelegenheiten  zu  besprechen  und  zu  regeln. 


—    61     — 

Et  starb  in  diesem  Hause  im  Jahre  1668,  14.  Februar,  «bey  den 
Guten  leuten  begraben».  2&00  Personen  begleiteten  seine  Leiche. 
(Piton,  Strasb.  ill.  I,  p.  59.) 

Capito^  der  erste  evangelische  Jung-St  Peterpfarrer,  bewohnte  das 
Stiftshaus  auf  dem  Platz  jetzt  «H6tel  de  France»  genannt  (früher 
»Zum  Fünfzehnsolsstück».) 

•  Capito  starb  in  dem  grossen  Eckhaus  zum  Jungen  St.  Peter 
oben  in  der  grossen  Kirchengasse,  wo  der  Orendei  (d  h.  eine  mit 
Zinnen  yersehene  Mauer)  am  Hause  ist,  genannt  zum  Vogelsang.  — 
Hat  aber  nit  lang  darin  gewohnt.»  (Bühelers  Chronik.  Pp.  RoBhrich.) 

An  dieses  Haus  knüpfte  sich  eine  Sage,  den  auf  einem  starken 
Knaufe  inmitten  der  Zinnen  sitzenden  steinernen  Hund  betreffend. 

Diese  Sage  wird  erzählt  in  dem  Indicateury  gedruckt  bei 
Dannbach,  im  Jahre  1847.  (Lambs,  Die  Jung  St.  Peterkirche,  ö.  4ö.) 

3.  Curia  Walthers  von  Mülnheim,  Canonicus  zum  Jungen  St.  Peter. 
(Schmidt,  p.  96.) 

Ueber  die  Thomannsgasse  (die  noch  heute  im  Volksmund 
„Dmumeloch"  genannt  wird)  berichtet  Schmidt:  «Ursprünglich  be- 
wohnten die  Canonici  des  Jungen  St.  Peter,  ihrer  Regel  gem&ss,  ein 
gemeinsames  Haus.  Nun  war  aber  im  Dummenloch  ein  Baumgarten 
(pomerium);  könnte  dieser  nicht  in  der  Zeit,  als  die  Herren  noch 
nicht  jeder  eine  eigene  curia  daustralis  besassen,  also  etuHi  vor  der 
Mitte  des  12^  Jahrhunderts^  ihr  gemeinsamer  Garten  oder  Spazierplatz 
gewesen  sein?»  —  Als  dann  die  Canonici  eigene  Hauser  mit  G&rten 
bezogen,  hatte  der  Spazierplatz  keinen  Wert  mehr  für  sie;  ein  Teil 
davon  ward  überbaut,  und  es  blieb  nur  noch  der  von  niemand  mehr 
verstandene  «Dummenloch»,  d.  h.  Dume  =  Domini,  loch  =  Qarten.» 
(S.  61.) 

Im  Gässlein  hinter  der  Kirche  hiess  Nr.  2  im  Jahre  1395 
Curia  zu  dem  WöUneeher  und  noch  1757  Kanonikathaus  Cagineck, 
Cageneck  oder  Kageneck,  genannt,  neben  dem  grossen  Glockenturm, 
von  dem  chanoine  de  Reigemorte  bewohnt  1757  (hatte  TerrassCi 
Qarten  xmd  Gloriette  auf  den  Stadtgraben). 

Die  Kleinkirchgasse. 

Anno  1365  verkauften  die  Erben  des  Ritters  Rudolph  Stuben- 
weg dem  Kapitel  zum  Jungen  St.  Peter  die  H&nser  des  cStubenwege- 
gesselin«  (=  Gässlein),  welches  später  Kkinkirchgesselin  (1466,  1587) 
Petite  rue  de  TEglise  genannt  wurde.  (Schmidt,  S.  181.) 


III. 


Memorabilia 
quaedam  Ar^entorati  observata. 

Mitgeteilt  von 

Alexander  Tille 

in  Leipzig. 


Die  im  folgenden  getreu  wiedergegebene  Handschrift  aus 
dem  alten  Strassburg  beßndet  sich  im  Besitze  des  Gutsbesitzers 
Georg  Falck  in  Friedberg  in  Hessen.  Derselbe  erhielt  sie  mit 
allerlei  Briefschaften  gelegentlich  von  Bekannten.  Ueber  ihre 
frühere  Geschichte  ist  nichts  bekannt. 

Die  hs  enthält  2  Bogen,  also  4  Bl.  klein  Folio.  Bogen  1 
enthält  Memorabilia  quaedam  Argentorati  observata.  Bogen  2 
statistische  Aufzeichnungen  von  1582  bis  1604  über  die  Aniahl 
der  Gestorbenen,  Getauften,  Hochzeiten,  Gefangenen,  der  in  den 
Kirchen  gesammelten  Gelder  und  der  aus  der  Stadt  ausgeführten 
Waren.  Vertreten  sind  die  Jahre  1582, 1586, 1587, 1603, 1604; 
von  1586  an  finden  sich  auch  Nachrichten  über  die  in  den  Spi- 
tälern Gespeisten  und  über  die  Kindbettnerinnen.  Auf  Bl.  4  ^ 
(Bogen  2,  Bl.  2^),  also  am  Schlüsse,  findet  sich  im  Umfange 
von  nicht  ganz  einer  halben  Seite  ein  Verzeichnis  der  Profes- 
sores  Argentinenses  und  rechts  daneben  der  Medici  Argenti- 
nenses.  Dazwischen  sind  mit  jüngerer,  rot  aussehender,  schlech- 
terer Tinte  von  einer  anderen  Hand  allerlei  z.  T.  sehr  verwischte 


-    63    -^ 

Bemerkungen  über  kneblein,  Zwilling,  Dreyling,  vierliche  ein- 
getragen, die  aber  nur  noch  zum  Teil  lesbar  sind.  Die  Pro- 
fessores  sind  eingeteilt  in  1.  Theologi,  2.  Jurisconsulti,  3.  Me- 
dici,  Philosophi,  Physicus. 

Der  erste  Bogen  ist  gleichmässig  von  einer  Hand  geschrieben. 
Der  zweite  Bogen  weist  etwas  grössere  Schriflzuge  auf,  der 
Zug  stimmt  aber  ganz  genau  mit  der  Hand  des  ersten  Bogens. 
In  derselben  Schrift.,  wie  sie  der  zweite  Bogen  hat,  weist 
der  erste  einige  Randbemerkungen  auf,  die  ich  als  cursiv 
wiedergebe. 

Ergänzungen  an  unlesbaren  Stellen  unterpunktiere  ich. 

Im  allgemeinen  ist  Frakturschrift  angewendet.  Die  An- 
tiqua gebe  ich  nicht  besonders  an.  Bis  auf  die  Bruchstellen 
ist  die  Schrift  deutlich  leserlich.  Die  einzige  Abkürzung,  die 
verwendet  wird,  ist  9  für  us. 

Ueber  den  Verfasser  lassen  sich  nur  Vermutungen  auf- 
stellen. Dem  Inhalt  der  hs  nach  war  er  sicher  weder  Greist- 
Hcher  noch  Professor  an  der  Universität.  Wie  die  Ueberschrift 
zeigt,  war  er  jedoch  des  Lateins  kundig.  Er  war  kein  geborener 
Strassburger,  denn  1&,  Z.  2  sagt  er:  «Das  Steinstrasser  thor 
(da  ich  hinein  Von  Schilcken  kommen  bin).»  Dies  deutet  sicher 
auf  eine  Einwanderung.  Das  kirchliche  Interesse  war  bei  ihm 
sehr  ausgeprägt.  Jedenfalls  war  er  noch  jung.  Vielleicht  ein 
Student,  obgleich  dies  an  der  Stelle,  wo  er  von  der  Universi- 
tätsgerichtsbarkeit spricht,  nicht  hervortritt.  Oder  ein  gebildeter 
Buchdrucker?  Von  den  Handwerken  weiss  er  in  der  Bäckerei 
offenbar  am  besten  Bescheid.  Aber  dies  Hesse  sich  leicht  da- 
durch erklären,  dass  er  bei  einem  Bäcker  wohnte,  dass  sein 
Vater  oder  ein  sonstiger  Verwandter  Bäcker  war.  Jedenfalls 
lohnt  es  nicht,  darüber  sich  den  Kopf  zu  zerbrechen. 

Die  hs  enthält  eine  Reihe  bemerkenswerte  kulturhistorische 
Angaben  und  ist  für  die  Kenntnis  des  Strassburger  Lebens  im 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  nicht  ohne  Wert. 

Nach  dem  Schlüsse  der  Memorabilia  Bl.  2t>  scheint  die 
hs  bald  nach  dem  Februar  1605  gemacht  zu  sein. 

Das  Verzeichnis  der  Professoren  und  Aerzte  ist  folgendes : 

Professores  Argentinenses.  Mediei  Argentinenses. 

1.   Theolog i.  D.  Joh.  Lud.  Hauenreuter. 

D.  Johan  Pappus.  D.  Daniel  Rixinger. 

D.  Philipp  Marbach.  D.  Melchior  Sebicius. 

Licent.  Faber.  D.  Israel  Spachius. 

M.  Barthol  Hesser.  D.  Lucas  Eberling  al.  Verreobus. 

M.  Thobias  Specan  Hebrseus.  D.  Bingler. 
M.  Job.  Pappus  Extraordinarius.     D.  Saltzmann. 


-    64    — 

2.  Jarisconsalti.  D.  Agerias  Acker. 

D.  Georgras  Obrecht  D.  Snltzeras. 

D.  Melchior  Junias.  D.  Moub. 

D.  .  .  .  Michael  Reutems.  D.  Ebersperger. 

D.  JuBtns  Meyerns.  D.  Marcxm. 

3.   Medici.  ^-  Ulricns  Gigems  Mes.  feb.  A. 

D.  Melchior  Sebicins.  ^^^-  ^^^t. 

D.  Israel  Spachius. 

Philosophi. 
D.  Joh.  Lndov.  Hauenreater. 

PhysicQS. 
D.  Daniel  Rixinger  Logicus. 

M.  Marcas  .  .  .  Rhetor. 

M.  Laur.  Thomas  Walliser  Emicos  (Mnsicus?). 

M.  Michael  Busch  Graecas. 

M.  Isacas  Natholus  Mathematicus. 

Zu  D.  Ulricus  Gigerus  scheint  Mes.  feb.  A.  605  obijt  nach- 
getragen zu  sein.  Demnach  wäre  das  Verzeichnis  vor  demlFe- 
bruar  angefertigt  gewesen  und  hätte  dann  nur  noch  eine  kleine 
Durchsicht  erfahren. 

Unter  anderem  enthält  die  hs  die  älteste  bisher  nach- 
gewiesene Nachricht  über  den  Weihnachtsbaum ,  welche  seine 
Erwähnung  in  Dannhauers  Katechismusmilch,  Strassburg  1646, 
noch  um  40  Jahre  äl>erbietet. 

Memorabilia  quaedam  Argentorati  observata. 

Eusserste  Es  seindt  erstlich  9  Pforten  an  den  Fürstetten.  1.  das  Stein-     [BL  la] 
Pforten    strasser  thor  (da  ich  hinein  Von  Schilcken  kommen  bin).  2,  Weisser 

der  Statt,  thnm,  3.  Kronbargerthor.  4.  Elisabethenthor.  ö.  Spitalthor. 

6.  Metzgerthor.  7.  Neuthor.  8.  Fischerthor.  9.  Jadenthom.  Fftr        ^ 

diessen  thoren  masz  allzeitt  Schildtwacht  gehalten  werden. 

Auff  den  thürnen  masz  einer  stetigs  sitzen  vndt  acht  nehmen. 

wan  Rentter  konunen  so  schlegt  er  vff  die  glocken  so  viel 

schleg  alsz  der  Rentter  seindt,  damitt  er  der  Scharwacht  i 

ein  Zeichen  gebe,  dasz  sie  sich  zn  ihren  wehren  schickten,  auch    ^^ 

sie        ^  sprachten  so  es  anszlendische  weren. 

Znm  Juden  thorn  hinansz  ist  l.  der  Armbrust  reyen.^  2.  die 

Bleiche  da  man  das  thnch  bleichet.  Da  musz  man  von  einer  ehlen 

thuch  3  od  4  Pfennig  geben,  den  es  seindt  gärten  etlicher  leute 

die  daselbsten  wohnen.  3.  der  Schiesz  reyen  ^  da  man  mitt  Büchse  ^^ 


1  "Schar*  ist  durchstrichen. 

s  Ueber  dem  Raum  kurz  vor  «sprachten»  und  das  s  dieses 
Wortes  ist  mit  der  roten  Tinte  der  8.  4b  unten  ein  Zeichen  geuiacht, 
das  aussieht  wie  ein  «be». 

^  Auf  das  7  ist  mit  der  roten  Tinte  ein  «i»  korrigiert 


—    05    — 

achenst  Oarauff  stehen  15  Schiesz  henszlein  vndt  16  Scheiben. 
4  die  Lohemal,  Spitalmtd,  Palvermül,  habermül, 
Schleiffinül  vndt  Flachs  od  BlaüelmüL  ö.  die  Schiessmatten 
da  marh  die  schiff  machet,  der  kieffer  Dauben,  der  Schreiner 
thieln  etc.  6.  Der  kieffer  brenhütten  darin  sie  branten  wein  so 

brennen  den  keiner  in  der  Statt  brennen  darff.  7.  Der  Be- 
cker Seostall.  Da  selbsten  hinansz  knmpt  man  bey  den  Ziegel- 
hatten hinansg  auff  die  Bnpprecht  auw,  welches  ist  ein  Dorff, 
sehr  weitt,  stehet  kein  hansz  bey  dem  andern,  den  was  zn 
einem  hansz  gehöret  als  Schenren,  Stall,  Acker,  Wiessen,  ^ 

Gerten  das  liget  alles  bey  samen. 
Die  Schwartzbecken  od.  Hanszbecken  dörffen  nicht  vber 
Zwey  Schwein  halten,  die  weill  ihnen  das  mehl  ins  hansz 
gegeben  wirt,  die  Weiszbecken  aber  mögen  ihrer  so  viel  halte 
als  ihnen  geliebet,  dieweill  sie  kenffen  müssen  was  zn  ihre  ^ 

backen  gehöret,  davon  sie  viel  kleihen  vndt  ands  machen. 
Die  Weiszbecken  haben  ihre  Schwein  f&r  dem  Judenthnrn,  die 
Schwartzbecken  aber  in  der  Statt. 

mestenl 
So  man  einen  Schwartzbecken  ein  Sester  mehl  bringt,  zn 
backen,  so  giebi  er  ihm  zwey  keine  ^  brötlein  welche  sie  Mittschelen  ^^ 
nennen,  bringt  man  ihm  viel  Sester.  so  bekumpt  man  auch  viel 
Mittschien,  möchten  bey  vns  zwey  ein  pfennig  kosten,  werden  [Bl.  la] 
aber  allhie  nicht  verkanfft. 

Zmn  Anderen  Seindt  die  fömembsten  brücken  diese :  1 .  S.  Catharein 
brücken,  2.  Steffensbrück,  3.  Thomasbrück,  4.  Clanszbrücken,  5.  Neu-  ^o 
brück.  6.  Schiebrück.  7.  holtzbrück.  3  Hoher  steg.  9.  5  gedeckte 
brücken.  10.  2  Steinen  brücken.  11.  3  anffen  Boszmarkt.  12.  1 
beym  Weisenhansz.  13.  15  andere,  etc. 

Zum  dritten  Märckte  in  der  Statt   1.  Roszmarck.  2.  Fischmarck. 
3.  Saltzmarck.  4.  kornmarck.  6.  Wein  vndt  holtzmarck  auff  Bar-  ^^ 
fösser  Pflatz.  6.  Schwein  vndt  holtz  marck  bey  der  Metzig. 
7.  Fronhoff-  beim  thiergarten,  bischoffshoff  vndt  Münster.  Da 
ist  allen  freytag  wen  der  wochenmarck  ist  allerhandt  Essenspeisz 

auch  heffen  od  topfen  etc.  feyl.  ^ 

[Bl.  Ib] 

Die  Bauren  dörffen  nicht  zum  Pfennig  thum  auff  den  Freytag 

einfahren  mitt  den  holtzw&gen,  bisz  so  lang  der  wein  verkanfft  ist. 

Das  meieste  holtz  aber  wirdt  auffem  Wasser  herein  bracht. 

Ein  Arm  des  Rheins  fleust  in  die  Statt  in  die  Brmsch, 

welche  für  der  Statt  die  111  genömet  wirdt.  >  [fleust  auch  durch 

die  Statt]      * 

1  In  der  angegebenen  Weise  überschrieben. 

2  =  kleine? 

'  Von  dieser  Zeile  ist  t welche  für  der  Statt»  und  «genömet 
wirdt«  ausgestrichen  und  von  einer  späteren  flüchtigen  Hand  mit 
annähernd  derselben  Tinte  hinzugefügt  hinter  «wirdt» :  fleust  auch 
durch  die  Statt,  so  dass  der  Satz  entsteht :  «Die  111  fleust  auch 
durch  die  Statt«. 


—    66    — 

Fün£f  seindt  gefengnnsz  in  der  Statt  mitt  dem  Denmelthnm. 
Es  seindt  sieben  Pfarrkirchen  zu  Straszbarg. 

1.  Das  Münster  (vnser  Frawen)  welches  ö74  Werckschne 

hoch  ist,  hatt  547  staffeln  bisz  an  die  oberste  Schnecken.  Darinn 
wirt  allen  tag  dreymal  geprediget  mit  dem  frügebett  od  &üe  ^^ 

predig,  ohn  aaff  den  Sontag  vff  welchem  Viermal  gepredigt  wirdt. 
der  PfarrHerr  im  Münster  (den  ein  iede  kirchen  hatt  nnr  einen 
PfarrHer  welcher  seine  Helffer  oder  Diaconos  hatt)  ist  Caspamsi  Schal 
1er.  3  Helffer  N.  Schüring  N.  Gottwaltz  N.  Rentter. 
Das  Münster  stehet  alltzeitt  offen  dasz  ein  freyer  gang  dardnrch  ist,  i^ 
ohn  anff  den  abendt  machet  man  es  zn.  Darin  ist  das  schöne 
vndt  künstliche  Vhrwerck,  für  welchem  alletzeit  lentte  stehen  das  sel- 
bige zu  beschauen,  welches  vmb  II  vndt  umb  3  vhren  gesäng  [Bl.  Ib] 
schleget,  vndt  sonsten  viel  kunstreiche  stück  daran  gesehen  werden 

2.  S.  Thomas.  Ist  Pfarr  Herr  Barthol.  Nasser»  Helffer  Joh.  Thonicns  ^ 
Nicol.  Herberger. 

3.  Jnng  S.  Peter  Pfarr  Herr  Joh.  Lipp.  Helffer  Tobias  .  .  . 

Petrus  Phorhios. 

4.  Alt  S.  Peter      Pfarr  Her  Pangratius  Zenacker 

Helffer  Joh.  Frey  N.  Schilli 

5.  S.  Clausz  Pfarr  Her  N.  Speckser.  Helffer  N.  Thomas.  » 

6.  S.  Wilhelm        Pfarr  Herr  Carolus  N.  Helffer  N.  Pappus 

M.  Paulus  Crusius.  Molendinus.  P.  Caes. 

7.  S.  Aurelien       Pfarr  Herr  N.  Crugius. 

Helffer  N  N.  Von  Heiligenstatt. 

D.  Pappus  prediget  im  Münster  die  Wochen  zweymal.  Am  ^^ 

Sontag  vmb  12.  vndt  am  Dinstag  frü  am  Bettag. 

Licentiatus  Faber  frey  Predig  er,  prediget  wan  er  will. 

M.  Casparus  klei. 

Zu  S   Johannis  Haupt  halten  die  Papisten  Mesz. 

Zu  S.  Margreten  seindt  Nonnen  welche  Wunden,  bösse  ge-  ^ 

schwvr  etc.  heilen  darausz  eine  gen  Offenburg  kommen 

welche  1603  besessen  gewessen,  od  wie  man  darfür  helt  sie 

sich  also  gestelt  hatt  Ist  ein  schön  büchlein  darvon  im  truck  auszgäg 
ein        £s  ist  alle  4  wochen  vff  den  Zinsztag  allhier  Bettag 
Gross-     Es  wirt  alle  tag  vmb  9  vhr  die  Bettglocken  geleutet  *   *^ 

bettag     Es  predigen  die  ande  pfarher  vndt  helffer  auch  im  münster. 

Zu  S.  Vrelien  wirdt  am  Sontag  zu  mittag  auch  geprediget« 

Es  wirdt  allhier  alle  Fest  vndt  Sontag  zu  morgen  in  allen     [Bl.  2a] 

kirchen  zweymahl  geopfert  in  ein  Weissen  vndt  in  einen 

Schwartzen  sack.  Davon  die  Wilhelmitter  oder  Stipendiate 

vndt  vom  andern  die  Arme  leutte  erhalten  werden : 

Zu  S.  Marx  seindt  auch  Arme  Schüler.  ^ 

Es  seindt  7  teutsche  schüln  zu  Straszburg  bey  einer  ie* 

den  kirche  eine.  1.  S.  Vrelien  2.  S.  Thomas.  3.  Alt 

S.  Peter.  4.  Jung  S.  Peter,  ö.  S.  Willhelm.  6.  S.  Nicolaus 

7.  Zum  Statt  Peiffern.  Zum  Münster  gehörig. 


^  Das  Zeichen  9  wechselt  mit  us,  ist  aber  noch  in  der  Mehrheit 


—    67    — 

Wen  die  leutte  zu  Straszbarg  in  die  kirchen  kommen,  so   [Bl.  2a]  lo 
kehren  sie  sich  schalt  nach  dem  Altar  obschon  ihre  stuhl  darnach 
nicht  gewendet  seindt  Weibspersonen  knien  nieder  vnd  thnn 
ihr  gebett  darnach  setzen  sie  sich.  Item  So  der  Pfarr  Herr  ein 
gebett  spricht  knieen  die  Weiber  so  sie  es  können,  biss  er  ansz- 
gebetet  So  die  Weibspersonen  in  die  kirchen  kommen  i^ 

oder  daraosz  gehen  geben  sie  den  nechsten  lentten  in  ihrem 
oder  darbey  stahlen  vndt  ihren  nechsten  die  händt. 
Es  gehet  kein  Weibsperson  allhier  in  Mänteln,  so  sie  aber 
Zmn  Nachtmal  oder  auff  die  Sontag  in  die  kirchen  gehen  so 
haben  sie  ein  klejnes  mentlein  ohne  falten  2  handt  breitt  ^ 

i     fernen  omgekrepfet  vmb.  Die  gartener  weiber  haben  lange 
^    schwartze  beltz  vmb  ein  leylachen  vmb  sich  hencket. 
^  So  für  ein  krancke  person  fargebeten  wirdt  so  kumpt  ie- 

mandt  ausz  des  krancken  hansze 

Daranff  dan  stehet  dass  far  ein  solche  od.  andere  person  ein  ^^ 

gebett  die  gemeine  sprechen  wolle  vndt  leget  sie  an  ein 
gewisz  ort  an  den  Predig  Stnhl.  Damach  werden  die  selbigen 
briefflein  wen  die  predig  halt  ansz  ist  gesamlet  vndt  dem 
Pfarr  Herr  gegeben,  welcher  eines  nach  dem  andern  verlieset. 
Auf  Weihenachten  gibt  man  den  kindem  (ein  woche  znvor)  ^ 

einen  sprach  einem  itylichen,  welchen  sie  1.  die  knaben  vff 
Christag  2.  die  Megtlein  aber  aufP  New  Jahrstag  beten 
müssen,  werden  darnach  einem  ieden  1.  2.  3.  4.  ^J  od.  anch 
büchlein  verehret. 

Es  darfF  kein  megtlein  zu  Strassbarg  zum  Nachtmal  gehen  ^ 

itkt  es  sey  den  Manbar.    Die  knaben  aber  nicht  vnter  19  od  20  Jahre 
K^  So  ein  feaer  in  der  Statt  entstehet  muss  ein  ieder  bürger 
Jf^  ein  brennende  Incem  für  sein  hansz  hencken:  Er  aber 
r^  mnss  in  der  Rüstung  stehen.  Werden  in  ein  ieder  gassen 

die  zum  Münster  gehen  geschütz  geführet  zur  gassen  hinein  ^ 

gekehret.  Es  darff  sich  auch  nimandt  von  gesindtlein  auff 
der  gassen  finden  lassen.  Seindt  eigen  leutt  bestelt  das 
fener  zu  löschen. 

Der  Stattmeister  zu  Straszburg  ist  ein  stattlicher  vom  Adel   [61.  2b] 

Doch  wii-t  alle  Vierthel  Jahr  ein  neuer. 

Der  Ammeister  zu  Straszburg  muss  (regularive)  von  seinen  vier 

anhem  ein  bauer  oder  Bürger  zu  Straszburg  sein,  welcher  macht 

hatt,  einen  ins  gefengnüsz  zu  setzen,  aber  nicht  losz  zu  lassen        ^ 

den  das  musz  der  Stattmeister  thun. 

Form  Ammeister  werden  anch  die  Studiosi  verklagt  vndt  nicht 

fürm  Magnifico. 

So  sich  iemandes  versündiget  doch  nicht  leibs  straff  verdienet  od.  .  . 

dasz  ers  mitt  gelt  ablegen  möchte,  musz  er  im  Schellen  Werck      i^ 

am  Wall  bauen,  doch  wirt  ihm  kost  vndt  herberg  gegeben. 

So  einer  auff  den  Pfenningthurn  kumpt  od  zu  einem  drey 

er  Herrn  gesetzt  würde,  gibt  man  ihm  1000  fl.  drey  Jahr 

80  er  sie  begeret  zu  gebrauchen  ohn  pension  vndt  Interesse 

musz  sie  aber  in  dem  dritten  Jahr  wider  erstatten. 


—    68    — 

So  man  ettwas  kaufft  zu  Straszbarg  mdt  sobalt  das  nicht 
bezahlet,  gibt  man  ihm  einen  Gottspfennig,  (ist  ein  Pfennig) 
daranff  zur  Versicherung,  den  brichet  er.  wirdt  gemeingUch 
armen  leatten  vmb  Gottswillen  gegeben. 

Anff  Weihenachten  richtett  man  Dannenb&nm  zn  Straszbarg  ^ 

in  den  stuben  anff  daran  hencket  man  roszen  aasz  vielfarbigem 
papier  geschnitten,  Aepfel,  Oblaten,  Zischgolt,  Zucker  etc.  Man 
pflegt  darum  ein  viereckent  ramen  zn  machen«  vndt  vorrn 

« 

der  Stattmüller  halb 

Den  11.  12.  IH.  tag  Febrüari.  An.  1605  haben  die  Schreiner  mitt 
sampt  ihren  weibem  ein  Comoediam  agiret,  darinnen  gewessen  sein 
die  Gerechtigkeitt,  Fürsichtigkeitt,  Wahrheitt,  die  Yierzeitten  des 
Jahrs.    Die  12  himlische  Zeichen  vndt  was  man  alle  Vierthel  Jahr 

handelt  ^ 
Ein  wilder  Man,  Ein  wilde  fraw,  ein  Bauer.  Haben  ein  sehr 
gross  bildt  ausz  holtz  gemacht  vndt  auff  einen  wagen  welchen  sie 
auch  darzu  gemacht  gesetzt.  Item  Ein  Schiff  darinnen  ein  Schlosz 
gestanden.  Ein  schönen  Sessel,  vndt  all  ihr  Werckzeug  sehr  grosz. 
ausz  holtz  alles  geschnitten.  Ihre  kleidung  seindt  all  ausz  Hobel-  ^ 
spenen  gemacht  sehr  artiglich,  hüt,  federn,  kleidung  etc. 

Den  13  tag  zu  Abendt  nach  9  vhren  haben  sie  das  Schlosz   [Bl.  2b] 
auff  der  Breusch  mitt  einem  lustigen  Feuerwerck  welches  ein 
halbe  stunde  gewehret,  verbrandt,  haben  Wasserkugeln  ins  Wasser 
geworffen,  welche  brennende  seindt  geflossen.  Racketen  in  die.       ^ 
lufft  fliehen  lassen.  Damitt  sie  haben  wollen  anzeigen,  dass  sie 
nun  nicht  mehr  bey  licht  arbeiten  dörffen,  welches  sie  das 
Licht  verbrennen  heissen.  Ist  ein  sehr  grosz  vnkosten  darauff 
gangen.  Welche  Schreiner  noch  gesellen  nicht  haben  mitt  in 
dem  Spiel  sein  haben  ein  ieder  eine  fl.  dem  handtwerck  ^ 

geben  müssen,  nicht  zn  straff,  sondn  dass  sie  den  vnkosten 
möchte  desto  leichter  abzahlen.  Der  einzige  sessel  nur  8  fl. 
zu  mahlen  gekostet. 


IV. 


Auszug 

ans  d«r 


Chronik  der  Stadt  Ingweiler 

Von 

Fritz  Letz 

in  Ingweiler. 

Der  dreissigjährige  Krieg,  1618—1648. 


Uieser  schreckliche  Krieg,  in  unserer  Gegend  nur  der 
Sehwedenkrieg  genannt,  hat  furchtbare  Verwüstungen  auch  in 
unserem  Städtchen  angerichtet.  4622,  als  der  Graf  von  Mansfeld 
in  das  Elsass  eingefallen,  hatte  der  Graf  von  Hanau  demselben 
100,000  Gulden  bezahlt,  damit  er  sein  Land  verschone,  und 
dann  in  seinem  ganzen  Land  bekannt  gemacht,  dass,  wer 
etwas  an  Kostbarkeiten,  Geld  u.  dgl.  habe,  solle  es .  in  eine 
der  vier  Städte  thun  :  Buchsweiler,  Neuweiler,  Pfaffenhofen  und 
Ingweiler.  Unsere  Stadt  war  damals  gestopft  voll  Habselig- 
keiten und  Menschen,  die  sich  hierher  gefluchtet  hatten.  Bis 
drüben  von  Ingenheim  waren  sie  gekommen.  110  Personen 
starben  in  diesem  Jahr,  nur  ungefähr  30  waren  von  hier  und 
Menchhofen,  alle  anderen  waren  Flüchtlinge,  welche  sich  von 
Ende  April  bis  Ausgang  September  hier  aufhielten.  —  Es 
bestand  damals  hier  eine  Schützengesellschaft.  Dieselbe  hatte 
vor  dem  Unterthor  draussen,  auf  der  Stätte,  die  heule  noch 
tauf  der  Schiessmauer»  heisst  (ohne  dass  jemand  von  hier 
mehr  wüs.ste,    was   das  Wort   bedeutet),   ihr  Schiesshaus  samt 


—    70    — 

Schiessrain  und  Schiessmauer  (Kugeltang).   Die  Stadt  gab  der- 
selben jedes  Jahr  einen  Beitrag  von  iO  Gulden  zum  Verschiessen 
und    liess    den     «Schiesbronnen    zu    fegen,    gibt  jahrs    einer 
Frau  dafür  2  schilling^D.  Diese  Schützengesellschafl  nahm  an  dem 
Scharmützel  bei   Gichweyler,*    am  3.  Juni    1622   teil.   Es  sind 
daselbst  erschossen  und  tödlich  verwundet    worden  3  Mann    von 
hier  und  einer   von   Menchhofen,   namens   Wendung  Schiess. 
Die  drei  von  hier  hiessen  Hans  Kürschner,    Peter  Häusser  und 
Peter  Förster,  der  ^Schmidt».    1624   erging  eine  Schätzung  im 
ganzen  Land,  die  grosse  Schuld  abzubezahlen,    «giebt  dazu  die 
Judenschafl   50  Gulden»  ;    auch   die    Stadt    wurde    sehr   hoch 
angelegt.  «Der  Bürgermeister  und  Schultheis   nach  Buchsweiler 
gangen,  sich  allerhöchst   zu  beschwehren  der  hohen  Schätzung 
halbens).    —   Unser   Stadtchen    blieb    nun    merkwürdigerweise 
vor   grösseren    üebertallen   lange    vei^schont.   PfafTenhofen   und 
Obermodern   dagegen    waren    1634    schon    ganz     zerstört;   es 
befanden  sich  von  dort  viele  Flüchtlinge  hier;  Magister  Böhringer, 
Pfarrer   von   Obermodern,    hielt   sich  hier   auf  bis  1642,   weil 
ein  Dorf  ganz  ausgestorben    war.     Es   scheint,    dass    in  dieser 
Zeit  in  der  ganzen  Umgegend    kein  Pfarrer    sich  mehr  befand, 
denn  von  1632 — 36  sind  aus  der  ganzen  Umgegend  die  Kinder 
hier  getauft   worden.    Gross    war   auch  hier  die  Sterblichkeit. 
Früher  starben   in   einem     normalen   Jahr    25  Personen,  1632 
i^chon    58,    darunter    aber    ein    Drittel     fremde    Flüchtlinge, 
1633 :  78,  1634 :  68,  1635  :    98  Personen.    1636   fingen    auch 
für  unser  armes  Städtlein  die  Schrecken  des  Kri^es  an.    Den 
21.  August  wurde  dasselbe  von  Schweden  überfallen,  es  waren 
Reiter   vom   Kaltenbach'schen  Regiment,    welche  im  Sturm  in 
die  Stadt  eindrangen.    Dieselben   ermordeten    drei   Einwohner, 
den  Stubenwirt  Melchior  Riff,    Michael  Beuerlein,  den  Becker, 
und  Michael  Hoffmann,    einen  Gerberjungen.    Wie  schrecklieb 
sie    hier   hausten,    zeigt    uns   folgender  wortgetreue  Auszog : 
«[Dienstag  den  30.  Kunigund,  hans  Seltzers  dochter   von  Wim- 
menau,   des  Sternenwirths  magd,  so    von  den  Buttern  genoth- 
züchtiget  und  dermassen  zugerichtet,  dass  sie  in  2  tagen  gesund 
und  tod  gewessen,    begraben  worden.»    Schaudern   durchrieselt 
einen    beim  Auffinden    solcher    Notizen.    Nach   den  Schweden 
kamen  die  Kaiserlichen.    Es   fand  ein  Treffen  hier  statt,  wobei 
mehrere  Reiter,  samt  einem  Fähndrich  und  einem  Obristwacht- 
raeister  fielen.   Von  Feldherren    waren   hier   im  Quartier  Graf 
Gallas,  •  Graf  zu   Solms-Laubach    und   der  Baron   de   Shuisse. 


^  Eine  Klause  samt  Kapelle  anderthalb  Kilometer  von  hier; 
darüber  näheres  in  der  Chronik,  welche  ans  den  Akten  des  Stadt- 
und  Pfarrarchivs  geschöpft  ist. 


—    71    — 

Der  Stadtsclireiber,  welcher  während  der  Zeit  die  Beeth  (Steuer) 
einsammeln  musste,  schreibt,  dass  er  solches  gethan  habe  «unter 
grösster  leibes  vnd  lebens  gefahr».  Es  starben  in  diesem  Jahr 
220  Personen.  -  Im  Hornung  1637  kam  ein  Regiment  schwe- 
discher Infanterie  vor  die  Thore,  und  der  Oberst  desselben  von 
Wurmbrand  begehrte  Einlass.  Die  Bürger,  welche  nicht  wussten, 
ob  sie  ihm  willfahren  sollten,  begaben  sich  nach  Buchsweiler 
zu  den  Herren  Räten.  Diese  gaben  ihnen  Bescheid,  sich  an 
den  gnädigen  Herrn  zu  wenden,  der  Graf  befände  sich  in 
Hagenau,  Strassburg  oder  im  Schloss  zu  Wolfisheim.  Man 
schickte  nun  auf  jeden  dieser  Plätze  zwei  Bürger,  um  Bescheid 
zu  holen ;  unterdessen  gab  man  den  Soldaten  Brot  und  Wein 
vors  Thor.  Dieselben  logierten  sich  über  Nacht  in  den  Mühlen 
und  Gerbershäusem  ein  und  diejenigen,  welche  keinen  Platz  be- 
kamen, zogen  nach  Weinburg.  Des  andern  Tages  kamen  die 
Boten  zurück  mit  der  Weisung,  die  Truppen  einzulassen,  was 
auch  geschah.  In  aller  Eile  wurde  nun  die  Stadt  in  Vertei- 
digungszustand versetzt,  die  Mauern  wurden  nachgesehen  und 
ausgebessert,  neue  Fallbrücken  an  den  Thoren  angebracht, 
dieselben  mit  Pallissaden  umgeben.  Bei  der  Röthdarre  wurde 
ein  Blockhaus  errichtet.  Vom  Lichlenberger  Schloss  kamen  etliche 
Zentner  Pulver  und  Blei,  und  der  Seiler  von  hier  musste  etliche 
Klafter  Lunten  machen.  «Mittwoch  den  41.  Aprilis  kamen  die 
Kayserlichen  vnter  dem  Obristen  Bamberger,  und  berannten  die 
Stadt,  mit  Reiter  und  Fussvolk  4500  Mann  stark,  aber  durch 
Gottes  Hülf,  vnd  der  officieren  vnd  Soldaten  man  liehe  gegen- 
wehr  abgetrieben  worden,  dass  vber  50  Mann  vom  feindt,  von 
uns  aber  nur  2  verletzet  worden.  Gott  sey  für  diesse  gn.  hülf 
gross  lob  ehr  vnd  danck  gesagt.  Amen.  Amen.))  Diesem  Lob 
und  Dank  des  damaligen  Vikars  und  Pfarrers  Göter  schliessen 
wir  uns  von  Herzen  an.  Denn  auch  die  Bürger  hatten  bei 
der  Verteidigung  der  Stadt  mitgeholfen,  und  wenn  die  Kaiser- 
lichen die  Stadt  in  ihre  Gewalt  bekommen  hätten,  so  wären 
nach  damaligem  Kriegsbrauch  die  Bürger  sämtlich  nieder- 
gehauen worden  und  die  Stadt  in  Rauch  und  Flammen  auf- 
gegangen. Nach  dieser  glücklich  überstandenen  Belagerung 
liess  die  Stadt  weissen  Wein  unter  die  Soldaten  austeilen,  an 
die  Bürger  aber,  a  welche  sich  auf  Mauern  vnd  Wache  gewehret, 
2  Ohm  rothen  wein».  Der  Weisswein  wurde  bezahlt  mit 
4  Gulden,  der  rote  mit  4  Gulden  2  Schilling  die  Ohm.  Von 
den  Wurmbrandischen  Soldaten,  die  Ingweiler  nun  besetzt  hielten, 
hören  wir  nicht,  dass  sie  Grausamkeiten  begangen  hätten  ;  sie 
hielten,  wie  es  scheint,  Mannszucht ,  denn  gleich  bei  ihrer 
Ankunft  liess  der  Profoss  einen  Pfosten  zum  Stockhaus  setzen 
und  denselben  mit  Ketten  belegen.    Nachher    kam   dann   noch 


—    72    - 

das  Schmidburgische  Regiment.  *  Die  Leute  dieses  Regiments 
scheinen  nicht  immer  sehr  sauber  gehandelt  zu  haben,  denn 
der  Pfarrer  nannte  sie  Bettelbuben  und  haben  dieselben  Herrn 
«Musculi,  Pfarrers  zu  Imbsheim  Wittwe,  welche  hier  krank 
lag,  dermassen  geänstiget  und  traktiret  dass  sie  gestorben». 
Diese  Einquartierungen  dürfen  wir  uns  nicht  vorstellen  wie  heut- 
zutage. Wenn  solch  ein  Regiment  kam,  so  war  dabei  ein 
ganzer  Tross  von  Weibern  und  Kindern^  fast  jeder  Soldat  hatte 
seine  Frau,  oder  wie  der  Pfarrer  sie  betitelte — bei  Angabe  voo 
Taufpatinnen  «war  des  Soldaten  Frau  oder  Köchin».  Wenn 
ein  Regiment  eine  Zeitlang  in  einem  Städtlein  lag,  so  \Tar 
dasselbe  ausgefressen.  So  finden  wir,  da^s  nach  Abzug  der 
Schweden  die  grösste  Hungersnot  hier  herrschte.  Als  die  Kai- 
serlichen im  Anzug  waren,  die  Stadt  zu  belagern,  flohen  viele 
Bürger  mit  Weib  und  Kind  ins  Gebirg ;  bis  nach  Puberg 
kamen  sie,  vier  Stunden  von  hier.  Wir  hören  von  vielen  Personen, 
dass  sie  Hungers  gestorben  seien ;  nur  etliche  Beispiele  wollen 
wir  anführen  :  «Der  Bürgermeister,  Philipp  Kleiss  hat  sich, 
durch  die  Wurmbrandische  Einquartirung  gar  verdorben,  vnd 
hungers  halben  sich  gen  Strassburg  salvirt,  allda  gestorben.» 
«1638  den  31.  Janarius.  Mittwoch,  Magdalena,  w.  H.  Job. 
Ruprecht  Ziedle  Stadtschreibers  wittib:  vnd  Margaretha,  w. 
Peter  Fritschen  des  schmids  p.  n.  wittib,  begraben  worden: 
seind  vor  hunger  verschmachtet.  Dieser  Peter  Fritsch  gieng 
von  hier  nacher  Strassburg  um  Brod  für  die  seinigen  zu 
kaufen,  aber  im  Brumather  Wald,  auf  St.  Thoma  tag,  weil 
nur  wenig  Speiss  im  Leib,  erfroren.»  Der  Pfarrer  fügt  bei: 
«Gott  woll  sich  der  armen  u.  nothleidenden  hertzlich  erbarmen, 
vnd  von  aller  trangsal,  noth  u.  Hunger  gn.  erretten.  Amen.» 
Bei  einer  Leiche  finden  wir  ein  «NB.  Diese  frau  ist  armuth 
halber  hungei*s  verschmacht;  bey  ihrer  leich  nit  mehr  als  ein 
Mensch,  Thomas  heinrich^  der  Welker  erschienen,  also  ich 
kein  Sermon  halten,   vnd  ohn    einige    sonst  gebräuliche  iäfc- 


1  Dem  Obersten  dieses  Regiments,  Freiherm  von  Schmidborg, 
scheint^s  in  Ingweiler  gefallen  za  haben ;  er  wurde  später  hier  an- 
sässig und  verehlichte  sich  mit  Fräulein  Magdalena  Margaretha,  der 
Tochter  von  Janker  Kraft  von  Waldmannshaosen,  gräflich  Hanaoischer 
Oberfalknermei&ter  von  hier.  Diese  Familie  von  Schmidburg  bestand 
hier  bis  zur  Revolation,  wo  dann  ihre  Qüter  als  Nationalgut  einge- 
zogen nnd  versteigert  wurden;  sie  hatte  ihr  Erbbegräbnis  im  Lang- 
haus der  Kirche. 

2  Diese  Familie  Heinrich  ist  die  einzige,  von  der  orkandlich 
bewiesen  ist,  dass  sie  vor  dem  3Qj  ährigen  Krieg  schon  bestand  nnd 
heute  hier  noch  besteht. 


—    73    - 

monien  sie  begraben  lassen.    Ist  aber   kein  Wunder,    sintemal 
als  Sonn  vnd  Bettag  schier  niemand  mehr  in  die  Kirch  gehet.» 
Femer  ein  Beispiel  dafür,  wie  hart  und  fühllos   der  Krieg  die 
Leute  machte :  «NB.  Vorige  Woche  nämlich  den  14.  Augustus 
ist  Maria,  Dürr  Diebolts  Wittib  von   Ober  Motem^    allhier   ge- 
storben,   vnd    hatt   niemand    sie   begraben  lassen  wollen  :    ist 
also   biss   in    den    7.    tag    vnbegraben   ligen  blieben,   vnd  ein 
pestlich  geruch  von  sich  geben  :  als  ich  nun  solches  den  7.  tag 
erfahren,  hab  ich  M.  Böringern  ihrem  Pfarrer  i    zugesprochen, 
vnd  dahin  bewegt,  dass  er  sich  erklert,   als    den    todtengi*äber 
Lohn  8  pf.  zu  steuern:    ich    aber  hab    den    todtengräber    be- 
stellet,   ia    mit   gewalt   vnd    betrohung   des   thurms    nöthigen 
müssen,  dass  er  sie  begraben  I  6  des  greuels  I    6  der  schände ! 
das  wir  Christen  einander  nit  mehr  begraben   wollen.»    Durch 
diegrosse  Hungersnot  und  die  herrschentlen  ansteckenden  Krank- 
heiten, als  Pest  und  c Porpein »  (schwarze  Blattern),  wurde  unser 
Städüein  so  entvölkert,    dass    1640    nur    6  Personen   starben, 
1641  4,  1642  5.    Die    meisten    dieser    Leute   starben   an    der 
Schwindsucht,   jedenfalls    infolge    der  grossen    Not    und   Ent- 
behrungen, welche  sie  durchmachen  mussten.  1638  fanden  nur 
vier  Taufen  statt,  1639  sogar  nur  eine.  Die  Rinderpest  scheint  auch 
grassiert  zu  haben,   denn  wir  .finden:  «Geben  dem  Nachrichter, 
weil  kein  Wasenmeister  da  war,  5  Hund   zu   verträncken   vnd 
etliche  Stück  Vieh  so  ums  Städtel  herum  lagen,  zu   verdelben, 
8  Schilling.»    Von  1639  bis   zum  Friedensschluss   blieb    unsere 
Stadt  von  grösseren  Kriegsschrecken  verschont ;  sie  war  ständig 
von  den  Franzosen  besetzt,  welche  im  Bund  mit  den  Schweden 
den  Krieg  gegen  den  Kaiser  fortsetzten  und  des  Rufs  genossen, 
gute  Mannszucht  zu  halten*   Wie  entvölkert  unsere  Stadt  war 
and  wie  sehr   der  Ackerhau    danieder  lag,    dafür   finden  wir 
einen  schlagenden  Bele^^  in  den  Bürgermeistereirechnungen.  Es 
heisst  da  zu  Ende  des  Jahres  1638:  «Alle  die  hier  nicht  bezahlt 
angegebenen  Posten   sind   als   verloren   zu  betrachten  sintemal 
die  meisten  Leute  gestorben  vnd  verdorben  sind.j»  Die  von  der 
Stadt  verlehnten  Guter  waren  nicht  mehr  bebaut ;  so  hatte  der 
Sternenbergs   damals  Reben,    die    nie    mehr    später    bebaut 
wurden,  ja  es  währte  über  hundert  Jahre,  bis  sämtliches  Land 
wieder  bepflanzt  wurde.  In  den  1650er  Jahren    musste  die  Stadt 
etliche  Häuser  abbrechen  lassen,    weil   niemand   sie  bewohnte 


^  War  daznmalen  hier  als  Flüchtling,  da.m  Pfarrverweser,  hielt 
den  10.  August  1638  eine  Leichenpredigt,  bei  d:r  er  bemerkt,  dass  dies 
seit  78  Wochen  wieder  die  erste  Predigt  sei. 

2  Berg,  eine  Viert clstnnde  von  Ingweiler,  an  Ranschenbnrg 
grenzend,  jetzt  mit  Fichten  nnd  Buchen  bedeckt. 


—     74    — 

und  sie  baufalli^^  wurden.  Von  1638  bis  1720  ist  kein  Haus 
zu  finden,  welches  in  dieser  Periode  gebaut  worden  wäre; 
alle  sind  älteren  oder  neueren  Datums. 

Es  giebt  bei  uns  noch  alte  Gresangbücher,  in  welchen  auch 
Gebete  enthalten  sind,  und  in  denen  es  nach  der  Bitte  um 
Abwendung  der  Feuers-  und  Wassersnot,  Pestilenz  und  teueren 
Zeit,  heisst :  «Vor  Turk  und  Schwed  behüt  uns  lieber  Herre 
Gott.»  Unsere  Vorfahren,  wenn  sie  die  benachbarten  Bauern 
wegen  der  Aussprache  des  e  gleich  ä  necken  wollten,  sagten 
folgenden  Reim  «Bat,  Bür,  Bat,  hit  kumt  dr  Schwad,  mom 
kumt  dr  Ochsastärn, '  dar  wurt  och  Bura  bäta  lärn.>  Im 
Ingweiler  Dialekt  wurde  dies  lauten:  Bet,  Bur,  Bet,  hit 
kumt  dr  Stthwed,  morgen  kumt  dr  Ochsenst^n,  der  word 
eich  Bure  beten  lehm.  Unsere  Stadt  hatte  vor  dem  SOjähngen 
Krieg  einen  völlig  ausgebildeten  Handwerkerstand,  in  mancher 
Hinsicht  vollkommener  als  heute.  Es  waren  Kürschner,  Haftner, 
Hafner,  Hutraacher,  Schwarz-  und  Schönfärber,  Goldschmiede, 
Silberarbeiter,  Wollspinner,  Wollenweber,  lauter  Handwerker, 
die  heute  nicht  mehr  vorkommen.  Aber  nach  dem  Krie^ 
mussten  die  meisten  Arbeiten,  welche  die  Stadt  machen  Hess, 
von  auswärtigen  Handwerkern  verfertigt  werden. 

Das  eine  Stunde  von  hier  liegende  Dorf  Wimmenau  starb 
ganz  aus;  von  1637  bis  1655  war  keine  lebende  Seele  mehr 
darin.  Diesem  Umstand  ist  auch  zuzuschreiben,  dass  dieser 
Ort  keinen  Wald  mehr  besitzt.  Der  ganze  grosse  Wald,  heute 
noch  bekannt  unter  dem  Namen  «Wimmenauer  Waldj»,  gehörte 
vor  dem  3Qjährigen  Krieg  dem  Ort.  Als  aber  alles  ausgestorben, 
fiel  der  Gemeindewald  der  Herrschaft  «caduc»  anheim,  und  den 
später  sich  wieder  Ansiedelnden  wurde  kein  Recht  mehr  daran 
zu  teil.  —  Um  unsere  Gegend  wieder  zu  bevölkern,  liess  der 
Graf  von  Hanau  Schweizer  kommen  und  gab  denselben 
einiges  Feld  unentgeltlich  ;  auch  waren  dieselben  einige  Jahre 
steuerfrei.  Hier  in  Ingweiler  war  wenigstens  die  Hälfte  der 
von  1650  bis  1670  nachweisbaren  Bevölkerung  Schweizer. 
Dieselben  waren  fast  alle  calvinistischer  Religion,  hielten  sich 
aber  nach  und  nach  zur  lutherischen  Kirche ;  jedoch  in  manchen 
Ortschaften  im  Gebirge,  wo  sie  vorwiegend  waren,  hat  sich 
das  reformirte  Bekenntnis  bis  heute  erhalten. 

Von  1660  ab  wurde  in  der  ganzen  Grafschaft  eine  Bann  Ver- 
messung vorgenommen,  hier  bei  uns  1667.  Es  war  nämlich 
alles  in  eine  solche  Verwilderung  geraten,  dass  niemand  mehr 
recht   wusste,  was    sein  Eigentum   war.    Es  musste  nun  jeder 


Axel  Oxenstierna,  der  schwedische  Kanzler, 


—    75    — 

durch  einen  «Titer»  vorweisen  können,  was  ihm  gehörte.  War 
der  «Titer»  verloren  gegangen,  so  genügten  auch  zwei  glaubhafte 
Zeugen.  Nun  war  aber  viel  Gut  da,  zu  welchem  keine  Erben 
erschienen,  auch  Häuser,  welche  der  Stadt  anheimfielen ;  dieses 
herrenlose  Gut  fiel  der  Herrschaft  «caduc»  anheim.  Sie  wollte 
aber  solches  doch  nicht  alles  behalten  und  schenkte  den 
grossten  Teil  davon,  wozu  sie  übrigens  vollkommen  das  Recht 
hatte,  der  lutherischen  Kirche.  Daher  stammt  der  grosse  Güter- 
besitz der  hiesigen  Kirchenfabrik. 

Durch  die  Annexion  an  Frankreich^  nach  dem  West- 
fälischen Friedensschluss  1648,  verlor  schliesslich  unsere 
Stadt  fast  alle  ihre  Rechte  und  Freiheiten,  welche  ihr  früher 
die  deutschen  Könige  und  Kaiser  erteilt  hatten.  Doch  darüber 
näheres  in  der  Chronik. 


V. 


Drei   Lieder 

auf  Strassburgs  üebergabe  1681. 

Mitgeteilt  von  J.  Bolte  in  Berlin  (1  und  2) 
und  von  E.  Martin  (3). 

1.  Von  der  schandlichen  Uebergab  der 

Statt  Strassburg. 


p 


i^feE 


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^  .n  r.  r 


Glickh  zue,  Glickh  nie,     ent  -  erb  -  tes  Kind,  Far» 


N=» 


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*: 


tu  '  na      e  -  nim      e  •  ffes,    In     mei-ner  Schoasdich 


^ 


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fe 


Pr=^ 


1 


nit    mer  find,  Nam  GrcU  'li     ha  '  bea       k  •  gea. 


^^^12^^ 


^ 


Ich  feh  -  le  gwis,  das  ich  mit    dir  Nan  Qal  -li    lo  •  quar 


X 


?-^ 


is=*: 


S@iä=^^^ 


linguam.  Wie  gfalt  dir    das     fran  -  zö  -  sisch  Gslechi?  Ar 


^^ 


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ß~: 


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is=fc=its 


--Hjrrr« 


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cor  -  de      die,    ^uid    sen  -  Hs?  Trau-  rig   gehst  du    dar- 


^^ 


pz=tr 


You,  wie  recht,  Et     si  •  mi  •  lis      es      flen  -  tis. 


—    77    — 


G) 


lickh  zue,  Qlickh  cne,  enterbtes  Kind ! 
FcTtnuuk  efum  tgu; 
In  meiner  Schoss  dich  nit  mer  find, 
Nam  GdÜi  habes  leges. 
Ich  fehle  gwis,  das  ich  mit  dir 
Nan  Gaüi  loquar  Ungtiam. 
Wie  gfalt  dir  das  französisch  Gsfchjlecht? 
Ex  corde  die,  quid  sentia? 
Tranrig  gehst  da  darron,  wie  recht, 
M  sinUlis  es  fUntis, 

2.  Was  weinst,  betriebte  Dochter  mein? 
Sed  quid  te  dico  natam? 

Kein  Reichsglid  kanst  du  nit  mehr  sein 

06  ßdem  GaBo  datam. 

Zu  spatt  komt  dir  dein  Jongfranwitz : 

Fax  (üma  sie  saneivit, 

Gar  wohl  der  rechte  Gottes  Bliz 

Bebeüem  te  punitit. 

Ludwig  wird  lehmen,  glaube  mir, 

Te  gaüic^  parlare. 

Ja,  ja,  er  wird  gwis  zeigen  dir 

Et  Fapam  honorare. 

3.  Anstatt  dess  Adlerss  zn  deim  Lohn 
Hemt  fistukan  pro  equo ! 

Trägst  du  den  Gogglhan  darYon, 

Par  eis  ut  sie  iniquo. 

Der  Hanne  dich  mit  seinem  Gschrey 

Vigüias  docebit, 

Ein  Magt  bist  iezt :  anf,  Eille  frey, 

Cantinuo  striddfit 

Anstatt  der  kleinen  Gaarnison, 

Quam  priiu  Caesar  misit, 

Mit  12  Tansendt  zn  deinem  Honn 

Te  Ludovicus  visit. 

4.  Dess  frommen  Adlerss  siesses  Joch, 
8i  iugum  est  vocandum, 

War  dir  zu  schwer,  ach  hetst  es  noch! 

Sed  tum  est  revocandum. 

Leopoldss  Gnad  vnnd  Güttigkeith 

In  vanum  es  äbusaj 

Erkenst  zu  spatt  mit  Traurigkeith 

Et  gemitu  iüusa. 

Es  ist  nur  Schad  um  deinen  Nam, 

lam  non  es  Argentina, 

Abghauen  bist  vom  Reichessstamm, 

GaUorum  es  GaUina. 


—    78    — 

5.  Zugleich  aach  aasgeschlossen  bist 
Ex  Ubra  nostrae  fntae^ 

Das  hast  dir  gschmidt  durch  eigne  Lüst^ 

Mercedem  habes  ruh. 

Lehmen  mnst  du,  wilst  oder  nit, 

Nunc  gäüich  parlare, 

Oezwangen  bist,  da  hiUft  kein  Bitt 

Te  GäOo  subiugare, 

Ein  frene  Beichstatt  warst  zuTor, 

^ro  Ubera  es  serva, 

Dis  Liedlein  singt  mann  dir  ins  Ohr : 

E$  Agar,  non  Minerva. 

6.  Gehe  hin,  brang  iezt  mit  deinem  Gschiz, 
Es  gloria  inanis, 

Dein  Macht  vnd  dein  vermeinte  Wiz 

GäUarum  sunt  insanis. 

All  Freyheit  hin,  nur  lehrer  Schein 

Cum  iuribus  antiquis, 

So  dir  mitheilt  der  Kayser  dein, 

Evanuisse  cemis. 

Ach!  Suech  sie  nit,  da  hasts  qoitiert 

Cum  magnis  compUmentis, 

Das  da  Ladwig  hast  salatiert 

Explosis  cum  tormentis. 

7.  Die  Sacrament  sibn  an  der  Zahl 
lam  diu  respuisti, 

Der  römisch  Kirch,  dem  alten  Stall 

JProtervh  restitisti, 

Das  Pfaffenwerkh,  den  Rosenkranz, 

Thesaurum  devatarum 

Hast  ring  geschlagen  in  die  Schanz 

Ädhucque  plura  harum; 

Hast  iezt  empfangen  von  dem  Rey 

Extremam  unctionem, 

Bekommen  wirst  gar  bald  darbey 

Bomanam  unctionem. 

8.  Recht  also  dises  heisse  Bad 
Tibimet  praeparästi, 

Da  da  za  deinem  Ynglickhsrath 

Gällum  ad  te  vocästi. 

Ein  gnette  Zeit  za  deinem  Flnech 

Passa  epüepsiam, . 

Hast  nit  gewnst,  das  Lilgengrach 

Causet  apapkxiam. 

Den  Freyheitzakher,  den  zavor 

Tu  dukiter  gustabas, 

Da  Ladwig  hast  aafgmacht  die  Thor, 

Cum  feUe  permutabas. 


—    79    — 

9.  Adhi,  jang88  FrandiöBelein', 

Borte  V0U8  ben  francese !  .    . 

Wie  schickhst  dich  in  die  Heselein?    '. 

^tffic  me  citpis  adesse?  > 

Wie  gfallt  dir  der  Franshosen  Pflicht 

Parcia  et  iUorum? 

Ach,  alles  ist  auf  Schranffen-  gricht, 

Tata  vita  Gättarum 

Mit  ihren  geschliffiien  CompHment 

Et  Mcuhiaveliemo ; 

Schon  habenss  manchen  Hofif  verbrendt 

Et  vero  Ätheismo. 

10.  Zn  TÜ  hast  traut  ihrem  Äccordt; 
Simt  mera  eomplimenta. 
Erfahren  hast,  dass  ihre  Wort 
Ventosa  eUmewta, 
Versprechen  als,  nit  halten  Til 
Hae  leges  simt  Oaiüorum; 

Dan  dises  Sprichwort  ist  ihr  Zyhl: 

Nan  sdavi  sunt  wrborum. 

Doch,  Strassbnrg,  kanst  nit  klagen  vill, 

Non  vi  se  intruserwit, 

Sonder  ans  deinem  eignen  Will 

Hi  daves  acceperumt, 

11.  Znm  lesten  was  ich  gmacht  dir  hab, 
Dcientes  genas  rigo. 

Ein  Epitaphium  aufs  Grab, 

Quod  moerens  hie  affigo, 

Dis  solt  dir  sein  die  leste  Ehr 

Ä  qwmdam  tua  matre, 

Dein  Schwesteren  ein  Lehr, 

Ut  maneant  cum  patre. 

Den  Kayser  Leopoldnm  gross, 

Simul  Josephum  Eegem, 

Erhalt,  o  Gott,  in  deiner  Schoss 

Et  Oermanorum  gregeml 

Epitaphium. 

12.  An  disem  orth      (borst  meine  Worth) 
Heu!  Vestra  iacet  soror, 

Ein  alte  Dam     tou  alten  Stamm 

Et  regni  öUm  hanor. 

Ihr  erster  Stamm      vnndt  alter  Namm 

Ach!  fuit  Argentina. 

Nach  brochner  Pflicht      hört,  was  geschieht 

Oaihrum  fit  gaMina. 


—    80    — 

Jezt  bruet  sie  ans  mit  Schmerz  vnd  Spoth 
Aetemam  servitutem. 
An  Adlers  statt      ein  Han  iezt  hat, 
Qui  accUpat  ei  cutem. 

Ende. 

Aus  dem  Berliner  Mscr.  germ.  oct.  230,  einem  am  1685  in  Baiem 
geschriebenem  Liederbjache,  S.  87—95. 

In  Str.  12,  9  ist  wohl  zu  lesen :  c  Jezt  bmet  sie  hat  mit  Schmerz 
vnd  Spoth  >. 

In  derselben  Handschritt  sieht  auf  S.  248 — 249  von  anderer 
Hand  und  ohne  Melodie  nachfolgendes  Bruchstück  eines  auf 
dasselbe  Ereignis  bezuglichen  Liedes«  Vollständig  (28  Str.)  ist 
dies  Lied,  eine  Dichtung  des  Baumburger  Chorherrn  /.  Albert 
Poysel,  aus  dem  Cod.  germ.  Monac.  4055,  122  abgedruckt  bei 
F.  W.  V.  Ditfurlh,  Die  historischen  Volkslieder  von  1648  bis 
1756  (1877)  S.  67.  —  Der  ebenda  S.  76  gedruckte  Dialog 
zwischen  Montclar  und  Sirassbui^ :  ccNun  will  ich  in  dir  leben» 
ist  auch  in  zwei  fliegenden  Blättern  der  Berliner  Bibliothek 
(Ye  7921  und  7922)  erhalten. 

2.  Strassburgs  Klage. 

1.  Ach  was  neyes  Wehklagen 
Erhebt  szich  an  dem  Rhein?  — 
Teutschland,  darfst  nit  vill  fragen, 
Die  Stimm  ist  leyder  mein. 

Kan  nur  nit  lant  gnneg  schreyen. 
Es  zittret  an  mir  allss: 
Der  mich  hat  wollen  freyen, 
Halts  Messzer  mir  an  Halss. 

2.  Argentorat  ich  hiessze, 
Silber  gab  mir  den  Nahm. 
Jezt  fremdes  Silber  giessze, 

So  mir  ansz  Franckhreich  kämm. 
Mich  Jungfrau  von  vill  Jahren 
Zu  deflorieren  szncht 
Ein  Krammer  falscher  Wahren: 
0  Silber,  szey  verflucht! 

3.  Mein  Gschmnckh  und  Kleinodt  stochen 
Frembd  Werber  in  das  Aug, 

Die  Trey  und  Glauben  brochen, 
AufFgoszen  schärpfste  Laug. 
Mein  Freyheit  kunt  nit  szechen 
Der  weit  auszsehendt  Han, 
Drumb  that  er  mich  anckräheu 
Mit  40  000  Mann. 


—    81    — 

4.  Ich  spreizte  mich  vor  Zeiten 
Des  Adlers  Brant  za  sein, 
Hab  nun  an  meiner  Seiten 
Den  Han  zum  Baeler  mein. 
Ich  maint,  das  Spill  war  gwonnen, 
Wan  ich  kein  Kaiszer  schwnr  — 

[Einen  anderen  Text  des  ersteren  Liedes  teilt  Herr  Pfarrer 
Rathgeber  aus  einem  auf  der  Strassburger  Universitätsbibliothek 
beQndlichen  Druck  o.  0.  u.  J.  mit,  in  welchem  auch  eine 
Antwort  der  Statt  Strassburg  an  das  H,  Rom.  Reich  auff 
den  ReichS'Ahschied  folgt,  mit  dem  Motto:  Pate^*  et  mater 
dereliquerunt  me.  Dominus  autem  assumpsit  me,  Ps.  26. 
Dreiundzwanzig  Strophen  in  der  gleichen  Form,  mit  einer  an- 
gehängten Syngraphe  finalis  mit  Binnenreimen: 

LEOPOLD  gross,      bald  glorios 

Sole  duplo  micäbis.  (a.  R.  Anagr :  söle  duplo  s  Leopoldus) 
Den  Tentschen  Thron      die  Griechisch  Cron 

In  unum  adunabis. 
Leb  deim  Vatter  gleich      0  ROmisch  Reich 

jSitc  et  tu  triumphäbis. 
In  dem  ich  schein      armseelig  zu  seyn, 

PcUre,  matre  orhata, 
Nimbt  mich  Gott  auff      ö  gsengter  [1.  gsegneter]  Kauff 

Vitam  [1.  Yitae]  ecce  post  fata 
INNOCENTÜ      LUDOVICI 

Sum  filia  amata. 

Diese  Antwort  ist  also  ebenso  wie  das  Lied  von  einem  Ka- 
tholiken verfasst.  Cöln,  Augspurg,  Regensbui*g,  Nürnberg,  Frank- 
furt, Ulm,  Worms,  Speyer,  Schwäbisch-Gmünd,  Hamburg 
werden  genannt  und  vor  dem  Ven'ate  an  die  Türken  durch 
den  ungarischen  Grafen  Tekeli  gewarnt.  Der  Dichter  frohlockt 
über  die  Conversion  Friedrich  Augusts  von  Sachsen  1697 ;  er 
dichtete  also  zur  Zeit  des  Friedens  von  Rijswick. 

Für  das  oben  mitgeteilte  Lied  lautet  hier  die  Ueberschrift : 
Letzter  |  Reichs-Abschied  |  Von  der  j  Mutter  f  Dem  Römischen 
Reich  I  An  die  enterbte  |  Tochter  \  Nun  Frantzösis.  Stadt 
Strassburg.  Auch  im  Text  begegnen  eine  Anzahl  Varianten, 
von  denen  ich  die  sicher  besseren  (denn  nicht  alle  sind  besser) 
hier  verzeichne.  1,6  non  Gallice  discurram^  (darnach:)  Ich 
bleib  gut  Teutsch :  verzeihe  mir  Matemnm  servo  linguam, 
7  (eigentlich  9)  Wie  gfallt  d'Frantzösisch  Nation.  9  Ach  traurig 
gehest  du  darvon.  2,7  grechte.  5,12  es  Agar  et  non  Sara. 
6,2  Est,  4  haec  omnia  sunt  gallis.  7  die.  7,12  unionem, 
9,11  verblendt.  11,7  Schwestern  aber  eine.  12,3  von  Teut- 
schem  Stamm. 


^ 


—    82    — 


Eine  vollständige  kritische  Ausgabe  dieser  Erzeugnisse  einer 
traurigen  Zeit  zu  besorgen,    fehlt  es  mir  gegenwärtig   an  Zeit. 

Auch  anderwärts  erhoben  sich  Vorwürfe  gegen  Strassbuiig. 
Ganz  volkstümlich  gehalten  ist  das  folgende  Lied,  welches  in 
Bettlach  am  Leberberg  (Jura)  aufgefunden  und  von  Frz.  Jos. 
Schild  in  seiner  mundartlichen  Sammlung  «Der  Grossätti  aus 
dem  Leberberg»,  2.  Bändchen,  Biel  1873,  mitgeteilt  w<Hrden  ist. 

Volkstümlich  ist  hier  die  Beschuldigung  der  feilen  Verräter, 
sagenhaft  die  von  dem  Erbauer  des  Münsterturmes  erzählte 
Geschichte.  Der  Dichter  wird  bei  oder  in  Rheinfelden  zu  Hause 
gewesen  sein.  «Denn  in  der  vierten  Strophe  setzt  er  dem  Ver- 
halten Strassburgs  die  ruhmvolle  Erinnerung  an  den  tapferen 
Widerstand  entgegen,  den  im  Jahre  1634  das  österreichische 
Rheinfelden  unter  Oberst  Franz  von  Mercy  dem  schwedisch* 
deutschen  Heere  unter  Rheingraf  Johann  Philipp  leistete.  Erst 
nach  einundzwanzig  Wochen  harter  Belagerung  hatten  Hunger 
und  Not  diesen  kleineren  WafTenplatz  zur  Uebergabe  an  einen 
übermächtigen  Feind  gebracht.]»  [E.  H.] 

3.  Strassburger  Lii^d. 

Zu  singen  ich  anhebe, 
Bitt^  woir  mich  recht  verstan! 
Ein  seliges  End'  Gott  gebe 
Den,  die  es  hören  an. 
Ich  will  euch  jetzt  anzeiga 
In  diesem  Lied  zugleich, 
Wie  dass  vor  kurzen  Zeiten 
Strassborg  bätt^  sollen  streiten 
Mit  dem  König  aus  Frankreich. 

Es  zogen  französische  Herren 
Zu  ihnen  vor  die  Stadt. 
Viel  Geld  thün  sie  verehren, 
Sobald  man^s  genommen  hat. 
Es  waren  ihre  f&nfzehn, 
Die  das  Geld  empfangen  hand, 
Ein  jedä  Hess  sich  belohnen 
Mit  hundertdusig  Chronen, 
Zu  verrathen  das  Vaterland  I 

Franzosen  thäten  kehren 
Vor  ihre  Thor^  geschwind, 
Kein  Mensch  thät*  sich  da  wehren 
So  wenig  als  ein  Kind. 
Sobald  man  akkordieret, 
Macht  man  ihnen  anf  das  Thor. 
Dann  liess  man  sie  marschieren, 
In  der  Stadt  hemm  spazieren, 
Kein  Mensch  stund  mehr  davor.  * 


:—  83  — 

Eine  Stadt  will  ich  euch  melden, 
Stiasabozger  zämet  nüt, 
Dieselbige  heisst  Rheinfelden, 
Selb  sdnd  wohl  ander  Lüt. 
Tapfer  hand  sie  gestritten 
So  lang  mit  ihrem  Find. 
Den  Stand  hand  sie  behalten, 
Man  möcht*  den  Kopf  zerspalten  — 
Wamm  bist  du  so  blind  ! 

Strassbnrg,  du  thust  dich  tmtzen, 

Du  wohlgezierte  Stadt; 

Hast  viel  konstreiche  Schätzen, 

Gross  Maaren  steif  und  satt 

Dn  trügest  übermüthig 

Gross  HofFarth,  Stolz  und  Fracht; 

Jetzt  trägst  du  Kammer  and  Sorgen, 

Da  möchtest  schier  erworgen, 

Dass  dir  der  Bnggel  kracht. 

Den  höchst  Tarm  ohne  Babel 
Hast  da  in  deiner  Stadt. 
Ich  sag%  es  ist  kein  Fabel: 
Der  ihn  gebaaet  hat. 
Sagt,  er  könnt  einen  machen. 
Noch  höher  weder  der; 
Sobald  er  diess  gesprochen, 
Hesch  da  ihm  d*Aagen  asg^stochen, 
Dram  straft  dich  Gott  der  Herr. 

Kommt  Etwer  za  dir  gegangen, 
Ein  Trank  za  than  mit  Bast, 
Hast  da  ihn  schön  empfangen: 
€  Willkomm,  mein  lieber  GastI 
Was  will  der  Herr  wohl  essen, 
Was  will  der  Herr  far  Wein  ?> 
«He  gaete  Wisze  and  Bothe, 
Gesotten  and  gebroten.» 
«Der  Herr  kann^s  lastig  sein.» 

Ist  Etwer  za  dir  kommen, 
Handwerks-  oder  andere  Leat, 
Sobald  da  es  vernommen, 
Dass  da  nicht  grosse  Beat 
Von  ihnen  könntest  haben, 
Massten  sie  ins  Spital  hinein, 
Wo  nichts  als  Flöh  and  Lüse, 
Viel  Ratten  and  viel  Muse: 
Gang,  lig  jetzt  selber  drin. 


VI. 


Bilder  zum  Siegfried  slied 

von  1580  (?). 

Mitgeteilt  von 

E.    Martin. 


D. 


'urch  die  Güte  des  Herrn  Paul  Heitz  ist  es  uns  möglich 
auch  diesmal  unser  Jahrbuch  mit  Bildern  zu  schmücken  und 
zwar  mit  Holzschnitten,  für  welche  ein  Interesse  auch  über  den 
Kreis  unserer  sonstigen  Leser  hinaus  zu  erwarten  ist. 

Die  Firma  Heitz  8c  Mündel  ist  im  Besitz  einer  Anzahl  von 
Holzstöcken,  welche  grösstenteils  zu  Volksbüchern  des  16.  Jahr- 
hunderts  die  Bilder  geliefert  haben.  Woran  sich  unsere  Voreltern 
erfreuten,  was  jetzt  nur  als  grosse  Seltenheit  in  einzelnen  Exem- 
plaren erhalten,  zum  Teil  vollständig  verschwunden  zu  sein 
scheint,  das  lässt  sich  mit  Hilfe  dieser  Holzstöcke  auch  jetzt 
wieder  gerade  so  herstellen  wie  vor  dreihundert  Jahren.  Herr 
Heitz  gedenkt  eine  Ausgabe  *  dieser  Holzstöcke  in  einem 
Sammelband  erscheinen  zu  lassen ;  unserem  Jahrbuch  hat  er 
die  für  eines  der  wichtigsten  Volksbücher,  für  das  Siegfrieds- 
lied bestimmten  Holzschnitte  vorweg  zu  bringen  gestattet. 


1  Eine  Auswahl  dieser  Sammlung  erschien  bereits  unter  dem 
Titel  :  «Originalabdruck  von  Formschneiderarbeiten  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  etc.  mit  erläuterndem  Text  herausgegeboi  tod 
P.  Heitz  >  gl.  fol.  Strassbnrg,  Heitz  &  Mündel,  1890. 


-    85    — 

Die  Ausgabe  des  Siegfriedliedes,  wozu  sie  gehörten,  ist 
möglicher  Weise  die  zu  Strassburg  bei  Christian  Müllers  Erben 
1580  erschienene.  Leider  hat' man  darüber  nur  eine  Notiz  im 
Katalc^  28  des  Buchhrmdlers  Stargardt,  Berlin  1857  Nr.  87 : 
«Hüren  Sewfried  (gesangweis)  mit  Holzschnitten  8»  cart. 
76  Seiten.  Die  drei  letzten  Blätter  beschädigt,  25  Thaler.»  Wo 
dies  Exemplar  sich  heute  befindet,  ist  nicht  zu  ermitteln 
gewesen;  so  berichtet  W.  Golther,  der  nach  den  Vorarbeiten 
von  E.  Steinmeyer :  Das  Lied  vom  Hürnen  Seyfrid,  Halle 
(Xiemeyer)  4889  als  Nr.  84  und  82  der  Neudrucke  deutscher 
Utteraturwerke  des  XVL  und  XVH.  Jahrhunderts  herausgegeben 
hat,  S.  VI.  Auch  unsererseits  ist  auf  deutschen  Bibliotheken, 
in  London  und  Paris  vergebens  danach  gesucht  worden. 

Es  lässt  sich  bei  dieser  Sachlage  auch  nicht  sagen,  ob  die 
Aasgabe  noch  mehr  Bilder  enthält  als  die  45  (oder  eigentlich 
nar  44)  auf  den  Holzstöcken  aufbewahrten.  Eines  davon  ist 
doppelt  überliefert,  offenbar  ist  der  eine  Holzstock  (Nr  43),  auf 
welchem  Krimhild  eine  verunstaltende  Bildung  der  Stirn 
erhalten  hatte,  verworfen  und  durch  einen  andern  (Nr.  43  a) 
ersetzt  worden.  Doch  lässt  sich  die  Reihenfolge  durch  den 
Gang  des  Liedes  feststellen,  wobei  die  in  Golthers  Abdruck  an- 
l^egebene  Reihe  der  Bilder  in  der  Ausgabe  Nürnberg  bei  Georg 
Wächter  (o.  J.  aber  wahrscheinlich  um  4540)  leiten  kann,  nur 
dass  es  hier  28  Bilder  sind,  die  nicht  ganz  mit  den  unsrigen 
zu  stimmen  scheinen.  Aus  dieser  Ausgabe  entnehme  ich  die 
folgenden  L^eberschriHen. 

4.  I  Wie  Seyfrid  zu  eynem  Schmid  kam  und  den  Amposs 
in  die  erden  schlug  und  das  eysen  entzwey,  und  den  meyster 
und  knecht  schlug. 

2.  n  Hie  schickt  der  meyster  Seyfrid  auss  in  meinung 
das  er  nit  wider  solt  kummen. 

3.  HI  Hie  kam  Seyfrid  zu  der  Linden  da  der  Trach  lag, 
vnd  er  schlug  jn  zu  todt. 

4.  V  Hie  nympt  Seyfrid  ein  few  bei  dem  Koler,  und 
will  die  würm  verbrennen. 

5.  VHI  Als  nun  der  Trach  die  Junckfraw  auff  den  Trachen- 
slein  het  bracht,  leget  er  jr  seyn  Haupt  in  die  schoss  und 
rüwet. 

6.  X  Hie  reyt  Seyfrid  und  will  jagen  im  wald. 

7.  Xn  Hie  nympt  der  Humen  Seyfrid  den  Zwerg  bey 
dem  haupt,  vnd  schlecht  jn  vmb  die  staynen  wand. 

7 


^    80    - 

8.  XllI  Hie   ficht  Seyfrid  mit   dem   Rysen  Kuperan    umb 

den  Schlüssel. 

• 

9.  XIV  Hie  schwerdt  der  Ryss  Kuperan  dem  Hürnen 
Seyfrid,  er  will  jm  die  Junckfraw  helfen  gewinnen  von  dem 
stavn. 

iO.  Hierzu  passt  keins  der  fofgenden  Bilder  der  Nürnberger 
Au.^gabe,  soweit  sie  aus  den  Ueberschnften  sich  erkennen  lass- 
sen;  der  Holzschnitt  gehört  etwa  vor  Strophe  95,  in  welcher 
erzahlt  wird  :  wie  Siegfried  den  treulosen  Riesen  Kuperan  noch- 
mals überwindet,  freilich  sieht  Siegfried  die  Jungfrau,  welche 
auf  dem  Bilde  zuschaut,  erst  nachher. 

11.  XVHI  Hie  wirfTt  der  Hürnen  Seyfrid  den  Rysen 
Kuperan  vber  den  Trachenstain  ab,  das  er  zu  stücken  falt. 

12.  XX  Hie  ficht  der  Hürnen  Seyfrid  auff  dem  stayn  mit 
dem  Trachen. 

13.  und  13  a.  XXIV  Hie  ligt  Seyfrid  in  eyner  onmacht 
vor  grosser  hitz  und  müde. 

14.  XXV  Hie  ligt  Seyfrid  und  die  Magt,  vnd  sie  ist 
von  seynetwegen  kranck  worden  vnd  seer  betrübt,  indem  so 
kumpt  der  Zwerg  Engel  unn  gibt  jr  ein  wurtz  in  mund,  so 
wirdt  sie  gesund. 

Den  Kunstwert  der  Holzschnitte  zu  erörtern,  überlasse  ich 
Berufneren.  Zu  loben  ist  gewiss  die  Deutlichkeit  der  Dar- 
stellung, die  Naturbeobachtung,  welche  selbst  dem  Drachen,  der 
seinen  Bärenkopf  auf  Krimhildens  Schoss  legt  (5),  eine  gewisse 
Gutmütigkeit  zu  verleihen  vermag.  Dass  Siegfried  auf  1 — 4, 
ß — 10  als  bartloser  Jüngling  erscheint,  auf  H,  13,  14,  (12  ist 
unsicher)  als  bärtiger  Mann,  lusst  vielleicht  auf  verschiedene  Vor- 
bilder des  Holzschneiders  schliessen.  Freilich  erhillt  auch  der 
Wanderbursche  2,  3,  4,  in  Nr.  G  plötzlich  ein  Jagdkostum  und 
in  Nr.  8  schon  ritterliche  Rüstung. 


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VII. 


Der  Goethehügel   bei  Sesenheim. 


Von 

Ernst  Martin. 


«Die  Stätte,  die  ein  gnter  Mensch  betrat, 
Ist.  eingeweiht;  nach  hnnrlert  Jahren  klingt 
Sein  Wort,  nnd  seine  That  dem  Enkel  wieder.  > 

vJoethes  Schilderung  seines  Strassburger  Aufenthaltes  von 
Ostern  1770  bis  in  den  Herbst  1774  ist  allbekannt.  In 
diesem  Teile  seiner  Lel)ensgeschichte,  der  er  den  bedeutungs- 
vollen Titel  «Dichtung  und  Wahrheit»  gegeben  hat,  zieht  die 
dSesenheimer  Idylle»  uns  immer  von  neuem  an:  nie  ist  ein 
jugendliches  Liebesglück  reizender  beschrieben  worden.  Ja 
man  darf  sagen,  dass  diese  Schilderung  von  Land  und  Leuten 
wesentlich  beigetragen  hat  zu  der  Sehnsucht.,  mit  welcher  wir 
Deutschen  vor  1870  nach  dem  Elsass  hinuberblickten  und  zu 
der  Begeisterung,  mit  welcher  wir  in  jenem  Jahre  die  Wieder- 
gewinnung des  Landes  begnisst  haben. 

Früh  regte  sich  der  Wunsch,  noch  mehr  über  jene  Episode 
in  Goethes  Leben  zu  erfahren,  vor  allem  die  Frage,  ob  es  denn 
wirklich  so  schon  gewesen,  was  Goethe  als  erlebt  erzahlte. 
Schon  im  Jahre  1822  zog  der  Bonner  Philologe  Nake  Erkun- 
digungen an  Ort  und  Stelle  ein,  deren  Ergebnis  freilich  erst 
durch  Vamhagen    von  Ense  1840  >  veröffentlicht  wurde.   Dann 


^  Wallfahrt  nach  Sesenheim,  von  Angust  Ferdinand  Näke,  weiland 
Professor  in  Bonn,  hg.  von  K.  A.  Vamhagen  von  Ense.  Berlin  1840. 


-^    98    — 

gab  August  Stöber  1838  und  1842*  Gedichte  von  Goethe  an 
Friderike  heraus,  welche  er  aus  dem  Nachlasse  ihrer  Schwester 
Sophie  erhalten  hatte.  Den  ersten  Brief,  welchen  Goethe  an 
Friderike  geschrieben,  hat  Scholl  1846«  bekannt  gemacht,  aus  dem 
Konzept,  welches  gegenwärtig  unserer  Bibliothek  angehört. 
"Was  seitdem  an  weiteren  Spuren  von  Goethes  Verhältnis  zu 
Friderike  Brion  bekannt  geworden  ist,  hat  der  1885  verstorbene 
Pfarrer  Lucius»  trefTlich  und  abschliessend  zusammengefasst. 

Lucius  wendete  sich  mit  vollem  Recht  gegen  die  Verleum- 
dungen, welche  sich  an  das  Andenken  des  jungen  Dichters 
und  seiner  elsässischen  Geliebten  geheftet  haben.  Als  ich  im 
Jahre  1864  zum  ersten  Mal  auf  der  Plattform  des  Münsters 
stand  und  den  Wächter  nach  der  Richtung  fragte,  in  welcher 
Sesenheim  liege,  meinte  er,  dass  Goethe  doch  recht  schlecht 
an  Friderike  gehandelt  habe :  er  habe  sie  verführt  und  dann 
verlassen.  Und  diesem  Vorwurf  begegnet  man  vielleicht  noch 
jetzt,  auch  hei  Leuten,  welche  besser  unterrichtet  sein  könnten. 

Die  vollste  Widerlegung  dieses  widerwärtigen  Geredes  ist 
der  Besuch  Goethes  in  Sesenheim  1779.  Wir  besitzen  dar- 
über einen  unmittelbaren  Bericht  von  Goethe  selbst  an  Frau 
von  Stein,  und  dieser  Bericht  des  dreissigjährigen,  zu  voller 
Kraft  und  sicherer,  ruhiger  Klarheit  gelangten  Dichters,  in  dem 
damals  die  Stimmung  seiner  Iphigenie  lebte,  möge  auch  uns 
den  Gesichtspunkt  angeben,  aus  welchem  wir  über  Goethe 
und  Friderike  zu  urteilen  haben.  Er  schreibt: 

«Den  25.  Sept.  Abends  litt  ich  etwas  seitwärts  nach 
Sessenheim,  indem  die  andern  ihre  Reise  grad  fortsetj^ten, 
und  fand  daselbst  eine  Familie  wie  ich  sie  vor  acht  Jahren 
verlassen  hatte  beisammen,  und  wurde  gar  freundhch  und  gut 
aufgenommen.  Da  ich  jetzt  so  rein  und  still  bin  wie  die  Luft, 
so  ist  mir  der  Atem  guter  und  stiller  Menschen  sehr  willkommen. 
Die  zweite  Tochter  vom  Hause  hatte  mich  ehmals  geliebt, 
schöner  als  ichs  verdiente,  und  mehr  als  andre  an  die  ich  viel 
Leidenschaft  und  Treue  verwendet  hal>e;  ich  muste  sie  in 
einem  Augenblick  verlassen,  wo  es  ihr  fast  das  Lelien  kostete, 
sie  ging  leise  drüber  weg  mir  zu  sagen  was  ihr  von  einer 
Krankheit  jener  Zeit  noch  überbliebe,  betrug  sich  allerliebst  mit 
soviel  herzlicher  Freundschaft    vom  ersten   Augenblick,   da  ich 

1  Der  Dichter  Lenz  und  Friederike  von  Sesenheim.  Basel  1842. 

2  Briefe  und  Aufsätze  von  Goethe.  Weimar,  2.  Aufl.  1857. 

3  Friederike  Brion  von  Sessenheim.  Geschichtliche  Mittheilangen 
von  Phil.  Ferd.  Lucius,  Pfarrer  in  Sessenheim.  Strassbarg  1877.  Die 
Biographie  «Friederike  Brion  von  Sesenheim  (1762—1813)»  voa 
P.  Th,  Falck,  Berlin  1884,  bringt  wertvolle  Nachträge  ans  dem 
Nachlasse  Lenzens  in  Riga. 


-^    90    — 

ihr  unerwartet  auf  der  Schwelle  in's  Gesicht  trat  und  wir  mit 
den  Nasen  aneinander  sliessen,  dass  mir's  ganz  wohl  wurde. 
Nachsagen  muss  ich  ihr,  dass  sie  auch  nicht  durch  die  leiseste 
Berührung  irgend  ein  altes  Gefühl  in  meiner  Seele  zu  wecken 
unternahm.  Sie  führte  mich  in  jede  Laube  und  da  must  ich 
sitzen  und  so  war's  gut.  Wir  hatten  den  schönsten  Vollmond, 
ich  erkundigte  mich  nach  allem.  Ein  Nachbar  der  uns  sonst 
halte  künsteln  helfen,  wurde  herbeigerufen,  und  bezeugt  dass 
er  noch  vor  acht  Tagen  nach  mir  gefragt  hatte,  der  Barbier 
muste  auch  kommen,  ich  fand  alte  Lieder  die  ich  gestiftet 
hatte,  eine  Kutsche  die  ich  gemalt  hatte,  wir  erinnerten  uns 
an  manche  Streiche  jener  guten  Zeit,  und  ich  fand  mein  An- 
denken so  lebhaft  unter  ihnen  als  ob  ich  kaum  ein  halb  Jahr 
weg  wäre.  Die  Alten  waren  treuherzig;  man  fand,  ich  sei 
jünger  geworden.  Ich  blieb  die  Nacht  und  schied  den  andern 
Morien  bei  Sonnenaufgang,  von  freundlichen  Gesichlern  ver- 
abschiedet, dass  ich  nun  auch  wieder  mit  Zufriedenheit  an 
das  Eckchen  der  Welt  hindenken  und  in  Friede  mit  den 
Gei.stern  dieser  Ausgesöhnten  in  mir  leben  kann.» 

Dass  Friderike  sich  auch  in  späterer  Zeit  noch  der  allgemeinen 
Achtung  erfreute,  hat  Lucius  gezeigt.  Zwei  weitere  Zeugnisse 
dafür,  die  ihm  noch  nicht  bekannt  waren,  kann  ich  anführen. 
Das  eine  verdanke  ich  einer  gütigen  Mitteilung  des  Herrn 
Geheimen  R^erungsrat  Albrecht.  Er  hatte  einen  hochbetaglen 
Herrn  aus  dem  Steinlhal  kennen  gelernt,  der  ihm  erzählte,  dass 
er  als  Knabe  Friderike  dort,  wo  sie  um  das  Jahr  1790  *  lebte, 
mit  den  angesehensten  Familien  habe  verkehren  sehen.  Und 
eben  dies  bestätigt  ein  vor  kurzem  veröflentlichter  Bericht  aus  dem 
Jahre  1794.  Oclavie  von  Berckheim,  welche  später  einen  Baron  von 
Stein  in  Nordheim  bei  Meiningen  heiratete,  schreibt  in  ihrem  Tage- 
buch« vom  Frimaire  (November — Dezember)  1794,  dass  bei  einem 
Spaziergang  von  Rothau  nach  Fouday  (Urbach),  wo  Pfarrer  Oberlin 
im  damaligen  Club  Gottesdienst  hielt,  auch  «Mlle  Brion,  bonne  et 
charilable  fille,  soeur  du  ministre»  sie  begleitet  habe.' 


^  Allerdings  wird  versichert  dass  Friderike  beim  Ausbruch  der 
französischen  Revolution  in  Versailles  sich  aufgehalten  habe;  als 
eine  Nachkommin  der  Familie,  in  welcher  sie  sich  dort  aufhielt, 
wurde  mir  eine  Dame  bezeichnet,  an  welche  ich  mich  auch^  freilich 
vergebens,  brieflich  um  nähere   Auskünfte  gewendet  habe. 

'  Souvenirs  d^Alsace,  Correspondance  des  demoiselles  de  Berck- 
heim et  de  leurs  amis.  Neuchätel  et  Paris  1889,  I,  94. 

3  Es  ist  diese  Erwähnung  allerdings  von  anderen  auf  die  jüngste 
Schwester  Friedrikens,  Sophie,  bezogen  worden ;  allein  diese  konnte; 
weil  sie  hinkte,  wohl  nicht  bei  diesem  längeren  Spaziergang  in  Be- 
tracht kommen. 


-    100    — 

VVohlthätigkeit,  selbst  im  üebermass,  wird  auch  sonst  als 
ein  Gharaklerzug  Friderikens  in  ihrer  späteren  Zeit  bezeichnet; 
in  Meissenheim,  hei  Lahr,  wo  wir  ihr  Grab  aufsuchten,  hiess 
es,  dass  sie  dadurch  wahrend  der  Kriegszeiten  p^eradezu  die 
Ihrigen  —  sie  starb  bei  ihrem  Schwager,  dem  dortigen  Pfarrer 
—  in  Verlegenheit  und  Verdryss  gebracht  habe.  Was  uns  in 
Briefen  oder  Stammbuch versen  von  Friderikens  Geistesart  erhalten 
ist,  bezeugt  Zufriedenheit  und  Zärtlichkeit  gegen  ihre  Verwandten. 

Ueber  Goethes  Stimmung  während  der  Sesenheimer  Zeit 
sind  wir  am  besten  durch  die  Briefe  unterrichtet,  welche  er 
von  seinem  dortigen  Aufenthalt  aus  an  seinen  trefflichen 
Strassburger  Freund,  den  Actuarius  Salzmann  geschrieben  hat.^ 
Das  innige  Verhältnis  zu  diesem  klugen  und  frommen  Mann 
ist  zur  Beurteilung  Goethes  in  seiner  Strassburger  Zeit  wohl 
zu  beachten;  Goethe  hat  Salzmanns  Aufsätze,«  in  denen  sich 
Leibnitzens  Philosophie  mit  der  Pädagogik  Rousseaus  auseinander- 
setzt, noch  1776  in  den  Druck  gegeben. 

In  einem  gewissen  Gegensatz  zur  Darstelluug  in  «Dichtun«; 
und  Wahrheit»  stehen  diese  Briefe  allerdings,  und  wir  begreifen, 
dass  Goethe,  als  er  von  ihrer  Auffindung  in  Salzmanns  Nachlass 
1842  erfuhr,  sich  ihre  VerofTenl Hebung  verbat.  Tritt  uns  in 
Goethes  Lebensbeschreibung  fast  nur  das  Glück  der  beiden  Lie- 
benden entgegen,  so  selien  wir  in  den  Briefen,  wie  bald  Groethe 
einsah,  dass  dies  Glück  ein  Ende  haben  müsse,  dass  eine 
dauernde  Verbindung  unmöglicli  war.  Von  einem  Ausbruch 
der  Verzweiflung,  die  ihn  darüber  ergriff,  hal)en  wir  vielleicht  * 
noch  anderswo  in  Goethes  Dichtung  ein  Abbild.  In  Werthers 
Leiden  ist  es  Ossians  schwermütige  Klage,  welche  der  Leiden- 
schaft des  dem  Tode  Entgegengehenden  den  letzten  Halt  nimmt. 
Die  Scene  ist  so  wahr  und  so  eigentümlich,  dass  sie  erlebt  sein 
muss.*  Nun  gut,  Goethes  Erlebnisse  in  Wetzlar  boten  dazu  keiner- 
lei Anlass  und  Gelegenheit.  Dagegen  gehörte  zu  den  Gedichten, 
welche  Goethe  in  Sesenheim  zurückliess,  auch  eine  Uebersetzun$f 
gerade  jener  Stelle  Ossians :  es  liegt  nahe,  zu  vermuten,  dass 
die  Vorlesung  dieses  Stückes  vor  Friderike  in  ihm  jenen  Aus- 
bruch des  Gefühls  hervorgerufen  hat,  welchen  er  nach  seiner 
Art  später  so  wirkimgsvoll  als  Dichter  verwertete. 


1  Von  Engelhardt  zuerst  1838  veröffentlicht,  dann  in  Stobers 
«Alsatia»  1853,  anch  bei  Lucius  wiederholt. 

^  Kurze  Abhandlangen  über  einige  wichtige  Gegenstände  ans 
der  Religion  und  Sittenlehre.  Frankfurt  a.  M.  1776. 

^  So  vermutete  schon  Düntzer. 

4  Dantes  Erzählung  von  Francesca  von  Rimini  erzählt  freilich 
ähnliches  :   ^An  jenem  Tage  lasem  wir  nicht  weiter.» 


—  lai   — 

Tiefster  Seelenschmerz  war  ja  auch  bei  Friderike  die  Folge 
der  Trennung.  Und  die  masslose  Trauer  der  Verlassenen 
mochte  wohl  bei  der  rohen  Auffassung  der  Leute  auf  dem  Lande 
den  ersten  Anlass  zu  jenen  schlimmen  Gerüchten  über  die  Lie- 
benden gegeben  haben. 

Es  fehlte  ihr  übrigens  auch  nach  Goethe  nicht  an  Bewerbern. 
Goethes  Freund  und  Nebenbuhler,  der  Dichter  Lenz,  suchte  auch 
in  Sesenheim  dessen  Stelle  einzunehmen.  Er  besuchte  die 
Pfarrerfamilie  im  Jahre  1772  von  Fort- Louis  aus,  wohin  er  seine 
Zöglinge,  livländische  Edelleute,  die  in  französische  Kriegs- 
dienste eintreten  wollten,  liegleitet  hatte.  Wir  wissen  von 
seiner  Bewerbung  um  Friderike  freilich  fast  nur  aus  seinen 
Briefen  an  Salzmann,  und  wir  können  nicht  wissen,  inwieweit 
er  berechtigt  war,  von  einer  Gegenliebe  Friderikens  zu  reden. 
Die  liefe  Trauer,  in  welcher  er  sie  fand,  hat  er  in  einem 
wunderschönen  Gedicht  ^  geschildert.  Auf  jeden  Fall  ist  ihr 
und  den  Ihrigen,  welche  wohl  noch  mehr  geneigt  waren,  ihr 
durch  eine  neue  Verbindung  Trost  bringen  zu  lassen,  bald  klar 
geworden,  wie  wenig  Bestand  die  Hoffnungen  hatten,  die  Lenz 
hegte  und  auch  bei  anderen  zu  erwecken  suchte. 

Goethe  hebt  in  «Dichtung  und  Wahrheit)»  besonders  die 
humoristische  Seite  an  der  Dichtergabe  Lenzens  hervor,  wie 
trefflich  er  es  verstanden  habe,  die  mit  dem  Unsinn,  ja  mit  dem 
Wahnsinn  spielenden  Reden  Shakespeares  wiederzugeben. 
Lenzens  eigene  Dichtung  lässt  vielmehr  die  Ueberspannung 
erkennen,  mit  welcher  er  auf  die  durch  Goethe  entfesselte  Poesie 
des  «Sturmes  und  Dranges»  einging.  Für  die  jungen  Dichter 
dieser  Richtung  ward  der  Spruch  von  Lenz  symbolisch  : 

'Lieben,  hoffen,  fürchten,  zittern, 
Hoffen,  zagen  bis  ins  Mark, 
Kann  das  Leben  zwar  verbittern, 
Aber  ohne  sie  wär^s  Qnark. 

So  kraftgenialisch,  wie  er  sich  gebürdete,  waren  frei- 
lich eher  andere  angelegt,  namentlich  Klinger,  der,  aus 
Dürftigkeit  hervorgegangen,  als  russischer  General  und  Kurator 
der  Universität  Dorpat  starb.  Der  «sanfte»  Lenz  war  ein  wunder- 
bares Gemisch  von  Schüchternheit  und  Prahlerei,  von  Zärtlichkeit 
und  Bosheit,  von  Schal kheit  und  tiefem  Ernst.  Den  letzteren 
Zug  erkennen  wir  auch  in  der  nationalen  Gesinnung,  mit 
welcher  er  seine  jungen  elsässischen  Freunde,  die  sich  um  Salz- 


1  abgedruckt  in  Schillers  Musenalmanach,  1798  S.  74,  ist  es 
wiederholt  worden  im  Arch.  f.  Litteraturgesch.  8,  166,  und  wird  den 
elsässischen  Lesern  wohl  leichter  zugänglich  gemacht  werden  durch  ein 
von  Herrn  Christian  Schmitt  vorbereitetes  Elsässisches  Dichterbuch. 

8 


—    102    — 

mann  sammelten,  zur  Fliege  deutscher  Spiaclie  uml  Poesie 
antrieb.  Ernst,  ja  streng  waren  seine  Lebensanschauungen, 
ehe  er  Goethe  kenneu  lernte  und,  durch  dessen  scheinlmr  von 
jeder  Fessel  und  Rücksicht  befreite,  aber  freilich  innerlich  fe.^i- 
beherrschle  Lebensweise  geblendet,  ihm —  wie  Ikarus  —  nach- 
zufolgen strebte.  Ausdrücklich  wissen  wir  von  ihm  selbst,  dass 
er  früher  Goethe  mit  sittlichem  Hochmut  getadelt  halte.  Und 
ebenso  kehrte  in  ilem  Unglück,  das  ihn  traf,  diese  ernste,  ja 
fromme  Gesinnung  selbst  in  der  Verzerrung  des  Wahnsinns  bei 
ihm  zurück.  Nachdem  er  eben  als  Dichter  geglaubt  sich  Goethe 
an  die  Seite  stellen  zu  dürfen  und  diesen  in  Weimar  aufgesucht, 
auch  am  Hofe  nachsichtige  Aufnalime  gefunden  hatte,  machte 
er  bald  selbst  sein  Verbleil>en  unmöglich.  Wie  Tantalus  vom 
Göttertische  in  Nacht  und  Qual  zurücksank,  damit  hat  er  selbst 
seinen  jähen  Sturz  verglichen.  Er  kehrte  an  den  Oberrhein 
zurück.  Im  Pfarrhaus  zu  Sesenheim  brachte  er  durch  einen 
Selbstmordversuch  furchtbaren  Schrecken  hervor.  Man  vfles 
ihn  nach  denj  Steinthal  zu  dem  menschenfreundlichen  Pfarrer 
Oberlin,  als  dem  einzigen,  der  iim  noch  heilen  könnte.  Hier 
brach  sein  Wahnsinn  aus.  In  den  furchtbarsten  Wutanfallen 
rief  er  den  Namen  Friderike,  wie  er  auch  vorher  versucht  hatte, 
ein  Kind  dieses  Namens,  das  in  der  Gemeinde  gestorlien  war, 
durch  Fasten  und  Gebet  vom  Tod  zu  erwecken.  Als  er  ruhiger 
geworden  war,  fand  er  bei  Goethes  Schwager,  dem  Amtmanu 
Schlosser  in  Emmendingen,  teilnehmende  Pflege.  In  die  Heimat 
zurückgekehrt,  starb  er  nach  mehreren  Jahren,  die  er  in  halb- 
umhülltem  Geisteszustand  verbracht  hatte. 

So  fehlt  denn  der  Sesenheimer  Idylle  auch  ein  titigisclier 
Hintergrund  nicht.  Dass  Lust  in  Leid  zu  enden  pflegt,  das 
sagt  ja  schon  das  alte  Heldenlied.  Wir  aber  richten  die  Blicke 
nur  um  so  empfanglicher  auf  das  sonnige  Bild,  das  Goethe  von 
seiner  Jugendlie])e  gegeben,  und  das  auch  in  manchen  seiner 
schönsten  Lieder,  von  dem  tändelnden  «Kleine  Blumen,  kleine 
Blätter»  bis  zu  dem  stürmischen :  «Wie  schlug  mein  Hei-z, 
geschwind  zu  Pferde»  heiTlich  bezeugt  ist.  Vor  allem  aber 
das  «Haideröslein»  mit  seinem  halb  wehmütigen,  halb  kecken 
Ton  ist  und  bleibt  der  wahrste  Ausdruck  der  Goethe*schen 
Erlebnisse  in  Sesenheim  und  reisst  auch  uns  mit  seinem  Zauber 
zu  der  gleichen  Stimumng  fort. 

Das  von  Goethe  so  anmutig  geschilderte  Döi-fchen  ist  seit 
langer  Zeit  viel  besucht  worden,  und  der  Wunsch,  die  Erinne- 
rung an  seine  dortigen  Erlebnisse  auf  angemessene  Weise  auch 
äusserlich  festzuhalten,  trat  umsomehr  hervor,  als  die  inzwi- 
s(iheu  dort  vorgegangenen  Veninderungen  so  manche  OertUch- 
keilen  jener  Zeit,  vor  allem  das  alte  Pfarrhaus,  beseitigt  hatten. 


—    103    — 

Um  185^  war  es  insbesondere  Herr  Oberlehrer  Grün,  der 
die^^en  Zweck  ins  Auge  f'assle  und  sich  zu  seiner  Erreichung  mit 
Gleichi^esinnten,  mit  August  Stöber,  Gustav  Muhl  und  Notar  Hang 
in  Niederbronn  verband.  Es  galt  den  Hügel,  auf  welchem  die  Laube 
Fridrikenruh  gestanden,  der  aber  inzwischen  abgeholzt  und  in  ein 
Kartoflelfeld  verwandelt  worden  war,  zu  erwerben  und  mit  An- 
lagen zu  schmücken.  Grün  brachte  in  Strassburg  durch  Vorlesung 
seines  Dramas  «Friedrike»i  ansehnliche  Mittel  zusammen.  Allein 
der  Plan,  dem  die  französischen  Beamten  im  Elsass  wohlwollend 
gegenüber  standen,  ward  von  Paris  aus  vereitelt;  man  hatte 
wohl  Ursache,  zu  wünschen,  dass  das  Andenken  des  deutschen 
Dichters  im  Elsass  nicht  weiter  gefeiert  werde. 

Erst  etwa  30  Jahre  später  konnte  der  Plan  wieder  aufge- 
nommen werden.  Professor  Scherer  hatte  mit  dem  Kreise  jün- 
gerer Germanisten,  der  sich  in  Strassburg  rasch  um  ihn  sam- 
melte, die  Wallfahrt  nach  Sesenheim  wieder  eröffnet,  als  noch 
die  Elisenbahn  nicht  gebaut  war,  die  jetzt  so  bequem  dahin 
fährt.  An  der  Wiederholung,  die  unter  Erich  Schmidts  kun- 
diger Führung  stattfand,  nahm  auch  ich  teil.  Der  alte  Gedanke 
wurde  von  neuem  lebendig;  durch  nicht  unbeträchtliche  Spenden,* 
denen  vor  allem  die  frühere  Sammlung  Grüns  zu  gute  kam, 
ward  die  Ausführung  möglich. 

Anfang  1880  war  das  Grundstück  in  unseren  Händen. 
Ich  hatte  mir  das  Recht  erworben,  vor  der  Herstellung  der 
neuen  Anlagen  Ausgrabungen  in  dem  Hügel  vorzunehmen, 
welcher  durch  seine  Form  die  Vermutung  erregte,  dass  er  in 
alten  Zeiten  bei  der  Bestattimg  eines  vornehmen  Toten  aufge- 
schüttet worden  sei.  Dies  Unternehmen,  bei  welchem  der 
gastliche  Pfarrer  Lucius  mich  wesentlich  unterstützte,  wurde 
durch  den  Erfolg  belohnt :  es  fand  sich  ganz  unten  im  Kies  des 
alten  Rheinbetts  ein  uraltes  Grab  mit  wohlerhaltenem  Schädel, 
mit  einem  Armring  und  einem  Fingerring  von  Gold,  nach  dem 
Umfang  zu  schliessen,  einer  Frau  angehörig,  endlich  mit  einem 
zerschmetterten  Kupferkrug  etruskischer  Form;  im  Boden 
zerstreut  lagen  sonst  noch  andere  Schädel  und  Knochen, 
Schwertstücke  und  Schildbuckeln,  sowie  eine  Münze  des  Goten- 
königs  Totila   um    550.8  Der   Fund   ward,   abgesehen  von  der 

1  Friedrike,  Schauspiel.  Strassborg  1859. 

2  Auch  später  noch  hat  Herr  Dr.  Keich  in  Berlin  zu  den  Kosten 
der  Erhaltung  beigetragen. 

8  Der  Tote^  dem  diese  Münze   beigegeben  wm*de.   könnte   dem 

Ort    Sesenheim    (urkundlich  zuerst  Sesinhaim)    den  Namen   gegeben 

haben,  unter  welchem  er  schon  775  erscheint:  Heim  des  Seso.  Seso 

/ist  Koseform  für  einen  mit  sisi^a,  «Zaubergesang»,  zasammen gesetzten 

Namen,  wie  Sesobod,  Sesowald. 


-«    104    — 

Münze  und  den  Goldsachen,  die  ich  einstweilen  für  mich  be- 
hielt, teils  der  anatomischen  Sammlung  in  Strassburg,  teils, 
mit  Vorbehalt  des  Eigentumsrechts,  der  Gesellschaft  für  die 
Erhaltung  der  historischen  Denkmäler  übergeben ;  in  dem  Bul- 
letin dieser  Gesellschaft  ^  erschien  ein  ausführlicher  Bericht. 

Dann  ward  die  Grube  mit  Kies  ausgefüllt,  Anlagen  ange- 
pflanzt, wobei  der  Obergärtner  der  Orangerie,  Herr  Lejealle, 
die  Leitung  übernahm;  eine  Hütte  ward  erbaut,  zu  welcher 
Herr  Architekt  Jaggi  den  Plan  gemacht  hatte. 

Am  18.  Juli  1880  fand  die  Einweihung  der  neuen  «Fri- 
derikenruhej)  statt.  Lieder,  von  Herrn  Professor  Jacobsthal  kom- 
poniert, umrahmten  die  Feier.  Herr  Oberlehrer  Grün  übergab 
die  Anlage  dem  Bürgermeister  von  Sesenheim,  Herrn  Atze! ; 
Erich  Schmidt  hielt  eine  weihevolle  Festrede.  Ein  Bankett 
schloss  sich  an,  echt  studentisch,  mit  Liedern,  darunter  eio 
von  stud.  Hamburger  auf  Goethe  und  Friderike  gedichtetes, 
und  zahlreiche  Reden.  Unter  den  Gästen  befand  sich  auch  der 
um  die  künstlerische  Ausschmückung  der  Grabstätte  Friderikens 
in  Meissenheim  verdiente  Dichter  Friedrich  Gessler  aus  Lahr. 
Eine  Reihe  von  Festberichten  bekundeten  den  schönen  Eindruck 
des  Festes. 

Seit  dieser  Zeit  haben  die  Strassburger  Germanisten  all- 
jährlich, meist  mit  Gästen,  auch  Damen,  den  Goethehügel 
besucht.  Erst  wurden  die  Anlagen  besichtigt,  deren  Pflege  von 
Strassburg  aus  freilich  nicht  leicht  ist,  an  deren  Erhaltung  aber 
die  Strassburger  Sektion  des  Vogesenklubs  durch  eine  jährliche 
Spende  an  den  bestellten  Hüter  sich  auf  das  dankenswerteste 
beteiligt.  Dann  lauschten  wir ,  an  der  Hütte  versammelt, 
ernsten  oder  scherzhaften  Festreden;  beim  ländlichen  Uahl, 
meist  im  Grasgarten  der  «Krone»  unter  freiem  Himmel,  wech- 
selten Trinksprüche  und  Lieder  ab,  bis  ein  Spaziergang  an  den 
Rhein,  oder  nach  Fort-Louis,  oder  an  die  Goethe-Eiche  (mit 
diesem  Namen  hat  der  Förster  einen  schönen  Baum  am  Wege 
nach  Drusen  heim  ausgezeichnet)  den  Nachmittag  beschloss. 

Die  Festdichtungen  und  Berichte  sind  mit  anderen  Erinne- 
rungen in  unserem  ffSesenheimer  Goethe-Archiv»  vereinigt.  Viel- 
leicht darf  sich  ein  Stück  daraus  vor  das  Licht  wagen,  welches, 
seinen  Inhalt  meist  aus  «Dichtung  und  Wahrheit»  schöpfend, 
auch  den  gespenstigen  Doppelgänger  Goethes  auftreten  lässt, 
den  dieser  auf  dem  Ritt  durch  den  Wald  nach  dem  Abschied 
vermöge  einer  Art  zweiten  Gesichtes  sich  gegenüber  erblickt 
haben  will. 


1  Bulletin,  11^  serie,  vol.  XII  (Str.  1886),  p.  20-29.  üeber  TotiU 
=  Badvila  s.  J.  Grimm,  Z.  f.  d.  A.  6,  540. 


—    105    — 
Festspiel  zum  15   Juli  1888. 

Sobald  die  Teilnehmer  der    Sesenbeim-Fahrt   sieb   durcb    die   RQsternallee 
dem  GoetbehQgel  gen&hert  haben,  tritt  aus  dem  Gebüsch 

Lens.    (Tracht  des  vorigen  Jahrhunderts,    aber  einfach,  wie  es  einem  cand. 

theol.   zukommt.) 

Halt!  stört  die  Ruh  der  Ruhelosen  nicht! 
Seht  dort  das  holde  Mädchen,  das  Gesicht 
Anf  ihre  Hand  gestützt,  in  tiefem  Gram. 
Seit  langem  war  kein  Tag,  da  sie  nicht  kam, 
Von  hier  zu  schann  auf  jenen  dunkeln  Wald, 
Vor  welchem  sie  zuletzt  noch  die  Gestalt 
Des  Götterjünglings  sah.  Sie  denkt  der  Zeit, 
So  kurz  entschwunden  und  jetzt  schon  so  weit, 
Da  sie  auf  diesem  Hügel  mit  ihm  sass, 
In  seiner  Näh'  die  ganze  Welt  vergass. 
Ihn  —  kann  sie  nicht  vergessen.  Stark  und  mild 
So  schwebt  vor  ihr  das  einzig  liebe  Bild. 
Sie  denkt  des  Tages,  da  er  zu  ihr  kam, 
und  ihr,  dem  Kinde,  schnell  das  Herze  nahm. 
Sie  denkt  der  Wonne,  die  sie  dann  genossen,  — 
Der  Wonne,  die  zu  Nichts  dann  ist  zerflossen. 

0  lasst  euch  rühren  ihren  tiefen  Schmerz! 
Kränkt  nicht  durch  Mitleid,  nicht  durch  lauten  Scherz 
Die  starre  Wehmut,  die  sie  ganz  eifüUt 
Und  ihr  das  Leben  rings  mit  Flor  verhüllt. 
Vielleicht,  wenn  einst  der  Freundschaft  leise  Hand 
Die  Wunde,  die  noch  blutet^  ihr  verband, 
Dass  ihr  ein  frohes  Leben  sich  erneut 
und  ihre  Freude  andre  auch  erfreut, 
Dass  ihre  Schönheit  noch  einmal  erblüht 
Und  uns  beglückt  ihr  liebevoll  Gemüt 

0  wollte  sie  mir  ihre  Hand  dann  reichen, 
Ich  wollte  mich  dem  Glücklichsten  vergleichen! 
Ich  neidete  selbst  ihn  nicht,  der  vor  mir 
Ihr  Herz  gewann  —  und  der  so  schied  von  ihr. 
und  muss  ich  ihm  den  Kranz  des  Dichters  lassen. 
Ich  wollte  die  Geliebte  froh  umfassen 
und  zu  ihm  sagen :  Sieh  hier,  das  war  dein ! 
Jetzt  ist  dies  Herz  voll  Lieb'  und  Güte  mein ! 

Schorsch  (der  Wirtssohn  von  Drusenheim,  von  der  andern  Seite  ouftrelend). 

He,  Musje  Lenz!  Sinn  ihr  schon  widder  do? 
Leng,  Ja,  guter  Freund.  Das  Sprichwort  sagt  es :  wo 
Der  Schatz  ist,  ist  das  Herz.  An  diesen  Ort 
Bin  ich  gebannt  wie  durch  ein  Zauberwort. 
Ach  könnt'  ich  doch  des  Mädchens  Trauer  wenden 
Und  Trost  und  Hoffnung  ihr  von  neuem  spenden! 


—    106    — 

Sdicrsch,  Jo  jo,  die  Jamfer  Bickele.  ^s  war  schon  rächt. 

Sie  trurt  jo  gar  ze  lang.  Lem,  Mein  Freund,  erwägt, 

Um  wen  sie^s  thnt  Ihr  kennt  ja  Goethen  auch« 

Ihr  wisst,  dass,  wo  er  weilte,  wie  ein  Hauch, 

Was  einen  jeden  drückte,  rasch  entflog, 

Sein  Blick,  sein  Wort  uns  alle  nach  sich  zog. 

Denkt,  wie^s  dem  Mädchen  war,  das  er  erkor! 

Denkt,  wie's  ihm  war,  als  es  ihn  dann  verlor! 

Schorsch,  Er  hätt^  sie  hirote  mien.  Lenz.  Wie  ihr  es  meint, 

Habt  ihr  wohl  Recht  Doch,  wenn  es  auch  so  scheint, 

Ich  kann  ihn  hart  nicht  tadeln.  0  ihr  wisst 

Nicht,  wie  des  Dichters  Sinn  und  Leben  ist. 

Es  treibt  ihn  fort  auf  eine  dunkle  Bahn, 

Und  weiter,  hoher  zieht^s  ihn  stets  hinan. 

Wenn  ihm  des  Lebens  Lust  am  reichsten  quillt, 

So  schafft  ihm  bittres  Leid  ein  andres  Bild, 

Das,  war  es  einen  Augenblick  verweht. 

Nur  strenger  fordernd,  wieder  vor  ihm  steht: 

Das  Bild  der  Welt,  die  er  im  Geist  umfasst 

Und  die  zu  schaffen,  ohne  Ruh  und  Rast 

Ihn  immer  wieder  drängt.  Er  sttirmt  dahin. 

Bald  wonnig  jauchzend,  bald  mit  trübem  Sinn. 

Schal  dünkt  ihn  dann,  was  eben  ihn  entzückt, 

Die  Blume  welk,  die  seine  Brust  noch  schmückt. 

Er  fasst  das  Glück  —  und  sieht  es  vor  ihm  fiiehn. 

Schorsch.  I  blib  derbi,  er  hätt  sie  hirote  mien. 

Olioia  (kommt  eilig  auf  den  Hügel  zu). 

Hör  doch,  Fridrike!  —  Rickele,  wo  bisch? 

Lenz.  Mein  Fräulein,  sie  ist  hier.  Denn  träumerisch. 

In  ihres  Grams  Gedanken  neu  versenkt, 

Hat  sie  zur  Bank  dort  ihren  Schritt  gelenkt. 

Ich  harrt^  indessen  hier  in  ihrer  Nähe. 

0  dass  ich  sie  zufriedner  wieder  sähe! 

Olwia   (eilt  hinauf  zu  Friderike}. 

Lieb  Schwesterle,  so  komme  doch  zurück 
Und  gönn^  uns  armen  wieder  einen  Blick !  .  . . 
Bedenk,  Herr  Lenz  bleibt  hier  zum  Abendessen. 
Die  Mutter  will  —  hast  du  das  schon  vergessen?  — 
Dass  wir  ihm  zeigen,  wir  verstehn  zu  kochen  .  .  . 
Auf,  Schwesterle!  Hast  du  mir  nicht  versprochen, 
Du  wolltest  endlich  dich  zusammennehmen. 
Willst  du  dein  Leben  lang  umsonst  dich  grämen? 
Friderike  (aufblickend).  Ach  liebste  Schwester ! 

Olinia.  Komm,  erhebe  dich ! 
Es  wird  schon  besser,  glaub  mir's  sicherlich. 
Steh  auf  und  komm  ! 


—     107    — 

Friderihe   steht  auf,  plötzlich  steht  sie  still  ;    man    hört    ein   Pferd  heran- 
sprengen ;  sie  fährt  tusammen  und  ruft : 

Sieh  dort!  wer  reitet  da! 
Er  kommt,  er  kommt.  CHivia.  Wer  demi  ?  Friderike.  Er  ist  uds  nah ! 
(Mvia.  Wen  meinst  du  ?  Friderike.  Sieh !  0  Gott,  wie  halt  ich^s  ans ! 
(JUina.  Wahrhaftig,  Goethe  selbst.  Komm,  schnell  nach  Hans! 
Zu  spät!  schon  steigt  er  ab,  geht  anf  uns  zu. 
Kommt  doch  herbei,  Herr  Lenz !  Schorsch,  komm  auch  du ! 
Letus.  Tran*  ich  den  Augen,  kehrt  der  Freund  zurück? 
Schorsch.  ^s  isch  en.  I  kenn  ne  glich  vum  erschte  Blick. 

Ein  Jüngling  (Goethe  gleichend,  im  bekannten  hechtgrauen,  ^oldverbrftmten 

Hock,  kommt  auf  sie  zu). 

Wohl  bin  ich  Goethe,  und  doch  bin  ich^s  nicht. 
Du  hörtest  doch  von  ihm,  Freund  Lenz,  Bericht, 
Wie  er,  beim  Abschied  von  hier  weggeritten, 
Ein  Traumgesicht  sah  in  des  Waldes  Mitten. 
Er  sahy  wie  ihm  entgegenkam  ein  Wandrer, 
Ihm  völlig  gleich  und  doch  zugleich  ein  andrer. 
Sein  Genius  war's.  Sein  Genius  bin  ich. 
Vergangenheit  und  Zukunft  sind  für  mich 
Verschleiert  nicht,  und  was  euch  treue  Seelen 
Wohl  trösten  kann,  will  ich  euch  nicht  verhehlen. 

Fridrike,  engelgleiche,  dein  Gemüt, 
Wie  es  für  Goethe  war  in  Lieb'  erglüht. 
So  wird  es  keinem  andren  mehr  sich  geben 
Und  wird  mit  allen  doch  in  Frieden  leben. 
Doch  deiner  Schönheit,  deiner  Güte  Preis 
Wird  dein  Geliebter  einst,  als  Dichtergreis, 
Der  Welt  verkünden  in  so  holden  Tönen, 
Dass  du  auf  ewig  lebst  im  Reich  des  Schönen. 

Dir,  lieber  Lenz,  ist  auch  ein  Ruhm  bestimmt, 
Daraus  dein  —  herbes  Los  Vergütung  nimmt. 
Du  willst  im  Elsass  deutsche  Sprach^  und  Art, 
Die  schwer  bedroht,  doch  treu  den  Kern  bewahrt, 
Nea  starken,  neu  beleben,  neu  erwecken.  — 
Eh  hundert  Jahr  vergehn,  sind  deutsche  Recken 
Erstanden,  die  der  welschen  Arglist  Bande 
Mit  Schwertern  lösen  und  zum  deutschen  Lande 
Das  Elsass  fügen,  dass  es  treu  und  frei 
Der  Mutter  zugethan  von  neuem  sei. 
Wird  erst  sich  selbst  das  Elsass  wieder  kennen, 
Wird^s  dankbar,  Lenz,  auch  deinen  Namen  nennen. 

(Verschwindet^    Friderike  sinkt  an  Oliviens  Brust,  Lenz  und  Schorsch  reichen 

sich  die  Hflnde.) 


VIII. 


Einige  ungedruckte  Gedichte 


von 


August    Stöber. 


Mitgeteilt  von 

Julius  Rathgeber 

Pfarrer  in  Nendorf  bei  Strassburg. 


-Anlautes  August  1888  starb  zu  Strassburg  Herr  Echmrd 
Scliijueppenhäiisery  Hauptlehrer  dei*  evangeUschen  St.  Thoinas- 
schule.  Er  stammte  aus  der  durch  ihre  verwandtschaftlichen 
Beziehungen  zum  fürstlichen  Hause  von  Battenberg  bekaunten 
pfalzischen  Pfarrfamilie  Schweppenhäuser  ab.  Sein  Vater, 
Ludwig  Schweppenhäuser,  war  Pfarrer  zu  Oberbronn,  und 
seine  Mutter,  Wilhehnine  Jäger,  war  die  evangelische  Pfarrers- 
tochter  von  Mietesheim.  Die  FamiHen  Schweppenhäuser  und 
Jäger  verkehrten  viel  mit  August  Stöber,  der  in  den  dreis- 
siger  Jahren  in  Oberbronn  als  Hauslehrer  eine  kleine  Privat- 
schule leitete.  Stöber  blieb  auch  nachher  in  eifrigem  Brief- 
wechsel mit  der  Familie  Schweppenhäuser,  welche  die  Stoebe- 
riana  als  wertvolle  Reliquien  aufbewahrte.  Hier  folgen  einige 
noch  ungedruckte  Gelegenheitsgedichte  August  Stöbers,  welche 
der  verstorbene  Herr  Eduard  Schweppenhäuser  dem  Herausgeber 
mitzuteilen  die  Güle  hatte. 


—     109    — 


I. 


Lottchens  Engelruf.  ^ 
September  1830. 


Nimm  den  Erdenschweiss  mir  von  der  Stirne, 
Vater^  lass  zum  Himmel  mich  empor, 
Schon  geschaut  hab'  ich  die  Glanzgestirne, 
Schon  gehört  der  heil'gen  Engel  Chor! 

Mntter,  in  das  Singen  deiner  Lieder 
Drang  so  oft  ein  wnnderseFger  Laut, 
Stille  lanscht'  ich  —  immer  tönt  er  wieder, 
Sprach  so  liebend,  sprach  mir  so  vertraut. 

Zu  dem  Bettlein  trat  oft  hold  und  leise 
Dann  ein  Knabe  mild  im  Lichtgewand, 
Zeigt^  von  ferne  mir  die  Sternenkreiso 
und  des  Schwesterengels  Vaterland. 

und  da  kam  er  auch  zur  letzten  Stunde. 
Winkte  freundlich,  und  ich  folgte  gern, 
Bracht'  von  Gott  der  ew'gen  Liebe  Kunde, 
Führte  mich  empor  zu  meinem  Stern. 

Vater!  Mutter!  schaut  mich  losgebunden! 
In  den  Himmel  zog  ich  leuchtend  ein, 
Schweb'  im  Geisterfittig,  walP  verbunden 
Mit  dem  lichten  Engelschwesterlein. 

Oft  will  ich  den  Gruss  der  Liebe  bringen, 
Wenn  auch  trauert  das  beklommne  Herz, 
Will  umschweben  euch  auf  Aetherschwingen 
Dass  in  Wonn'  aufgeht  der  Erdenschmerz. 

Und  wenn  auch  die  frohe  Stund'  geschlagen, 
Naht  ein  Engelpaar  im  Lichtgewand, 
Von  der  Kinder  Armen  sanft  getragen 
Schwebt  ihr  auf  zum  grossen  Vaterland. 


i  Lottchen  (Charlotte)  war  ein  liebes  Kind  von  Pfarrer  Schweppen- 
häuser,  welches  ihm  im  Spätjahre  18B0  durch  den  Tod  entrissen 
wurde. 


—    110    — 

IL 
Mein  Lied. 

Gebrochnes  Herz,  gebrochuer  Stab, 
£ach  ziemt  dasselbe  Los! 
Gegraben  ist  das  stille  Grab 
In  kühles,  dnnkles  Moos. 

Nach  oben  immer  schlägt  die  Brnst, 
Sie  sehnt  sich  tief  hinab: 
Die  oben  sind  so  voll  von^  Lust 
und  ich  bin  voll  von  Grab! 

Ein  Kränzlein  lieb'  ich  nur  allein, 
Von  Rosen  todesblass, 
Ein  Börnlein  nur  fliesst  mir  noch  rein^ 
Das  ist  der  Thränen  Nass! 

0  gerne,  gerne  möcht'  ich  ziehn, 
Zur  einen,  süssen  Ruh, 
Und  thun,  im  letzten  Abendglühn, 
Die  müden  Augen  zu. 


III. 

Weihnachtslied . 


Du  lieber  heiPger  frommer  Christ, 
Weil  heute  dein  Geburtstag  ist, 
Drum  ist  auf  Erden  weit  und  breit 
Bei  allen  Kindern  frohe  Zeit. 

Wir  singen  dir  des  Dankes  Chöre, 
Gott,  der  du  uns  gesandt  den  Sohn, 
Wir  preisen  deines  Namens  Ehre, 
Wir  flehn  empor  zu  deinem  Thron. 

0  gib  uns  allen  deinen  Segen, 
Lass  Jesu  Geist  in  uns  gedeihn; 
Damit  wir,  hier  auf  deinen  Wegen, 
Einst  gehn  in  deinen  Himmel  ein. 

Dort  singen  wir  dann  heiPge  Psalmen, 
Nach  dieses  Lebens  kurzem  Traum, 
Und  pflücken  grüne  Siegespalmen 
Uns  von  des  Paradieses  Baum. 


—   111   — 

IV. 

Verse  für  ein  Stammbuch, 

Das  Leben  liegt  im  Fruhlingsschein 
Vor  dir,  voll  Duft  und  Sang, 
Doch  dringen  Töne,  trüb  und  bang, 
Oft  in  den  Frieden  ein. 

Wenn's  aussen  auch  wildstürmend  zieht      ■ 
Und  zuckt  wie  Wetterschlag, 
So  trifft  doch  nichts,  was  kommen  mag, 
Hast  du  ein  rein  Gemüt! 


V. 

Der  Gänse  Jubellied  bei  Erfindung  der 

Stahlfedern. 

Not  ist  zu  singen  und  zu  sagen. 
Und  gänslieh  fröhlich  zu  sein : 
Uns  gehn  nicht  mehr  zum  Kragen 
So  Dichter,  als  Schreiberlein ! 

Das  sei  in  allen  Landen 
Geschnattert  alsogleich, 
Von  allen  Schnäbeln  verstanden 
Im  ganzen  Gänsereich. 

Nach  unserm  Fittich  trachten, 
Schnattra !  sie  nimmermehr  ! 
In  tiefen  Bergesschachten 
Wächst  ihnen  neue  Ehr  ! 

Kobolde,  seid  nun  gnädig, 
Schliesst  auf  die  Schätze  fein  ! 
Lasst  alle  Adern  ledig 
Und  die  Schreiber  lasst  hinein ! 

Sie  wollen  fördern  zu  Tage 
Manch  gutes  Schi'eibestift, 
Draus  spritze  Lust  und  Klage 
Und  süss  und  bittres  Gift ! 

Ein  Flämmlein  leucht^  und  iiimme 
Durch  alle  Gänge  hell; 
Nicht  störe  sie  mit  Grimme 
Ein  böser  Unglücksquell ! 


—    112    — 

Heranf,  herauf  zum  Lichte 
Sei  das  Metall  gebracht! 
Das  freundlichste  Qedichte 
Quillt  aus  der  Berge  Nacht. 

Wir  Qänslein  wollen  rauschen 
Dazu  mit  Flügelschlag, 
Den  längsten  Mären  lausch en. 
Bis  an  den  jüngsten  Tag ! 


VI. 

Volksliedchen. 

YTer  steckt  das  Näslein  rund  heraus? 
Es  ist  die  edle  Jungfer  Schmaus, 
Die  Löcklein  wohl  geflochten  sind, 
Die  Bänder  flattern  in  den  Wind. 
Sonst  war  das  braune  Zöpfleinpaar 
Gar  wunzig  schmächtiglich  fürwahr. 
Nicht  Regen  und  nicht  Sonnenschein 
Wollten  ihnen  günstig  sein. 
Drum  lebe  hoch  die  edle  Schmaus! 
Jetzt  ist  mein  fröhlich  Liedchen  aus. 

Ich  kenn*  ein  Wesen  sonder  Art, 
Es  ist  der  edle  Doktor  Schwärt. 
Sonst  schritt  er  klein  umher  durchs  Land 
und  ward  auch  Schwärtel  drob  genannt. 
Doch  jetzt  ist  ihm  der  Knopf  gebrochen, 
Er  kommt  als  Riese  doch  gestochen, 
Und  überall  das  Volk  sich  schart 
Und  ruft:  Es  lebt  der  Doktor  Schwärt! 


IX 


Dichtung. 


Ein  Steckelburjer-Ausfl.ug'. 

Strassbarger  Hnndart. 


D 


0  kumme  Steckelbarjer,  e  ganzi  Knmpanie, 
's  isch  Sannda  hit,  do  macht  mer  e  lastigi  Partie. 
Sie  hann  sich  zsammegfande  üs  alle  Stadtqaartiere 
ünn  gehn  zaem  Metzjerthor  nüs  u£P  Kehl  am  Rhin  spaziere. 

Gemächli  geht's,  gemüethli,  dass  mer  sich  nit  erhitzt. 

Saust  könnt  mer  Schnuppe  krieje  vom  Rhinwind,  wenn  mer  schwitzt. 

Mer  kämmt  jo  noch  bizite  an  d'Tawel-d'höte  im  Salme, 

Sie  sehn  schnn  dort  e  Krebssnpp  unn  Hammelsbrote  qualme. 

E  Jeder  het  sin  Stöckel  unn  schwingt  diss  biejsam  Holz 
Unn  isch  druff  wie  e  Kinni  uff  sine  Zepter  stolz. 
Sieh,  wie  sie  hoch  d'Cravatten  unn  d'Hüet  üs  alte  Daaue 
Unn  kaffeebruni  Röcklen  unn  Nankinghosse  traaue. 

Junggselle  sinn's  unn  Wittwer  von  respektawle  Johre,  . 
Isch  doch  schun  Anno  Zwanzig  der  Jüngst  im  Korps  gebore. 
So  henn  sie  schun  durchwandert  a  guet  Stück  Wej  im  Lewe, 
Unn  wer  viel  reist,  kann  Gschichten  au  viel  zuem  Beste  gewe. 


—    114    — 

Dis8  merkt  mer  glich,  denn  d^Ältste  vom  SteckelburjeivKorps 
Die  bringe  viel  vom  Kaiser  Napoleon  noch  vor: 
Sie  sinn  derbie  gewese,  wie  er  uff  Strossboij  kämme 
Von  Ansterlitz  als  Sieger,  mit  Feldmnsik  ann  Tramme. 

Sie  henn  ne  gsehn^  als  Büewle,  mit  Marie  Luis*  hie, 
Wo  d'Borjerschaft  nnn  d^Büre  gejüwelt  henn  wie  nie, 
Derwil  sie  diss  erzähle,  guck  wie  sie  stolz  sich  blälge 
Unn  ihri  Steckle  drehje,  als  wäre^s  Heldedeje! 

Doch  jungri  Kamerade  sinn  nit  so  drin  vernarrt: 

Was  henn  mer  denn  ze  danke  de  beide  Bonapart? 

E  bissei  Gloire  —  nnn  Blnetström  het's  kost  in  heisse  Schlachte, 

Dass  Völker  hit  enander  noch  hasse  unn  verachte. 

«Na!  saat  der  Vetter  Daniel,  es  isch  jo  Sonnda  hit; 
Wozne  diss  Kannegiessre  ?  es  bringt  nnrr  Zank  unn  Strit. 
Mer  wellen  unsre  Sunnda  im  Fridde  ganz  geniesse 
Unn  dTolitik  desswäje  üs  unsre  Gsprache  schliesse. 

Nurr  *8  Elsass  unser  Ländel  traat  Zwietracht  nit  im  Schooss, 

Mer  hewwe's  fest  am  Bändel  unn  Ion 's  bi  Gott  nit  los. 

Do  sinn  mer  all!  eini:  jo  hoch  solPs  Elsass  lewe, 

D'Stadt  Strossbnrj  unn  ihr  Münster  unn  's  Land  voll  Korn  nnn  Hewe!» 

Guet  gewe!  saat  der  Schakob,  doch  sinn  mer  jetzt  ze  Kehl, 
Unn  nett  isch  's  badisch  Ländel  doch  au,  i  hab's  nit  Hehl. 
Unn  d'Lit  sinn  gfälli,  süfer  unn  noochberli  gemüethli, 
Unn  Ion  mer  sie  in  Fridde,  se  sinn  sie  uns  au  güetli. 

Vergesse  mer,  ihr  Brüeder,  den  unglückselje  Krlej ! 
Statt  Bunmien  unn  Granate  —  Butelle  her  unn  Krüej ! 
Unn  anstatt  Bayonette,  unn  anstatt  Lanz  unn  Sawel 
Ergrife  mer  als  Waffe  nurr  Messer,  Löffel,  Gawel! 

's  Kommando  füehrt  der  Hunger,  unn  's  Schlachtfeld  isch  der  Tisch, 
Unn  d'Find,  wo  mer  vertilje,  sinn  Oflejel,  Brote,  Fisch. 
Statt  Menschebluet  in  Ströme  soll  Rewebluet  nurr  fliesse, 
Champagner  nurr  derf  Zapfe  bis  an  de  Plafond  schiesse.» 

Unn  Bravo,  Schakob,  Bravo!  rueft's  Steckelbnrjerkorps, 
Unn  ruckt  jetz  in  den  Salme  bis  in  den  Esssaal  vor. 
In  Schlachtordnung  zuem  Angriff  gehn  jetz  die  Kamerade, 
Unn  ihri  Hals'  unn  Mäje  sinn  d'Flinte,  wo  sie  lade. 

«Uns  ist  in  alten  Mären  wundersviel  gesait 

Von  Helden  lobebaren,  von  grosser  Kuonheit.»! 

Doch  unsri  Steckelburjer  sinn  —  mit  Verlaub  ze  melde  — 

Im  Schlachtfeld  an  der  Tafel  die  lobebärste  Heide! 


>  Des^  Nibelungenliedes  erste  Halbstrophe. 


—    115    — 
Ein  Schifferstechen  auf  der  IlL 

Strassburger  Mundart. 


Hit  fiere  mir  Schiffer  druss  üwwer  em  Reche,  ^ 

Bi^m  Herrewasser*  e  Raedersteche. 

Üs  unserm  Revier,  üfi  der  Krütenau, 

Kommt  Alles,  was  ruedert,  zner  Wettfahrtschan. 

Do  gilt^s,  im  Vornwwerfahren  im  Nache 

De  Garns  dem  flattrige  Gänsel  ze  mache, 

Wo  dort  üwwer^m  Wasser  an's  Seil  isch  gebannt. 

Das  mannshoch  vom  Ofer  zum  Ufer  sich  spannt. 

Jetz  gewe  d^Spielrichter  zner  Wettfahrt  e  Zeiche, 
ünn  gschwind  snecht  e  Jeder  die  Gans  zne  erreiche, 
Sie  niedren  nnn  rnedren  üs  Liweskraft  — 
Sieh  —  dort  zerbricht  einem  sin  Rnederschaft. 

Glich  hinter  dem  kommt  noch  en  Anderer  gfahre, 
Der  thnet  nix  am  hitzigsten  Ifer  spare. 
Sin  Schiffel  kommt  geflönen  in  rasender  U, 
Jnst  80,  wie  vom  Bojen  en  abgschossner  Pfil. 

Der  Hans  isch's,  er  sieht  schun  sin  Gänsel  do  flattre, 
Arms  Thierel !  er  hört^s  schun  gar  jämmerli  schnattre. 
Jetz  will  er^s  erstechen,  verfehlt  isch  sin  Stich  — 
Plumps !  stürzt  er  ins  Wasser  kopfüwwersich. 

Hahaha !  so  lacht  mer  nen  üs :  jetz,  Hansel ! 
Isch  ^s  SchwinHSien  an  dir,  du  bisch  selwer  e  GänseL 
Was  bisch  de  so  ungschickt?  jetz  hilf  der  erüs, 
Unn  rüst  di  en  andermol  besser  znem  Strüss.. 

So  isch  halt  der  Weltlauf,  wie  hit  so  au  morje : 
Wer  Schade  het,  brücht  fürr  de  Spott  nit  ze  sorje. 
Na,  Hansel !  inskünfti  vergiss  nit  d^Lection : 
Blindhitziger  Ifer  traat  Schade  dervon. 

Jetz  ruedert  e  Dritter  mit  kräftige  Schläje, 

Doch  sicher  gemesse ;  jetz  zuckt  er  de  Deje  — 

Unn  sieh,  wie  am  Brotspiess  isch  's  Gänsel  durchspiesst. 

Dem  *s  Bluet  üs  den  Odren  in  Ströme  fliesst. 


1  Ein  bewegliches   Eisengitter   quer  über  die  111  angebracht  au 
deren  Einströmung  in  die  Stadt. 

2  Ein  Badeplatz  für  Männer. 


—    «6    — 

Ünn  Bravo!  rueft  Alles,  Bravissimo,  Dännel! 

Wie  flink  isch  der  Schiffer,  wie  gschickt  isch  diss  Männel ! 

Es  isch  halt  e  Baldner,  schlecht  nnn  recht, 

Vom  alte  biderbe  schiffische  Gschlecht 

Er  kommt  im  Triumph  mit  sim  Gänsele  gfahre, 
Am  Ufer  begrüesse  ne  Homer-Fanfare; 
Unn  d'Richter  belowe  ne:  der  isch  e  Mann, 
Der  Stärke  mit  G^schicktheit  verbinde  kann ! 


Knabenliedchen  im  Mai. 


Maiereje !  mach  mi  gross, 
I  bin  e  kleiner  Stnmbe : 
Wachse  machst  de  jo  an  d^Ros* 
Unn  d^jonge  Schäfle  gambe.  ^ 

Loss  mi  doch  nit,  wie  i  bin, 
So  klein  wie  Damenikel;^ 
Nein,  noch  grosser  möcht^  i  sinn 
Als  unser  Maidel,  's  Rickel. 

Maiereje!  mach  mi  gross, 
E  Ries  mach  üs  em  Zwerri; 
Rite  möcht  i  hoch  ze  Ross 
Ins  Land,  in  unsri  Bern. 

Rite  möcht  i  bis  ins  Thal, 
Wo  Schlang  unn  Drache  hüse; 
Möcht  sie  tödte  mit  mim  Stahl 
Ganz  herzhaft  ohne  Gruse. 

War  doch  d'Heimat  frei  unn  los 
Von  alle  böse  Schlange  1 
Maiereje!  mach  mi  gross, 
I  will  sie  alli  fange. 

Adolf  Stöber. 


1  Hüpfen. 
*  Däumling. 


—    H7    — 


An  Adolf  Stöber 
mm  fiinfiEigjährigeii  Pfarrerjnbiläam,  89.  Harz  1890. 

«Die  grüne  Jugend  soll  man  preisen, 
Jedoch  die  Jagend  allermeist, 
Die  in  den  schneegelockten  Greisen 
Erblüht  durch  den  gewaltigen  Geist.» 
So  hat  einst  Vater  Arndt  gesungen  ; 
Sein  Wort,  es  wird  von  neuem  wahr  : 
Wir  bringen  unsre  Huldigungen, 
Ehrwürdiger  Greis,  Dir  jubelnd  dar. 

Den  Dienst  der  Muse,  den  verkündet 
Dein  Vater  einst  mit  hellem  Klang, 
Hast  mit  dem  Bruder  eng  verbündet, 
Du  treu  geübt  Dein  Leben  lang. 
Von  Deiner  Heimat  wahrem  Sinne 
Gabst  Zeugnis  Du  mit  Mannesmut: 
In  des  Elsässers  Herzen  rinne, 
Sprachst  Du,  der  deutschen  Mutter  Blut. 

So  lang  durch  unsres  Bergwalds  Hallen 

Ertönen  wird  ein  deutsches  Lied, 

So  lang  der  Rhein  mit  mächtigem  Wallen 

Durch  deutsches  Land  zu  Thale  zieht: 

So  lange  klingt  in  diesen  Gauen 

Des  Vaters  und  der  Söhne  Preis. 

An  Deinem  Ehrentage  schauen 

Wir  stolz  auf  Dich,  Du  edler  Greis. 


E.  M. 


Lebensvy^ege. 

Sinnend  blick^  ich  in  des  Waldes  Räume, 
Wo  die  altergraue  Eiche  düstert, 
Deren  Wurzel  klar  ein  Quell  umflüstert  — 
Und  mein  Haupt  umwehen  Zukunftsträume. 

Horch!  da  raunt  mir  zu  die  altergraue: 
•  Werde  fest,  wie  dieses  Stammes  Knorren, 
Lasse  nicht  die  Kraft  des  Marks  verdorren, 
Nur  wie  ich  in  ew'ge  Räume  schaue! 

Denn  gemein  ist,  was  am  Boden  kriechet. 
Nur  im  Aether  kannst  du  Aether  trinken. 
Kannst  nur  dort  ans  Herz  der  Allmacht  sinken  — 
Wer  am  Boden  schleicht,  im  Schlamm  versiechet.  > 


—    118    — 

Draaf  mit  honigsüsser  Lispelstimme 
Sprach  die  Weide  mit  beständigem  Neigen: 
«Eine  andre  Bahn  will  ich  dir  zeigen: 
Beuge  dich  und  so  die  Höh*  erklimme!» 

Wer  sich  b&ckt,  der  weichet  ans  dem  Streiche, 
Den  die  Herrenlanne  nach  ihm  föhret, 
Wer  da  küsst,  die  Weiberherzen  rühret, 
Und  wer  kriechet,  ist  bald  Herr  im  Reiche.» 

Doch  ich  nickte  zu  der  altergranen: 
«Trotzig  will  ich  das  Gemeine  höhnen. 
Fest  wie  du,  nnr  streben  nach  dem  Schönen,» 
Und  fing  an,  die  Znkonft  aufzubauen.  ^ 

Sieh!  da  ballt  sich^s  droben  zum  Gewitter, 
Zorneshauch  f&hrt  über  alle  Fluren, 
Fahle  Furcht  umschleicht  die  Kreaturen  — 
Und  ein  Blitzstrahl  schlägt  die  Eich'  in  Splitter. 

Eine  Thräne  quoll  mir  auf  die  Wangen; 
Doch  es  seufzte  die  gefällte  Eiche: 
«Werde  fest  und  nicht  yqm  Trotz  abweiche, 
Wenn  auch  Wetterwolken  dich  umhangen.» 


Gustav  Wethlj. 


Ein  Brautpaar. 

Ein  Brautpaar  kenn*  ich,  wunderhold. 
Umlacht  von  lichtem  Sonnengold  ; 
Längst  fand  es  sich  zusammen. 
Es  prangt  in  ewig  hehrer  Pracht, 
Und  eins  im  andern  hat  entfacht 
Gar  heisse  Liebesflammen. 

Ob  Jahre  kommen,  Jahre  gehn, 
Ob  Lenzluft  webt,  ob  Stürme  wehn, 
Stets  stehn  vereint  die  beiden. 
Es  teilt  getreu  des  einen  Brust 
Des  andern  Schmerz  und  seine  Lust; 
Kein  Schicksal  wird  sie  scheiden. 

Und  doch:  Kein  Menschenohr  erlauscht 
Den  Gruss,  den  ihre  Minne  tauscht 
In  züchtig  süssem  Kosen; 
Der  Mond  allein  hört  ihr  Gespräch 
Und  kündet's  leis  durch^s  Blattgeheg 
Den  thaubeglänzten  Rosen. 


—    419    — 

Eins  aber  ist  uns  allen  klar: 
Es  bleiben  treu  sich  immerdar 
Die  beiden  Herzgenossen; 
So  lang  der  Weltban  sich  erhält, 
Ist  unter  Qottes  Schirm  gestellt 
Der  Bund,  den  sie  geschlossen. 

Der  Jnnker,  fromm  nnd  tugendhaft, 
Voll  Anmut  und  voll  Manneskraft, 
Ist  reich  an  Ruhm  und  Ehren. 
Stolz  zieht  er  seine  freie  Bahn; 
An  Menschenwitz  und  Menschenwahn 
Mag  er  sich  wenig  kehren. 

und  sie,  die  Jungfrau  gut  und  mild. 

Gleich  einem  hehren  Engelbild 

Lacht  sie  hinaus  ins  Leben; 

Hell  strahlt  der  blauen  Augen  Glanz; 

Die  blonden  Locken  schmückt  ein  Kranz 

Von  Tannengrfin  und  Reben. 

Und  fragt  ihr  nun:  «Wer  mag  wohl  sein 

Das  holde  Paar  so  keusch  und  rein, 

Das  liebend  sich  erkoren?» 

So  wiest:  Der  Rhein  hat  sich  erschaut 

Das  Elsassland  zu  seiner  Braut 

Und  hat  ihm  Treu  geschworen!  — 

Glück  zu,  du  jugendfrisches  Paar! 
SLlar  soll  dir  scheinen  Jahr  um  Jahr 
Des  Himmels  Gnadensonne! 
Glück  zu,  Du  schaumgekrönter  Rhein! 
Glück  zu,  Du  trautes  Elsass  mein, 
Duj meines  Herzens  Wonne! 

Dir  Brüder,  frisch  das  Glas  zur  Hand 
Und  lasst  es  füllen  bis  zum  Rand 
Vom  Blut  der  Wasgaureben! 
Lasst  klingen  euem  Hochgesang, 
Stimmt  ein  mit  lautem  Jubelklang: 
«Hoch  soll  das  Brautpaar  leben!» 

Der  Rosheimer  Kellerkrieg. 

Im  schönen  Wasgaulande,  da  liegt  ein  St&dtlein  traut, 
Darauf  Odiliens  Kloster  gar  ernst  hemiederschaut. 

Im  Wappen  führt's  die  Rose,  und  Rosheim  isVs  genannt ; 
Da  hat  manch  edlen  Tropfen  die  Sonne  reifgebrannt. 

Wie  lieblich  ist's  geborgen  in  seinem  Rebenkranz ! 
Dm  seine  Schläfe  kosen  Bergluft  und  Sonnenglanz. 


—    120    — 

Doch  nicht  zu  allen  Zeiten  war^s  still  und  friedlich  dort; 
Gar  manche  grimme  Fehde  dnrchtobte  jenen  Ort 

Des  Städtleins  wackre  Bürger  errangen  manchen  Sieg; 
Noch  ist  bekannt  die  Kunde  vom  alten  « Kellerkrieg  >. 

Man  schrieb  zwölfhundertdreizehn,  als  Herzog  Friedrich^  starb. 
Der  einst  vom  deutschen  Kaiser  Rosheim  als  Pfand  erwarb. 

«Doch  fallt>,  so  stand  geschrieben  im  Handel  und  Vergleich, 
«Nach  des  Lothringers  Tode  die  Stadt  zurück  ans  Reich.» 

Der  Sohn  des  Herzogs  aber,  der  finstre  Theobald 
Der  wollte  dieses  wehren  mit  seines  Arms  Gewalt 

Er  kam  mit  seinem  Meier,  dem  grimmen  Lambyrin, 
Die  kaisertreue  Feste  mit  Krieg  zu  überziehn. 

Und  sieh,  die  Zeit  war  günstig;  der  Deberfall  gelang; 
Verschüchtert  flohn  die  Bürger  zum  Kirchlein  todesbang. 

Nun  wühlt  nach  Raub  und  Beute  des  Herzogs  rohe  Schar; 
Die  Vorratskammern  bieten  gar  manche  Schätze  dar. 

Verheerend  in  die  Keller  wirft  sich  der  Haufe  frech, 
Und  in  den  düstern  Tiefen  beginnt  ein  wild  Gezech. 

Gar  dumpf  die  Fässer  dröhnen,  des  Traubenbluts  beraubt ; 
Doch  schwerer  wird  und  schwerer  der  Räuber  wirres  Haupt 

Stets  schlinmier  treibt's  die  Rotte :  Man  flucht  und  schreit  und  trinkt 
Bis  einer  nach  dem  andern  bewusstlos  niedersinkt.  ^ 

Weh  euch,  ihr  kecken  Frevler!  Mit  ihren  Herrn  im  Bund 
Sind  die  getreuen  Fässer  im  stillen  Kellergrund! 

Weh  euch,  ihr  losen  Spötter!  Was  hilft  euch  eure  Wehr? 
Den  Bürgern  mögt  ihr  trotzen,  dem  Weine  nimmermehr! 

Eb  füllt  zuletzt  den  Städtern  gerechter  Zorn  das  Herz; 
Sie  steigen  in  die  Keller  bewehrt  mit  Stahl  und  Erz. 

Zum  Wein,  den  man  vergossen  in  tollem  Uebermut, 
Fliesst  zu  verdienter  Strafe  der  Trunknen  rotes  Blut. 

Die  alte  Chronik  meldet,  dass  keiner  fast  entkam, 

Und  dass  der  Herzog  kehrte  nach  Haus  mit  Schimpf  und  Scham.  — 

Den  Sieg  hat  hier  errungen  die  Feuerkost  allein; 
Drum  werden  Rosheims  Reben  auch  stets  gepriesen  sein. 

Strassburg-Neudorf.  Christian   Schmitt. 


1  Friedrich,  Herzog  von  Lothringen. 


X. 


Geor^    Gayelin 


Von 


Friedrieb  Laueliert. 


Johann  Georg  Gayelin  wurde  am  23.  Mai  1812  zu  Mül- 
hausen  geboren,  wo  sein  Vater  Backer  und  Wirt  war,  der  evan- 
gelischen Konfession  angehörig.  Er  besuchte  die  Schulen  seiner 
Vaterstadt,  hielt  sich  auch  einige  Zeit  zur  weiteren  Ausbildung 
im  Französischen  in  Montbeliard  auf,  worauf  er  sich  dem  Kauf- 
mannsstande  widmete.  Nachdem  er  in  Mülhausen  seine  Lehr- 
zeit bestanden  hatte,  war  er  zuerst  etwa  fünf  Jahre,  bis  18.36, 
in  einem  Geschäfte  in  Sulzmatt  thätig,  von  da  bis  1845  in  Lo- 
gelbach bei  Colmar.  Seit  dem  Tode  seiner  Eltern,  die  1832 
and  1833  nach  einander  in  ungünstigen  Vermögensverhältnissen 
starben,  hatte  er  auch  für  zwei  jüngere  Schwestern  zu  sorgen. 
Seit  1845  bekleidete  er  32  Jahre  lang  eine  Buchhalterstelle  in 
Lautenbach,  im  ßlumenthale,  wo  er  1853  heiratete.  Hier  ver- 
brachte er  ein  ruhiges,  idyllisches  Leben;  seine  freie  Zeit  war 
der  Erziehung  seiner  beiden  Kinder,  der  Pflege  eines  Gartens 
und  litterarischen  Beschäftigungen  gewidmet.  Doch  starb  seine 
Gattin   schon    1864.    1879  zoir   er,    nachdem   er  etwa  ein  Jahr 


-     122    — 

vorher  seine  Stelle  aufgegeben  hatte,  zu  seinem  Sohne  nach 
Rixheim,  wo  er  am  30.  Januar  1889  starbt 

Durch  seinen  Anschluss  an  die  neuen  Verhaltnisse  seit 
1870  mag  er  in  seinem  Kreise  manches  Gute  gewirkt  haben. 
Er  trat  in  diesem  Sinne  in  den  letzten  Jahren  auch  bei  mehreren 
Gelegenheiten  öffentlich  hervor ;  so  1884  mit  einem  Trinkspruche 
auf  der  Generalversammlung  des  Vogesenklubs  in  Strassburg. 

Von  Kindheit  an  war  das  Lesen  sein  grosses  Vergnogen 
und  blieb  es  auch  immer;  von  da  kam  ihm  die  Anregung  zur 
eigenen  Produktion.  Während  der  in  Sulzmatt  und  Logelbach 
zugebrachten  Jahre  erwarb  er  sich  auch  die  Kenntnis  des  Eng- 
lischen, ItaUenischen  und  Spanisohen,  die  er  durch  zahlreiche 
Uebersetzungen  aus  diesen  Sprachen  bethätigte.  Seine  hinter- 
lassenen  Manuskripte,  die  nach  seinem  Tode  der  kaiserlichen 
Bibliothek  in  Strassburg  geschenkt  wurden,  legen  Zeugnis  davon 
ab,  wie  er  seine  freien  Stunden  nutzbringend  anzuwenden  ver- 
stand. Es  sind  sieben  Bände,  in  der  letzten  Reinschrift,'  mit 
dem  Gesamtlitel :  «Dichtungen  eines  Altelsassers»,  folgendai 
Inhalts:  L  «Musestunden  im  Blumenthaie.»  (Hochdeutsche  eigene 
Gedichte.)  IL  «Milhüserditsche  Gedicht.  Aeiges  un  NobUdets.i 
IIL  «Lyrische  Blumenlese  aus  ausländischen  Dichtern.»  (TV,  1 
und  2:  «Vier  Perlen  ausländischer  Dichtung.»),  IV,  1.  Lalla 
Rookh  von  Th.  Moore,  IV,  2.  Zwei  Novellen:  Gesare  Gantu, 
Das  Gnadenbild  vom  Imbevera ;  J.  E.  Hartzenbusch,  Die  Königin 
ohne  Namen.  Und  zwei  Gedichte  von  Ramon  de  Gampoamor: 
Die  Braut  und  das  Vogelnest;  die  Verleumdung.  V.  «Drama- 
tische Versuche.»  (Uebersetzungen  spanischer  Dramen,  hoch- 
deutsch.) VI.  «Milhüser-ditsche  Theaterstick.»  Ausserdem  be- 
findet sich  bei  diesen  Manuskripten  ein  Exemplar  des  in  den 
«Musestunden»  S.  173  genannten  englischen  Bilderbuchs  von 
John  Gilpin,  mit  Papier  durchschossen,  worauf  seine  beiden 
deutschen  Bearbeitungen  nebst  einer  französischen  Prosaüber- 
setzung beigeschrieben  sind. 

Gedruckt  ist  von  alledem  nur  der  kleinere  Teil.  Das  erste, 
was  Gayelin  veröffentlichte,  unter  dem  Namen  A.  Ilgeney,  waren 
die  beiden  Lustspiele  «Hans  Dampf»  und  «Der  Ordnungsstifter», 
in  der  in  Colmar  erscheinenden  Zeitung  «Elsässischer  An- 
zeiger», Jahrgang  1872.   1882  gab  er  ein  Bändchen  ausgewählte 


1  Die  biographischen  Angaben  entnehme  ich  den  AofEeichnongeii, 
die  der  Sohn  des  Dichters,  Herr  G.  Qayelin,  Herrn  Professor  Barack 
übersandt  hat. 

s  Vom  im  ersten  Band  steht  die  Notiz :  «Die  ersten  Manuskripte 
sind  im  Besitze  meines  Sohnes,  die  zweiten  im  Besitze  der  Stadt- 
bibliothek zn  Mülhansen.» 


—    123    — 

Gedichte  heraus  unter  dem  Titel:  «Dichtungen  eines  Alt-Elsas- 
sers.  Erste  Sammlung.  Musestunden  im  Blumenthaie.  Gredichte 
TOD  G.  Gayeiin.»  (Gebweiler  und  Leipzig  1882.)  Es  ist  eine 
Auswahl  aus  dem  in  den  drei  ersten  Bänden  der  Manuskripte 
gesammelten  Vorrate,  eigene  Gedichte  und  Uebersetzungen,  hoch- 
deutsch und  Miihüser-ditsch. — Es  folgen:  c Lebensregeln  fär 
Jünglinge  und  Handelsvorschriften.  Gesammelt  und  heraus- 
gegeben von  G.  Gayelin»  (Gebweiler  und  Leipzig  1884),  eine 
Sammlung  einzelner  Lebensregeln  in  Prosa,  meist  aus  andern 
Schriftstellern  entnommen,  doch  auch  aus  eigener  Erfahrung 
vermehrt ;  das  meiste  entstammt  den  «Lebensregeln»  des  Grafen 
August  von  Platen  und  Silvio  Pellico's  Schriftchen  cDei  doveri 
degli  nomini».  —  Noch  im  Jahre  1887  begann  Gayelin  eine 
weitere  Publikation  :  «Milhüser  Monet-Bletter.  Elsässische  Marie, 
Sage,  Erzehlunge  un  Schwank  von  A.  Ilgeney.»  (Mülhausen, 
Buchdruckerei  von  R.  Münch.)  Er  eröffnete  die  Sammlung, 
von  welcher  nur  der  erste  Jahrgang  (Nr.  1 — 12)  erschien,  mit 
dem  Gedichte  «D'  zwai  Stiäfschwesterie»,  einer  Bearbeitung 
eines  bekannten  Kindermärchens. 

Die  Betrachtung  der  Dichtungen  im  einzelnen,  wobei  ich 
mich  natürlich  hauptsächlich  an  das  Gedruckte  halten  werde, 
wird  am  besten  eingeleitet  durch  eine  chronologische  Zusammen- 
stellung der  gedruckten  Gedichte,  die  sich  nach  den  Hand- 
schriften herstellen  Hess,  wo  jeweils  das  Datum  der  Entstehung 
beigeschrieben  ist.  Zuerst  die  eigenen  Gedichte,  mit  Weglas- 
sung der  ganz  kleinen  und  unbedeutenden  Dinge;  die  ange- 
führten Seitenzahlen  weisen  auf  die  «Musestunden». 

1842.  Elsassische  Volkssagen,  S.  7  f.    Das  Nachtkalb,  S.  9—11. 
184218.  Episoden  aus  Bad  Sulzmatt,  S.  18—29.  [203— 208.]  i 
1848—46.  Bruchstücke  aus  Bad  Sulzmatt,  S.  12—18. 

1843.  Lebenslust.    Lebensschmerz,  S.  30 — 32. 

1844.  Gewissensbisse.  Gewissensruhe,  S.  32 — 35. 
[Zerknirschung,   S.   193  f.]    Abschied   vom  Vaterlande, 
S.  35—42.    Peter  Fehr,   S.  173—181.   [Gott  Mammon, 
S.  212— 220.J 

1845.  Des  Verwaisten  Loos,  S.  43  f.  [Ode  an  Frühjahr  und 
Hoffnung,  S.  194 — 196.]  Das  vertrakte  Kompliment, 
S.  48 — 50.  Heimweh,  S.  44 — 46.  Der  freigebige  Geiz- 
hals, S.  46  f.    Der  Freundschaft  Sitz,  S.  51—53. 


1  In  Parenthese  füge  ich  die  nicht  gedruckten  ersten  hochdent« 
sehen  Formen  der  später  in  die  Mundart  umgesetzten  und  darin  ge- 
druckten Gedichte  bei. 


—    124    — 

1846.  Sehnsucht  nach  Mitgefühl,  S.  54 — 56. 

1847.  [Lebewohl ;  Abschieds-Ode,  S.  197—199.]  Abt  von  Mur- 
bach, S.  59—63.  Der  Falter  und  das  Licht,  S.  67—70. 
[Glaube,  Liebe,  Hoffnung,  S.  196  f.] 

1848.  Zum  Namensfeste;  an  einen  Freund,  S.  58  f. 

1849.  Glaube,  Liebe,  Hoffnung,  S.  56 — 58.  [Der  Gelegenheits- 
dichter,  S.  208  f.]  Meine  Wahl,  S.  64  f.  Lebensläu- 
schung,  S.  66. 

1851.   Das  Alpdrücken,  S,  71  f.    Die  fünf  Sinne,  S.  72—75. 

1858.   [Zufriedenheit  des  Mittelstandes,  S.  199  f.] 

1855.  Die  Hahnen,  S.  75 — 79.  Einsam  bin  ich  nicht  alleine, 
S.  80  f. 

1864.    Hans  Dampf. 

1867/8.   Der  Ordnungsstifter. 

1870.    's  Nachtkalb,  S.  187  f. 

1877.    Einweihung  des  Rasthauses  auf  dem  Beleben,  S.  3^. 

1879.  Lebewohl  an  die  Mitglieder  des  Vogesenklubs,  Section 
Gebweiler,  S.  108. 

1880.  [Vier  Adler,  S.  201—203.]  Die  Dorfpumpier,  S.  189—191. 
Des  Sünders  Zuflucht,  S.  87  f.  Fortschritte  der  Sitten- 
verfeinerung, S.  83.  Der  Monat  Mai,  S.  81  f.  Zeitstufen, 
S.  90—107. 

1881.  D'  frumme  Süllergreth,  S.  188  f. 

Ferner  aus  diesem  Jahre  alles  weitere  von  S.  191  an, 
meist  elsassische  Bearbeitungen  von  früher  hochdeut^h 
gedichteten  Stücken. 

1882.  «D*  zwäi  Stiäfschwesterle.» 

[1887.88.  Zwei  kleinere  dramatische  Stücke  :   «Herr  Wunderlig> 

und  «D'  Kiäfer.»] 

Hieran    schliesse   sich   ergänzend   eine   chronologische 

Uebersicht  der  bemerkenswerteren  [handschriftlichen  und] 

gedruckten  Uebersetzungsarbeiten : 
1844.    Montgomery,  Das  allgemeine  Loos,  S.  111  f. 

Cowper,  John  Gilpin,  S.  113—121. 

[Gedichte  von  Southey,  Thomas  Hood,  Goldsmith.] 

Um  diese  Zeit  wohl  auch  der  undatierte  Feuerkönig  von 

Scott,  S.  121—125. 

1847.    Milton,  Adam's  und  Eva's  Morgenhymne,  S.  126  f. 
Metastasio,  Hymne  an  Venus,  S.  134  f. 
Ariosto,  Birnbaum  und  Kürbis,  S.  133.   [Chiabrera,  Das 
Veilchen.]    [Mehrere  Lieder  von  B^ranger.] 


—    125    — 

184».  Giambatt.  Ck)tta«  Gott,  S.  144.  Lor.  di  Medici,  Die  HofT- 
nung,  S.  137  f.    [Rouget  Delisle,  Marseillaise.] 

1848/9.  [Thomas  Moore,  Die  Feueranbeter.] 

1849.   Cienfuegos,  Hymne  an  Bacchus,  S.  157. 

Moratin,  Die  Trümmer  erloschener  Völkerschaften,  S.  145  f. 
Lope  de  Vega^  Das  Sonett,  S«  158. 

1849|ftO.  Melendez,  Die  Tageszeiten,  S.  147—155. 

18«).   Yriarte,  Der  Frühling,  S.  155  f. 

Parini,  Ganzone  auf  den  Tod  des  Barbierers,  S.  139 — 14^. 

1861.   [Ges.  Gantü,  Das  Gnadenbild  von  Imbevera.] 

1804.   Hartzenbusch,   Hans  Dampf  [Juan  de  las  Vinas],  hocli- 
deutsch  [und  elsässisch]. 

1866.   Gi!  y  Zarate,  Der  Ordnungsstifter  [el  Entremetido],  hoch- 
deutsch. 

1867168.  [Dasselbe  elsassisch.] 

1871.  Wahrscheinlich  King  John  and  the  Abbot  of  Canterbury, 
S.  165-168. 

1879.  Byron,  Antwort  auf  Montgomerys  Allgemeines  Loos, 
S.  128—130. 

Byron,  Das  Gebet  der  Natur,  S.  130—132. 

Silvio  Pellico,  Seufzer,  S.  136  f. 

Bermudez,    Die    Zeit    vergeht    und    kehrt   nicht   wieder, 

S.  146. 

1880.  [Hartzenbusch,  Die  Königin  ohne  Namen,  Novelle.] 

[1880—1882.  Bearbeitungen  älterer  deutscher  Gedichte  und 
Schwanke,  z.  B.  aus  Hans  Sachs,i  Wickram,  KirchhofF, 
Pauli,  Burkard  Waldis ;  zwei  Gedichte  Walthers  von  der 
Vogelweide,  und  die  Märe  vom  Sperber.  Dazu  kommt 
aus  dem  Jahre  1881 :  «Heliotrop  oder  dV  prellt  Hahnrey. 
No-n-eme  Pickelhärings-Spiel  d'r  änglische  Kummediante 
üs  em  16.  Johrhundert.»] 

[1883.  Zahlreiche  ungedruckte  Gedichte  aus  dem  Englischen, 
Italienischen  und  Spanischen,  z.  B.  von  Shelley,  Long- 
fellow,  Wordsworth,  Bums ;  Ariosto,  Parini,  Giusti,  Leo- 
pardi,  Angelo  Poliziano;  Moratin,  Yriarte,  Garcia  de 
Quevedo,  Quevedo  y  Villegas,  Luis  de  Leon.] 

.1882 — 1886.  Hartzenbusch,  Das  Gesetz  der  Rassen.] 


1  Die  bekannte  Schlassformel  wird  einmal  wiedergegeben : 
<No  Fliss  an  That  sträb  junger  Sinn, 
Das  mahnt  der  Hans  Jerg  Gayelin.» 


-    126    — 

[1884/5.  Thomas  Moore,  Lalla  Rookh,  d.  h.  die  drei  noch  un- 
übersetzten  Gedichte  daraus,  nebst  der  Rahmenerzählung, 
womit  die  ehemals  selbständig  gemachte  Uebersetzung 
der  «Feueranbeter»  vereinigt  wird.] 

[1886.  Die  zwei  Dichtungen  des  Ramon  de  Campoamor.] 

Wenn  die  Reihe  dieser  Arbeiten  erst  1842  beginnt,  so  ist 
doch  wohl  anzunehmen,  dass  Gayelin  auch  vorher  schon  dich- 
terisch thätig  war,  nur  dass  die  früheren  Sachen  entweder  gar 
nicht  oder  nur  in  überarbeiteter  Gestalt  in  die  spätere  liand- 
schriftliche  Sammlung  übergingen.  Letzteres  ist  wohl  der  Fall 
mit  den  auch  nach  der  jetzigen  Datierung  ältesten  Slücken,  den 
Volkssagen  vom  Schauenberg  und  Schäferthal,  und  den  Bruch- 
stücken und  Episoden  aus  Bad  Sulzmatt,  welche  auch  nach  der 
Angabe  von  Gayelins  Sohn  schon  in  Sulzmatt  entstanden.  Als 
erste  Verse  aus  den  Knabenjahren  findet  sich  in  der  Hand- 
schrift ein  Spottlied  auf  die  aMilhüser  Pumper»,  die  Feuerwehr 
von  Mülhausen,  deren  Hauptmann  Gayelins  Vater  war,  in  einer 
Aufzeichnung  von  1882  mit  Erzählung  der  Veranlassung. 

An  der  Spitze  der  für  uns  in  Betracht  kommenden  Pro- 
duktion  stehen  also  Bearbeitungen  elsässischer  Lokalsagen  und 
Legenden  und  Beschreibungen  der  Schönheit  des  Landes,  Gegen- 
stände, die  allen  elsässischen  Dichtern,  die  sich  in  ernster  Dich- 
tung versuchten,  naheliegen ;  Ehrenfried  Stöber  war  hier  wohl 
Gayelins,  freilich  nicht  erreichtes,  Vorbild.  Dass  er  auch  von 
Bürger  in  der  Balladendichtung  etwas  gelernt  hat,  beweist  die 
einige  Jahre  spätere  Ballade  vom  Abte  von  Murbach,  eines  seiner 
besten  Gedichte.i  Auch  die  Wahl  der  Strophenform  dieses  Ge- 
dichtes scheint  vom  Beispiele  der  Lenore  beeinflusst  zu  sein,  nur 
am  Strophenausgang  abweichend : 

«und  war'  auch  alles  Dichtung  nur, 

So  liegt's  doch  ausser  Zweifel, 
Den  einen  früh,  den  andern  sp&t, 

Es  holet  stets  der  Teufel, 
Wer  Unzacht  treibet,  saufet,  flucht, 
Die  Menschen  plagt  und  Gott  versucht. 

Sei  selbst  er  Fürst  und  Priester.» 


1  Die  unschöne  Beminiscenz  an  die  Lenore: 

<Und  Hurra,  Hurra  1  Hopp,  Hopp,  Hopp! 
Qleich  Wilhelms,  flogen  im  G^opp 
Die  Pferde  nach  dem  Ziele»  — 
hat  Gayelin  später  in  der  Handschrift  in  richtigem  Gefühle  geändert: 

«Und  wie  vom  Schalte  schnellt  der  Pfeil, 
So  flogen  voller  Hast  und  Eil 
Die  Pferde  nach  dem  Ziele.» 


—    127    — 

Die  von  Gayelin  gewählte  Strophe  mit  dem  nachklappenden 
einxelnen  Verse  scheint  mir  allerdings  besser  zu  einem  komi- 
schen Gegenstande  oder  wenigstens  zu  einer  leichten  Färbung 
in  diesem  Sinne  zu  passen;  man  denke  z.  B.  an  Lichtenberg's 
Gedicht  auf  die  Belagerung  von  Gibraltar.  —  cDer  freigebige 
Geizhals]»  schliesst  sich  in  Form  und  Darstellung  an  die  älteren 
Fabeldichter  an.  Unter  diesen  Einflüssen  guter  Vorbilder  stehen 
Gayelins  erzählende  Gedichte. 

Unter  noch  mannigfaltigeren  Einwirkungen  der  jeweiligen 
Lektüre  steht  die  lyrische  Dichtung  mit  ihren  Abarten.  So  gab 
die  Uebersetzung  von  Montgomerys  Common  lot  Veranlassung 
zu  dem  eigenen  Gedichte  cDes  Verwaisten  Loos»  im  gleichen 
Metrum  (S.  43).  Die  Gedichte  ähnlicher  Art  entstanden  wohl 
mehr  oder  weniger  alle  unter  dem  bewussten  oder  unbewussten 
Einflüsse  fremder  Poesie.  Am  besten  und  am  meisten  selbst 
gefühlt  sind  darunter  die,  in  welchen  sich  ein  zufriedener  stiller 
Sinn  ausspricht,  so  cLebenslust»  (S.  90),  cZufriedenheit  des 
Hittelstandes»  (S.  199).  Andere  Stücke  handeln  von  Gefühlen 
doch  gar  zu  systematisch  lehrhaft ;  am  wenigsten  gelungen  sind 
die  weltschmerzlich  angehauchten,  ein  gutes  Zeichen  für  den 
Verfasser.  Unangenehm  berührt  in  diesen  Gredichten  auch  das 
Uebermass  mythologischer  Bilder,  worin  sich  eben  der  Auto- 
didakt verrät.  Hervorzuheben  aus  diesem  Kreise  ist  noch  das 
allegorische  Gedicht  «Der  Falter  und  das  Licht»  (S.  67);  die 
unbildliche,  sehr  nackte  Ausführung  des  Gedankens  konnte 
fireilich  nicht  gedruckt  werden.  Grayelin  erwärmt  sich  in  der 
Vorrede  der  cMusestundeni  an  dem  Gredanken,  es  könnte  viel- 
leicht einem  oder  dem  andern  seiner  Gedichte  vorbehalten  sein, 
ceinen  Strauchelnden  auf  dem  Pfade  der  Tugend  zurückzu- 
halten»;  jedenfalls  ist  die  Absicht  lobenswert,  um  derentwillen 
man  auch  einige  Prosa  mit  in  den  Kauf  nehmen  kann.. 

Die  Naturschilderungen  sind  oft  sehr  hübsch,  besonders 
da,  wo  sie  nicht  allgemein  gehalten  sind,  in  der  Art  der 
Dichter  aus  der  älteren  Schule,  sondern  wenn  Gayelin  be- 
stimmte Gegenden  seiner  Heimat  im  Auge  hat,  wo  er  natür- 
lich immer  wärmer  wird.  Das  warme  Gefühl  für  das  schöne 
Heimatland  teilt  er  mit  den  anderen  elsässischen  Dichtern;  be- 
sonders schön  spricht  es  sich  aus  in  dem  Gedichte  «'s  Elsass», 
einer  Glosse  über  Verse  von  Ehrenfried  Stöber  (S.  171  f.;  die 
Entstehungszeit  ist  in  der  Handschrift  nicht  bemerkt) : 

«Sag  a,  wo  isch  e  Land  so  sehen, 
Wo-n-e  80  frische  Jnmfre  bliäie. 
So  Triwel  an  de  Bawe  gliäie 
So  Borge  nf  de  Bärge  stehn  ? 


—    128    - 

Wo  80  viel  GwärbflisSy  80  Tiel  Gwinn? 
Wo-n-e  80  Tämpel  Gottes  prange, 
So  Fäld  an  Bäim  voll  Frichte  hange  ? 
Wo  80  viel  Mensche  bschäftigt  sinn  ? 
Sag  a,  wo  lach  e  Land  so  sehen?» 

Mit  den  elsässischen  Gedichten  Gayelins  hat  es  eine  eigen- 
tümliche Bewandtnis.  In  den  wenigen  ursprünglich  in  der  Mundart 
gedachten  und  gedichteten  Stücken,  woran  sich  die  ungedruckteo 
grösseren  Arbeiten  schliessen,  was  nachher  im  Zusammenhange 
betrachtet  werden  soll,  hat  er  sein  Bestes  geleistet.  Die  Mehr- 
zahl der  elsässisch  gedruckten  Gedichte  ist  dagegen  nichts  anderes 
als  Umsetzung  der  älteren  hochdeutschen  Gedichte  in  den  Dialekt, 
wie  schon  oben  die  chronologische  Zusammenstellung  angab; 
in  den  ersten  achtziger  Jahren  scheint  er  in  einem  Zuge  alles 
früher  Gedichtete  in  dieser  Weise  umgeschrieben  zu  haben; 
weitaus  das  meiste  ist  in  dieser  doppelten  Form  vorhanden, 
die  meisten  hochdeutschen  Gedichte  der  gedruckten  Sammlung 
ebenso  auch  in  der  Mundart.  Es  ist  dies  eine  bedauerliche  Ver- 
kennung des  Wesens  der  Dialektdichtung;  umsomehr,  wenn  es 
sich,  wie  in  mehreren  Fällen,  schon  ursprünglich  um  Stoffe  aus 
einer  dem  Dichter  unnatürlichen  Sphäre  handelt,  die  zu  der 
lebensvollen  Volkssprache  noch  mehr  im  Gegensatze  stehen.  * 

Was  die  Handhabung  der  pc»etischen  Formen  betrifft,  so 
haben  wir  auch  hier  den  gleichen  Fall  wie  in  Bezug  auf  den 
Inhalt :  die  einfachen  Formen  beherrscht  er  mit  Geschick,  weil 
sie  ihm  natürlich  sind.  Dagegen  die  künstlicheren  Formen 
der  italienischen  Poesie,  wie  auch  der  Hexameter  und  das 
elegische  Distichon  scheinen  ihm  nie  recht  im  Gefühle  lebendig 
geworden  zu  sein. 

Sein  eigentliches  Element,  leider  viel  zu  sparsam  vertreten, 
ist  die  humoristische  Dichtung  in  der  Mundart,  besonders  da 
wo  es  sich  um  die  Uebertragung  oder  Bearbeitung  fremder 
Dichtwerke  handelt,  da  sich  seine  humoristische  Begabung  mehr 
im  einzelnen  als  in  der  Anlage  eines  Ganzen  äussert.  In 
durchaus  gelungener  Weise  lokalisierte  er  fremde  humoristische 
Dichtungen,  die    ihm    zusagten,   im   Elsass.    Der   Tuchhändler 


1  Die  gewählte  Orthographie  des  Elsässischen  ist  nicht  sehr 
glücklich.  Das  hässliche  «bliähie,  gliäfaie»  etc.  der  gedruckten  6e* 
dichte  ist  in  den  Manuskripten  später  korrigiert :  «bliäie,  gliäie^  waie, 
nmmedräie,  rüeie,  Miäi»  etc.  Ungeschickt  ist  anch  das  e  an  i  zur 
Dehnung,  wie :  «sie  (esse),  der  Kampf  am's  Dosie,  bis  züer  Lütter 
hie.»  —  En«,'ähnt  sei  hier  noch,  dass  Herr  Professor  Martin  von 
Oayelin's  Hand  eine  Znsammenstellnng  einiger  Idiotismen  for  du 
Elsässische  Idiotikon  besitzt. 


—    129    — 

Jobn  Gilpin  aus  London  in  CSowpers  Gedicht  wird  zum  Färber 
Peter  Fehr  aus  Mulhausen.  Das  Beste  aber  sind  die  Uebertra- 
gungen  der  beiden  s{)anischen  Lustspiele  Juan  de  las  Vinas  von 
Hartzenbusch  und  el  Entremetido  von  Gil  y  Zarate^  beide  lei- 
der nur  in  der  zugleich  gemachten  hochdeutschen  Uebersetzung 
gedruckt^  und  auch  so  nur  in  einer  Zeitung.  Als  «Hans Dampfi» 
und  cDer  Ordnungsstifler»  sind  die  beiden  Stücke  ebenfalls  in 
Mülhausen  lokalisiert  (im  Hochdeutschen  das  eine  in  Gebweiler, 
das  andere  in  Colmar),  und  zwar  so  geschickt,  dass  man  sich 
in  der  ergötzlichen  Komödie  vom  Hans  Dampf,  dem  alle  Dumm- 
heiten, die  er  macht,  zum  Glück  ausschlagen,  selbst  daran  nicht 
stösst,  dass  der  Bürgermeister  von  Mülhausen  als  Deus  ex 
machina  an  Stelle  des  spanischen  Königs  getreten  ist,  dem  im 
spanischen  Drama  von  Alters  her  diese  Rolle  zukommt.  Im 
Uebrigen  hat  Gayelin  ausser  entsprechender  Ersetzung  der  lo* 
kalen  Umstände  nichts  geändert,  nur,  um  den  Stücken  für 
etwaige  Aufiführung  den  Charakter  von  Singspielen  zu  geben, 
ein  paar  Lieder  eingelegt  und  an  einigen  Stellen  kürzere  leb- 
hatte  Dialogpartien  in  Versen  gegeben.  Im  Ganzen  aber  sind 
es  Uebersetzungen  im  eigentlichen  Sinne,  die  nicht  nur  die 
Handlung  im  Ganzen,  sondern  eine  Rede  um  die  andere  sinn* 
getreu  wiedergeben.  Die  sprachliche  Wiedergabe  ist  sehr  gut 
und  lebendig  (in  den  hochdeutschen  Bearbeitungen  viel  steifer) ; 
in  Einzelheiten  des  Ausdrucks  nimmt  er  sich  Freiheiten,  setzt 
auch  zuweilen  sehr  glücklich  humoristisch  individualisierende 
Züge  bei,  was  besonders  dem  matteren  farbloseren  Dialoge  in  Gil 
y  Zarate's  Stück  zu  Statten  kommt ;  davon  nur  ein  Beispiel : 
Das  Mädchen  äussert  gegen  den  Bedienten,  der  als  Vertrauter 
und  Liebesbote  erscheint,  seinen  Unwillen,  dass  der  Geliebte 
heute  keinen  Brief  geschickt  habe,  worauf  jener  zur  Verant- 
wortung sagt :  «Gomo  ha  apurado  en  sus  cartas  cuanto  ha  leido 
en  la  nueva  Heloisa  y  otras  novelas,  no  sähe  ya  qu^  decir,  y 
por  esta  vez  no  ha  saiido  el  correo.»  Gayelin  lässt  ihn  sagen  : 
<Do-n-er  in  sine  Briäf  scho  alles  gsait  hat,  was  er  in  d'r  scheue 
Magellone,  in  d'r  neie  He-Lise  un  in  Werthers  Leide  glase  hat, 
un  dV  Liäwessekretär  scho-n-e  paar  mol  abgschriwe  hat,  so 
isch  fir  dasmol  käi  Post  aku.»  —  Weniger  glücklich  sind  die 
ohne  Quellenangabe  in  der  Handschrift  stehenden  kleineren  dra- 
matischen Stücke  <icHerr  Wunderlig))  und  «d'Kiäferi».  Das 
erstere  ist  eine  Bearbeitung  des  bekannten  Schwankes  von 
Hebel,  dem  Gayelin,  um  überhaupt  eine  dramatische  Handlung 
für  ein  paar  Scenen  zu  bekommen,  noch  eine  sentimentale 
Liebesgeschichte  und  Wiedererkennung  des  als  Kind  verlorenen 
Sohnes  eingefügt  hat,  den  der  Holzbauer  bei  dem  als  Hexen- 
meister konsultierten  Schulmeister  wiederfindet.  —  Sonst   wäre 


—    130    — 

von  den  un^edruckten  elsassischen  Dichtungen  aus  den  achtziger 
Jahren  etwa  noch  zu  nennen  eine  Bearbeitung  von  cDer  Kaiser 
und  der  Abt:»,  teils  nach  Bürger,  teils  nach  King  John  and  the 
Abbot  of  Canterbury,  und  das  Gedicht  c's  Kandidat  Hans  Schön 
Atritts-Predig  in's  Pfarramt»,  das,  in  der  Handschrift  ohne 
Quellenangabe,  eine  Bearbeitung  der  in  Jean  Pauls  Fixlein  (in 
< Freudeis  Klaglibell  gegen  seinen  verfluchten  Dämon»)  erzählten 
Geschichte  von  dem  Predigtamtskandidaten  ist,  der  unter  dem 
Kanzelliede,  auf  das  Pult  herabgebeugt,  so  in  Gedanken  über 
die  zu  haltende  Predigt  versinkt,  dass  er  erst  nach  langer  Pause 
die  eingetretene  Stille  bemerkt  und  sich  nun  nicht  mehr  anders 
zu  helfen  weiss  als  durch  heimliches  Entschlüpfen  unter  Zurück- 
lassung der  repräsentierenden  Perrücke. 

Wenn  uns  in  Grayelins  Gedichten  nicht  überall  wahre  Poesie 
entgegentritt,  so  sichert  ihm  doch  der  tüchtige,  redliche  Sinn, 
der  sich  darin  ausspricht,  ein  ehrendes  Andenken.  Als  Dichter 
hätte  er  mehr  Gutes  und  Bleibendes  leisten  können,  wenn  er 
sich  immer  in  einem  ihm  natürlichen  Grebiete  bewegt  hätte; 
aber  was  er  im  Grebiete  volkstümlicher  Komik  hervorgebracht 
hat,  darf  sich  den  guten  Dichtungen  dieser  Art  von  anderen 
elsässischen  Dichtern  an  die  Seite  stellen. 


XL 


Elsässer  Sagen 


Von 

Bargmann. 
I. 

JDei  dem  Dorfe  Champenay,  im  Kanton  Saales,  befindet 
sich  im  Waldorte  La  Falle  ein  Felsen,  welcher  den  Namen 
führt :  pierre  des  f6es.  In  diesem  Felsen  sollen  vor  150  Jahren 
oder  noch  länger  die  Feen  ihren  Wohnsitz  gehabt  haben. 

Im  Dorfe  Champenay  selbst  ist  ein  offener  Brunnen, 
welcher  auch  nach  den  Feen  den  Namen  Fontaine  des  f^es 
trägt.  Diesen  Brunnen  sollen  besagte  Feen  in  einer  Nacht  her- 
gestellt haben.  Diese  Feen  wollten  ausserdem  vom  Hause,  in 
dem  jetzt  der  Wagner  M.  wohnt,  quer  über  das  Dorf  Cham- 
penay eine  Brücke  bauen.  Letztere  sollte  das  Dorf  mit  ihrem 
Wohnsitze,  dem  Felsen,  verbinden.  Es  ist  dies  eine  Breite  von 
80  Meter.  Die  Feen  scheinen  aber  bei  dem  Baue  gestört  zu  sein. 
Die  Brocke  ist  nicht  fertiggestellt  worden. 

II. 

An  der  Strasse,  die  von  Champenay  nach  dem  (rHantz» 
(Wirtschaft   unmittelbar    an   der  französischen   Grenze)   führt, 

befindet  sich  —  sudöstlich  von  der  Strasse —  ungefähr  500  Meter 
von  der  Grenze  eine  Quelle.  Dieselbe  heisst  im  Volksmunde: 
trou  de  Fesprit.  An  dieser  Quelle  sollen  in  früheren  Zeiten 
Gespenster  jede  Nacht  gewaschen  haben. 

Im  Waldorte  Herb^outte  (jetziger  Distrikt  6  vom  Staats- 
walde Rothau)  liegt  etwa  100  Meter  vom  Wirtshause  Hantz, 
südlich  der  Strasse,  die  von  St.  Blaise  herführt,  eine  Quelle, 
die  den  Namen  tragt :  fontaine  de  Landau.  Hier  sollen  gleich- 


—    132    — 

falls  Gespenster  sich  aufgehalten  hab«^n.  Dieselben  überfielen 
und  ermordeten  die  vorübergehenden  Reisenden.  Fanden  sie 
bei  denselben  kein  Geld  in  der  Tasche,  so  nahmen  sie  ihren 
Opfern  die  Eingeweide  heraus  und  wuschen  sie  in  genannter 
Quelle,  indem  sie  vermuteten  das  gewünschte  Geld  in  den 
Eingeweiden  zu  finden. 

III. 

In  Haslach  sollen  früher  auch  Hexen  gewesen  sein.  Ein 
Jäger  schoss  mehrere  Male  auf  einen  Hasen.  Er  glaubte  den- 
selben jedesmal  getroffen  zu  haben,  und  doch  lief  das  Stück 
Wild  immer  davon.  Da  kam  er  endlich  auf  den  Gedanken: 
das  muss  eine  Hexe  sein.  Statt  Schrot  zu  laden,  lud  er  des- 
halb geweihtes  Salz,  suchte  denselben  Hasen  wieder  auf  und 
fand  ihn  auch  richtig.  Als  es  nun  bei  unserem  Jäger  knallte, 
da  hatte  der  Hase  einen  Lauf  entzwei.  Anstatt  sich  nun  in 
einem  Gebüsche  zu  verstecken,  lief  das  angeschossene  Tier 
auf  Haslach  zu  und  schlüpfte  in  ein  Haus  hinein.  Der  Jäger 
ging  ihm  nach  und  fand  —  nicht  einen  angeschossenen 
Hasen,  sondern  eine  verwundete  Frau,  die  ihn  mit  dem  Tode 
bedrohte,  wenn  er  jemand  von  dem  Vorgefallenen  etwas 
eröffnen  würde. 

IV. 

In  einer  Nacht,  als  die  Bewohner  eines  Hauses  in  Haslach 
in  tiefem  Schlafe  im  Bette  lagen,  wurden  dieselben  durch 
Rasseln  einer  Kette  aufgeweckt.  Es  kam  ein  grosses  Tier  in 
das  Schlafzimmer.  Hausherr  und  Frau  waren  halb  tot  vor 
Angst.  Keines  der  beiden  wagte  aus  dem  Bette  zu  steigen,  um 
sich  zu  erkundigen,  was  das  für  ein  ungeheures  Thier  sei. 
Endlich  trieb  die  Angst  doch  den  Mann  hinaus,  seine  Frau 
folgte  ihm  nach.  Als  die  Frau  nun  Licht  gemacht  hatte,  sah 
sie  ihren  Mann  auf  ihrer  Kuh  sitzen,  wie  ein  Reiter  zu 
Pferde  sitzt. 

V. 

An  der  Strasse  von  PfafTenhofen  nach  Ingweiler,  ungefähr 
2  Kilometer  von  ersterem  Orte  nach  Obermodern  zu,  ist  eine  Brücke 
welche  man  das  «dritte  Brücke!»  nennt.  An  dieser  Brücke  ist 
in  früheren  Zeiten  ein  Galgen  gestanden.  Der  Ort,  an  welchem 
er  errichtet  war,  führt  heute  noch  den  Namen  «Galgen».  Da 
sollen  auch  Gespenster  gewesen  sein.  Dieselben  plagten  die 
Leute,  welche  nachts  vorbeigehen  mussten,  indem  sie  denselben 
auf  den  Rücken  sprangen  und  sich  eine  Strecke  forttragen 
Hessen,  so  dass  der  Beladene  vor  Angst  fast  nicht  mehr  schnaufen 
konnte. 


I 


Xll. 


Elsässische 

Kinder-  und  Wiegenlieder, 

Kinderreime. 

Mitteilungen  von 

C.  Eber 

in  Oberbronn 

JQj  ia !  Poppeia !  schlof  liewer  ah  du, 

Wa  mer's  nit  glanwe  wit,  laej  mer  emol  zu. 


£ia!  Poppeia!  die  Süpple  sin  gut, 

Wa  mer  brav  Butter,  un  Eier  drin  thüt. 

Ria!  Poppeia!  es  rispelt  im  Stroh, 
S'Katzel  isch  g'storwe,  un  s^Miesel  isch  froh. 

A.  B.  C. 

D'Katz  leijt  im  Schnee. 
D'Schnee  geht  eweck, 
Un  d'Katz  leijt  im  Dreck. 

Büsche,  Batsche,  Küchele, 
D^Muetter  bacht  Küchele; 
Bacht  ganzi  Pfanne  voll. 
Qibt  im  Kindele  au  devon. 

10 


-     134     — 

Ni,  Na,  Bibele 
Koch  im  Kind  e  Süppele ; 
Mach  im  au  e  Gackele  drin, 
Hol  im  au  e  Schöppele  Wyn. 

Eine,  meine,  Dintefass, 
Geh  in  d^Schul  nn  lerne  wass, 
Kummsch  de  heim  an  kannsch  de  nix, 
Ze  wnrsch  de  mit  der  Raeth  g'fizt. 

Lene,  Bene,  Bohnesupp, 
Tra  der  Muetter  d'Eier  fürt; 
Leij  se  uf  de  Offe, 
Morje  wnrsch  getrofife. 

Andere  Variante. 

Leij  se  in^s  Laedel, 
Morje  wm*sch  Soldaetel. 

Reite,  Reite,  üwer  de  Grawe, 

Fallt  er  nein  so  mnss  er^s  hawe. 

Schimele  trapp,  trapp,  trapp, 

Un  schmiss  mer  s^  Kindele  grad  drüwe  nah. 

D'Muetter  sitzt  im  Garte, 
Spinnt  e  grüene  Fade  : 
D'Vatter  sitzt  im  Wirtshüs, 
Süft  alli  Glaesser  üs; 
Z^Nachts  kämmt  er  heim, 
Mit-m-e  krumme  Bein ; 
Steht  e  Schussele  uFm  Disch, 
Luejt  wass  drinne  isch: 
D'Muetter  nimmt  e  Gabel, 
ün  schiebt  im  uf  de  Schnabel. 

Ich  un  du, 
S'Mülleri  Küh, 
S'Becke  Stier, 
Mache  z^samme  vier. 

Eine,  meine,  Doneblatt, 
ünseri  Küh  sin  alli  satt; 
Siewe  Gaise  un  e  Küh, 
Peter  schliess  di  Thür  zu; 
Wirf  de  Schlüssel  üwer  de  Rhin, 
Morje  solPs  guet  Wetter  sin. 

Giks,  Gaks,  Eiermueso, 
D^Gäns  gehn  barfuess, 
Barfaess  gehn  d'  Gans, 
D'Haemmel  han  Schwänz, 
Schwänz  han  d^Haemmel, 


—    135    — 

Ich  sitz  af  m  Schemmel, 
Ufm  Schemmel  sitz  ich, 
D^Nodel  isch  spitzig, 
Spitzig  isch  d^  Nadel, 
D'Katz  hett  e  Wadel, 
£  Wadel  hett  d^Katz, 
Un  d^Ramme  sin  schwarz, 
Schwartz  sin  d^Ramme, 
Scheen  sin  d^Dame, 
D^Dame  sin  scheen, 
Wann  se  in^s  Theater  gehn. 

I  will  der  eb*8  verzaehle, 
Ynn  de  tippe  tappe  Elle, 
Un  de  knrse  Wache. 
Do  han  mer  nix  ze  koche, 
Als  e  stückele  Katzefleisch, 
Ün  e  dürre  Knoche. 

Ritzel,  Ratzel,  Leffelstiel, 
D^jnnge  Wiewer  esse  viel, 
D^Alte  müen  faste; 
S^Brod  leijt  im  Kaste, 
D'Wyn  leijt  im  Keller, 
Wnrd  alle  Taa  heller. 

Haas,  Haas,  leij  mer  e  £i, 
Eins  oder  zwei, 
In  e  bessele  Heu  oder  Stroh, 
D^  noh  bin  i  gar  ze  froh. 

Die  kleinen  Kinder   werden   auf    den    Knieen   geschaukelt,    wobei   man 
ihnen  singt : 

So  reiten  die  kleinen  Herrenkinder. 
Un  wenn  sie  grösser  werden, 
Ze  reiten  sie  auf  Pferden; 
Wenn  sie  grösser  wachsen, 
Ze  reiten  sie  nach  Sachsen, 
Wo  die  schöne  Maidle  wachsen. 

Wenn  ein  Kind  sich  ein  wenig  gestosseu   oder   verwundet  hat,  streicht 
man  die  leidende  Stelle  und  spricht : 

Heile,  Heile  Säje, 

S'Kätzele-n-uff  der  Stäje, 

S^Miesele-n-nfTm  Mischt, 

S^ weiss  nieme  was  im  Kindele-n-isch. 

Heile,  Heile,  Hörn, 

Heilfs  hit  nit,  heilt^s  Mor'n; 

Heile,  Heile,  Kaelwels  Dreck, 

Bis  Moi-je  isch  alles  eweck. 


—    136    — 
Liebesfreud  und  Liebesschmerz 

im  els&ssischen  Volkslied* 

Min  Schatz  isch  von  Adel, 
Heisst  Anne  Marie; 
Hett  hilzen  Wade, 
Un  glesseri  Knie. 

D^Anne  Marie  isch  üewel  dran ; 
D'Anne  Marie  bekammt  ken  Mann ; 
D^Anne  Marie  hett  alles  verklopft, 
D^Bettlad  nn  de  Kaffeetopf. 

Kikeriki,  Bändle  dran, 
Hesch  mi  gennmme,  nmesch  mi  han; 
Hesch  mi  mit-m-e  Baase  gVhlaaae, 
Wart  i  wiirs  de  Maetter  saane. 

Hopp!  Maidel,  hopp!  « 

Wie  loddelt  dir  din  Rock ! 
So  hesch  de  noch  ken  Röckel  g^hett, 
Wie  so  scheen  geloddelt  hett. 

Bolka,  Bolka  tanz  i  gern, 
Mit^m-e  scheene  jnnge  Herrn. 
Isch  es  awer  e  Unteroffezier, 
Deschto  liewer  isch  es  mier. 

Katerinnele !  Katerinnele ! 

Geh  mit  mer  in  dis  Holz! 

Ich  tröaej  der  nit. 

Ich  tröuej  der  nit, 

Di  Büwele  sin  ze  stolz. 

Wart  nur  Bambele,  da  warsch  geharscht, 

Morje  kämmt  die  Tante. 

Bringt  e  Blatt  voll  Lewerwürscht 

Un  die  Musikante 

Bisch  e  scheen  Bürschtel, 
Bisch  e  nett  Bürschtel, 
Awer  min  fi&rsebtel  bisch  de  nit. 
Derfsch  zue  mer  kumme, 
Derfsch  de  Narre  mache, 
Awer  hirothe  thae  i  di  nit. 

E  Schussele,  e  Teller,  an  e  Leffele  derzae, 

Dis  gibt  mer  min  Vatter,  wenn  i  hirothe  thae; 

Un  gibt  er  mer^s  nit, 

Z'hiroth  i  nit, 

Geh  alle  Nacht  zae  de  B  lewe, 

Un  sa^s  im  awer  nit. 


—    137    — 

Siropmaennel  du  bisch  min! 
Wann  i  stirb,  sin  d^Hoesle  din, 
Awer  numme  d*alte; 
D*neje  nimm  i  mit  in*s  Grab, 
DasB  i  an  e  paar  Hoesle  hab. 

Katerinnele  I  Katerinnele ! 
SIFie  hesch  denn  da  din  Mann. 
Im  Dannewald,  im  Dannewald! 
Er  hett  ken  Bosse  an. 

Du  hochfaehrdi  Bürschtel, 
Dn  Stölzl  Krott; 
Wer  hett  di  denn  gennmme, 
Wenn  i  di  nitt  wott. 

Katerinnele!  Katerinnele! 

Steh  nf  an  mach  e  Licht, 

Es  tippelt  eb*s,  es  tappelt  eb^s, 

Mer  meint  es  isch  e  Dieb. 

Es  isch  ken  Dieb,  es  isch  ken  Dieb, 

Es  isch  s*Nochber's  Seppele, 

Der  hett  s'  Katerinnel  lieb. 

Z^Nachts  Hc^n  der  Mond  schint, 

Träppelt^s  m  de  Bracke  : 

Fuhrt  der  flansel  s*  Gretel  heim, 

Mit  de  krumme  Krücke. 

Pfift  die  Küh, 

Danzt  der  Baer, 

D^Essel  alli  drumme. 

Alli  Mys  wie  wyse  Wadel  han, 

Solle  zue  der  Hochzit  kämme 


! 


XIII. 


Elsässische   Sprichwörter 

und  sprichw^örtliche   Redensarten. 

Mitgeteilt  von 

Julius  Rathgeber 

Pfarrer  zu  Neadorf  bei  Strassborg. 


Isch's  wohr  ?  gibt's  Kriej  ? 

Jo,  ze  Betschdorf  gibt's  genüe  an  aa  Hafe. 

Wortspiel  auf  Kriege  und  Krujre.    In    Ober-    und  Nieder- 
betschdorf  werden  bekanntlich  viel  Krüge  verfertigt. 

Volksreime. 

'^'1  Speck  an  Schwärt 

i^  Sin  von  einre  Art. 

r^  Zitter  (seither)  ich  e  Kühjel  (kleine  Kah)  hab' 

l>  Zejt  mer's  Käppel  vor  mer  ab. 

^r  E  Sprichwort 

E  wohr  Wort. 

Mit  ganz  kleine  Axestreiche 
^  Macht  mer  falle  d'dickste  Eiche, 

-  Doch  wenn  d'Eiche  falle  solle 

:•  Mass  mer  d'Streich  oft  wiederhole. 


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—    i:39    — 

Hopsa  Mejele,  hopsasa, 
Komm,  mer  welle  danze, 
Nimm  e  Stückele  Käs  e  Brod 
Steck^s  in  dine  Ranze. 

Der  Tod  nifiess  en  Anfang  han.  —  Uf  de  Leime  gehn. 
Im  Handumkehren.  —  Dis  isch  e  rechter  Dürmel.  (Strassburger 
Ausdruck  um  einen  hochmütigen,  unfähigen  Menschen  zu 
bezeichnen).  —  Er  will  den  Uelrich  rufe.  (Strassburger  Aus- 
druck für  sich  erbrechen.  Im  vorigen  Jahrhundert  lebte  nämlich 
in  Strassburg  ein  gewisser  Dr.  Ulrich,  der  vielfach  in  seiner 
ärztlichen  Praxis  Brechmittel  anwandte).  —  Wenn  d'Düwe 
fürt  sin  (die  Tauben  fort  sind),  ze  macht  mer  de  Schlaa  (den 
Taubenschlag)  zue.  —  Der  Sandmann  (Schlaf)  kummt  d.  h. 
es  ist  Zeit  zum  Schlafengehen.  —  Mer  müess  Eim  nit  vor 
d'Sunn  stehn  welle.  —  D' Kirsche  soll  mer  mit  den  arme  Lit 
un  d'Erbse  mit  de  Riebe  esse.  Sinn :  Am  Ende  der  Saison 
sind  die  Kirschen  und  am  Anfang  derselben  die  kleinen  Erbsen 
gut  und  wohlfeil,  —  Wenn's  Schof  (das  Schaf)  gemetzt  ist, 
ze  kamer*s  nimm!  schere.  —  Mer  soll  nit  Alles  an  Eine  Lappe 
hänge.  (Französich :  II  ne  faut  pas  mettre  tous  les  oeufs  dans 
un  seul  panier). 

Kinderliedchen. 

Trutz  nit  so,  tmtz  nit  so, 

's  knmmt  e  Zit  bisch  Tvieder  froh. 

Trutz  nit  so,  tratz  nit  so, 

's  kummt  e  Zit  wo  du  bisch  froh. 

Mer  welle's  Rössel  b'schlaue 
Wie  viel  Näjel  solPs  denn  han? 
Eins  —  Zwei  —  Drei  —  Vier  — 

Man  schlägt  dann  de:n  Kind  auf  die  Füsschen  und  wiederholt :  Eins 
—  Zwei  —  Drei  —  Vier. 

Die  Voüjele  wo  friiyh  singe  höre  bal  uf.  —  Vanante:  Ion 
bal  noch  mit  pfifTe.  —  E  Flade  (tartine),  e  Butterflade,  e 
Syrupflade.  Flade rer  ist  die  alte  Strassburger  Bezeichnung 
für  Conditor.  Fladerergasse  (rue  des  tartines). 

Wenn  die  Mutter  auf  den  Markt  geht,  so  fragen  die 
Kinder:  «Mame,  was  bringt  sie  mit?»  —  Darauf  antwortet 
die  Mutter:  «E  silwers  Nixele  un  e  goldig's  Wart-e-Wilele» 
(warte  eine  Weile).  Mit  diesem  Spruch  geben  sich  die  guten 
Kinder  gewöhnlich  zufrieden. 


—    140    — 

Hopp,  hopp,  hopp, 
Pferdchen  lai:^f  Galopp ! 
Uewer  Stock  an  üwer  Steine 
Awer  brich  mer  nit  die  Beine. 
Variante :  Awer  brich  nit  Hals  an  Beine. 
Hopp,  hopp,  hopp,  hopp, 
Pferdchen  laaf  Galopp. 

Ramerdi,  Bamerdi,  Holderstock 
Wie  viel  Homer  streckt  der  Bock? 
Antwort  des  Kindes :  Drej. 

Hätt^sch  de  zwei  gerothe 
Hätt'  i  der  e  Hühnel  gebrote. 
Ramerdi,  Bamerdi  a.  s.  w. 

Der  Pfeffer  hilft  im  Mann  afs  Pferd 
ün  bringt  dTraa  anter  d'Erd! 

E  Schelm  gibt  meh  ;als  er  het.  —  Der  Wolf  verliert 
d'Hoor,  awer  d'Nuppe  (die  Ränke)  nit.  —  Konstantinopolita- 
nis'cher  Düdelsackpßfer  (schnell  nacheinander  zu  sagen).  Der 
Richtum  isch  e  Leiter;  wenn  d'Lit  uf  der  eine  Sit  drowe 
sin,  2e  gehn  sie  uf  der  andere  wieder  herab.  —  Wie  mer 
Eine  zejht  ze  het  mer  Eine  (Sprichwort  von  der  guten  oder 
schlechten  Erziehung).  —  Maikäferjohr  gutes  Winjohr  (Bauern- 
Spruch).  —  Der  blost  in's  nämli  Hörnel.  —  Der  kann  esse 
wie  fünf  Drescher.  —  Der  Wolf  frissl  au  d'gezahlte  Schof 
(d.  h.  alle  Schafe,  auch  die  Schafe  der  Heerde).  —  Mer  gehl 
nit  uf  eim  Füess  d.  h.  man  darf  auch  etwas  zweimal  nehmen 
oder  machen.  —  Früh  g'sattelt  un  spot  (spat)  geritte.  —  Mer 
welle  sehn,  het  zeller  Blind'  gsaat.  — 

Wenn  d^Fasnacht  kämmt  bisch  du  min  Mann 
ün  ich  bin  dini  Fraa.  Jüheh ! 

Um  Fastnacht  finden  viele  Bauernhochzeiten  statt;  da 
haben  die  Landleute  noch  freie  Zeit ;  es  ist  noch  keine  schwere 
Feldarbeit  zu  verrichten  und  sie  haben  noch  einen  Vorrat  an 
Wein  und  Feld  fruchten. 

Schwarz  wie  e  Hut  (Hut).  —  Sie  leje  (liegen)  do  wie 
d'Jünger  am  Oelberj  (Oelberg)  d.  h.  sie  ruhen  und  schlafen.  — 

Wenn  e  Wann  e  Ritter  war 
Ze  war  min  Vater  e  Millionär. 

Wenn's  Bäbb'  (Pappe)  reit  (regnet),  ze  het  er  ken  Löffel 
Un  wenn's  Dreck  rejt,  ze  hett  er  zwei 

Sinn:  Er  ist  ein  Pechvogel  oder  wie  man  im  Elsass  sagt  ■€  Schla- 
m  asselvSujeU. 


-    141    - 
Kiaderreim. 

• 

G'Bchenkty  geschenkt,  isch  geschenkt, 
Dreimol  an  de  Ga^e  g^hengt 
Stejele  naf,  Stejele  na, 
Bisa  der  Katz*  den  Wadel  a  (ab) 

Wit  vom  G'schütz  gibt  alti  Soldate.  Variante :  Alti  Kriegs- 
lüt  (Ober-elsässisch). 

Anne  Margredel  het's  Esse  verbrennt 

Isch  mit  dem  Kochlöffel  noch  Molse  gerennt. 

Fünf  e  fufzig  Hechteköpf !  (Kraftwort).  —  Die  kummt 
hintenoch  wie  d'alt  Fasnacht  d.  h.  langsam.  —  Der  isch 
rappelköpfiscb.  — 

Viel  Händ^  mache-ne  geschwindes  £nd! 
Variante:  Flissigi  Hand  bringe  viel  ze-n-£nd! 

Wart'  nur,  wart'  nur,  kummsch  in  de  Bambelsack.  — 
Du  Kalb  Mosisl  —  Dis  isch  e  rechter  Hasefuss.  —  Des  Eine 
Tod  isch  des  Andere  Brot.  —  Mer  müss  nit  mehr  kaufe  als 
mer  mischte  (misten  kann).  (Bauernspruch).  —  Der  Has  isch 
am  liebste  wo  er  gebore-n-isch.  —  s'Mül  wässert  mer  dernoch.  — 

Wo  bache  sie  d'Eierküche  nnr  nf  einere  Sit? 
In  Schirrhein  an  in  Sand. 

In  diesen  beiden  unter-elsftssischen  Dörfern  standen  in  früherer  Zeit 
die  Hftuser  nur  auf  einer  Seite  der  Landstrasse. 

Mer  soll  nit  zürn  Schmiedel  gehen,  sondern  zürn  Schmied 
d.  h.  gleich  zum  rechten  Mann.  Variante :  Mer  soll  nit  zürn 
Schuhmächerle  gehn,  sundern  zürn  Schuhmacher.  — 

Liewer  Ofe  i  bet*  dich  an 

Du  brüchsch  Holz  nn  ich  e  Mann. 

We  mer  mit  em  e  riebe  Herre  Kirsche  isst,  ze  wirft  er 
Eim  d'Stein  in's  G'sicht.  —  Wer  ze  viel  nochdenkt,  der  thüt 
sich  licht  hinterdenke.  — 

Ze  littel  an  ze  viel 
Verderbt  oft's  Spiel. 


—     14:2    — 

In    (lieser   elsässischen    Redensart    kommt    das  Wort  littel 
(altdeutsch  lutzel,  eng^Usch  little  (klein)  vor. 

DJs  heisst  ös*m  Reje  in  d*Dachtraiif  kumme  d.  h.  aus 
Charybdis  in  Scylla  fallen.  —  s'Wasser  het  ken  Balke.  — 
Es  kann  jetz  de  Wert  dervon  nehme  d.  h.  die  Folgen  davon 
traj^^en.  —  Uf  Wej  un  Stej  isch  s'em  noch  gfirt  d.  h,  nach- 
^^elaufen.  —  Er  het  d'Geduld  verlöre  un  hat  s'Hewele  (den 
kleinen  Hebel)  genumme  un  isch  uf  un  dervon.  —  Die  will 
sich  e  Stuhl  im  Himmel  verdiene.  —  Mer  juchzt  ererst  we 
mer  vum  Messti  heimgeht.  —  Der  will  sich  Spore  verdiene.  — 
Eins  het's  Häfele  verhejt  un  s'ander  s'Deckele.  —  Do  gfeht*s 
au  d'Matt'  na,  d.  h.  abwärts.  —  Kreuzbataillon  noch  emoH  — 
Der  will  Sand  noch  Hajenau  traaue.  Variante:  Storke  noch 
Strossburj  traaue-  —  Variante :  Wasser  in  de  Rhin  traaue.  — 
Herrli  zefriede  sin.  —  Wenn  er  de  Soüjfuss  het,  ze  will  er 
d'ganz  Souj.  Variante:  Wenn  mer  dem  de  kleine  Finger  gibt, 
ze  will  er  d'ganz  Hand.  — 

Frage :  Wanderfitzi  sin  was  isch  dis  ? 
Antwort:  Wanderfitzle  sin^s. 

Wenn^s  zwei  sin  beknmmsch  au  eins. 

Wer  gut  isch  kriejt  Prejel  in  der  Kirch'.  —  Der  hebt 
sich  an  ere  tulc  Wand.  —  Sie  guckt  mit  vier  Auje  üs'ra 
Bett  erüs  d.  h.  sie  ist  niedergekommen.  —  Der  hängt  am  e 
goldene  Galje.  —  Am  e  schmutzige  Lumpe  macht  mer  sich 
schwarz.  —  Fuggere  d.  h.  verschachere.  Dieser  Ausdruck 
kommt  vom  Augsburger  Kaufherrn  Fugger  her  und  hat 
sich  bis  heute  im  Elsass  erhalten.  —  Dis  isch  e  grower  Ower- 
länder.  —  E  Luthringer  Pexer.  —  Dis  sin  rechti  Gebii^snickel 
d.  h.  eigensinnige  Gebirgsbewohner.  —  Giftnickel  ist  so  viel 
als  ein  schädlicher  Mensch,  der  verletzende  Reden  ge$^ 
Andere  führt.  —  Nikel  kommt  von  Nikolaus  her.  —  Der  fahrt 
uf  Eine  wie  e  liriger  Drach.  —  's  het  ken  Sach'  d.  h.  es  will 
nichts  bedeuten.  —  Ich  hab'  langi  Zahn  bekumme.  —  Eim 
langi  Zahn  mache,  d.  h.  Lust  machen.  —  D'r  haw'i  iscb 
mer  lieber  als  d'r  hätt'i.  —  Die  hett  e  fül's  Hemd  d.  h.  diese 
Frau  ist  träge.  —  E  Pfarrhös  uf  m  Land  isch  e  Gasthus.  — 
Ich  hab'  Hunger  wie  e  Wolf.  —  Der  (die)  geht  uf  de  letzte 
Fusse.  —  Für  de  Roüje  (für  die  Reue)  gibt  Eim  Nieme  nix. 
—  Was  mer  an  eim  Ort  schejt  (scheut)  dis  het  mer  am  andere 
doppelt.  —  Wenn  de  Zit  lang  hesch  ze  nimm  sie  herum  un 
sitz  druf.  — 

We  mer  so  alt  isch  wie  e  Kah 
Ze  müss  mer  noch  lerne  derzü. 


I 


—    143    — 

Für  d'Ffihr,  fiihrig.  Strasburger  Ausdruck  für :  Zum  Spass, 
scherzhaft.  —  Mer  inijs  *s  Beseht  hoffe  's  Bös  kummt  vun  ase 
(a  se,  von  selbst).  —  Do  geht's  noch  de  Note  d.  h.  pünktlich 
und  genau.  —  Wer  nil  esse  will,  der  hett  gesse.  (Von  Dienst- 
boten, die  der  Herrschaft  immer  sagen,  sie  wollen  nichts  mehr, 
sie  seien  satt.  —  Er  isch  durch  d'Latte  gange  d.  h.  auf  und 
davon.  —  Wie  mer  d'Kinder  zejht  (zieht)  so  het  mer  sie.  — 
Der  het  au  in's  Gras  müen  hisse  d.  h.  sterben.  —  E  Wunder! 
—  Dis  kummt  in's  Wucheblättel.  Variante:  in's  Blattei.  — 
Variante:  in  de  Kalender.  —  Dis  isch  eb's  für's  Bibbelspiel. 
(Puppenspiel).  —  d'Sunn  tribt  ken  Bür  zum  Land  nüs,  awer 
der  Reje.  —  Mit  Schmiere  un  mit  Salwe  (Salben).  —  Der 
het  de    Lunte  g'schmeckt.    — 


XIV. 


Münsterthäler   Sprachproben . 

Sprichwörter. 


(Fortsetzung  von  Jahrgang  II,  Seite  166 — 169.) 


I^litgftleilt  von 


J.  Spieser. 


xJie  nachstehend  abgedruckten  im  Münsterthal  gangbaren 
Sprichwörter  sind  nach  denselben  Grundsätzen  gesammelt  wie 
die  85  bereits  früher  mitgeteilten.  Es  kam  dem  Sammler  vor 
Allem  darauf  an,  zuverlässige  Sprachproben  zu  bieten ;  aus 
diesem  Grunde  wurde  auch  vieles  mit  aufgenommen,  was  dem 
Münsterthale  nicht  eigentümlich  ist.  £s  dürfte  übrigens  für 
den  Sammler  ziemlich  schwierig  sein,  bei  jedem  einzelnen  Sprich- 
wort festzustellen,  ob  dasselbe  nicht  auch  noch  irgendwo  ausser- 
halb der  Gegend,  in  der  er  sammelt;  vorkomme. 

Die  nachfolgenden  Sprachproben  sind  in  der  Mundart  des 
Dorfes  Mühlbach  geschrieben.  Dabei  sind  die  Abweichungen 
der  Sulzerer  Mundart  angemerkt.  Um  aber  die  Zahl  der  An- 
merkungen nicht  allzugross  zu  machen,  sind  nur  die  unregel- 
mässigen Abweichungen  angegeben.  Wollte  jemand  die  folgenden 
Sprachproben  in  Sulzerer   Mundart   übertragen,   so   müsste  er 


—    145    - 


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verwandeln.  Samtliche  Ausnahmen  hiervon  sind  im  folgenden 
genau  angemerkt.  (Vgl.  im  vorigen  Jahrgang  Seite  127  und  128.) 
Einige  von  den  85  Sprichwörtern  in  Jahrgang  II,  bei 
denen  Druckfehler  vorgekommen  waren,  oder  die  ich  seither 
in  anderer  Form  gehört  habe,  sind  hier  wiederholt  worden. 

5.  auch :  9  kyuti  ysr^t  Mi  Eine  gute  Ausrede  schadet 
nit.*  nichts. 

6.  auch:  ai*  späts  e  tar  haig  Ein  Spatz  in  der  Hand  ist 
es  pesar  äs  tsänas  üf  »m  täX-  besser  als  zehn  auf  dem  Dache. 

14.  kryos  ü  Hetarli  sai  tswäi  Gross  und  liederlich  sind 
fälar.  zwei  Fehler. 

42.  wä'  mar  äim  net  holt  Wenn  man  einem  nicht  hold 
esy  st^kt  mar  äim  k(h)^  m^ia.   ist,    steckt    man    ihm    keinen 

Strauss  (bekränzt  man  ihm  das 
Haus  nicht). 

43.  auch:  wä'  mar  a  paiQala  Wenn  man  einen  Knüttel 
ärfiT  a  hart  süi  werft,  prielt  unter  eine  Herde  Schweine 
nämd'A  tie,  wü  s  ket.  wirft,  schreit  nur  die,    welche 

er  trift  («giebt»). 

44.  auch :  wä'  mar  1a  säta  Wenn  man  den  Schaden  hat, 
hfet,  tferf  mar  net  fer  ta  Spot  braucht  man  für  den  Spott  nicht 
sorja.  zu  sorgen. 

50.    auch  :    wän    a    saY;^sal       Wenn       eine       Brennnessel 
sarja  wel,  saiQalt  sa  äsa  kläin.    brennen  will,  brennt  sie,  wäh- 
rend sie  noch  klein  ist. 

*  Wo  aber  in  M.  yü  für  yo  steht  (vor  m  oder  n),  da  entspricht 
in  S.  nicht  y9,  sondern  ü :  früne  frohnen ;  jümara  jammern ;  jün 
«Jahn»,  schmaler  Streifen  eines  Ackers :  lün  Lohn;  plüna  lichte  Stelle 
im  yTald;  süma  Same;  trüm  Balken;  tun  Ton;  üm&/tik  ohnmächtig. 

**  Doch  nnr  im  Auslaut :  kä, :  k&  geben  ;  sä :  s&  sehen ;  k.s&  :  ksä. 
geschehen  n.  s.  w. ;  im  Inlaut  steht  für  Mülbacher  k  in  Salzern  stets 
ai ;  vgl.  ausser  Anm  21  noch  :  fylaitsd  faallenzen,  haipfal,  pl  von 
häpfal  Hand  voll ;  laipa  Wampe ;  plaipla  lose  hängen ;  praitsd  nach 
Brand  riechen ;  §laip9  eine  Art  Thürverschluss ;  staipfdl  Stempel ; 
waitla  Wanze. 


-^    146    — 

57.  auch  :   was  mar  erwipt,       Was   man   erweibi,    braucht 

pry/t  mar  net  tsa  arhysa.  man  nicht  zu  ersparen. 

59.  was  mar  net  wfeis,  mkyt       Was  man  nicht  weiss,  macht 

^im  net  h^is.  einem  nicht  heiss. 

75.  wie    tar   man    es,    es    s       Wie  der  Mann   ist,   sind  die 
kSer.  Werkzeuge. 

76.  hlkana*  hai  khürtsi  pfein.       Lügen  haben  kurze  Beine. 

77.  nüia    [oder    nüii]     pdsa       Neue  Besen  fegen  giit   (at»er 
fäia  kyut  (äwar  net  ys  äla  ^k).«  nicht  aus  allen  Ecken). 

78.  in  S. :  wör  kyat  smiert,       Wer  gut  schmiert,  der  wohl 
\kr  wViwal  fiert.  fahrt  (transitiv). 

81.  wän  s  am  ^sal  tsa  wyol       Wenn  dem  Esel  zu  wohl  ist, 
es,  ki^t  ar  uf  ta  is  tätsa.  geht  er  auf  das  Eis  tanzen. 

84.  was  mar   net  e  tar   hat)       Was  man  nicht  in  der  Hand 
het,  kha  mar  net  h^wa.  hat,  kann  man  nicht  halten. 

86.  §li«   myol    farwe(t)§a    e§       Einmal  erwischen    ist   keine 
kh^  khiUt.  Kunst. 

87.  ai «  när  mäyt  tsäna.  Ein  Narr  macht  zehn. 
< «                 '' 

88.  äma  ieta^    när   kfalt   si       Einem  jeden   Narren   gefallt 
khäp.  seine  Kappe. 

89.  äma     kalierla     es    kyüt       Einem    Gelehrten    ist   leicht 
prötja.8  predigen. 

90.  äma  ksar^kta  ros  lyükt  Einem  geschenkten  Pferd 
mar  net  e  s  myl.  sieht  man  nicht  in  den  Mund. 

91 .  ä  ma  ryüsika  khamat  khd  An  einem  russigen  Kamin 
mar  ai  net  syfar  riwa.  kann  man  sich  nicht  rein  reiben. 

92.  am  hornü-r;  s6t  mar  liewar  Im  Februar  sieht  man  lieber 
a  wolf  äs  a   man    Ana  wamst,   einen    Wolf    als    einen    Mann 

ohne  Wams. 

93.  am  hür^ar  es  kyüt  kho/a.       Dem  Hunger  ist  leicht  kochen. 

94.  am  sümar,  wän  ti  prama  Am  Sommer ,  wenn  die 
stay^a,  müs  mar  spräYja  met  am  Bremsen  stechen,  muss  man 
ra^a;  net  am  wäjtar  met  am  laufen  mit  dem  Rechen;  nicht 
s^il,  ün  fryoka  :  ^  «es  kh^  hoi  am  Winter  mit  dem  Seil  und 
tyo  föil?».  fragen  :  «Ist  kein  Heu  da  feil?». 

95.  ä  sina  p6ra  nämt  mar  s,  An  den  eigenen  Birnen  nimmt 
we  ätarlita  täika.  mans  ab,  wie  die  anderer  Leute 

weich  werden. 

96.  a  fätar  khä  sewa  khein  Ein  Vater  kann  sieben  Kinder 
arhälta,  äwar  sewa  khein  kh6  erhalten,  aber  sieben  Kinder 
fätar.  keinen  Vater. 


-     447    — 

97.  d  freiar  wäjtar  sieift  a  Ein  früher  Winter  schleppt 
lärfiT  wätal  nyor«  lo  einen  langen  Schwanz  nach. 

98.  9  ietar^  arnt,  was  ar  Ein  jeder  erntet,  was  er  gesät 
ksäit  bet.  hat. 

99.  a  khyü  es  we  '*  säk.  Eine  Kuh  ist  wie  ein  Sack, 
wä'  marniti  tri  tyüt,  kh^  mar  wenn  man  nichts  darein  thul, 
nit  I  rvs  nama.  kann  nichts  heraus  nehmen. 

100.  a  knäyi  im  a  mäkt  ün  Ein  Knecht,  eine  Magd  und 
»  stroihvül  säi  näma*  fer  a  ein  Strohhut  sind  nur  für  ein 
jyor  kyüt.  Jahr  gut. 

dOl.  9  krop  khernia  tript  a  Ein  grobes  Körnchen  treibt 
kröwari^  hälma.  einen  groben  Halm. 

102.  a  kyülar  dwisar  es  pesar  Ein  guter  Anordner  ist  besser 
äs  a  slä"/tar  §afar.  als  ein  schlechter  Arbeiter. 

103.  a  kyüiar  nyo^par  es  Ein  guter  Nachbar  ist  besser 
pesar  äs  a  witar  frait.  als  ein   entfernter  Verwandter. 

104.  a  kyiilar  wäi  es  nel  wit  Ein  guter  Weg  ist  nicht  weit 
um.  um  (kein  grosser  Umweg). 

105.  a  kyüt  worl  far|t  a  kyüt  Ein  gutes  Wort  findet  einen 
ort.  guten  Ort  (eig. :  ein  gutes). 

106.  a  maTjar  hb\  a  kyüti  Mancher  hat  eine  gute  Kuh 
khvü  ün  weis-a-s  net.  -und  weiss  es  nicht. 

107.  a  maY;dr  s^t  met  eim  Mancher  sieht  mit  einem 
oik  mi^r  äs  a  ätarar  met  tswei.    Auge  mehr  als  ein  Anderer  mit 

zweien. 

108.  a  mar^ar  kät  a  oik,    tar       Mancher  galje  ein  Auge,  der 

ätar  hat  '^  khäns.  andere  hätte  keines. 

« 

109.  a  r)üt  mäyi  ti  knäpa  Eine  Rute  macht  die  Kinder 
kyüt.  gut. 

110.  e  tam,  wü  älas  wel  Sinn  :  «Wer  alles  wissen  will, 
wesa,  würt  krät  üf  ti  näs  k§  . . .   erfahrt  gerade  am  wenigsten.» 

111.  e  ta  ärma  lit  6ri  khäs  Der  armen  Leute  Käse  und 
«n  e  ta  ri/a  lit  6ri  möitlar  säi  der  reichen  Leute  Töchter  sind 
am  ^rsta  tsitik.  am  ersten  reif. 

112.  o  ÜT]karä/tdr  pfanik  frest  Ein  ungerechter  Pfennig  ver- 
tsä  J5  jitara.  zehrt  zehn  andere. 

c  ( 

113.  ewaräl  es  epas.  Ueberall    ist    etwas    (auszu- 

setzen). 

114.  ewaräyt  es  net  farsältsa.       Gerade  recht    ist   nicht    ver- 

salzen. 


—    148    — 

115.  fkm  w^is9  l^ia  ti  hienar  Vom  Weizen  legen  die  Hüh- 
ür^kh^isa,  äwar  fäm  khorn  ör§  ner  ungeheissen,  aber  vom 
morn.  Roggen  erst  morgen. 

llö.  farpänti  maipfal  sai  o  Missgönnte  Bissen  sind  auch 
kyut.  gut. 

117.  fil  hüin  s^i  am  häs  si  Viele  Hunde  sind  des  Hasen 
tyol.  '  Tod. 

118.  fil  prietar  mä^a  §mäli  Viele  Brüder  machen  schmale 
kietar,  ün  fil  sw^^tar'  wänik  Güter,  und  viele  Schwestern 
s^Star.  wenig     cSester»    (Flächemnaas 

=  5,20  Ar). 

119.  for  am  t^ifal  khä  mar  Vor  dem  Teufel  kann  man 
si  psÄia,  äwar  for  ta  piäsa  lit  sich  besegnen,  aber  vor  den 
net.  bösen  Leuten  nicht. 

120.  för  tar  t6r  e§  tysa.  Vor  der  Thüre  ist  draussen. 

121.  frei^i  wüina  säi  kyüt  Frische  Wunden  sind  leicht 
heila.  '  heilen. 

122.  «häti*  i  kawesl!»  khümt  «Hätte  ich  gewusst !»  kommt 
här^a  nyor.  *o  hinten  nach. 

123.  kapränti  khein  P^xta  s  Gebrannte  Kinder  fürchten 
fir.  das  Feuer. 

124.  klfein  ü  khak  werft  mar;-  Klein  und  keck  wirft  oft 
myol  a  kryosar  e  ta  trak.  einen  Grossen  in  den  Dreck. 

125.  kryosi  maipfal  kai  fäisja  Grosse  Bissen  geben  (machen) 
fökal.i5  *'  "  feiste  Vögel. 

126.  kryt  feit  e  ta  pyüwa  ti  Kraut  füllt  den  Knaben  die 
hyt.  Haut. 

127.  Idtskapryx  es  o  a  ks^ts.       Landsgebrauch  ist  auch   ein 

Gesetz. 

128.  mani/a  säi  frein  met  Manche  sind  verwandt  mit 
natar,  pets-a-s  ä  s  t^ila  ki^t.       einander,  bis  es  ans  Teilen  geht. 

129.  mar  es  näma*  äi*  tyot  Man  ist  nur  einen  Tod 
sültik.  schuldig. 

130.  mar  khänt  ta  fokal  ><  ä  Man  kennt  den  Vogel  an  den 
ta  fatara  ün  ti  mis  ä  ta  watal.   Federn  und  die   Mäuse  an  den 

Schwänzen. 

131.  mar  mölt  ta  t^ifal  äla-  Man  malt  den  Teufel  immer 
wi!  nä  swfertsar,  äs  ar  es.  noch  schwärzer,  als  er  ist. 

132.  mar  müs  älawil  am  Man  muss  immer  dem  Nach- 
nätsto    wora.  sten  wehren. 


—    149    — 

133.  mar  müs  älawil  a  hair;  Man  muss  jedesmal  eine  Hand 
hä,"^ä'  mar  wel  a  fyst   mkyijd.  haben,    wenn    man    will    eine 

Faust  machen. 

d34.  mar  müs  älawil  mäxa,  Man    muss    immer    machen, 

äs  ti  khelix  am  lorf  plit.  dass  die  Kirche  im  Dorf  bleibt. 

135.  mar  müs  älawil  s  kyüt  Man  muss  immer  das  Gute 
wärtai''  sä,  s  slä^t  khümt  ^ina-  erwarten,  das  Schlechte  kommt 
wai.  ohnehin. 

136.  mar  müs  ti  froi  pim  Man  muss  die  Frau  beim 
äi^ta  l^iwla  pryot  tsika.  ersten  Laib  Brot  ziehen. 

137.  mar  müs  tsüm  smet  Man  muss  zum  Schmied  ge- 
ki^,  net  tsüm  smetla.  hen,    nicht   zum   Schmiedchen. 

138.  mis  mäyjd  mis.  Mäuse  erzeugen  Mäuse. 

139.  nits  es  kyüt  fer  oika-  Nichts  (Augennichts)  ist  gut 
wne.  für  Augen  weh. 

140.  nys  met,  was  khe  hys-  Hinaus  mit,  was  keinen 
tsäis  treit !  Hauszins  trägt ! 

141.  p^sar  a  lys  am  kryt  äs  Besser  eine  Laus  im  Kraut 
kär  khe  spak.  als  gar  keinen  Speck. 

14*2.  pesar  a  slekla  pryot  am  Besser  ein  Stückchen  Brot  in 
säk  äs  a  mei«)  üf  am  hyüt.  der   Tasche   als   einen   Strauss 

auf  dem  Hut. 

143.  pesar  ewal  kareta  äs  Besser  schlecht  gefahren  als 
kyüt  kalofa.  gut  gegangen. 

144.  pi  fila  herta  würt  slä^t  Bei  vteZen  Hirten  wird  schlecht 
khiet.  gehütet. 

145.  pim  patla  farterpt  mar  Beim  Betteln  verdirbt  man 
net,  äwar  mar  würt  ÜYjwärt.       nicht,  aber  man  wird  unbeliebt. 

146.  ryüwa  sai  kyüt  fer  ti  Rüben  sind  gut  für  die 
pyüwa.  Knaben. 

147.  s  es  khö  mäia  so  kyüt,  Es  ist  kein  Mai  so  gut,  es 
s  sneit  am  hert  nä  üf  la  hyüt.    schneit  dem  Hirt  noch  auf  den 

Hut. 

148.  s  es  pesar,  mar  nämt  a  Es  ist  besser,  man  nimmt 
torn  e  s  hvs,  äs  hvslit:  mar  einen  Dorn  ins  Haus  als  Miet- 
kha  na  nä  wetar  nyskheia,  wän  leute  ;  man  kann  ihn  noch 
ar  ^im  näm  kfält.  wieder  hinauswerfen,    wenn  er 

einem  nicht  gefallt. 

149.  s  bet  älas  si  sä^.  Es  hat  Alles  Mass  und  Ziel. 

150.  s  het  nä  nie  khe  wolf  Es  hat  noch  nie  ein  Wolf 
ta  wäilar  kfrasa.  den  Winter  gefressen. 

11 


—    450    — 

151.  s  het  sü  mar^myol  a  Es  hat  schon  manch  mal  ein 
pleinar  9  rosisa  kfur^d.  Blinder  ein  Hufeisen  irefunden. 

152.  s  khiuni  khe  inrflvot  iif  Es  kommt  kein  Vie!lra.sj<  auf 
li  walt,  ar  wurt  üfk9tsü(ka).  die  Welt,  er  wird  (als  solclier) 

erzogen . 

453.  s  kien  fil  katüllja'»  Syof  Es  gehen  viele  geduldige 
e  äi*  stäl.  Schafe  in  einen  Stall. 

454.  so  läTi  äs  ti  wara  för  So  lange  die  Werren  vor 
j^rjatä  wika,  mien  sa  nyohär  Georgstag  (23.  April)  j<chreien, 
na  wetar  swika.  *^  so    lange    müssen   sie    nachher 

noch  wieder  stille  sein. 

455.  sunapiek  mäxt  ta  raia  Sonnenhlick  macht  den  Regeo 
tek  dick. 

450.  s  würt  fä  tar  khelp  Es  wird  von  der  Kiixrhweih 
karfet,  pets  (äs)  sa  khümt.  geredet,  his  (dass)   sie   kommt. 

457.  tär,  wü-n-am  si  sa)r  lost  Der,  welcher  sich  sein  Eigen- 
nama,  e.s  sa  lietarli  äs  tär,  wü  tum  lasst  nehmen,  ist  so 
s  am  nämt.  schlecht    als    der,    welcher  es 

ihm  nimmt. 

458.  tar  ferst  khoif  es  tar  Der  erste  Kauf  ist  der  Beste, 
pest. 

459.  tar  hyo)rmyut*o  es  ätl-  Der  Hochmut  ist  herrenlos 
mar<  (s  khä  a  ietar  7  tarfö  nama,  (Gemeindegut)  (es  kann  ein 
sa  fil  äs  ar  wel).  jeder  davon  nehmen,  so  viel  er 

will). 

460.  tar  man  kha  net  met  Der  Mann  kann  nicht  mit 
ros  ü  wäka  artsyü  fiei'a,  was  ti  Pferd  und  Wagen  herzuführen, 
froi  am  ferla  fürt  treit.  was  die  Frau  in    der   Schüne 

forttragt. 

161.  tar  pest  hätal  21  es  nit'  Dei*  heste  Streit  ist  nichts 
nüts.  nütze. 

162.  tar  poim  fält  net  fäm  Der  Baum  fallt  nicht  vom 
ersta  streiy.  ersten  Streich. 

163.  ti  älta  khei  kai  ti  meli^,  Die  alten  Kühe  geben  die 
u  ti  jÜYja  hienar  Ifeia  li  feiar.       Milch,  und  die  jungen  Hühner 

legen  die  Eier. 

464.  ti  krys  kiet  ä  ta  pürna,  Der  Krug  geht  an  den  Brnn- 
pets  (äs)  sa  farheit.  nen,  bis  er  zerbricht. 

465.  ti  weif  pisa  änatar  nel.       Die   Wölfe    beissen  einander 

nicht. 

466.  tsa  nayt  säi  äli  khätsa  Nachts  sind  alle  Katien 
swärts.  schwarz. 


—     151     — 

167.  tsyü  kyül  (si),  e§  a  Zu  jrul  (sein)  ist  ein  Stück 
§tek  ta  tar  lietarlikh^it,  oder :  von  der  Liederlichkeit ;  oder : 
tsyü  kyül  es  o  nit.  i  zu  gut  ist  auch  nichts. 

168.  ümkakhiört  s^  es  o  kfär^,  Umgekehrt  ist  auch  gefahren, 
(äwar  net  krät).  (aber  nicht  gerade). 

169.  um  s  kalt  p9khümt  mar  Um  das  Geld  bekommt  man 
tsükdr.  Zucker. 

170.  um  s  kalt  sär|t  mar  6im  Um  das  Geld  schindet  man 
a  ^sal,  ü  met  kawält  har^kt  mar  einem  einen  Esel,  und  mit  Ge- 
a  keis  am  wätal  üf.  walt     hängt     man     eine   Ziege 

am  Schwanz  auf. 

171.  wü'  mar  ewar  epar  nit  1  Wenn  man  über  jemand  nichts 
weis,  müs  mar  näma^  wärta^^  weiss,  muss  man  nur  warten, 
pets  (äs)  sa  wai  höjrtsit  mä/a.   bis  er  heiraten    will    («sie    h. 

wollen»). 

172.  wä*  mar  fäm  wolf  ret,  Wenn  man  vom  Wolf  redet, 
es  ar  wit  etar  nyot.  ist  er  weit  oder  nahe. 

173.  wä'  mar  wel  hö^tsit  Wenn  man  heiraten  will, 
mä/a,  müs  mar  era  tswfei  sä.        muss  man  zu  zweien  sein. 

174.  wän  einar  khätsameli*/  Wenn  einer  Katzenmilch  ge- 
ksoka  h^t,  kh^-n-ar  s  mysa  sogen  hat,  kann  er  das  Mausen 
net  losa.  nicht  lassen. 

175.  wän  a  pär  änatar  f6r-  Wenn  zwei  einander  vor  das 
nama,  sa  khünit  einar  mäm  Gericht  nehmen ,  so  kommt 
hamp  tarfii,  ü  tar  atar  müs  einer  mit  dem  Hemd  davon,  und 
nätik  loifa.  derandere  muss  nackend  gehen. 

« 

176.  wän  s  loip  üf  ta  pari  Wenn  das  Laub  auf  den  Ber- 
tsama  khümt,  ket  s  ür^watar.      gen    zusammen     kommt    (von 

beiden  Seiten  des  Berges  vor- 
dringend, den  Gipfel  erreicht), 
gibt  es  Unwetter. 

177.  wän  s  tÜY;art  üf  ti  plüta  Wenn  es  donnert  auf  die 
herst,  fära  ti  malkar  [oder  kahlen  Sträucher,  fahren  die 
khümt  s  fe]   spyot   üf  ti  ferät.   Melker   [kommt  das  Vieh]  spät 

auf  die  Firste. 

178.  wän  tar  khopf  awak  es,  Wenn  der  Kopf  weg  ist,  hat 
het  s  fetla  firyowa. »  das  Hinterteil  Feierabend. 

179.  wän  tar  par  am  lie/tmas  Wenn  der  Bär  an  Lichtmess 
ti  sün  arplekt,  müs  ar  na  wetar  (2.  Febr.)  die  Sonne  erblickt, 
seks  wüx.a  e  s  lo-/.  muss    er    noch     wieder    sechs 

Wochen  ins  Locii. 


1 


-  IM   — 

180.  wän  tar  patlar  üf  s  ros  Wenn  der  Bettler  auf  das 
khümt,  rit  ar  hi^ar**  äs  tar  Pferd  kommt,  reitet  er  höher 
h^r.  als  der  Vornehme. 

481 .  wän  ti  myos  fol  es,  loift  Wann  die  Mass  voll  ist,  läuft 
S8  ewar.  sie  über. 

18^2.  wän  tswei  wiwar  tsama  Wenn  zwei  Frauen  (in  einer 
khüma,  e§  ^in  tsa  fil.  Haushaltung)    zusammen   kom- 

men, ist  eine  zu  viel. 

183.  was  e  tar  kswänta  [oder  Was  in  der  Eile  geschieht, 
11]  kset,  hfet  eina  läYj  tarwil  tsa  hat  man  lange  Zeit  zu  bereuen, 
ruia. 

184.  was  mar  ä  feim  ort  .Kit,  Was  man  an  dem  einen 
far^t  mar  am  Atara.  Orte    scheut,    findet    man    am 

andern. 

185.  was  mar  es,  weis  mar.  Was  man  ist,  weiss  man, 
äwar,  was  mar  wära  kha,  net.   aber  was    man   werden   kann, 

nicht. 

186.  was  mar  kha  par  pa-  Was  man  kann  bar  bezahlen, 
tsäla,  e^  net  tsa  tir.  ist  nicht  zu  teuer. 

187.  was  päta  öina  ti  f^rtals,       Was  helfen  einem  die  Kunst- 
wä'  mar  sa  net  pryyt?  griffe,  wenn  man  sie  nicht  ge- 
hraucht? 

188.  was  tar  man   müs    met       Was   der    Mann    mit    Pferd 
ros  ü  wäka  artsyü  fiera,  khä  ti   und  W^agen  herzufahren  muss, 
froi  mäm  khoylfefal  fariera.  kann  die  Frau   mit  dem  Koch- 
löffel zerrühren. 

189.  wör  am  nätsta  am  fir  W^ei*  am  Nächsten  am  Feuer 
e§,  w^rmt  si.  ist,  wärmt  sich. 

190.  wör  e  niema  trüit,  e  Wer  niemand  traut,  dem  ist 
tarn  es  o  net  tsa  truia.  auch  nicht  zu  trauen. 

191.  w^r  fil  afäTf;t,  höt  fil  ys-  Wer  viel  anfangt,  hat  viel 
tsamä)ra.  auszumachen. 

192.  w^r  khö  katäi^ka  het,  Wer  keine  Gedanken  hat, 
hat  fie^.  hat  Füsse.    (War  zerstreut  ist, 

macht  zwei  Gänge   für  einen.) 

193.  wei'  khöla  pränt,  würt  Wer  Kohlen  brennt,  wird 
swärts.  schwarz. 

194.  wer  rar;  kloil,  wiirt  rä/j  Wer  leicht  glaubt,  wird  leicht 
psesa  [oder  aksmiert].  betrogen. 

195.  wer  nit  wyokt,  2^  ka-  Wer  nichts  wagt,  gewinnt 
wänt  nit.i  nichts. 


—    153    — 

196.  wer  si  weis  ts»  k^eka,  Wer  sich  zu  benehmen  weiss, 
hM  älawil  ts9  peka.  hat  immer  zu  picken  (naschen) 

(hats  immer  gut). 

197.  wer  ti  hart  anämt,  müs  Wer  die  Herde  annimmt, 
0  hieta.  muss  sie  hüten. 

198.  wü  kanyü  es,  tselalt  Wo  genug  ist,  streut  man 
mar  am  hut  pfafar  iif  ti  süp,  dem  Hund  Pfeffer  auf  die 
ü  spretst  ti  sfü  met  el.  Suppe,    und   spritzt  die  Stube 

mit  Oel. 

199.  wü  roix  eS,  es  fir.  Wo  Rauch  ist,  ist  Feuer. 

200.  würt  mar  alt  we  khyü,  Wird  man  alt  wie  eine  Kuh, 
li^rt  mar  ewa  hälwar[s]tsyü.        lernt  man  eben  kaum  genügend. 

201.  ys  ama  für^ka  mä/t  mar  Aus  einem  Funken  macht 
a  fir.  man  ein  Feuer. 


Anmerkungen  (Abweichungen  der  Sulzerer  Mundart) :  ^  nitB. 
'  äi.  3  tsena.  ^  nüma.  ^  lyakend.  ^  nüia  pä.&a  fäie  wüwoli 
äwdr  ti  alt»  wes©  ti  weYjkel  wüwol.  '«o  odei*  auch  jlte,  tum.  jetar. 
Spretika.  ^fröka.  lo  nüwa.  ii  wie-n-9.  i^krowar.  i^tse. 
"hat  15 fäisika  (fäisiki)  fäil.  icfoil.  Hwärto.  iskatülüki. 
19  so  laTfj  ks  ti  wara  för  jerjatä  sreia,  mien  sa  nüwahär  nä  wetar  stel 
86  (wika  nnd  swika  sonst  nngebräuchlichK  ^^hö/myat.  ^^  haital. 
«2  ümkakhört.        2»  firöwa.        24  he/.ar.        25  wökt.  ' 


XV. 


Zum  Elsässischen  Idiotikon 


iJas  Wörterbuch  dei*  elsässischen  Mundarten,  zu  des.<en 
Herstellung  wir  im  Jahrbuche  des  Vogesenclubs  für  1887  aul- 
fordeilen  und  übei'  dessen  Plan  der  inzwischen  verstorbene 
Dr.  Mankel  in  der  allgemeinen  Sitzung  desselben  Jahres  einen 
trefflichen  Vortrag  gehalten  hat,  darf  jelzt  durch  die  Fürsorge 
Sr.  Excellenz  des  Herrn  Staatssekretärs  v.  Puttkamer  auf  die 
Unterstützung  des  Landesverwaltung  rechnen.  Am  ü.  Märad.J. 
bescbloss  der  Landesausschuss  diesem  Wörterbuch  eine  Summe 
von  2000  Mark,  zunächst  für  dieses  Jahr  zuzuwenden,  wovon 
nach  dem  Antrag  der  Herausgeber,  des  Herrn  Reallehrers 
H.  Lienhart  und  des  Unteraeichneten,  die  Hälfte  wesentlich  zur 
Entschädigung  der  beim  StoÜsammeln  sich  Beteiligenden  be- 
stimmt ist.  Wir  arbeiteten  eine  «Anleitung  zum  StofTsammeln^ 
ans,  wovon  Exemplare  jederzeit,  ebenso  wie  Musterzettel,  bei 
uns  zu  Gebote  sleh»in  sollen;  ich  hielt  am  16.  Mära  im  Volks- 
bildungsverein zu  Strassburg  einen  Vortrag  über  das  Unter- 
nehmen, welcher  in  der  «Strassburger  Postj^  vom  23.  März 
zum  Abdruck  kam ;  ich  empfahl  die  Beteiligung  daran  in  der 
Allgemeinen  Versammlung  des  Unterelsässischen  Lehi'ertags  am 
16.  Mai.  Herr  Lienhart  besprach  das  Werk  in  den  «Neuesten 
Nachrichten»  vom  6.  und  9.  Mai.  Wir  hoffen,  noch  öfter  in 
diesem  Jahrbuch  auf  die  Angelegenheit  zurückkommen  zu  dürfen 
und  wünschen,  dass  die  von  vielen  Seilen  uns  ))ereits  ausge- 
sprochene und  liethätigte  Teilnahme  sich  fernerhin  erhalten  und 
noch  weiter  verbreiten  möge.  E.  Martin. 


—     155    - 

Unseren  Mitarbeitern  mögen  die  folgenden  Beispiele 
zeigen,  wie  die  Zette]  t'ör  die  Sammlungen  auszufällen  sind. 
Der  Schreibung  des  mundartlichen  Wortes  nach  der  gewöhn- 
lichen Art  ist  die  nach  Kräuters  System  in  eckigen  Klammern 
beigefügt.  Die  Abkürzungen  sind  die  allgemein  üblichen  :  m.  r= 
masculinum,  f.  =  femininum  u.  s.  w.  Rda.  =  Redensart. 

Die  Beispiele  sind  teils  aus  der  Zomthaler  Mundart  ent- 
nommen (Z.,  von  Herrn  Lienhart  beigesteuert),  teils  aus  der 
strassburgischen  (Str.),  und  im  letzteren  Fall  meist  aus  Ar- 
nolds « Pfingstmontag]».  Die  Zahlen  weisen  dann  auf  Aufzug 
und  Auftritt. 

Geere  [Kere]  Schoss 

m.  i.  Schoss:  sitz  m'r  uf  de  Geere  [sets  mar  üf  ta  K^ra] 
setz  dich  auf  meinen  Schoss;  juu,  dem  schiszt  merr  in  de 
Geere  [jü,  lem  ^ist  mar  en  ta  Kera].  2.  Schossstück,  welches 
vorn  in  einen  Frauenrock  eingesetzt  wird,  wenn  der  vor- 
handene Stoff  nicht  ausreicht;  da  die  betreffende  Stelle 
durch  die  Schürze  verdeckt  wirdj  kann  dasselbe  auch  an- 
dersfarbig sein  als  der  Rock  selber ;  ich  hab  mV  e  nöüe 
Geere  in  d'Kutt  gsetzt  [ex  häp  mar  a  noeya  K^ra  en  t 
Khüt  ksetst].  Z. 

.    Letzel  [Letsal]  Alpdrücken 

n.  Alpdrücken,  nach  der  Vorstellung  des  Volkes  eine  unsicht- 
bare Hexe ;  's  Letzel  süft  am,  an  ere  [s  Letsal  syft  am, 
änara] ;  das  Letzel  säuft  an  ihm,  an  ihr,  wie  der  Säugling 
an  der  Brust  der  Mutter.  Um  dasselbe  zu  vertreiben,  wird 
von  einer  zweiten  Person  ein  über  ein  brennendes  Licht 
gestellter  Topf  abgehoben ;  sowie  es  im  Zimmer  hell  wird, 
verschwindet  das  Letzel.  Die  Mädchen  legen  ihre  Kunkel, 
die  Knaben  eine  Peitsche  an  das  Fussende  des  Bettes,  um 
das  Letzel  fern  zu  halten,  und  den  kleinen  Kindern,  die 
sich  nicht  selbst  zur  W^ehr  setzen  können,  werden  Teile 
ihrer  eigenen  Exkremente  auf  die  Brustwarzen  gebunden, 
damit  das  Letzel  sie  nicht  plagt.  —  Dieser  Aberglaube  ist 
noch  sehr  verbreitet.  Z. 

Nas  [Näs]  Nase 

f,  pl.  d'Nase-n-  3,  4;  dim.  Näsel  [s  Na^sal].  d  Nas  in  ales  stecke 
1,  4;  d  Nas  zue  hoch  traaue  3,  4.  Synonyma :  Schmecker 
3,  4;  Klowe,  Löschhorn  u.  a.  s.  Pfm.  3,  4.  Str. 

bleed    [plet]  blöde 

Adj.,  Komp.  bleeder  [pletar],  Superl.  bleedscht  [pl^tst]  4.  von 
schwacher  Gesundheit,  zu  Krankheiten  geneigt,  kränklich  : 


—    156    — 

er  het  e  bleedi  Nadüür,  er  isch  allewil  halwer  krank  [ar 
het  9  pl^ti  Natyr,  ar  es  älawil  hälwar  krank];  nit  bleed 
sin  [nit  plet  sen]  den  Mut  haben^  dreist  sein  :  der  het 
wohl  Zärz,  er  isch  nit  su  bleed  [ter  hfet  wöl  Tsarts,  »r 
eh  nit  sü  pl^t ;  2.  öbtr.  abgenutzt^  fadenscheinig,  von 
Kleidern:  e-n-alts  bleeds  Hämd  [a-n-älts  pl6ts  Harnt];  e 
bleeder  Ellebaüe  [9  pl^tar  filaptpya] ;  d  Strumpf  wäre  on- 
fanges  bleed  am  Fäärschte  [1  'Strempf  war»  6far|9s  plM  am 
Färsta]. 

grei  [knei]  bestimmt 

Adv.  bestimmt,  deutlich,  genau,  für  den  Gehörsinn  :  merr  heerts 
SU  grei  lite,  's  git  bal  Rääja  [mar  hört  s  sü  krai  lita,  s 
ket  pal  Räis]  man  hört's  so  deutlich  läuten,  es  gibt  bald 
Regen ;  d'r  Isebohn  pfift  su  grei  [tar  Isep6n  pfift  sü  krabi] ; 
I  main,  die  Gutsche  kumme,  merr  heert's  gerait  (Pfingsfm. 
5,  5). 

griddi  [kriti]  gierig 

Adj.  und  besonders  Adv.  g.  d'Händ  gedrukt  5,  4 ;  so  g.  s. 
versesse  2,  4  (auf  einen  Bräutigam)  3, 1  (auf  einen  Bruder, 
Bratenwender).  Meist  mit  essen  und  trinken  verbunden, 
inshes.  bei  Tieren.  Vgl.  Strassb.  Stud.  1,  381.       Str. 

lang  [lärj  lang 

Adj.,  Komp.  länger  [lar^ar],  Superl.  längscht  [lärmst]  1.  lang: 
langi  Zit  han  [läigi  Tsit  hän],  sich  langweilen,  Langeweile 
haben ;  langi  Zehn  [lärji  Tsön],  stumpfe  Zähne,  nach  dem 
Genuss  von  unreifem  Obst  oder  sauren  Flüssigkeiten;  aim 
langi  Zehn  mache  [£em  lär^i  Tsen  mä/a]  in  jemand  Lust 
und  Begierde  nach  etwas  erwecken  durch  Wort  oder  Bei- 
spiel ;  wer  lang  het,  luszl  lang  hängke  [wer  lär^  het,  liist 
lärj  haYjka] ;  wer  lang  fraoüt,  geht  lang  irr  [wer  lär^  frwyt, 
ket  lär^  er] ;  alle  Vater  unsers  lang  [äla  Fätor  ünsers  \är], 
in  kurzen  Zwischenpausen  ;  du  solsch  de  längschte  han 
[ty  söls  ta  laYjsto  hän]  du  sollst  meinetwegen  Recht  haben. 
2.  Füllwort ;  noch  so  sehr :  du  kansch  mir  lang  bable  [ty 
khäns  mer  lär^  päpb  schwatzen].  —  Zss.  langläächt  [lär,- 
läyt]  länglich.  —  Subst.  e  Gelangs  un  e  Gebreits  mache 
[9  KaläTjS  ün  9  K9pra'its  mäya]  recht  umständlich  über 
etwas    sprechen ,     unnötigerweise    in     die    Breite    ziehen. 

Z. 

bruche  [pry/9]  brauchen 

Ind.  ich  bruch  [e/  pryy],  du  bruchsch  [ty  pryy^],  er  brächt 
[ar  pr)xt],  mir  brüche  [mar  pryyg] ;  Konj.  liricbt  [pri/j]; 
Part     gebrücht    rk9pryyt].   1.  brauchen,  gebrauchen,  nötig 


—    157    — 

haben :  wü  veel  brüchsch  [wy  fei  pry/s]  ?  disz  bri'icht  si 
nit  [tes  pryy^t  si  nit]  das  ist  nicht  nötig  ;  du  hatsch  nit 
brichte  kumme  [ty  hals  nit  priyta  khiima]  du  hättest  nicht 
kommen  brauchen ;  2.  Arznei  nehmen,  Heilung  suchen  : 
er  brücht  schun  lang  derfür,  awer  es  hilft  nix  [ar  pryyj 
sün  läy;  tarfer,  äwar  s  helft  niks] ;  es  luszt  si  brüche 
derför  [s  lüst  si  prf/9  tarfer]  es,  das  Mädchen,  die  Frau, 
lässt  sich  brauchen  dafür,  gebraucht  Geheimmittel.      Z. 

genn  [kii'n]  geben 

Ind.  ich  gip  (gi),  du  gisch  (gibsch),  er  git;  mer  genn  [haa  gennj. 
gäp,  (jfäw,  gäbt).  Was  het  er  genn  derfor  3,  i.  Almuese 
g.  3,  4.  d  Hand  g.  2,  2.  e  Schmizzel  g.  1,  1.  Tritt  g.  4, 
5.  Lehrgäld  gän  2,  7.  Bech  g.  ausreissen  4,  1.  recht  g. 
2,  6.  e  Dochter  g.  2,  2.  's  Jowort  g.  %  3.  aaclit  g.  uf 
iy  i.  sich  Muej  g.  1,  2.  verursachen  :  ier  genn  mir  viel 
ze  schaffe  1,  4.  hervorbringen  :  git  Fyer  2,  1.  dis  gil  e 
rechti  Hatz  2,  3.  sol  ebs  e  Hoke  g.  werden  4,  1.  vor- 
handen sein  :  s  gitt  in  ganz  Sachse  ken  Maidel  so  wie  du 

1,  1.  s  gitt  alegelde  ze  lehre  1,  8.  Composita :  Geld  usgenn 

2,  i.  her  g.  3,  i.  fürt  g.  2,  1.  Rda.  :   guet  g.  1,  8:  Lob 
einer   Rede,   was  gist   was  best :   aus  allen  Kräften  1,  8. 

Str. 

fra  [frä],  vorab,  vor  allem,  besonders,  sogar 

Adv.  fra  noch  dgscheide  Lyt  1,  4.  er  macht  eim  fra  jo's  Lewe 
noch  verlaid  1,  5.  un  fra  e  gspickter  Haas  3,  1.  am  Fass- 
nacht fra  4,  5.  Str. 

Einige  mundartlicbe  Kleinigkeiten,  welche  teil- 
weise im  Idiotikon  Berücksichtigung  finden  werden,  mögen  sich 
hier  anreihen. 

Zunächst  ein  paar  Sprichwörter,  die  ich  mich  nicht  er- 
innere, schon  gedruckt  gesehen  zu  haben.  Die  Wendung:  's 
wcer  alles  ercecht,  wann  numme  dr  link  Arm  nit  wcer,  ge- 
brauchte hier  in  Strassburg  Jemand  offenbar  um  weiteren  Aus- 
einandersetzungen auszuweichen,  da  er  die  gegen  ihn  vorge- 
brachten Grunde  nicht  widerlegen  wollte  oder  konnte.  — 
Sprichwörter,  die  an  bestimmte  Personen,  Ereignisse  u.  ä.  an- 
knüpfen, erhalten  sich  oft  lange  nachher.  Du  hesch  (oder  er, 
sie  hett)  e  Sack  wie  die  Damhäche,  wird  scherzweise  zu  oder 
von  Jemand  gesagt,  der  aus  seiner  Tasche  überraschend  viel 
herauszieht.  Die  hier  angeführte  Frau  war  eine  Diebin,  die  im 
Münster  ihr  Handwerk  ausgeübt  hatte.  Sie  ist  gewiss  auch  ge- 
meint in  E.  Stöbers  erDaniel  oder  der  Strassburger»  :  i.  Aufzug, 


—     158    — 

10.  Auftritt :  merr  hett  g meint  d' Dambäche  unn  der  Garde- 
Daviddel  hriele-n-e  Duo  mit  nander;  wozu  in  der  Wörter- 
erklärung bemerkt  ist:  Dambäche^  eine  Verrückte,  die  in  sleteni 
Hader  mit  den  Slrassenjunj^en  lebte.  —  Unerklärt  ist  noch  der 
Ursprung  der  altstrassburgischen  Redensart :  Gut  Nachty  Spittd- 
gässel,  dich  hett  er:  sie  besagt,  dass  Jemand  verloren  ist,  sei 
es,  dass  er  mit  seinem  Vermögen  oder  mit  seiner  Gesundheit 
zn  Ende  ist. 

Man  bezeichnet  als  Volksetymologie  die  missbrauchliche  An- 
lehnung fremder  Wörter  an  deutsche  Stämme.  Dazu  musste 
gerade  im  Elsass  das  Eindringen  französischer  Ausdrucke  viel- 
fach Gelegenheit  bieten  :  Ponts  couverts  wurde  bekanntlich  in 
Bunggewehr  umgewandelt  u.  ä.  Als  eine  verbreitete  Verdre- 
hung dieser  Art  wurde  mir  genannt :  Keschtebank  (Kastanien- 
bank) für  Caisse  d*Epargne^  Sparkasse.  Noch  drolliger,  aber 
freilich  wohl  individuell,  war  der  Name,  der  in  einem  Kranken- 
hause von  einem  dienenden  Mädchen  dem  calorifere  gegeben 
wurde:  Kanonepferd. 

Aug.  Stöbers  «Elsässisches  Volksbuchlein»,  2.  Aufl.,  Mül- 
hausen  1859,  bringt  unter  Nr.  216  eine  Redensart,  die  nicht 
leicht  in  ihrer  Anwendung  verstanden  werden  möchte :  [Ej 
Düb  isch  e  Vieh  I  Die  Redensart  wird  oder  wurde  in  folgender 
Weise  verwendet.  Ein  Kind  sagt  zum  andern :  Du  bisch  e  Vieh, 
d.  h.  du  bist  ein  Tier ;  wenn  nun  dieses  sich  beklagt,  dass  es 
gescholten  worden  sei,  deutet  das  erste  das  Gesagte  ganz  harm- 
los, indem  es  unvermerkt  den  bestimmten  Artikel  vorschiebt: 
/)*  Düb  isch  e  Vte/i,  «die  Taube  ist  ein  Tier».  Natürlich  be- 
ruht diese  Neckerei  darauf,  dass  die  Wörter  im  Satze  nicht 
getreimt  gesprochen  werden,  sondern  unter  sich  zusammen- 
hängend, so  dass  ein  Buchstabe  bald  zum  vorhei'gehenden,  bald 
zum  folgenden  gezogen  werden  kann. 

Zu  Stöbers  schöner  Sammlung  lassen  sich  wohl  noch  Va- 
rianten und  Nachträge  beibringen.  Zu  Nr.  50  und  dem  Nach- 
trag S.  120  wird  mir  aus  Dettweiler  folgende  Variante  mitge- 
teilt. Mau  setzt  ein  Kind  sich  gegenüber  und  kitzelt  es  am 
Knie,  wobei  es  nicht  lachen  darf.     Dazu  sagt  man  : 

Hepfeky  Hepfele-n-uf  dem  Dach, 
wer  schmöüt  oder  lacht, 
wer  d^ZäJm  pfleckt 
oder  d''Zung  rus  streckt, 
der  mu8  e  Pfand  genn. 

Dasselbe  Spiel  kennt  man  in  Holland  ;  s.  J.  van  Vloten, 
Nederlandsche  Baker-  en  Kinderrymen  (Leiden),  II.,  p.  '24, 
Nr.  15. 


—     159    — 

Ein  Liedchen,  das  bei  Slöljer  t214  etwas  anders  lautet : 

Hett  i  nit  e  Mann  genumtne, 
war  i  nit  ins  Elend  kumme. 
Goldige  Ring,  taffete  Band 
Haw  i  getraue-n-im  leddige  Stand. 

Freundliche  Mitteilung  von  anderer  Seite  ji^ewährt  mir  fol- 
gemle  Stücke : 

Zu  Stöher  124  vo;l. 

Fidde,  Fadde,  Fingerhuet, 

Stirbt  der  Bauer,  iach  nit  guet. 

Stirbt  der  Bauer  also  gleidi, 

Gehn  d'Engele  mit  ins  Himtndreich. 

Mein  Vater  isch  e  Schnitzler, 

Er  schnitzelt  mir  e  Bolz, 

Da  fahr  i  mit  ins  Hotz, 

Da  fahr  i  mit  ins  grine  Gras. 

Sagt  der  Vater:  was  ist  das? 

Geht  e  Frau  ins  Hinerhisel, 

Holt  Jdeini  Bibbeli  erüs. 

BilZf  Bolz,  faJIir  ins  Holz! 

Kikeriki! 

Zu  Sicher  125  vgl. 

Eins,  zwei,  drei,  i>ier,  fünf,  sechs,  siwe,  acht,  nin. 

Geh  ins  Gässel  nin, 

Im  Gässel  isch  e  Hüs, 

Hinterm  Hüs  isch  e  Hof, 

Hinterm  Hof  isch  e  Garte, 

Im  Garte  steht  e  Baum, 

TJfem  Baum  isch  en  Äst, 

Ufern  Ast  isch  e  Blett, 

TJfem  Blett  isch  e  Nest, 

Im  Nest  isch  e  Pßütn, 

Ufem  Pflüm  isch  e  Vqjel, 

Unterm  Vqjel  isch  en  Ei, 

Im  Ei  isch  e  Dutter, 

Im  Dutter  isch  e  Pflutter, 

Im  Pßutter  isch  e  Hos, 

Der  bisst  dir  (oder  euch,  den  Zuhörenden)  in  d'Nas. 

Stöi)er  Nr.  67  wird  als  Abzähllied  verwendet: 

Eins  zwei  drei, 

Bicke  backe  bei, 

Bicke  backe  Hawermüs! 

Gens  gris  (1.  gehn)  barfüs. 


-     160    — 

Barfüs  gehn  sie, 
Hinter  Ofe  stehn  sie. 
Eins  ewei  drei, 
Du  bist  am  erste  frei. 

■ 

Das  alles  ist  ja  Kinderpoesie ;  wer  aber  weiss,  wie  sie  unsere 
Kinder  noch  erfreut,  und  bedenkt,  wie  viele  hundert  Jahre  die 
Kinder  sich  schon  daran  erfreut  haben,  wird  ihr  das  beschei- 
dene Plätzchen  hier  nicht  missgönnen. 

Als  ein  altslrassburger  Scherzgespräch  wurde  mir  folgendes 
überliefert : 

Zwei  SchiffiscJie  (von  der  Schifferzunft),  zwei  Beisende 

Erster  Seh.  Hans  Dännel,  mach  de  Wasserzoll  uf! 
Zweiter  Seh.  Hasch  au  Lit  im  Schiff? 
Erster  Seh.  Jo. 

Zweiter  Seh.  Was  forichi?  (was  für  welche  ) 
Erster  Seh.  A  Ditscher  www  a  WcUscher. 
Zweiter  Seh.  Erüs  Wälscher! 

Reisender.  Kommang?  (frz.  Comment.) 
Zweiter  Seh.  (der  Gourmand,  Vielfrass,  versteht):  Sa  mer  nur  mi 
lang  Gurrmang,  oder  i  schla  dr  eins  ufs  Latätel  (la 
t^te),  das  dr  s'  Fundament  wackelt. 

Dorfpublicität. 

Ein  Yolksscherz  in  ober-elsässischer  Mundart. 

Mitten  in  einem  Dorfe  am  Gebirge  bei  Colmar  ruft  der  Waiwel  (Gemeinde- 
DienerJ  nach  einem  ertönenden  Trommel-\\'irbeI  mit  kräftiger  Stimme: 

Der  Harr  Maar  lässt  bkannt  mache  dass  a  frammder  Voiel 
(Vogel)  in  dV  Gmainn  gsah  isch  wore  unn  hett  sich  in  unsrem 
Bann  versteckt.  Er  hett  a  spitzie  Schnaawell,  halli  wissgaii 
Faadre  (Federn),  lanngi  Fleiel,  a  brailer  Wattell  (Schwanz),  a 
schwarz  Dipfle  unn  a  klein  Strissell  ufm  Kopf.  Wi  (weil)  der 
Voiel  a  verdachti  Üsssah  hett,  kennt  er  d'Gmain  schaade;  drum 
seile  jetz  alli  Birrier  suche  un  suche  länn  unter  da  Dacher,  in 
de  Schüre  (Scheunen),  Schepf,  Trotthusser,  Gartle,  Falter, 
Raw^e,  Baumslickle,  an  de  Zünne  unn  in  de  Waldle  eb  er  nitt 
ze  finde  isch,  lüge  eb  er  nitt  a  Nesst  gmacht  edder  in  a  hole 
Baum  gschluppft,  unn  der  ne  gsa  hett,  seil  gli  ufT  d'Mareri  geh 
unn  ess  anzaige  dass  mer  ne  gli  fangt. 

[Endigt  mit  einem  kurzen,  raschen  Trommelwirbel.) 


XVI. 


Volkstümliche 

Feste,  Sitten  und  Gebräuche 

im  Elsass. 
1890. 

Mitgeteilt  von 

Bruno   Stehle. 

iN  achsteliende  Beiträge  haben  meine  Schüler  an  Ort  und 
Stelle  gesammelt  und  grösstenteils  nach  Mitteilung  alter  Leute 
wörtlich  aufgezeichnet. 

Advent. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  sich  in  der  Adventszeit  Duft 
an  die  Bäume  ansetzt,  so  hofft  man  im  nächsten  Jahre  auf  einen 
reichen  Obstsegen. 

KaUenhausen  (Kreis  Hagenau].  —  Während  der  Adventszeit  war 
jeden  Donnerstag  «Schlempelnacht».  Die  jungen  Leute  warfen  Korn 
oder  Welschkom  an  die  Fenster.  Apa  letzten  Donnerstag  im  Advent 
aber  nahmen  sie  Ofenröhren,  £isenhäfen,  überhaupt  alles,  womit  sie 
Lärm  machen  konnten,  gingen  vor  ein  Haus  und  lärmten  hier.  Einer 
stellte  sich  mit  einem  Lappen,  den  er  im  Schmutz  herumgezogen  hatte, 
nahe  an  das  Fenster.  Schaute  jemand  zum  Fenster  heraus,  so  schlug 
er  ihm  den  Lappen  ins  Gesicht. 

Weihnachten. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Am  24.  Dezember  herrscht  die  Sitte, 
die  Bäume  mit  Stroh  zu  umwickeln,    wenn   um    '6  Uhr  alle  Glocken 


—    162    — 

geläutet  werden.    Man   glaubt   dann,   eine   reiche   Obsternte  zu  be- 
kommen. 

Lautettbach'Zell  (Kreis  Gebweiler).  —  Man  glaubt  fest,  dass  es 
viel  Obst  gibt,  wenn  am  Weihnachtsabend  der  Wind  bläst. 

Bdldersheim  (Kreis  Mülhausen).  —  In  früheren  Zeiten  ging  zur 
Weihnachtszeit  der  Lehrer  des  Dorfes  in  allen  Häusern  umher.  In 
der  einen  Hand  hatte  er  ein  Gefäss  mit  Weihwasser,  mit  dem  er  die 
Häuser  segnete.  In  der  anderen  hatte  er  eine  Büc)ise,  in  die  er  die 
Geldspenden  legte. 

Nieder aept  (Kreis  Altkirch).  —  Früher  ging  an  W^eihnachten  der 
Pfarrer  mit  dem  Lehrer  von  Haus  zu  Haus,  und  es  wurde  Weih- 
wasser ausgesprengt  mit  den  Worten : 

Heiliwo,* 

Gottes  Gob  (Gab); 
Glück  ins  Hüs  (Haus), 
Unglück  drüs  (draus). 

Eoppentzweiler  (^Kreis  Altkirch).  —  Bis  zum  Jahre  1870  bestand 
in  Roppentzweiler  und  der  Umgebung  die  Sitte,  dass  man  am  Tage 
vor  Weihnachten  ,Heiliwog^  läutete.  Der  Pfarrer  weihte  während  dieser 
Zeit  Weihwasser,  cHeiliwogtaufe>^  genannt.  Mit  diesem  geweihten 
Wasser  segnete  hernach  der  Pfarrer  die  Häuser,  um  sie  vor  Unglück 
und  bösen  Menschen  zu  schützen.  Dabei  sprach  er: 

«Heiliwog 

Gottisgob 

Gleck  ins  Hüs 

Un  Ungleck  drüss.» 

Während  es  läutete,  banden  die  Bauern  Strohbänder  um  die 
Bäume.  Sie  glaubten  nämlich,  dass  sie  dadurch  mehr  Früchte  tragen 
würden. 

Mit  dieser  Heiliwogtaufe  segnete  man  bei  einer  Hochzeit  das  Bett 
der  Neuvermählten. 

Münchhauaen  (Kreis  Gebweiler).  —  Mitten  in  der  heil.  Nacht  wird 
Wasser  geschöpft  und  als  Weihwasser  aufbewahrt.  Früher  wurde  die 
heil.  Wog  ausgeteilt.  Der  Lehrer  ging  mit  einem  Diener  von  Hans 
zu  Haus,  besprengte  Wohnung  und  Stallung  mit  dem  heiL  Wog  and 
erhielt  von  jeder  Familie  einen  Groschen. 

Nieder aept  (Kreis  Altkirch}.  —  Wenn  es  am  Tage  vor  Weih- 
nachten Feierabend  läutet,  werden  die  Bäume  mit  Strohkränzen 
umwunden  und  dabei  die  drei  höchsten  Namen  ausgesprochen.  Die 
Bäume  sollen  dann  nächstes  Jahr  mehr  Früchte  tragen. 


^  So  viel  als  heilige  Woge.  Wac  mittelhochdeutsch  s  bewegtes, 
wogendes  Wasser,  also  heiliges  Wasser,  Weihwasser.  Statt  HeiUwo 
wird  in  manchen  Gemeinden  Heiliwog  gesagt.  Aus  diesem  Worte 
geht  auch  das  hohe  Alter  des  Spruches  und  des  Gebrauches  hervor. 

2  Das  am  Tage  vor  Ostern  geweihte  Wasser  heisst  in  meiner 
Heimat  <der  Ostei-tauf.» 


—    103    — 

Niedersept  (Kreis  Altkirch).  —  Wem  etwas  gestohlen  worden 
ist,  der  sehe  sich  während  des  Gloria  in  der  Mitternachtsmesse  um, 
and  der  Dieb  erscheint  ihm  umgekehrt. 

Ammerschtoeier  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  Am  Weihnachtsabend 
sollen  Hexen  und  böse  Geister  keine  Gewalt  haben. 

Münchhausen  (Kreis  Gebweiler).  —  In  der  Weihnacht  um  Mitter- 
nacht können  die  Tiere  sprechen ;  doch  darf  man  sie  nicht  belauschen, 
sonst  wird  man  für  seinen  Vorwitz  bestraft,  wie  eine  Geschichte  aus 
Münchhausen  beweist.  Ein  Meister  hörte  einst  dem  Gespräch  seiner 
Pferde  zu  und  vernahm  zu  seinem  Schrecken,  wie  das  eine  zum 
indem  sagte:  «Morgen  werde  ich  meinen  Herrn  zu  Grabe  tragen.» 
In  seinem  Zorn  ergriff  der  Meister  einen  Stock,  um  das  Pferd  zu 
schlagen.  Dieses  gab  ihm  aber  einen  Tritt,  und  der  Meister  war  tot. 
(VergL  IIL  Jahrg.  1887  S.  132,  Mittelbronn.) 

Wenn  man  Nachts  1 2  Uhr  während  des  Hochamtes  beim  Läuten 
der  Wandlung  die  Kirche  verlässt,  so  sieht  man  die  Toten,  welche 
prozessionsweise  die  Kirche  umziehen. 

WitUlaheim  (Kreis  Thann).  —  Mittel,  dass  die  Hühner  die  Ei^r 
nicht  verlegen :  Bevor  man  in  der  Christnacht  zur  Messe  geht,  füttert 
man  den  Kühen  Gerstenstroh.  Nach  der  Messe  hebt  man  das  übrig- 
gebliebene Stroh  auf  und  bereitet  den  Hühnern  Nester  daraus;  so 
verlegt  keine  mehr. 

Ammerschweier  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  Die  heil  Nacht  heisst 
hier  auch  Sperrnacht,  weil  abends  10  Uhr  das  Spinnrädchen  gesperrt 
wird. 

Dammerkirch  Kreis  Altkirch).  —  In  der  heil.  Nacht  wird  das 
ganze  Haus  ausgekehrt  und  gescheueH;  denn    ein    Sprichwort  sagt: 

Lost  me  ewer  Wienachte  der  alte  Drack, 

So  bringt  me  ihn  im  neue  Johr  nimme  ewack. 

Hattstadt  (Kreis  Gebweiler).  —  Beim  Beginn  der  Mitternachts- 
messe wird  in  einer  Flasche  Wein  auf  den  Tisch  gestellt.  Wenn  der- 
selbe während  der  Wandlung  stark  schäumt,  gibt  es  ein  gutes 
Weinjahr. 

BajipciltsweHer.  —  Sobald  die  Glocken  zur  Christmesse  läuten, 
pflegt  man  gewärmten  Wein  in  die  Weinfässer  und  auch  in  das 
Essigfass  zu  schütten.  Auch  wird  in  dieser  Nacht  das  Vieh  gefüttert. 

Niedersept  (Kreis  Altkirch).  —  Der  Wind,  welcher  zwischen  11 
und  12  Uhr  am  Weihnachtsabend  weht,  ist  während  des  nächsten 
Jahres  der  vorherrschende. 

Lautenbach-Zeü  (Kreis  Gebweiler).  —  Am  Weihnachtsabend  kam 
früher  Kirschsnppe  auf  den  Tisch;  dazu  ass  man  Kuchen.  In  den 
grossen  Kachelofen  steckte  man  einen  sehr  grossen  knorrigen  Holz- 
block, den  sogenannten  Weihnachtsklotz.  Dieser  sollte  das  Zimmer 
recht  erwärmen,  damit  das  Christkind  nicht  friere.  Die  Ueberreste 
dieses  Klotzes  wurden  sorgsam  aufbewahrt  und  bei  schweren  Ge- 
wittern in  den  Ofen  gelegt.  Man  glaubte  auch,  dass  in  der  heil  Nacht 
das  Vieh  sprechen  könne.  Oft  legte  man  sich  in  die  Krippe,  um  den 
Gesprächen  zu  lauschen. 


—    164    — 

In  fler  heil.  Nacht  glaubten  die  Jungfrauen  erfahren  zu  können, 
welchen  Mann  sie  bekommen  würden.  Sie  musBten  fünf  Vatenuiser 
beten  und  dann  bei  einer  Witwe  einen  Apfel  holen.  Diesen  Apfel 
schnitten  sie  in  Yier  Teile.  Qingen  sie  dann  zu  Bette,  so  wurde  der 
Apfel  verspeist.  Darauf  verfielen  die  Heiratslustigen  in  einen  sanften 
Schlaf  und  sahen  dann  in  einem  Traumgesicht  ihren  zukünftigen 
Mann. 

Ammerachteeier  (Kreis  Rappolt^weiler).  ~  Von  10  Uhr  bis  12  Uhr 
liest  man  in  heil.  Büchern ;  es  werden  drei  Rosenkränze  gebetet.  Dm 
11  Uhr  wird  mit  allen  Glocken  geläutet,  was  man  das  «Schrecke- 
läuten» nennt.  Wenn  es  geläutet  hat,  schüttet  man  Wein  ins  Essig- 
fass ;  man  stellt  eine  Jerichorose  in^s  Weihwasser  ;  blüht  dieselbe 
schön,  so  schliesst  man  daraus  auf  ein  gutes  Jahr.  Früher  fütterte 
und  tränkte  man  um  12  Uhr  das  Vieh ;  man  holte  Wasser  in  die 
Küche.  Auch  sucht  man  das  Wetter  des  kommenden  Jahres  an  diesem 
Abend  durch  12  Zwiebelschalen  zu  erraten.  Wie  die  12  Tage  nach 
Weihnachten  sind,  so  sind  die  12  Monate  des  kommenden  Jahres. 
Man  nennt  jene  Tage  Loostage. 

Niedersept  (Kreis  Altkirch).  —  Eine  Frau,  die  bis  zum  Weihnachts- 
abend nicht  neun  Stränge  Uarn  gesponnen  hat,  wird  von  der  Hechel- 
frau geholt,  und  die  Mäuse  fressen  das  Garn. 

Johaunesminne. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  In  Friesen  wird  am  Stephanstag  der 
sog.  Stephanswein  geweiht  und  ausgeteilt  mit  den  Worten:  «Trinke 
die  Stärke  des  heil  Stephanus  und  die  Liebe  des  heil.  Johanne«*. 
Früher  wurde  er  an  beiden  Tagen,  St.  Stephan  und  Johannes,  ao»* 
geteilt,  aber  wegen  der  vielen  Kosten  wurde  diese  Sitte  nur  auf  den 
Stephanstag  beschränkt. 

Sylvester. 

Kreis  Altkirch,  —  Wenn  jemand  am  Sylvestertag  die  Maulwurfs- 
häufen  auf  seinem  Felde  bricht,  so  soll  er  im  folgenden  Jahre  keine 
auf  seinem  Felde  haben. 

Sylvesterabend. 

Rappoltsweiler.  —  Sobald  die  Glocke  die  zwölfte  Stunde  schlägt, 
tritt  die  gesamte  Polizei  aus  der  Wachtstube  heraus  auf  den  Markt- 
platz und  stellt  sich  in  einem  Kreis  auf.  Einer  tritt  vor  und  ruft  die 
zwölfte  Stunde : 

Höret,  liebe  Bürger,  was  ich  euch  will  sagen. 
Die  Glock  hat  zwölf  geschlagen. 
Lobet  Gott,  den  Herrn! 

Dann  tritt  ein  anderer  vor  und  singt  das  Neujahr  an: 

Das  neue  Jahr  hat  angefangen. 
Das  alte  Jahr,  das  ist  vergangen. 
Das  alte  Jahr,  das  Gott  uns  gab. 
Drum  wünsch   ich  euch  ein  gutes  Jahr. 


—     165    — 

Dann  beglückwünschen  sie  sich  gegenseitig.  Die  Nachtwächter 
machen  darauf  die  Rnnde  in  der  Stadt  nnd  verkünden  die  zwölfte 
Stnnde  nnd  den  Beginn  des  neuen  Jahres. 

Keigahrsgmss. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Ich  wünsch  ech  ne  glickhaftigs  neies 
Johr,  Gsnndheit  nn  ne  langes  Leben  nn  nach  diesem  die  ewige 
Seligkeit.  Geb  ech^s  Gott !  Das  isch  das  beste,  was  ich  eich  wünsche  ka. 

Antwort:  «Ich  wünsch  ech  o  sa  viel». 

Fastnacht. 

Liebsdorf  (Kreis  Altkirch).  —  Es  herrscht  die  Sitte,  dass  am 
Fastnachtstage  die  Leute  zum  Abendessen  Schinken  und  «Schnetz» 
(gedörrte,  in  vier  Teile  geschnittene  Aepfel  und  Birnen)  kochen.  Des- 
halb nennt  man  den  Tag  «Schnetzzischtig»  (Schnitzdienstag). 

Fastenzeit. 

Liebsdorf  (Kreis  Altkirch).  —  Am  ersten  Fastensonntag  gehen 
die  Knaben  im  Dorfe  herum  und  sammeln  Holz-  und  Strohwellen. 
Dabei  singen  sie: 

«Stangelswalle,  Strau 
Oder  d'alte  Hüsfrau!» 

Die  gesammelten  Wellen  werden  auf  eine  Anhöhe  geschafft.  Hier 
wird  bei  einbrechender  Dunkelheit  ein  grosses  Feuer  angezündet.  Die 
Knaben  schwingen  brennende  Fackeln  und  werfen  brennende  Holz- 
scheiben den  Berg  hinunter. 

Der  1.  Fastentag. 

Bisehofsheim  (Kreis  Molsheim).  —  An  diesem  Sonntage  war  früher 
das  Fest  des  Scheibenschiessens.  Die  Jünglinge  des  Dorfes  begaben 
sich  auf  eine  Bergwiese.  Ein  jeder  war  mit  einem  langen  Stabe  und 
vielen  hölzernen  Scheiben  versehen,  deren  Durchmesser  etwa  10  cm 
betrug,  und  in  deren  Mittelpunkt  ein  Loch  war,  um  sie  auf  den 
Stab  zu  stecken.  Weiter  unten  am  Berge  standen  die  Knaben,  um 
die  Scheiben  aufzufangen  und  diese  an  die  Jünglinge  wieder  zu  ver- 
kaufen. Sobald  ein  Bursche  die  Scheibe  fortschleuderte,  sagte  er 
folgenden  Spruch: 

«Schiebdi,  Schiebdi  Hos, 

Hob^s  net  gemocht, 

HoVs  doch  gemocht; 

Ich  schläh^s  über  d'Rhin, 

S'kummt  weder  herin. 

Ich  schläh's  in^  Mechel  und  in  Kathel 

In^s  Kammerlädel  n*in.> 

Von  den  Burschen  etwas  entfernt  standen  die  Madchen  und 
Frauen,  um  zu  hören,  welchen  Mädchen  Scheiben  geschossen  wurden. 


i  Hier  sagte  der  Jüngling   seinen   xmd  den   Namen   seiner   Ge- 
liebten. 

12 


—    166     — 


Fronfasten. 


Bischofaheim  (Kreis  Molsheim).  —  An  den  Fronfasten  darfte 
niemand  die  Wäsche  reinigen ;  denn  man  sagte,  das  Fronfasten- 
Mütterlein  ginge  umher  nnd  sehe  nach,  wer  das  Verbot  übertrete. 
Wen  es  antraf,  den  stellte  es  vor  der  ganzen  Gemeinde  zu  Schanden, 
und  er  war  das  ganze  Jahr  hindurch  unglücklich. 

Ebenso  durfte  man  am  Mittwoch  und  Freitag  die  Ställe  nicht 
reinigen  und  an  diesen  Tagen  keinen  Dünger  auf  die  Aecker  fahren, 
da  er  keine  Wirkung  habe.  Es  gibt  jetzt  noch  Leute,  welche  dies 
beobachten 

Charfreitag. 

OstJiausen  (Kreis  Erstein).  —  Mittel,  um  buntfarbige  Hühner  zu 
bekommen.  —  Viele  Hausfrauen  sammeln  die  Eier,  welche  die  Hühner 
am  Charfreitag  legen,  und  geben  sie  einer  Henne  zum  Ausbrüten. 
Die  jungen  Hühner  bekommen  dann  ein  buntes  Federkleid.  Die  Farben 
wechseln  von  Jahr  zu  Jahr. 

Niedersept  (Kreis  Altkirch)  —  Wenn  ein  am  Charfreitag  gelegte« 
Ei  ausgebrütet  wird,  so  verändert  das  Huhn  jedes  Jahr  seine  Farbe. 
Ebenso  bringt  ein  am  Charfreitag  veredeltes  Bäumchen  jedes  Jahr 
eine  andere  Obstart. 

Bamenheim  (Kreis  Mülhausen).  —  Den  Ostereiern  wird  eine 
zauberkräftige  Wirkung  zugeschrieben.  Auch  schützen  die  am  Char- 
r  ei  tag  gelegten  Eier  vor  Fieber.  Wenn  man  die  Chai-freitagei^r  einem 
Huhn  zum  Ausbrüten  gibt,  so  erhalten  die  Federn  dieser  Hühner 
jedes  Jahr  eine  andere  Farbe. 

5ttecÄwci7er .  (Kreis  Thann).  —  Am  Charfreitag  lassen  manche 
Bauern  ihr  Vieh  fasten,  denn  sie  glauben,  es  bleibe  dadurch  von 
Krankheiten  verschont.  Alte  Leute  klopfen  am  Charfreitag  an  die 
Obstbäume;  aus  dem  Klange  wollen  sie  schliessen,  ob  es  viel  Obst 
gibt  oder  nicht. 

Ammerscliweier  (Kreis  Rappoltsweiler.)  —  Wenn  man  am  Char- 
freitag Bohnen  steckt,  gedeihen  sie  viel  besser,  als  wenn  das  an 
irgend  einem  andern  Tag  geschieht. 

Niedersept  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Charfreitag  muss  man  den 
Essig  und  den  Wein  schütteln,  sonst  wird  ersterer  zu  Wasser  und 
letzterer  zu  Essig. 

Charsamstag. 

Liehsdorf  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Ostersamstag  werden  bei  der 
Kirche  Ueberreste  von  geweihten  Gegenständen  und  zerfallenen  Crazi- 
fixen  vom  Kirchhofe  verbrannt.  Die  Leute  sagen :  <Der  ewige  Jad 
wird  verbrannt  >. 

Ostern. 

Niedersept  (Kreis  Altkirch).  —  An  Ostern  ist  es  Sitte,  dass  die 
Kinder  bei  ihren  Taufpaten  die  Ostereier  holen;  kleineren  Kindern 
werden  sie  wohl  auch  vom  Osterhasen  gelegt.  Dann  sagen  sie  fol- 
genden Spruch  : 


—     167    — 

«Wir  wünsche  Euch  ein  glückhaftiges  Alleluja, 

Die  Ostereier  wa  mer  ha  (wollen  wir  haben), 

unschönste,  wn  dr  heit  (die  schönsten,  die  Ihr  habt), 

S^megä  staka,  wn  sie  wei.»  (Sie  mögen  stecken,  wo  sie  wollen.) 

Pflngüten. 

Niedersept  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Pfingstmontag,  Hirschmontag 
genannt,  sind  bekanntlich  die  Franen  Meister.  Jetzt  haben  sie  nur 
noch  das  Recht,  den  Männern  die  Mützen  zu  nehmen.  Früher  gingen 
sie  am  betreffenden  Morgen  in  den  Wald  and  hieben  eine  der 
schönsten  Eichen  an.  Die  Männer  vollendeten  das  begonnene  Werk, 
dann  wnrde  der  Baum  verkauft. 

Pfaffenheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Der  Pfingstpfiiteri  am  Pfingst- 
montag in  Pfaffenheim.  — -  Am  Pfingstmontag,  am  Nachkilbemontag, 
versammeln  sich  die  militärpflichtigen  Jünglinge  zu  Pferd  als  Ritter 
auf  einem  Platze  vor  dem  Dorfe.  Sie  halten  dann  einen  Ritt  durch 
dasselbe  und  besichtigen  den  Röhrenbrunnen,  in  welchen  der  Pfingst- 
pfiiteri gerworfen  wird.  Hieraufholen  sie  denselben  ab.  Der  Pfingstpfiiteri. 
ein  Barsche,  ist  mit  einem  Kleide  angethan,  welches  mit  Schnecken- 
gehäusen bedeckt  ist.  Er  sitzt  auf  einem  Wagen,  welcher  von  zwei 
Eseln  gezogen  wird.  Unter  dem  Gelächter  der  ihm  nachfolgenden 
Dorfjagend  gelangt  er  zum  Röhrenbrunnen.  Hier  angekommen,  leert 
der  Pfingstpfiiteri  auf  das  Wohl  der  zahlreichen  fremden  Zuschauer 
eine  Flasche  Wein.  Alsdann  richtet  er  an  sie  einige  scherzhafte 
Fragen.  Auf  die  Fragen  eines  der  Ritter,  welche  den  Brunnen  um- 
stehen, gibt  er  scherzhafte  Antworten.  Dann  läuft  der  Pfingstpfiiteri 
auf  dem  Brunnentrog  herum.  Ein  Ritter  gibt  ihm  einen  Stoss  und 
er  fällt  in  den  Brunnen.  Alsdann  wird  er  herausgezogen.  Ein  Ritter 
sagt  zu  ihm :  «Du  bist  auswendig  nass,  du  musst  auch  inwendig 
nass  werden.»  Er  wird  sodann  genötigt,  fleissig  zu  trinken.  Dies 
geschieht  dreimal.  Alsdann  sammeln  die  Ritter  Geld,  welches  der 
Pfingstpfiiteri  bekommt. 

Friesen  (Kxph  Altkirch).  —  Am  Pfingstmontag  bekleidete  sich 
ein  Knabe  mit  einem  langen  weissen  Hemde  und  schwärzte  sich  das 
Gesicht.  Man  nannte  ihn  «Pfingstplüppel».  Seine  Begleiter  sammelten 
dann  in  jedem  Hause  Eier,  Mehl  oder  Butter  und  Hessen  in  einem 
Wirtshaus  oder  in  einem  andern  Hause  eine  Mahlzeit  zubereiten.  Bei 
dem  Eiersammeln  sangen  sie  folgendes  Liedchen : 

«Pfingstplüppel  ho,  ho. 

Der  Pfingstplüppel  isch  do, 

Fliegt  e  Dibele  übers  Hüs, 

Jungfrajele  nämmet  Eier  üs, 

und  wenn  d*  Ihr  uns  kene  Eier  wend  gä, 

So  mag  der  Marder  eich  d^Hihner  all  nä; 

Und  wenn  d'  Ihr  uns  kene  Anke  ^  wend  gä, 

So  soll  eier  Kuh  kei  Milch  me  gä; 

Und  wenn  d'  Ihr  uns  ke  Mahl  wend  gä, 

So  mag  der  Müller  eichs  halbe  nä.> 

'  Butter. 


-     168    — 

Am  Pfingstsonntag  schauen  die  Leute  darauf,  ob  es  an  diesem 
Tage  regnet.  Wenn  auch  nur  einige  Regentropfen  fallen,  so  deuten 
dies  die  Leute  auf  eine  nasse  Heuernte. 

Am  Pfingstsonntag  Morgen  wird  den  Zugtieren  (Pferden,  Kühen 
und  Ochsen)  an  drei  Stellen  am  Halse  zu  Ader  gelassen.  Man  glaubt 
dann,  das  Vieh  würde  das  Jahr  hindurch  von  jeglicher  Krankheit 
bewahrt  bleiben. 

Umzug  am  1.  Mai.  —  An  diesem  Tage  wurde  ein  weiss  gekleidetes 
Mädchen  mit  Frühlingsblumen  und  Laub  ganz  geschmückt.  Das  Lanb 
war  Buchenlaub,  und  je  mehr  solches  an  diesem  Tage  an  den  Bäumen 
war,  desto  grösser  war  die  Freude.  Das  Mädchen  stellte  den  Mai  dtr 
und  wurde  von  zwei  Begleiterinnen  geführt,  während  die  übrigen 
Mädchen  hinterdrein  einen  Zug  bildeten.  So  gings  durchs  ganze 
Dorf,  von  einem  Haus  zum  andern.  Vor  jedem  Haus  wurde  das  unten 
stehende  Mailied  gesungen  und  die  dafür  erhaltenen  Gaben  in  Em- 
pfang genommen  (Eier,  Butter,  Milch,  Mehl,  Geld,  etc ).  Nachdem  so 
allerlei  Geschenke  in  Fülle  gesammelt  waren,  wurde  in  dem  Hanse 
einer  Festgenossin  eine  ländliche  Mahlzeit  bereitet,  bestehend  in 
Nudeln,  Küchlein,  Eiern  u.  s.  w  Für  das  erhaltene  Geld  wurde  Wein 
gekauft  und  getrunken.  Nach  dem  Essen  wurde  oft  noch  getanzt  und 
gesungen.  An  andern  Orten  wurde  anstatt  des  Mädchens  ein  Baum 
geziert,  der  den  Mai  darstellte.  Das  Lied  lautete  folgendermassen : 

Der  Mai,  '  der  kam  vom  grünen  Wald  herein, 

So  fahren  der  Mai  und  die  Rosen.^ 

Wir  heisse  ihn  frindli  willkomme  sein  =  (freundlich) 

So  fahren  der  Mai  und  die  Rosen. 

Der  Mai  hat  in  der  Mitte  ^ne  Krumm, 

So  fahren  der  Mai  und  die  Rosen. 

Er  dreiht  sich  dreimal  um  und  um  =  (dreht) 

So  fahren  der  Mai  und  die  Rosen. 

Die  mit  Laub  und  Blumen  geschmückten  Jungfrauen  tanzten, 
während  sie  das  Mailied  sangen,  um  den  Maibaum  bzw.  die  als 
solchen  geschmückte  Jungfrau  herum.  Bei  den  letzten  zwei  Versen 
musste  die  den  Mai  darstellende  Jungfi*au  sich  dreimal  im  Kreise 
drehen  und  Dank  dabei  sagen,  die  Mädchen  aber  sangen  weiter  : 

Der  Mai,  der  Mai,  der  lässt  sich  schwanke. 
Er  thut  sich  schön  höflich  bedanke. 

Bei  der  folgenden  Strophe  nannten  sie  den  Namen  des  Herrn 
und  der  Frau  des  Hauses,  vor  dem  sie  sangen.  Z.  B.  heisst  der  Hans- 
herr Peter,  die  Frau  Anna: 


'  Der  Mai  ist  das  Mädchen  oder  auch  der  gezierte  Bannt 
2  Dafür  wurde  als  Kehrreim  auch  gesungen: 

Fahr  in  d'r  Mai!  =  (Fahr  ein,  Mai!) 


J 


.       —    169    — 

Der  Peter  ka  gaet  Schitele  spalte  =  (Holzscheite); 

Fahr  in  d^r  Mai! 

Die  Anna  ka  gaet  Kichle  bache  =  (Küchlein) ; 

Fahr  in  d'r  Mai! 

Die  Diele  liege  stnbeslang; 

Fahr  in  dV  Mai! 

Die  Anna  hat  ne  schöne  Gang; 

Fahr  in  d'r  Mai ! 

Das  Lied  wurde  oft  in  die  Länge  gezogen,  je  nachdem  die  Mäd- 
chen besondere  Wünsche  hatten,  z.  B. : 

Wenn  d^r  nns  kei  Geld  wend  gä, 

So  soll  euch  der  Schelm  die  Beutel  all  nä. 

Wenn  d^r  uns  keine  Eier  wend  gä, 

So  soll  euch  der  Marder  d*Hühner  all  nä. 

Wenn  d^r  uns  kei  Salz  wend  gä^ 

So  soll  euch  der  Krämer  s^Gwicht  nimme  gä 

Wenn  d'r  uns  kei  Mehl  wend  gä. 

So  soll  euch  der  Acker  kei  Korn  mehr  gä. 

Wenn  dV  uns  kei  Anke  (Butter)  wend  gä, 

So  soll  Euch  d'Kuh  kei  Milch  mehr  gä! 

[ :  So  fahren  der  Mai  und  die  Rosen !  :  ] 

oder 
Fahr  in  d*r  Mai! 

Frohnleichnamsfest. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Frohnleichnamsfest  achten  die 
Leute  besonders  darauf,  wie  die  gestreuten  Blumen  dörren;  denn 
auch  das  Heu  fällt  gut  oder  schlecht  aus,  je  nach  dem  Dürrwerden 
dieser  Blumen. 

Johannistag,  24.  Jnni. 

Hattsiatt  (Kreis  Gebweiler).  —  An  diesem  Feste  versammeln  sich 
die  Knaben  nach  dem  Nachmittagsunterrichte.  Jeder  von  ihnen  trägt 
einen  Besen,  welcher  mit  Hobelspänen  ausgestopft  ist.  Dann  sammeln 
sie  im  ganzen  Dorfe  Holz;  dabei  rufen  sie  vor  den  Häusern: 

<St.  Johannesfeuer! 
Leut\  gebt  was  zur  Feier. 
Glück  ins  Haus  und^s  Unglück  raus 
Und  ein  Schittle  Holz  heraus  » 

Das  gesammelte  Holz  wird  auf  einem  freien  Platze  vor  dem 
Dorfe  aufgetürmt.  Unterdessen  ist  es  Abend  geworden;  das  ganze 
Dorf  versammelt  sich  draussen.  Der  Holzhaufen  wird  angezündet. 
Zu  gleicher  Zeit  zünden  auch  die  Knaben  ihre  Besen  an,  und  unter 
Jubeln  springen  sie  um  das  Feuer.  Ist  dasselbe  bald  erlöscht,  so 
springen  die  herzhaften  Burschen  über  dasselbe.  Fröhlich  begibt  sich 
alt  und  jung  darauf  nach  Hause. 


—     170    — 

Bedentan^volle  Tage. 

Oberhruck  (Kreis  Thann).  —  An  dem  Platze,  wo  am  Feste  de« 
heil.  Abdon  Farnkräuter  aasgerissen  werden,  wachsen  nie  mehr  Fam- 
kräater. 

Am  8.  Dezember,  am  sogenannten  «Frauentag»,  wird  Schnee- 
wasser  in  Flaschen  geschüttet.  Brandwunden,  die  mit  diesem  Wasser 
benetzt  werden,  heilen  rasch  und  ohne  Schmerzen. 

Kaiser  Heinrich  will  an  seinem  Gedenktage  (15.  Juli)  drei  Tote 
haben  :  einen  Ertrunkenen,  einen  Herabgestürzten  und  einen  Ver- 
brannten. Darum  geht  an  diesem  Tage  niemand  baden,  der  Land- 
mann steigt  nicht  auf  seinen  Kirschbaum,  um  Kirschen  zu  pflücken, 
und  die  Köchin  tritt  nicht  so  nahe  ans  Küchenfeuer  wie  gewöhnlich. 

Wer  am  Feste  des  heil.  Laurentius  (10.  Augusti  an  irgend  einem 
Orte  die  Erde  aufgräbt,  der  findet  sicherlich  Holzkohlen 

Die  Andreasnacht,  80.  November. 

BUchofaheim  (Kreis  Molsheim).  —  Genau  um  12  Uhr  in  dieser 
Nacht  leuchtet  auf  jedem  Kreuzweg  im  Dorfe  ein  kleines  Lichtlein 
auf.  Wer  in  dieser  Zeit  auf  ein  solches  Lichtlein  tritt,  zu  dem  kommt 
ein  Männlein  und  bringt  ihm  so  viel  Geld,  als  er  tragen  kann,  wenn 
er  ihm  auf  seine  Fragen  keine  Antwort  gibt. 

24   Dezember.  (Adam  und  Eva). 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  In  der  Weihnacht  darf  man  vor  der 
Mitternachtsmesse  keinen  Apfel  und  keine  Birne  essen,  weil  an  diesem 
Tage  i24.  Dezember)  Adam  und  Eva  sündigten  Wenn  man  ässe,  be- 
käme man  Auswüchse,  Geschwüre  oder  Kröpfe. 

Ernte. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Bei  Schlnss  der  Ernte  lassen  die 
Leute  auf  dem  letzten  Acker  ein  kleines  Büschel  Aehren  stehen. 
Alsdann  knien  sämtliche  Schnitter  um  dasselbe  und  beten  fÜ2if 
Vaterunser.  Dann  schneidet  die  jüngste  Schnitterin  im  Namen  der 
drei  göttlichen  Personen  das  Büschel  ab,  bindet  dasselbe  zu- 
sammen und  stellt  es  in  der  Wohnstube  hinter  dem  Kruzifix  anf, 
wo  es  das  ganze  Jahr  bis  zur  kommenden  Einte  verbleibt.  Dieses 
Büschel  wird  «Glückshäufele>  genannt,  wahrscheinlich  darum,  weil 
oft  vom  Hausherrn  Geld  in  dasselbe  gelegt  wird,  und  dasselbe  der 
Schnitterin,  die  häufig  noch  im  Kindesalter  steht,  als  Geschenk  ge- 
geben wird,  mit  dem  Bemerken,  Gott  habe  das  Geld  während  des 
Betens  hineingelegt. 

Hochzeit. 

Niedersept  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  ein  Mädchen  einen  Aas- 
wärtigen  heiratet  und  abgeholt  wird,  so  haben  die  Burschen  von 
über  20  Jahr  das  Recht  zu  spannen.  Vor  dem  Dorfe  wird  ein  farbiges 
Band  quer  über  die  Strasse  gespannt..  Wenn  der  Zug  kommt,  so  nmss 
er  anhalten  und  wird  erst  dann   durchgelassen,    wenn   die   Burschen 


—     171     — 

mit  Geld  befriedigt  sind.  Ist  das  Geschenk  reichlich,  so  werden 
Wagen  nnd  Pferde  mit  Bändern  und  Rlamen  geAchm&ckt.  Genügt 
aber  das  Geschenk  nicht,  so  wird  weiter  vorn  eine  Kette  gespannt 
und  darch  allerlei  Hindernisse  der  Weg  gesperrt ;  oder  es  wird  mit 
Fesen  hinter  dem  Wagen  her  gekehrt,  am  anzudeuten,  dass  mit  der 
Braut  auch  der  Dreck  zum  Dorf  hinauszieht 

Oberbruck  (Kreis  Thann).  —  Sitten  und  Gebräuche  bei  einer  Hoch- 
zeitsfeier um  1830.  —  Am  Morgen  des  Hochzeittages  holte  der 
Bräntigam  mit  seinen  Verwandten  die  Braut  mit  ihren  Angehörigen 
im  Hause  der  letzteren  ab.  Die  Braut  hatte  unterdessen,  nachdem 
sie  mit  ihrem  Festtagsschmucke  bekleidet  worden,  unter  Gebet  in 
ihrer  Kammer  den  Bräutigam  erwartet.  War  dieser  angekommen,  so 
trug  man  eine  Schüssel  mit  Suppe  auf,  brachte  aber  nur  einen  LÖfiTel 
auf  den  Tisch.  Zuerst  ass  die  Braut  einige  Löffel  voll,  dann  reichte 
sie  den  Löffel  dem  Bräutigam,  damit  dieser  ein  Gleiches  thue. 

Hierauf  bewegte  sich  der  festliche  Zug  nauh  der  Kirche.  An  der 
Spitze  des  Zuges  ging  die  Braut,  geführt  vom  Vater  des  Bräutigams 
oder  von  einem  nahen  Verwandten.  Darauf  folgte  der  Bräutigam, 
geführt  von  der  Mutter  der  Braut  oder  von  einer  nahen  Verwandten. 
Erst  nach  der  Trauung  durfte  der  Bräutigam  die  Braut  führen  (auch 
heute  noch  so).  An  die  Brautleute  schlössen  sich  die  verheirateten 
Personen  an.  Hierauf  folgten  die  Burschen  mit  ihren  Mädchen.  Jeder 
war  mit  einer  Flinte  bewaffnet.  Auf  dem  Gange  zur  Kirche  feuerten  sie 
auf  offener  Strasse  nach  links  und  rechts  Schüsse  ab.  N'ach  der  Trauung 
wurde  das  Festessen  im  Hause  des  Bräutigams  eingenommen.  Während 
des  Mahles  musste  einer  der  Burschen  der  Braut  ein  Strumpfband 
wegnehmen,  welches  dann  zerschnitten  wurde.  Jeder  Hochzeitsgast 
heftete  ein  Stück  davon  an  seinen  Rock.  Nach  dem  Mittagessen,  das 
gewöhnlich  bis  gegen  5  Uhr  Abends  dauerte,  machte  man  einen 
Spaziergang.  Nach  dem  Abendessen  wurde  der  Speisesaal  in  einen 
Tanzsaal  umgewandelt.  Man  hatte  gewöhnlich  nur  einen  Spielmann, 
der  bis  in  die  späte  Nacht  hinein  auf  seiner  Geige  fidelte.  Am  fol- 
genden Tage  hielten  die  Familienmitglieder  noch  ein  kleines  Nach- 
fest, —  und  die  Hochzeit  war  beendet. 

Kältenhausen  (Kreis  Hagenau).  —  Sind  die  Zeremonien  in  der 
Kirche  beendigt,  so  entfernt  der  Bräutigam  den  weissen  Blumen - 
straass,  den  er  an  der  Brust  getragen.  Vor  der  Kirchthüre  warten 
die  Messdiener  und  halten  den  Hochzeitszug  an.  Jeder  muss  sich 
hier  loskanfen  Dm  1  Uhr  beginnt  das  Essen.  Während  desselben 
sucht  der  Brautführer,  der  ein  Verwandter  der  Brautleute  ist,  der 
Braut  den  Schuh  und  das  linke  Strumpfband  abzuziehen.  Der  Bräuti- 
gam sacht  dies  zu  verhindern.  Gelingt  es  jenem  nicht,  so  sagt  man : 
«der  Brautführer  bekommt  keine  Frau».  Gelangt  er  aber  in  den  Be- 
sitz von  Schuh  und  Strumpfband,  so  wird  der  Schuh  schön  geziert* 
In  denselben  wird  eine  Weinflasche  gestellt^  und  au  den  Hals  derselben 
wird  das  rote  Strumpfband  gebunden.  Der  Brautführer  sagt  einen 
Spruch,  und  nachher  leeren  der  Bräutigam,  die  Braut  und  die  Zeugen 
die  Flasche.  Das  Strumpfband  wird  in  kleine  Stücke  zerschnitten. 
Jeder  Teilnehmer  heftet  sich  ein  solches  an  die  Brust. 


—    172    - 


Geburt. 


KaUenhauaen  (Kreis  Hagenan).  —  Ist  ein  Kind  geboren,  so  leihe 
man  ans  dem  Hause  nichts  weg  und  sage  auch  fremden  Leuten 
nicht,  ob  es  ein  Knabe  oder  ein  Mädchen  ist,  weil  sonst  die  bösen 
Leute  Macht  über  das  Kind  haben   So  erzählt  hier   eine  alte  Fran: 

«Als  ich  getauft  wurde,  kam  eine  alte  Frau  und  sprach  za 
meinem  Vater:  ,Na  N.,  was  hast  denn,  einen  Elnaben  oder  ein  Mädchen?' 
Der  Vater  sagte:  ,Ein  Mädchen.'  Da  wurde  ich  krank  und  schrie 
Tag  und  Nacht.  Die  Leute  sagten,  ich  wäre  verhext,  und  »bereicherten' 
mich ;  d.  h.  sie  hingen  mir  in  einem  Täschchen  neun  geweihte  Sachen 
um,  es  muBs  aber  ein  Stückchen  der  Osterkerze  dabei  sein.  Davon 
wurde  ich  gesxmd.» 

Man  soll  auch  die  Wiege  nicht  schaukeln,  weil  sonst  das  Kind 

anwächst. 

Todesfall. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Bei  einem  Todesfall  in  der  Familie 
herrscht  der  Gebrauch,  das  Vieh  im  Stalle  aufzujagen,  Wein,  Essig, 
Sauerkraut  in  ihren  Behältern  zu  rütteln.  Man  glaubt  nämlich,  der 
Segen  Gottes  weiche  mit  dem  Abscheiden  der  Person. 

Oherbriuik  (Kreis  Thann).  —  Ist  ein  Mitglied  einer  Familie  aas 
dem  Leben  geschieden,  so  wird  dasselbe  kurz  nach  dem  Eintreten 
des  Todes  angekleidet.  Verheirateten  Personen  zieht  man  ihren 
Sonntagsstaat  an.  Ledigen  Personen  wird  ein  Kranz  aufgesetzt  Jung- 
frauen sind  weiss  gekleidet.  Der  Wöchnerin,  die  einen  lebenden 
Säugling  hinterlässt,  müssen  Schuhe  angezogen  werden,  denn  sie 
muss  während  sechs  Wochen  jede  Nacht  kommen,  um  das  Kind  zu 
ernähren. 

Nachdem  der  Tote  angezogen  ist,  werden  Kerzen  angezündet,  der 
Spiegel  im  Zimmer  mit  einem  weissen  Tuch  verhüllt,  die  Wandohr 
darf  ihren  Dienst  nicht  mehr  veiTichten,  Vögel  müssen  aus  dem 
Hause  gebracht  werden,  sonst  sterben  sie. 

Während  des  Tages  wird  das  Totenzimmer  von  den  Bewohnern 
des  Ortes  besucht.  Nachdem  sie  den  Toten  mit  Weihwasser  besprengt 
und  ein  Gebet  verrichtet  haben,  wenden  sie  sich  mit  Trostworten  an 
die  Angehörigen  des  Verblichenen.  Letztere  erzählen  dann  von  der 
Krankheit  des  Toten,  welch'  schöne  Worte  er  noch  in  letzter  Zeit 
gesprochen  habe,  und  wie  man  schon  an  verschiedenen  Zeichen  sein 
nahes  Ende  habe  erkennen  können.  Als  solche  Zeichen  gelten:  das 
Ticken  der  Totenuhr,  das  sogenannte  c  Quakerle >  (Käuzchen),  die 
Totenflecken  (blaue  Flecken  an  Füssen  und  Beinen  des  Krankeni, 
das  Anmelden  des  Sterbenden  bei  einem  Verwandten  durch  ein  seh- 
sames  Zeichen  oder  gar  durch  seine  eigene  Gestalt,  das  Vorhanden- 
sein vieler  Maulwurfshügel  auf  den  Feldern  des  Kranken.  Am  Abend 
ist  das  Totenzimmer  gewöhnlich  ganz  mit  Leuten  angefüllt.  Dann 
wird  gemeinschaftlich  gebetet.  Um  9  Uhr  beginnt  das  erste  gemein- 
schaftliche Gebet.  Es  werden  drei  Rosenkränze  und  eine  Litanei 
gebetet.  Darauf  wird  den  Frauenspersonen  Kaffee  angeboten,  den 
Mannspersonen  Schnaps   und  Brot.    Um   12  Uhr  beginnt  das  zweite 


—     173    — 

gemeinschaftliche  Gebet  und  am  3  Uhr  das  letzte  ganz  in  derselben 
Weise 

Am  Morgen  wird  der  Tote  in  den  Sarg  gelegt.  Ledige  Weibs- 
personen werden  von  weissgekleideten  Jnngfranen  auf  den  Kirchhof 
getragen.  Sonst  sind  immer  die  Jünglinge  die  Totentagrer.  Den 
Trägem  wird  der  sogenannte  «Trägerwein»  verabreicht.  Entweder 
wird  ihnen  der  Wein  in  einem  Wirtshaas  gegeben,  oder  sie  kommen 
den  daraaffolgenden  Sonntag  im  Hanse  des  Dahingeschiedenen  za 
einem  Abendimbiss  zusammen. 

Kcittenhausen  (Kreis  Hagenaa).  —  Za  wissen,  ob  ein  Kranker 
stirbt.  —  Man  nimmt  ein  wenig  Speck,  reibt  des  Kranken  Fnsssohlen 
damit  und  wirft  den  Speck  einem  Hände  vor.  Frisst  ihn  der  Hand, 
80  wird  der  Kranke  gesnnd,  wo  nicht,  so  stirbt  er.  Ein  Gleiches 
kann  man  mit  einem  Stück  Brot  thun,  wenn  man  damit  die  Stirn 
eines  Kranken  bestrichen  hat. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  die  Tarmahr  schlägt  während 
der  heil.  Wandlang,  so  gibt  es  bald  einen  Sterbfall.  Desgleichen 
wenn  beim  Totengräber  die  Schanfeln  amfallen. 

Ebenso  stirbt  bald  jemand,  wenn  bei  der  Nachbarsfrau  des 
Kranken  die  Asche  knollig  wird. 

Wenn  der  neuaufgeworfene  Grabhügel  einsinkt  (was  im  Winter 
öfters  vorkommt),  oder  bei  der  Beerdigung  der  Sarg  hohl  klingt,  so 
bedeutet  das  einen  baldigen  Todesfall  in  der  Verwandtschaft. 

Witteisheim  (Kreis  Thann).  —  Liegt  ein  Kind  in  den  letzten 
Zügen,  das  den  Mund  etwas  verzieht,  so  sieht  es  die  Engelein;  es 
lacht  ihnen  nämlich  entgegen.  Hat  es  lange  mit  dem  Tode  zu  kämpfen 
und  sind  die  Taufpaten  nicht  bei  ihm,  so  wartet  es  auf  dieselben. 
Hat  es  endlich  den  letzten  Atemzug  gethan  und  wird  es  dann  nicht 
gleich  steif,  so  zieht  es  noch  jemand  mit  in  das  Grab. 

Kilbe. 

KaUenhausen  (Kreis  Hagenau).  —  War  der  lang  ersehnte  Tag 
endlich  gekommen,  so  wurde  schon  früh  ein  grosser  Tannenbaum 
aufgestellt.  Derselbe  wurde  mit  Backwerk,  bunten  Bändern  und 
Taschentüchern  geziert.  Während  dieser  Zeit  spielte  die  Musik,  und 
es  wurden  Flinten  abgeschossen.  Des  Mittags  um  3  Uhr  begann  der 
Tans.  Vorher  wurde  ein  Umzug  gehalten.  Jeder  von  denen,  die  sich 
das  nächste  Jahr  stellen  mussten,  hatte  eine  Flasche  Wein  bei  sich, 
die  er  an  einer  roten  Schnur  trug.  Auf  diesem  Umzüge  holte  sich 
jeder  seine  Tänzerin.  War  man  vor  dem  Hause  eines  Mädchens  an- 
gekommen, so  wurde  gehalten.  Der  Bursche  ging  hinein  und  trank 
mit  den  Leuten  den  mitgebrachten  Wein.  Dafür  wurde  ihm  ein 
weisser  Schurz,  mit  roten  Bändern  geschmückt,  überreicht.  Während 
dieser  Zeit  spielte  die  Musik  vor  dem  Hause.  War  der  Zug  auf  dem 
Tanzplatze  angekommen,  wurden  zuerst  drei  Tänze  getanzt  von  denen, 
die  sich  stellen  mussten,  dann  von  denjenigen,  welche  das  nächste 
Jahr  daran  kamen.  Die  ersteren  nannte  man  «Mestigburschen»,  die 
letzteren  die  «Nachklasse>. 


—     174    — 

Um  8  Uhr  wurde  ein  Halstuch  oder  ein  Hahn  heraosgetanzt 
Ein  kleines  Licht  wurde  aufgestellt,  unten  daran  wurde  ein  Faden 
gebunden,  an  dem  ein  Glas  hing.  Ein  Sträusschen  machte  bei  den 
Tanzenden  die  Runde.  Der,  welcher  es  hatte,  wenn  das  Glas  fiel, 
gewann.  Der  Sieger  schmückte  seine  Braut  mit  dem  Halstuch  und 
tanzte  drei  Tänze  allein.  Wurde  ein  Hahn  herausgetanzt,  so  verzehrten 
ihn  der  Sieger  und  seine  Tänzerin.  Der  Tanz  dauerte  bis  zum  Mitt- 
woch Am  Mittwoch  wurde  die  Kilbe  begraben.  Man  umwickelte  einen 
Betrunkenen  mit  Stroh,  hing  ihm  Ketten  an  und  führte  ihn  durch 
das  ganze  Dorf.  Auf  einem  Wagen  wurde  ein  Bierfass  nachgeführt 
An  den  vier  Ecken  des  Dorfes  wurde  ein  Loch  gemacht  und  ein  Liter 
Bier  hineingeschüttet.  Jeder,  der  am  Zuge  teil  nahm,  erhielt  hier  ein 
Glas  Bier. 

Hexen. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  man  das  Jahr  hindurch  den 
Zahn  von  einer  Egge  findet  und  denselben  in  der  Christnacht  während 
der  Mitternachtsmesse  in  den  Sack  steckt,  die  Spitze  nach  oben,  so 
sieht  man  während  der  heil.  Wandlung  die  bösen  Geister,  die  in  der 
Kirche  sind  Sie  kehren  nämlich  während  der  heil.  Wandlung  das 
Gesicht  nach  hinten.  Man  sagt  aber,  dass  man  dann  vor  dem  Ende 
der  Messe  fortgehen  solle,  sonst  würde  man  nicht  mehr  glücklich 
nach  Hause  kommen. 

jRoppentzweiler  (Kreis  Altkirch).  —  Früher  glaubte  man,  es  seien 
an  Weihnachten  während  des  Mitternachtgottesdienstes  die  Hexen 
zu  erkennen.  Zu  diesem  Zwecke  musste  man  den  Zahn  einer  Egge, 
den  man  am  Tage  vorher  gefunden  hatte,  in  der  Tasche  haben. 
Während  der  Wandlung  sah  man  die  Hexen,  die  dem  Altare  den 
Rücken  zukehrten.  Hatte  man  sie  gesehen,  so  musste  man  sich  be- 
eilen, noch  vor  Beendigung  der  Wandlung  nach  Hause  zu  kommen; 
denn  nach  derselben  war  man  in  der  Gewalt  derselben  bis  morgens 
2  Uhr. 

Hipsheim  (Kreis  Erstein).  —  Wer  die  Hexen  eines  Dorfes  kennen 
lernen  will,  muss  an  Weihnachten  mit  12  verschiedenen  Holzarten  in 
der  Tasche  zum  Schlüsselloch  der  Kirchthüre  hineinsehen,  dann  wird 
er  sie  in  der  Nähe  des  Altares  erblicken.  Der  Betreffende  muss  aber 
sofort  die  Flucht  ergreifen ;  denn  falls  er  von  den  Hexen,  die  ihm 
sogleich  nachjagen,    eingeholt  würde,   wäre   er  ein  Kind  des  Todes. 

Niedersept  (Kreis  A.ltkirch).  —  Wenn.,  ein  Kind  eine  Krankheit 
hat,  z.  B.  Augenschmerzen,  so  glauben  die  Leute  gleich,  das  Kind 
sei  verhext.  Um  es  zu  heilen,   wird   es    «breicht»,i  d.   h.   es  werden 


1  Das  Wort  «breichen»  bedeutet  beräuchern.  Glaubt  jemand,  es 
sei  ein  Familienglied  oder  ein  Stück  Vieh  verhext,  so  wird  über  das 
verhexte  Geschöpf,  sei  es  nun  Mensch  oder  Vieh,  ein  Tuch  gebreitet, 
dann  werden  auf  eine  Kohlenschaufel  glühende  Kohlen  gelegt  und 
auf  diese  geweihte  Palmen.  Mit  diesem  Räucherwerk  geht  man  drei- 
mal um.  das  verhexte  Geschöpf  herum,  jedesmal  die  drei  höchsten 
Namen  aussprechend  und  dafür    orgend,  dass  recht  viel  Rauch  unter 


—     175    — 

Palmblätter  verbrannt,   und  das  kranke  Kind  hält  den  Kopf  in  den 
aufsteigenden  Ranch. 

Münchhausen  (Kreis  Gebweiler).  —  Wenn  die  Hühner  öfters  un- 
geschälte Eier  legen,  so  glauben  die  Leute,  dass  dieselben  verhext 
sind.  Cm  die  Hexe  zu  vertreiben,  hängen  sie  ein  solches  Ei  in  den 
Schornstein  und  räuchern  es. 

Verendet  ein  junges  Kalb  plötzlich,  so  ist  ebenfalls  eine  Hexe 
schuld  daran.  Es  wird  desshalb  das  Herz  des  Kalbes  heraus- 
geschnitten, ein  Nagel  in  dasselbe  geschlagen,  der  aus  einem  Sarg 
genommen  ist,  in  den  Schornstein  gehängt  und  geräuchert. 

Oder  man  nimmt  einen  Knochen,  wirft  denselben  in  einen  ge- 
heizten Backofen  und  wünscht,  dass  die,  welche  den  Schaden  zugefügt 
hat,  verbrennen  solle. 

Banzenheim  (Kreis  Mülhausen).  —  Wenn  in  Banzenheim  eine  Kuh 
keine  oder  nur  wenig  Milch  gibt,  so  wird  die  Kuh  cbreicht».  Dies 
geschieht  auf  folgende  Weise :  Man  nimmt  Milch  von  der  Kuh.  Diese 
Milch  wird  abends  um  12  Uhr  mit  einer  Rute  aus  Haselstränchern 
gepeitscht,  in  dem  Glauben,  dadurch  die  Hexe,  welche  die  Kuh 
verhext  haben  soll,  zu  züchtigen. 

Wenn  ein  Stück  Vieh  (Pferd,  Kuh  oder  Schwein)  krank  wird,  so 
sagt  man  oft,  es  sei  verhext.  Es  wird  dann  «breicht»,  und  zwar  auf 
folgende  Weise :  Eine  Person  aus  dem  Hause  muss  einen  neuen  Topf 
holen  nnd  Kräuter,  die  der  Nachrichter  bestimmt.  Dieser  Nachrichter 
gibt  alles  an,  was  man  zu  thun  hat.  Die  Person,  welche  den  Topf 
und  die  Kräuter  holt,  darf  niemand  auf  dem  Wege  gi-üssen  und 
niemand  sagen,  wohin  sie  geht.  Die  Kräuter  werden  gekocht  und 
zwar  des  abends  von  11—12  Uhr.  Von  den  gekochten  Kräutern 
wird  ein  Teil  dem  vermeintlich  verhexten  Vieh  gegeben.  Das  übrige 
muss  die  Person,  die  den  Topf  geholt  hat,  abends  von  11—12  Uhr 
in  den  Rhein  tragen,  aber  sie  darf  niemanden  auf  dem  Wege  grüssen 
oder  gar  sprechen.  —  (Noch  heute  so.) 

Bischofsheim  (Kreis  Molsheim).  —  Eine  Wöchnerin  darf  niemals 
etwas  ausleihen ;   denn  sonst  haben  böse  Menschen  Gewalt  über  sie. 

Zu  einer  Wöchnerin  kam  einstens  eine  andere  Frau  und  begehrte 
Streichhölzer,  die  ihr  auch  gegeben  wurden.  Als  sie  sich  entfernt 
hatte,  konnte  man  den  Säugling,  der  eingewickelt  auf  dem  Tische 
tagy  nicht  mehr  von  Ort  und  Stelle  bringen.  Man  rief  den  Hexen- 
meister herzu,  der  das  Kind  wieder  befreite. 

Eine  Mutter  war  eines  schönen  Knaben  entbunden;  aber  der 
Kleine  wollte  von  der  Mutterbrust   nicht   trinken;   dagegen   durften 


das  Tuch  und  besonders  auf  die  verhexte  Stelle  dringt.  Wenn  auf 
diese  <Kur>  keine  Besserung  erfolgt,  so  wird  dieselbe  dreimal  an 
den  darauf  folgenden  Tagen  wiederholt.  Dieser  Gebrauch  kommt 
jetzt  noch  oft  vor. 

Dieses  Wort  bedeutet  dann  überhaupt  «enthexen»,  wenn  auch 
ein  eigentliches  «Beräuchern»  nicht  dabei  vorkommt.  Siehe  z.  B. 
unter  Banzenheim  auf  dieser  Seite,  unter  Friesen  S.  179  und  Kalten- 
hausen  S.  172. 


—    176    — 

ihn  andere  Mütter  säugen  und  seine  Mutter  auch  andere  Kinder.  Der 
Knabe  war  verhext.  Zuerst  suchte  man  Hilfe  im  Dorfe,  allein  der 
Hexenmeister  sagte,  dazu  habe  er  nicht  Macht  genug,  sie  müssten 
zu  dem  in  Meisegott  gehen.  Der  Vater  des  Kindes  reiste  sogleich 
dahin.  Dieser  gab  dem  Vater  einige  Kräuter  mit  und  sagte:  cWenn 
es  Bettglock  geläutet  hat,  soll  ihre  Frau  den  Säugling  an  die  Brust 
drücken,  ein  grosser  Tuch  über  sich  hängen  und  dann  die  Kräuter 
verbrennen,  sie  darf  aber  ja  kein  Wort  sprechen».  Die  Frau  that  es 
genau  so,  wie  es  ihr  Mann  berichtete.  Während  sie  es  that,  kam  die 
Nachbarin  an  die  Thür,  klopfte  dreimal  und  rief  sie  beim  Namen. 
Allein  von  innen  wurde  keine  Antwort  gegeben,  die  Nachbarin  ent- 
fernte sich  schleunigst,  und  das  Kind  war  von  dem  Banne  befreit. 

KcdtenhatMen  (Kreis  Hagenau).  —  Schon  oft  ist  es  vorgekommen, 
dass  Leute  von  einer  Kuh,    welche   erst  14   Tage   gekälbert  hatte, 
keine  Milch  erhielten.  Man  sagte:  «die  Hexen  haben  sie  ausgesogen» 
Man  suchte  dies  zu  heilen,  indem  man  folgenden  Sprach  aufschrieb 
und  in  den  Stall  hing: 

Schütz,  0  Gott,  dieses  Haus, 
Wo  wir  gehen  ein  und  aus, 
Diesen  Ort,  der  uns  so  teuer. 
Bewahr  ihn,  Herr,  vor  Feuer. 
0  heilige  Agatha  für  uns  bitte, 
Wache  auch  in  unserer  Mitte, 
Dass  bis  zu  unserm  End, 
Dieses  Unglück  sich  von  tms  wend. 

Bischofsheim  (Kreis  Molsheim).  —  Nach  dem  Bettglockläuten 
darf  nichts  von  einer  Kuh  verkauft  werden,  denn  sonst  haben  die 
bösen  Geister  Gewalt  über  dieselbe.  Wird  jedoch  Milch  oder  ähnliche 
Sachen  nach  der  bestimmten  Zeit  fortgetragen,  so  besprengt  man 
sie  mit  Weihwasser. 

Eines  Abends  spät  kam  einst  ein  Wanderer  zu  einem  Bauer  und 
begehrte  eine  Milchsuppe.  Der  Wirt  hatte  keine  Milch  und  wollte 
auch  keine  mehr  holen,  da  es  schon  Bettglock  geläutet  hatte.  Der 
Fremde  begehrte  hierauf  eine  Axt,  schlug  sie  in  einen  Balken,  holte 
einen  Topf  herbei  und  fing  an,  aus  der  Axt  zu  melken.  Mit  grossen 
Augen  schauten  ihm  die  Hausbewohner  zu  und  fragten  ihn  nachher, 
woher  die  Milch  wäre  Dieser  antwortete:  «Die  Milch  kommt  von 
einer  Kuh,  die  im  Schwarzwald  kniehoch  im  Gras  steht».  Alsdann 
kochte  man  ihm  eine  Milchsuppe,  aber  um  keinen  Preis  hätten  die 
Hausbewohner  davon  gegessen. 

HixUstadt  (Kreis  Gebweiler).  —  Mittel  gegen  das  Kindergespenst, 
«Dokele»  genannt.  —  Wenn  der  Säugling  in  der  Wiege  während  der 
Nacht  weint,  so  glauben  einige  Eltern,  das  «Dokele»  quäle  ihn.  Um 
dieses  zu  vertreiben,  wenden  sie  folgendes  Mittel  an.  unter  die  Wiege 
legen  sie  zwei  Sicheln  übereinander.  An  die  Thüre  zeichnen  sie  mit 
der  Kreide  zwei  Dokelefüsse  (Drudenfuss).  Es  gibt  dabei  einen  ein- 
fachen und  einen  doppelten  Dokelefnss. 

Mit  diesen  Zeichen,  glauben  die  Leute,  werde  das  «Dokele»  vom 
Säugling  femgehalten. 


—    177    — 

Gewitter. 

Hattstadt  (Kreis  Gebweiler).  —  In  dem  Kloster  Marbach  bei 
Vöklinshofen  wurde  bei  schweren  Gewittern  die  grosse  Glocke  ge- 
läutet. Dieselbe  wurde  von  den  Leuten  der  Umgebung  «der  grosse 
Hund»  genannt    (Sie  befindet  sich  hente  noch  in  Egisheim.) 

Sobald  die  Glocke  bei  einem  Gewitter  geläutet  wurde,  sagten 
die  Leute: 

«Hört  ihr!  wie  es  in  den  Lüften  schellt, 
Der  grosse  Hund  von  Marbach  bellt. 
Die  bösen  Geister,  sie  schreien  alle, 
Und  der  grosse  Hund  Yeijaget  alle.» 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Um  sich  gegen  Blitz  zu  schützen, 
legt  man  geweihte  Palmen  kreuzweise  ins  Feuer,  kniet  dann  nieder 
und  betet  den  englischen  Gruss  und  das  Evangelium  des  heil 
Johannes. 

Ämmerschweier  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  Während  eines  Ge- 
witters werden  geweihte  Palmen  und  Kohlen  verbrannt,  um  dasselbe 
unschädlich  zu  machen. 

Aberglauben. 

Bischofsheim  (Kreis  Molsheim).  —  Fällt  ein  Zahn  aus,  so  wird 
er  unter  das  Bettgestell  geworfen  mit  den  Worten: 

«Müs,  Müs,  kumm  herus, 
Breng  mer  bald  erneue  drus.» 

BappoUsweüer.  —  Man  soll  nie  Haare  zum  Fenster  hinaus  werfen, 
weil  sonst  die  bösen  Leute  Gewalt  über  den  Betreffenden  haben. 

Legt  man  Haare  von  einer  andern  Person  in  die  Schuhe,  so  dass 
sie  durch  den  Schweiss  nass  werden,  so  muss  die  Person  in  eiligem 
Laufe  herkommen. 

Davon  erzählt  man  hier  folgende  Geschichte :  Der  Geliebte  eines 
Mädchens  war  in  einem  benachbarten  Dorf  auf  der  Kilbe  und  tanzte 
mit  einem  andern  Mädchen.  Seine  Geliebte  hatte  von  ihm  einige 
Haare.  Als  sie  dies  erfuhr,  nahm  sie  die  Haare  und  legte  sie  in  den 
Schuh.  Da  zog  es  den  Geliebten  auf  einmal  vom  Tanze  weg,  und  in 
eiligem  Laufe  kam  er  zu  seiner  Geliebten  nach  Rappoltsweiler 

Böse  Geister  müssen  immer  mit  der  linken  Hand  unschädlich 
gemacht  werden 

Auf  ihre  Fragen  soll  man  keine  Antworten  geben. 

Hattstadt  (Kreis  Gebweiler).  —  Mancher  Zimmermann  fällt, 
wenn  die  Sonne  im  Zeichen  des  Krebses  oder  des  Scorpions  steht 
kein  Holz,  weil  er  glaubt,  der  Wurm  werde  alsdann  in  dasselbe 
kommen. 

Hattsiatt  'Kreis  Gebweiler).  —  Um  stets  schönes  und  starkes 
Vieh  zu  haben,  gibt  ein  Bauer  aus  Hattstatt  folgendes  Mittel  an: 
«Man  nimmt  den  Hafer,  welchen  z.  B.  die  Pferde  nach  ihrer  Fütterung 
nicht  mehr  fressen  und   in   der   Krippe  liegen  lassen,  in  die  Hand 


—    178    — 

and  fährt  ihnen  damit  einige  Male  den   Rücken   auf   cnd  ab.»    Das 
wirkt  sicher. 

Ämmerschweier  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  Wenn  man  in  den 
Fronfasten  Obst  von  den  Bänmen  macht,  so  tragen  sie  nichts  mehr. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Die  Leate  glauben  fest,  dass  beim 
Schlachten  der  Schweine  der  Mondwechsel  grossen  Einfluss  habe. 
So  z  B.  glauben  sie,  dass  beim  schwindenden  Mond  das  Fett  aas- 
triefe, hingegen  beim  wachsenden  Mond  Maden  in  das  Fleisch  kämen. 
Deshalb  schlachten  sie  am  liebsten  ihre  Schweine  an  Voll-  oder 
Neumond 

Kcdtenhausen  (Kreis  Hagenau).  —  Wenn  jemand  aus  einer  Familie 
lange  Zeit  abwesend  ist,  so  dass  man  von  seinem  Leben  und  Tod 
nichts  erfahren  kann,  so  nimmt  man  Wundkraut  (Fetthenne).  Von 
diesem  Kraut  breche  man  einen  Stengel  ab  und  stecke  ihn  an  einen 
Ort  unter  das  Dach  des  Hauses.  Ist  die  Person  noch  am  Leben,  so 
wächst  das  Kraut  fort  und  gewinnt  oben  neue  Blätter,  wenn  die 
alten  auch  verwelken ;  wenn  die  Person  tot  ist,  so  verwelkt  es  ganz. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  man  an  einem  Samstag  um- 
zieht, so  bleibt  man  nicht  lange  am  neuen  Wohnort. 

Wenn  man  am  gleichen  Tage  umzieht,  da  jemand  beerdigt  wini, 
so  gibt  es  einen  baldigen  Todesfall  in  der  Familie. 

Ämmerschweier  Kreis  (Rappoltsweiler).  —  Wenn  man  in  den 
Hundstagen  badet,  so  bekommt  man  die  Hundsblattern. 

Krankheiten. 

Hattstatt  (Kreis  Gebweiler).  —  Mittel  gegen  die  Gicht  —  Die 
Beeren  des  schwarzen  Johannisstrauches  sollen,  wenn  der  Strauch 
unter  gewissen  Ceremonien  ausgegraben  wird,  die  Gicht  vertreiben, 
wenn  die  kranke  Person  davon  isst. 

Ostlmusen  (Kreis  Erstein).  —  Mittel,  eine  Schnittwunde  zu  heilen. 
—  Wenn  man  sich  schneidet,  so  soll  man  sogleich  den  eraten  besten 
Stein  von  dem  Boden  aufheben  und  denselben  auf  die  Wunde  legen. 
Ist  der  Stein  davon  blutig  geworden,  so  soll  man  ihn  wieder  genan 
an  dieselbe  Stelle  zurücklegen,  und  zwar  soll  er  wieder  mit  dem- 
selben Teil  in  die  Erde  kommen,  mit  welchem  er  vorhin  darin  ge- 
legen. Wenn  man  dieses  thut,  so  wird  die  Wunde  schnell  heilen. 

Kaltenhausen  (Kreis  Hagenau).  —  Ein  Menschenzahn,  den  man 
an  den  Hals  hängt,  lindert  sogleich  die  Zahnschmerzen.  Noch  besser 
soll  eine  Bohne  sein,  in  die  man  ein  kleines  Loch  bohrt  und  eine 
Laus  hineinsteckt.  Das  Ganze  wird  hierauf  in  ein  kleines  Stück 
Seidenzeug  gewickelt  und  um  den  Hals  gehängt. 

Boppentzweiler  (Kreis  Altkirch).  —  Ist  jemand  an  einem  Beine 
lahm,  so  soll  er  sich,  während  es  die  Wandlung  läutet,  die  Stube 
auf  und  abführen  lassen  und  die  Namen  der  drei  göttlichen  Personen 
aussprechen. 

Wenn  einem  kleinen  Kinde  der  Nabel  nicht  heilen  will,  so  soll 
man,  wenn  man  auf  das  Feld  geht  und  einen  abgebrochenen  Eggen- 


—    179    — 

zahn  findet,    denselben   in   die   Erde   schlagen   und  fünf  Vaterunser 
beten. 

Friesen  (Kreis  Altkirch^  —  Geweihte  Kohlen  und  Palmen,  Drei- 
faltigkeitssalz  und  Medaillen  werden  angewendet,  um  die  Menschen 
und  Tiere  zu  «breichen»,  w^enn  sie  durch  den  Einfluss  böser  Geister 
etc.  geschwollen  sind  Diese  Gegenstände  werden  dem  Kranken  um- 
gehängt 

Sprüche  gegen  Krankheiten. 

Kaltenhausen  (ELreis  Hagenauj.  —  Für  den  Wurm  an  allen  Gliedern. 
—  Wurm,  ich  beschwöre  dich  bei  dem  heiligen  Tag;  Wurm,  ich  be- 
schwöre dich  bei  der  heiligen  Nacht;  Wurm,  ich  beschwöre  dich  bei 
den  heiligen  drei  Nägeln  Christi ;  Wurm,  ich  beschwöre  dich  bei  der 
Kraft  Gottes,  du  seiest  grün,  blnu.  weiss,  schwarz  oder  rot,  dass  du 
liegest  in  dem  Finger  tot  H — l — h.  Drei  mal  gesprochen  und  bei 
jedem  der  höchsten  Namen  darüber  weggeblasen. 

Gegen  Grimmen. 

Ein  alter  Scbnurrenkopf,  ein  alter  Leibrock,  ein  Glas  voll  Rauiten- 
Wein,  Bärmutter,  lass  das  Grimmen  sein.  -+--+-  -4-  .H  mal. 

Gegen  Geschwulst. 

Glückhaft  sei  der  Tag,  glückhaft  sei  die  Stund,  dass  du  weder 
geschwillst  noch  geschwärst,  bis  Maria  einen  andern  Sohn  gebärt. 
-4-  -4-  -+-. 

Ein  Anderes. 

Geschwulst,  Geschwulst,  Geschwulst,  ich  gebiete  dir  im  Namen 
Jesu  Christi,  dass  du  dem  N  N.  so  wenig  schadest,  als  unserm 
Herrn  Jesu  Christi  die  drei  Nägel  geschadet,  die  ihm  die  Juden 
durch  Hände  und  Füsse  geschlagen  H — I — h  3  mal 

Wenn  man  ein  Bein  verrenkt.  —  Ich  oder  du  hast  dein  Bein 
verrenkt,  man  hat  Jesum  Christum  ans  Kreuz  gehenkt,  thut  ihm 
sein  Henken  nichts,  thut  dir  dein  Verrenken  nichts,  -f-  +  +  3  mal. 

fiinen  Schues  zu  binden.  —  Schuss  st«he  still  in  Gottes  Namen, 
gib  weder  Feuer  noch  Flammen,  so  gewiss  die  Mutter  Gottes  eine 
reine  Jungfrau  geblieben  ist.  -+--+--»-. 

Sage  vom  wilden  Jäger. 

Rosheim  ^Kreis  Molsheim).  —  Der  Stadtschreiber  aus  Rosheim.  — 
In  Rosheim  war  ein  berüchtigter  Stadtschreiber,  dessen  die  Bürger 
gerne  losgewesen  wären;  doch  konnten  sie  sich  seiner  nicht  ent- 
ledigen. Als  er  gestorben  war,  glaubten  die  Bewohner,  er  käme 
wieder,  um  sie  zu  plagen. 

Um  diesem  vorzubeugen,  rief  man  einen  Geisterbeschwörer  herbei, 
und  dieser  beschwor  ihn  in  eine  Flasche,  und  diese  wurde  dann  in 
den  Wald  hinaus  getragen.  Von  dieser  Zeit  an  machte  er  den  ganzen 
Wald  unsicher.  Er  setzte  sich  den  Fuhrleuten  auf  den  Wagen,  und 
sie  kamen   nicht   mehr  von  der  Stelle.   Während  der  Nacht  hielt  er 


—     180    — 

mit  seinen  Genossen  grosse  Jagden  ab,  ja  sogar  während  des  Tages. 
So  erzählte  ein  Mann,  er  sei  im  tiefen  Walde  auf  eine  hohe  Tanne 
gestiegen,  um  Aeste  abzuschlagen.  Da  hörte  er  plötzlich  Büchsen 
knallen,  Jagdhörner  und  das  Bellen  der  Hunde.  Er  glaubte,  es  wäre  der 
Förster,  stieg  rasch  vom  Baume  und  verbarg  sich  im  nahen  Gebüsch. 
Jetzt  brausten  die  Jäger,  von  ihren  Hunden  begleitet,  mit  Windes- 
schnelle an  ihm  vorüber.  Es  war  aber  nicht  der  vermeintliche  Förster, 
sondern  der  Stadtschreiber  mit  seinen  Gesellen. 

Ortsneckereien. 

Weil  in  Lautenbach  sehr  viel  Speck  gegessen  wird,  so  führen  die 
Bewohner  den  Namen  Speckschelmen.  «Es  ist  nicht  möglich,  dsss 
die  Lautenbacher  den  Speck,  den  sie  verzehren,  kaufen  kÖnnen>, 
sagen  nämlich  im  Scherz  die  Bewohner  der  Nachbargemeinden, 
«notwendigerweise  müssen  sie  ihn  stehlen >. 

An  der  Kirchenuhr  von  Bufach  war  früher  der  Kopf  eines  Mannes 
angebracht.  Wenn  die  Uhr  schlug,  so  streckte  dieser  Kopf  die  Zange 
heraus  und  zwar  soviel  mal,  als  der  Glockenschlag  ertönte.  Daron 
erhielten  die  Rufacher  den  Spitznamen  «Lalli»,  womit  man  im  EIssbb 
solche  bezeichnet,  die  die  Gewohnheit  haben,  die  Zunge  herans- 
zustrecken. 

Volkssprache. 

OstJiausen  (Kreis  Erstein).  —  Einem  Mädchen,  welches  pfeift,  and 
einem  Huhn,  welches  kräht,  gehört  der  Hals  herumgedreht 

Wenn  die  Mädchen  pfeifen,  so  weint  die  Mutter  Gottes. 

Wenn  in  einem  Bauernhofe  Gras  wächst,  geht  der  Bauer  zn 
Grunde. 

Backt  man  in  den  Tagen  zwischen  Weihnachten  und  Neogalir, 
so  ist  das  Brod  nicht  schön  das  ganze  Jahr. 


XVII. 


Chronik  des  Jahres   1889. 


28.  Jun.  Dr.  Williehn  Mankel,  Dialekt  forscher,  stirbt  zu 
Strassburg. 

30.  Jan. :  Georg  Gayelin,  Dichter,  stirbt  zu  Rixheim. 

30.  März :  Das  Kais:;rpalais  zu  Strassburg  >vird  von  dem 
Architekten,  Herrn  Landhauiiispektor  Eggert,  an  das  Kaiserliche 
Hofmarschallamt  übergeben. 

"29.  Mai  :  Grundsteinlegung  des  Slauweihers  (Altweier)  bei 
Metzeral. 

6.  Juni  :  Einweihung  der  neuen  Bibliotheksräume  in 
Schlettstadt. 

16.  Juni:  Grundsteinlegung  der  neuen  katholischen  Kirche 
zu  Sti^ssburg. 

14.  Juli :  Generalversammlung  des  Vogesenklubs  in  Schir- 
meck. 

6.  Aug. :  Einweihung  des  Baierndenkmals  in  Wörlh. 

10.  Aug.  :  400jähriger  Geburlstag  des  grossen  Strassburger 
Stettrneisters  Jacob  Sturm. 

15    Aug.  :  Forstmeister  von  Bodungen  stirbt  in  Colmar. 

18.  Aug.  :  Einweihung  des  Denkmals  für  die  Gardeschützen 
bei  St.  Privat. 

20. — 22.  Aug. :  Kaiser  Wilhelm  II.  und  Kaiserin  Augusta 
Victoria  in  Strassburg  anwesend,  23.  Aug.  in  Metz. 

9.-14.  Sept.:  Deutscher  Juristenlag  in  Strassburg. 

14. — 17.  Sept. :  Deutscher  Verein  für  öfTentliche  Gesund- 
heilspflege in  Strassburg. 

15.  Dez. :  Eröffnung  der  Eisenbahn  Buchswciler-Ingweiler. 
t26.    Dez. :    Oherlandesgerichtsrat   Alwenz    stirbt    zu    Berg- 
zabern. 


13 


XVIII. 


Sjtzungsprotokolle, 


Vor  st  andssitzung . 


18.  November  1880,  im  Seminar  für  dentsche  Philologie 

(Universität). 


Anwesend:  die  Herren  Barack,  Eiiting,  Franke,  Harl»ordl, 
Martin,  Mündel,  Schlumberger,  Wiegand.  Ihr  Ausbleiben  haben 
entschuldigt  die  Herren  Erichson,  Herrenschneider  und  Luthmer. 

Der  Vorsitzende  Prof.  Martin  lierichtet  über  einige  Ein- 
ladungen anderer  Vereine,  welche  der  Zweig- Verein  im  Laufe 
des  Jahrs  erhalten  hat.  Es  wird  auf  den  Antrag  von  Wiegand 
beschlossen,  dem  Gesamt -Verein  der  deutschen  Geschichts- 
und Altertums- Vereine  beizutreten  und  davon  dem  Vorstand 
des  Vogesen-Clubs  sowie  der  General- Versammlung  Mitteilung  zu 
machen. 

Die  Mitteilungen  für  die  General -Versammlung  werden 
vorbereitet  sowie  einige  für  das  Jahrbuch  eingelaufene  Artjeiten 
vorgelegt  und  zur  Berichterstattung  verteilt. 

Es  wird  beschlossen,  die  nächste  Vorstands- Sitzung  erst  im 
März  zu  halten,  da  sich  der  bisherige  Weihnachtstermin  als 
ungelegen  erwiesen  hat.  Auch  die  Sonntags-Sitzung  soll  künftig 
so  gelegt  werden,  dass  sie  nicht  mehr  mit  dem  Heformations- 
fest  zusammenfallt. 


—    183    — 

Da  Mitglied  Luthmer  um  seine  Entlassung  aus  dem  Vor- 
ijtande  gebeten  hat,  so  wird  beschlossen,  Herrn  Gymnasial- 
direktor Dr.  Deecke  von  Mülhausen  an  seiner  Stelle  zu  cooptieren. 

Es  foljirt  die 

Allgemeine  Sitzung. 

Prof.  Marlin  erölTEet  die  Sitzun^r  und  erstattet  den  Rechen- 
schaftsbericht über  die  Entwickelung  des  Zweig-Vereins  im  ab- 
gelaufenen Jahre.  Die  Mitgliederzahl  betrug  986  und  die  Kasse 
ergab  einen  Fehlbetrag  von  17  uf  35  ^. 

Der  Kassenbericht  des  Herrn  Mündel  wird  von  zwei  Mit- 
«rliedern  der  Versammlung,  den  Herren  Bechstein  und  Haus- 
mann, geprüft  und  richtig  befunden. 

Prof.  Marl  in  halt  einen  Vortrag  über  den  Goethe-Hügel  zu 
Sesenheim  und  legt  dann  die  Sammlungen  und  Vorarbeiten  zum 
Elsässischen  Idiotikon  vor. 

Zum  Schluss  wird  der  bisherige  Vorstand  durch  Acclarnation 
wiedergewählt. 

Nach  der  Sitzung  vereinigen  sich  die  auswärtigen  Mitglieder 
mit  mehreren  hiesigen  zum  Mittagessen  in  der  Bahnhofs- 
Restauration. 


Yorstandssitznng. 

12.  März  1890,  im  Bezirks- Archiv. 

Anwesend  :  die  Herren  Erichson,  Harbordt,  Martin,  Mündel, 
Rathgeher  und  Wiegand.  Ihr  Ausbleiben  haben  entschuldigt 
die  Herren  Deecke,  Franke,  Hering,  Herrenschneider  und  Ihme. 

Die  für  das  Jahrbuch  189()  eingelaufenen  Beiträge  werden 
vorgelegt,  besprochen  und  zur  Berichterstattung  verteilt. 


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JAHRBUCH 


FÜR 


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GESCHICHTE,  SPRACHE  UND  LITTERATURj 


ELSASS-1.0THRINGENS 


HERAUSGEGEBEN 


VON    DEM 


HISTORISCH-LITTERARISCHEN  ZWEIGVEREIN 


DES 


VOGESEN-CLUBS. 


VII.  JAHRGANG. 


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J.   H.   ED.    HEITZ  (HEITZ  &  MÜNDEL) 

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GESCHICHTE.  SPRACHE  UND  LITTERATUR 


ELSASS-1.0THRINGENS 


HERAUSGEGEBEN 


VON    OEM 


HISTORISCH-LITTERARISCHEN  ZWEIGVEREIN 


DES 


VOGESEN-CLUBS. 


VII.  JAHRGANG. 


STRASSBURG 

J.    H.   ED.    HEITZ   (HEITZ  &  MÜNDEL) 

1891. 


THE  NEW   :OHK 

PUBLIC  LIBRARY 

1  T8S'i<) 


ASTOR,  LENOX  AND 
TILDEN  FOU-' DATION«. 

R  19CS  L 


Inhalt. 


Seite 

I.  Der  Donon  und  seine  Denkmäler  von  0.  Bechstein  1 

Name  des  Berges 2 

I.  Entdeckung  der  Donondenkmäler f) 

II.  Uebersichtliche  Zusammenstellung  der  Denkmäler  ....  21 

1.  Die  Umfassungsmauer.    —   Die  Gebäude    und   die  Siiule 

(Votivaltare)  auf  dem  unteren  Plateau 21 

2.  Die  Reliefbilder  auf  dem  Gipfel 31 

A.  Relief  mit  Inschrift  Belliccus  Surbur 81 

B.  Die  profanen  Reliefbilder 39 

C.  Die  Gölterbilder 45 

D.  Köpfe  von  Statuen ST 

3.  Kleinere  Fundgegenstande  vom  Donon 5*7 

4.  Inschriften 59 

5.  Römerwege 66 

Schlusswort 72 

Nachtrag     Die  in  dem  Tempel  auf  dem  Donongipfel  aufbewahrten 

Denkmäler  betr 16 

Bibliographien  Ober  den  Donon 78 

II  Ein  Förderer  des  Verkehrswesens  in  EIsass-Lothringen  im 

16.  Jahrhundert  yon  OttoWinckelmann.     .    .     .  83 

III.  Reichenstein  oder  das   alte  Schloss  bei  Reichenweier  von 

E.  Ensfelder 101 

VI.  Das    napoleonische    Wappen    von     Strassbnrg    von    A. 

Schricker 106 

V.  Notizen   eines  Strassbnrger  Bürgers  um    1625.    Mitgeteilt 

von  E   Martin 109 

VI.  Elsässische  Litteratar  zur  Zeit  Gottscheds  von  E.  Martin  117 

Vn.  Ans  einer  elsässischen  Familienchronik.    Bilder   ans  dem 

dreissigjährigen  Kriege.  Mitgeteilt  von  J.  Rathgeber  123 

VIII.  Zwölf  nngedrnckte    Briefe    von    Pfeffel.    Mitgeteilt   von 

J.  Rathgeber 128 

IX.  Elsässische  Sprichwörter  und  sprichwörtliche  Redensarten. 

Mitgeteilt  von  J.  Rathgeber 141 

X.  Volkstümliches  von  A.  U  h  1  h  o  r  n 146 


jener  längst  verklung-enen  Zeit  geblieben  sind.  Leider  sind 
heutigen  Tages  fast  alle  diese  Denkmäler  von  jenem  Berge  ver- 
schwunden: unglückselige  Sammelwut  hat  weggeschleppt,  wa?? 
religiöser  Fanatismus,  blinde  Zerstörungswut  und  Mangel  an 
Ehrfurcht  vor  jenen  steinernen  Zeugen  einer  alten  Zeit,  in  die 
kein  Lichtstrahl  der  Geschichte  fallt,  übrig  gelassen  hatten. 
Wären  sie  heute  noch  dort  oben  beisammen,  geschützt  g^en 
die  zerstörenden  Einwirkungen  des  Wetters  und  der  Menschen, 
dann  würde  diese  Sammlung  mit  mehr  Recht  den  Namen  eines 
<rMus6e»  verdienen,  als  der  moderne  römische  Tempel  auf  dem 
Gipfel  mit  den  traurigen  Ueberresten  diesen  stolzen  Namen 
trägt,  und  der  Donon  würde  zu  den  merkwürdigsten  Bergen 
diesseits  der  Alpen  zählen. 

Die  Verwirklichung  dieses  Gedankens  ist  unwiederbringlich 
dahin  ;  denn  nur  sehr  wenige  Denkmäler  existieren  überhaupt 
noch ;  die  meisten  kennen  wir  nur  aus  Beschreibungen  und 
zum  Teil  recht  mangelhaften  bildlichen  Darstellungen.  An  ihrer 
Hand  jene  Denkmäler  noch  einmal  zu  versammeln  und  so  ein 
wenn  auch  abgeblasstes  Bild  von  dem  Aussehen  des  Berges  in 
jener  Zeit  zu  bieten,  wo  die  religiösen  Anschauungen  der  ein- 
geborenen gallischen  Bevölkerung  mit  der  eindringenden  römi- 
schen Kultur  sich  verschmolzen,  hat  der  Verfasser  in  der  fol- 
genden Arbeit  versucht,  in  der  nach  einer  Uebersicht  über  die 
Geschichte  der  Aufdeckung  der  Donondenkmäler  diese  seihst 
zusammengestellt  und  nach  den  zum  Teil  schwer  zugänglichen 
Werken  entnommenen  zerstreuten  Bemerkungen  der  Lokal- 
forscher beschrieben  werden.  Genaue  Angabe  der  Quellen  und 
eine  möglichst  vollständige  Bibliographie  am  Ende  des  Aufsatxes 
soll  denen,  die  sich  auch  nach  anderen  Seiten  hin  näher  über 
diesen  interessanten  Berg  unterrichten  wollen,  die  Wege  weisen. 

Unseres  Berges  findet  sich  bei  keinem  römischen  Schriftsteller 
Erwähnung  gethan.  Erst  im  12.  und  13.  Jahrhundert  begegnet 
er  uns  unter  dem  Namen  Ferratus  mons  in  zwei  Urkunden.' 
Dom  Alliot,  der  älteste  Forscher,  dem  wir  genauere  Nach- 
richten über  den  Donon  aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhundert;; 
verdanken,  nennt  ihn «  Montag ne  de  Framont,  ein  Name. 


^  Eine  via  ferrati  montis  wird  erwähnt  in  «iner  SchenkuDgsor- 
konde  des  Herzogs  Mathieu  an  die  Abtei  Beaupre  bei  Laneville  Tom 
Jahre  1172  (im  Archiv  zu  St-Die,  bei  Gravier,  Histoire  de  St-Die, 
S.  334) ;  die  zweite  Urkunde  ist  eine  lateinische  Handsf^hrift  der 
Kirche  von  St-Di6  vom  Jahre  1272,  citiert  bei  Calmet,  Notice  de 
Lorraine  I,  S.  471.  (Grandidier,  Bist.  d'Als.  S.  H6  giebt  das  Jahr  1273, 

«  Journ.  des  Savants  1693,  S.  77. 


—    3    — 

den  ihm  die  Umwohner  beilegten,  weil  nach  der  Ueberlieferunj? 
der  fränkische  König  Faramund  daselbst  begraben  sei  (also 
eigentlich  =  montagne  de  Faramund).  Er  fügt  hinzu,  dass 
andere  glauben,  Framont  sei  =  Mont  des  Francs,  was  wegen 
der  deutschen  Bezeichnung  Frankenberg  nicht  unwahr- 
scheinlich sei.  Eine  Bestätigung  dieser  Volksüberlieferung  findet 
AUiot  in  dem,  was  Joh.  Trittenheim  (Trilhemius),  der  im  An- 
fang des  iö.  Jahrhunderts  eine  Geschichte  der  ersten  Franken- 
könige schrieb,  aus  Hunibald  mitteilt,  der  nicht  nur  Faramund^ 
sondern  auch  noch  andere  Frankenkönige  daselbst  begraben 
sein  lässt,  wenn  Alliot  auch  an  die  Zuverlässigkeit  der  beiden 
Historiker  nicht  recht  glauben  will. 

"Wenn  Schöpflin  i  demgegenüber  auf  die  historische 
Thatsache  hinweist,  dass  die  Franken  vor  der  Schlacht  von 
Tolbiacum  (496)  niemals  ins  Elsass  gekommen  seien,  und  des- 
halb glaubt,  dass  Trittenheim  nicht  den  Donon,  unsern  Fran- 
kenberg in  den  Yogesen,  sondern  den  Berg  gleichen  Namens  in 
Hessen,  sechs  Stunden  von  Marburg,  im  Sinne  habe,*  so  ist 
daran  zu  erinnern,  dass  derartige  sagenhafte  Ueberlieferungen 
—  und  nur  um  eine  solche  kann  es  sich  hier  handeln  — 
durchaus  nicht  an  historische  Thatsachen  gebunden  sind  und 
dass  sehr  wohl  jene  Sage,  die  anderswo  entstand,  von  den 
.später  in  unser  Land  eindringenden  Franken  mitgebracht  und 
hier  lokalisiert  werden  konnte,  ein  Vorgang,  für  den  es  zahl- 
reiche Beispiele  giebt. 

Und  in  der  That  scheint  die  Ueberlieferung,  dass  der 
Frankenkönig  Faramund  auf  dem  Frankenberg  gewohnt  habe 
und  mit  grossen  Schätzen,  die  nach  dem  Glauben  des  Volkes 
noch  in  demselben  ruhen,  daselbst  begraben  sei,  schon  seit 
alter  Zeit  auch   am    Donon  zu    haflen.»    Wenn    wir    also  auch 


1  Als.  ill.  I,  S.  451. 

^  Was  aber  keineswegs  sicher  ist.  Nach  einer  Notiz  bei  Qravier, 
Jonrn.  de  la  See.  d^^mul.  VII,  S.  25  hat  der  Jesuit  Coccius  in  Mols- 
heim, indem  er  von  dem  Begräbnis  des  Königs  Faramund  auf  dem 
Frankenberg  spricht,  diesen  ausdrücklich  in  die  Vogesen  verlegt  (in 
editissimis  Vosagi  jagibns). 

3  Mabillon  ouvr.  posth.  II,  S.  47  hatte  behauptet,  dass  diese 
Ueberliefemng  schon  in  einer  Urkunde  der  Abtei  Senones  aus  dem 
Jahre  12^31  erwähnt  werde.  Dem  tritt  indessen  Calmet  a.  a.  0. 
S.  470  f.  entgegen,  mit  dem  Nachweis,  dass  in  der  betr.  Urkunde 
zwar  von  Framont,  nicht  aber  von  Faramund  und  seinem  angeblichen 
Begräbnis  die  Rede  sei.  —  Jene  Sage  hat  einem  anonymen  reichs- 
ländischen  Dichter  Veranlassung  zu  einer  Ballade  gegeben,  betitelt 
«Faramunds  Leichenfeier»,  die  als  Dononsage  in  dem  Feuilleton  der 
Strassburger  Zeitung  1879  Nr.  103  vom  3.  Mai  veröffentlicht  ist. 


—    4    — 

nicht  an  die  Existenz  jener  mythischen  Frankenkönige  und  ihren 
Aufenthalt  auf  dem  Donon  glauben,  so  ist  doch  kein  Grund  vor- 
handen, deshalb  mit  Schöpflin  jene  Etymologie  von  Framont 
überhaupt  zurückzuweisen,  das  in  der  That  höchst  wahrschein- 
lich aus  Franc  mont  =  Frankenberg  hergeleitet  ist,  wie  Bk- 
mont  aus  Blanc  mont  =  Blankenberg;  den  Versuch  dagegen, 
in  Framont  den  Namen  des  Königs  Faramund  wieder  finden 
zu  wollen,  wird  wohl  heutigen  Tages  niemand  mehr  unter- 
stützen. 

Schöpflin  stellt  dagegen  andere  Ableitungen  auf,  von  denen 
die,  welche  Framont  aus  Fractus  mont  (duo  montes  juxta  se 
positi  et  ex  uno  quasi  in  duo  diffi^acti  d.  i.  gr.  u.  kl.  Donon) 
noch  die  ansprechendste  ist.  Framont  aber  mit  Ferratus  mons 
zusammenzubringen,  erscheint  unmöglich,  wenngleich,  wie  wir 
sahen,  dieser  Name  der  älteste  uns  überlieferte  ist.  i  Letztere 
Bezeichnung  könnte  er  erhalten  haben  wegen  seiner  reichen 
Eisenvorräle  («Eisenberg») ;  da  diese  freilich  erst  Mitte  des 
•13.  Jahrhunderts*  entdeckt  worden  sind,  während,  wie  erwähnt, 
dieser  Name  schon  dl 72  vorkommt,  so  ist  schliesslich  die  Ab- 
leitung von  den  an  seinem  Fusse  zusammentreffenden  und 
vorüberführenden  Römerstrassen  (s.  u.  S.  (i6),  die  im  Mittel- 
alter viae  ferratae  genannt  wurden,»  nicht  ganz  von  der  Hand 
zu  weisen.* 

Uebrigens  hält  es  Schöpflin  für  gar  nicht  sicher,  dass  der 
Donon  selbst  Framont  genannt  worden  sei,  ein  Name,  den 
heutigen  Tages  noch  der  am  Fusse  des  Beides  gelegene  Weiler 
(früher  Eisenwerke)  führt.  Er  ist  vielmehr  geneigt,  Framont  her- 
zuleiten von  infra  montem  —  eine  Etymologie,  die  ganz  unge- 
heuerlich ist  —  und  zu  glauben,  dass  der  Berg  Montagne  de 
Framont  nach  jenem  Orte  genannt  sei.  Wäre  das  letzlere 
richtig,  so  könnte  man  sich  den  Vorgang  vielleicht  so  erklären, 
dass  der  Ort  ursprünglich  seinen  Namen  von  dem  Bei^e  er- 
halten habe  und  dass   dieser  dann   später,   als  die  Etymologie 


i  Wenn  Gravier  (Journ.  a.  a.  0.)  mitteilt,  dass  in  französischen 
Urkunden  der  Kirche  von  St-Di6  ans  späterer  Zeit  der  Berg  Ferr6- 
m  o  n  t  genannt  werde,  so  ist  dies  der  beste  Beweis  gegen  die  auch 
von  ihm  verteidigte  Etymologie  Framont  =  Ferratus  mons,  denn  Ferr6- 
mont  ist  einfach  die  französische  Uebersetzung  des  Ferratns  mons, 
and  aas  Ferr6mont  kann  niemals  ein  Framont  werden. 

2  Nach  Calmet  a.  a.  0.  S.  471  im  Jahre  1259,  nach  GraTier  a. 
a.  0.  1247. 

^  Vergl.  Da  Gange,  Glossarium  mediae  et  infimae  latin.  s.  v.  via. 

*  So  auch  Gravier,  Journ.  a.  a.  0.  und   Eist,  de  St-Di6.  S.  334. 


des  Namens  im  Volksbewusstsein  verloren  gegangen,  «Berg  von 
Framont»  genannt  >vurde. 

Den  jetzt  allgemein  verbreiteten  Namen  Donon  —  die 
deutsche  Bezeichnung  Hohe  D.onne  ist  leider  fast  in  Ver- 
fressenheit geraten  —  erwähnt  zuerst  Ruinart  i  neben  dem  eben 
besprochenen  Frankenberg,  der  heut  zu  Tage  ganz  ausser  Ge- 
brauch gekommen  ist,  und  leitet  ihn  ab  aus  duo  montes 
(Donont  =  Deux  monts),  quod  revera  sit  velut  mons  alter,  qui 
supra  ceteros  exsurgit  (weil  er  wie  ein  zweiter  Berg  über  die 
übrigen  sich  erhebt. )> 

Dieser  Etymologie  gegenüber  wird  man  der  ziemlich  allgemein 
anerkannten,  die  Donon  mit  dem  keltischen  Don  oder  D  u  n  = 
Berg,  das  sich  in  den  zahlreichen  gallischen  Städtenamen  auf 
dunum  erhalten  hat,9  zusammenbringt,  auch  dann  den  Vorzug 
geben,  wenn  man  nicht  den  Keltomanen  zustimmt  in  der  An- 
nahme, dass  der  Donon  «das  hieratische  Gentrum  der  keltischen 
Urbevölkerung»  war.  Denn  in  der  That  muss  jeder,  der  den 
Donon  kennt,  der  weiss,  wie  er  besonders  von  der  lothringischen 
Seite  her  aus  der  einförmigen  Höhenlinie  der  Vogesenkette 
sich  frei  erhebt,  zugeben,  dass  dieser  durch  seine  Lage  wie 
durch  seine  Gestalt  gleich  ausgezeichnete  Berg  von  den  Um- 
wohnern «als  der  Berg  par  excellence^)  bezeichnet  werden 
konnte. 

Fassen  wir  also  noch  einmal  obige  Ausführungen  zusammen, 
so  ergiebt  sich,  dass  für  unsern  Berg  drei  von  einander  unab- 
hängige Namen  vorhanden  sind:  1.  Ferratus  mons,  fr.  Ferre- 
mont;  2.  Framont,  deutsch  Frankenl)erg  und  3.  Donon,  deutsch 
Hohe  Donne. 


I.  Entdeckung  der  Donondenkmäler. 

Bis  gegen  Ende  des  47.  Jahrhunderts  ruhten  die  gallo- 
römischen  Denkmäler  auf  dem  Donon,  ohne  die  Neugierde  ge- 
lehrter Forscher  auf  sich  zu  ziehen.  Nur  eine  Teilungsurkunde 
der  Grafschaft  Salm  aus  dem  Jahre  1598  erwähnt  beiläufig  die 


1  Iter  liter.  in  ouvr.  posth.  de  Mabillon  III,  443. 

2  Das  ist  etwas  dunkel  ausgedrückt.  Schöpflin,  S.  451,  giebt  es 
wieder  durch  mons  monti  impositus  videtur,  glaubt  also,  dass  mons 
alter  der  höchste  Gipfel  sei,  der  auf  dem  eigentlichen  Bergrücken 
aufgesetzt  sei.  Aber  snpra  ceteros ! 

3  Vergl.  Böget  de  Belloguet,  Glossaire  gaulois.  2<^  ed.  Paris  1872. 
S.  140  f. 


—     H     — 

bedeutendste  der  dortigen  Ruinen  mit  den  Worten  :  un  vieux 
chäteau  encommenc^  de  batir.  i  Die  ersten  genaueren  Nach- 
richten über  jene  Denkmäler  verdanken  wir  den  beiden  Brüdern 
Dom  Hyacinthus  Alliot,  1676—1705  Abt  von  Moyenmoutier, 
und  Dom  Petrus  Alliot,  1684—1715  Abt  von  Senones,»  die, 
angeregt  durch  den  Bericht  (eines  Ordensbruders  ?)  *  im  Jahre 
161>2  zum  ersten  Male  und  in  den  folgenden  Jahren  noch  öfter 
den  Donon  besuchten .  Ersterer ,  Hyacinthus  Alliot,  be- 
richtete in  verschiedenen  Briefen  über  die  dort  gesehenen  Denk- 
mäler seinem  Bruder,  der  J^eibarzt  bei  Ludwig  XIV.  (conseiller- 
medecin  ordinaire  du  Roi)  war. 

Nachdem  er  ihm  in  einem  ersten  Briefe  auf  Grund 
einer  ihm  von  anderer  Seite  zugegangenen  Mitteilung  übercden 
Berg  von  Framont»  (Montagfne  de  Framont)  vorläufigen  Bericht 


1  Citiert  bei  Gravier,  Journ.  de  la  Soc.  d'fimulation.  N"  VII,  18^7. 
S.  18. 

2  Die  Abteien  von  Senones  und  Moyenmoutier  lagen  südwestlich 
vom  Donon  in  Rabodeauthal ,  unweit  von  Raou-V^tape  an  der 
Mearthe. 

s  Herr  Gaston  Save,  Kunstmaler  in  St-Di6,  ein  eifriger  Forscher 
der  Altertümer  in  den  westlichen  Vogesen,  besitzt  eine  sehr  inter- 
essante Sammlang  bildlicher  Darstellungen  des  Donon  und  seiner 
Denkmäler.  In  derselben  befindet  sich  u.  a.  ein  Holzschnitt  aus  dem 
16.  Jahrb.,  eine  Darstellnng  des  Donongipfels  mit  dem  Belief  Bellic- 
cus  Surbur,  6  Türmen  und  den  Rainen  eines  Tempels,  nebst  hand- 
schriftlichen Randbemerkungen :  [tucte^  f er  —  tulmtntj  ^pttiti  — 
templum  —  und  der  Titelaufschrift:  iFraniienbeegf  ober  ^onnont^ 
monlmentd  atlqua  stq.  fiemcu^  |urauc  notia  ab  J^.  Xeontto  tnfcrtptiQ 
teperta.  Durch  die  freundliche  Ueberlassung  des  Originals,  wofür  ich 
dem  genannten  Herrn  auch  an  dieser  Stelle  meinen  Dank  aasspreche, 
ist  es  mir  möglich  geworden,  die  Herkunft  des  Bildes  festznstellen. 
Da  hat  sich  denn  das  überraschende  Resultat  ergeben,  dass  jene 
Darstellung  ein  Ausschnitt  aus  Sebastian  Münsters  Cosmographey. 
Basel  1564.  S.  590  ist,  wo  es  aber  gar  nicht  nnsern  Donon,  sondern 
cAugusta  Raurica»  (=  Augusta  Rauricomm,  j.  Basel-Angst)  darstellen 
soll,  und  dass  nicht  nur  die  Aufschriften,  sondern  auch  die  Abbildung 
des  Reliefs  Belliccns  Surbur  —  was  wegen  der  Uebermalang  des 
ganzen  Bildes  vorher  nicht  leicht  zu  erkennen  war  —  spätere  will- 
kürliche Zusätze  eines  Unbekannten  sind.  Trotzdem  bietet  auch  nach 
dieser  Entdeckung  das  Bild  noch  ein  gewisses  Interesse  wegen  der 
handschriftlichen  Zusätze,  die  nach  den  Schriftzügen  jedenfalls  alt 
sind,  da  wir  daraus  den  Entdecker  jener  merkwürdigen  Inschrift 
und  damit  wohl  überhaupt  den  Auffinder  der  Donon  denk  mäler  kennen 
lernen :  den  Pater  Leontius,  über  dessen  Lebensveit  und 
Wohnort  freilich  leider  nichts  festzustellen  war. 


—     7    — 

erstatlef,    teilte  er  ihm  in    einem    zweiten    Briefe*   seine 
eigenen  Beobaehtnngen  mit : 

Lajfe  des  Berges,  den  er  für  den  höchsten  in  den  Vogesen 
hält  und  der  sechs  Stunden  von  Molsheim  und  ebenso  weit  von 
Markirch,  Saarburg  und  Raon-Pfitape  entfernt,  auf  der  öst- 
lichen Grenze  des  Gebietes  liegt,  das  der  König  Ghilderich  der 
Abtei  Senones  geschenkt  hat.  An  seinem  Fusse  führt  eine 
Strasse  vorbei,  die  früher  die  gewöhnliche  Verbindung  zwischen 
Lothringen  und  Deutschland  bildete.  Der  obere  Teil  des  Berges 
ist  ein  Plateau,  ungefähr  100  Fuss  breit  und  400  Schritte  in 
westöstlicher  Richtung  lang,  das  auf  drei  Seiten  von  schroß'  ab- 
:>}türzenden  Felsen  begl*enzt  ist  und  im  Osten  noch  von  einem 
höheren  Felsen  überragt  wird.  Dann  heisst  es  über  die  Denk- 
mäler wörtlich  folgendermassen : 

«Hundert  Schritt  von  dem  Felsen  (am  westlichen  Abhänge) 
belinden  sich  die  Reste  einesGebäudes,  dessen  Umfangs- 
inauern  deutlich  zu  erkennen  sind.  Es  mass  im  Innern  37 
Fuss  in  die  Länge,  28  Fuss  in  die  Breite  und  13  Fuss  in  die 
Höhe  bis  zum  Dach.  Die  beiden  Thüren  im  Osten  und  Westen 
waren  4'  7"  hoch  und  2'  breit;  die  beiden  Fenster  im  Süden 
und  Norden  5'  hoch  und  4'  breit.  Die  Steine  waren  so  fest 
mit  einander  verbunden,  dass,  wenn  man  einen  davon  aus  den 
Fugen  reissen  wollte,  er  eher  mitten  durchbrach,  als  dass  er 
sich  von  der  Verbindung  loslöste.  Beim  Ausheben  eines  4'  tiefen 
(ri^bens  im  Innern  fand  man  Ziegel  und  Kohlen,  welche  be- 
wiesen, dass  das  Haus  einst  vollendet  war  «  und  nur  durch  die 
Zeil  oder  durch  Feuer  zerstört  wurde.  —  20  Fuss  von  da  sah 
man  die  Trümmer  einer  39'  hohen  Säule;  nachdem  man 
alle  Stücke  derselben  zusammengestellt  hatte,  erkannte  man, 
•lass  sie  gleichsam  drei  Säulen,  eine  über  der  anderen,  bildete, 
t'ine  jede  mit  Kapital  und  Base.  Vermutlich  stand  auf  der 
obersten  eine  Statue.  —  t55  Fuss  weiter  gegen  Osten  traf  man 
'lie  Ruinen  eines  anderen,  ähnlichen  Gebäudes. 
Gegen  Norden  sah  man  den  Platz,  wo  ein  Brunnen  war.  — 
200  Schritte  von  dem  zweiten  Gebäude  schienen  die  Ruinen 
eines  dritten  Gebäudes  zu  sein.  Geht  man  immer  weiter 


*  Abgedruckt  im  Journal  des  Savants  1693,  Jan.  S.  74.  ff.  Der- 
selbe ist  bisher  merkwürdigerweise  allen  Forschern  entgangen ;  nur 
Schöpflin  erwähnt  ihn,  setzt  ihn  aber  fälschlicherweise  in  das  Jahr 
1d97.  Das  Nähere  darüber  s.  nnten.  S.  II  Anm.  1. 

-  Früher  war  offenbar  die  Ansicht  verbreitet,  die  auch  in  der 
oben  angeführten  Urkunde  aus  dem  16.  Jahrhundert  ihren  Ausdruck 
gefunden  hat,  als  ob  das  Gebäude  unvollendet  gewesen  sei. 


—    8    — 

nach  Osten,  so  kommt  man  auf  den    Gipfel    des   Beides,   der 
ein  Oval,  150  Schritte  in  westöstlicher   Richtung   lang  und  25 
Fuss  in   nordsüdlicher  Richtung  hreit,    bildet   und  von  einem 
15'    hohen    Felsen    begrenzt  ^wird.     Auf  der    Südseite    diese> 
Felsens  ist  in  einer  3'  langen   und   2'  hohen  Umrahmung  ein 
Basrelief  eingehauen,  das  einen  Löwen  und  einen  Eber  dar- 
stellt. Der  Löwe  geht  aufwärts  mit  geöffnetem  Rachen  auf  den 
Eber    los ;    darunter    mit    grossen    Buchstaben    die    Inschrift 
BELLICcVS,    dessen   zweites  c  kleiner  als   das  erste  ist.    Der 
Eber,  höher  als  der  Löwe  stehend,  schemt  gegen  einen  Felsen 
gedrängt   zu    sein  ;    darunter :    SVRBVR.    —  Am    Fusse   de?* 
Felsens,   besonders    auf    der    Süd-    und   Nordseite,    hat   man 
mehrere  Statuen^  gefunden.  Die  erste  scheint  einen  Mann 
darzustellen,    der    mit   einer  Art   von   enganliegendem   Wams 
(pourpoint)   bekleidet   war,    dessen    Zipfel    auf   den    Unterleih 
herabhingen.  Auf  den   Schultern   hatte   er  ein  Fell,    scheinbar 
das  eines   Schafes,   wie   man   aus   den    Hinterfüssen  desselben 
vermuten  kann,  die  neben  den  Beinen  sichtbar  sind.  Von  einer 
zweiten  Statue  sind   nur   noch  Stücke   der   Schenkel,  Beine 
und  Füsse,  augenscheinlich   von  einer  Frau,    vorhanden.    Die 
dritte  Statue  ist  ein  Mercur,    in  der  Linken  seinen  Herolds- 
stab, in  der  Rechten  einen   Geldbeutel   haltend.     Der  Kopf  ist 
ebenso  wie    bei  allen  anderen  Statuen  abgebrochen,  vermutlich 
infolge  des  Sturzes  von  dem  Felsen  herab.  Die  vierte  Statue 
könnte  die  einer   Bacchuspriesierin    sein,  die   in   der  Rechten 
zwei  ineinander  verschlungene  Nattern   hält  und  den  Kopf  der 
einen  zerdrückt.  Neben  ihr  sieht  man  ein  Tier,  das  man  nicht 
deutlich  erkennen  kann   und   das   vielleicht  ein  Bock  ist.    Die 
fünfte  Statue  ist  doppelt:   ein    Mann    mit   einem    Kind   au^ 
einem  Stein  gehauen.  Die  Tunica  des  Mannes  reicht  nur  h\^ 
zur  Mitte  des  Unterschenkels  und  ist  mit  einer  Art  von  Mantel 
überdeckt.  Das  Kind  hat  keinen  Mantel,  sondern  nur  eine  dop- 
pelte   Tunica,    von    der    die     innere   bis    auf    die    Füsse,  die 
äussere  nur   bis  zur   Mitte  des  Unterschenkels  reicht.    Es  hält 
in  der  Rechten  ein  Spielzeug,  das  einer  kleinen  Keule  ähnlich 
sieht.     Die    drei    anderen   Statuen   haben  nichts  Beson- 
deres.» —  Es  folgt  dann  eine  Auseinandersetzung  über  die  an 
dem    Berge    entspringenden  Bäche,    zu    denen  der 
Verfasser  ausser  «Pleine»  und  «Säur»  (Saar)  auch  fälschlicher- 
weise die  «Prusche»  (Breusch)  zählt,  sowie  über  den  Namen 
des  Berges.    In  Bezug  auf  die  Bedeutung  des  selben 
in  alten  Zeiten    meint  A.,  dass    derselbe   den  Umwohnern  als 


1  D.  i.  Basreliefs. 


—    9    — 

Yersammlungsplatz  ihrer  gottesdienstlichen  Handlungen  oder 
als  Zufluchtsstätte  in  Kriegszeiten  gedient  haben  könnte.  Die 
erstere  Ansicht  glaubt  er  bestätigt  zu  finden  in  Lucan.  Pharsal. 
III,  399  fF.,  wo  der  Dichter  von  dem  Waldesdunkel  spricht,  in 
dem  die  Gallier  einst  ihre  Opfer  darbrachten,  ferner  durch  die 
Statuen,  besonders  die  des  Mercur,  der  nach  Caesar  (bell. 
pH.  VI,  17)  von  den  Galliern  vorzugsweise  verehrt  wurde.  Für 
die  zweite  Ansicht  führt  er,  merkwürdig  genug,  die  Heiden- 
inauer  auf  dem  Odilienberge  an,  der  nicht  weit  vom  Berge 
von  Fraraont  entfernt  sei.  «Vielleicht  haben  die  Römer,  die  die 
Gallier  von  hier  vertrieben,  den  Löwen  und  den  Eber 
als  ein  Denkmal  ihres  Sieges  eingehauen.  Der  Löwe  stellt  die 
fremden  Eindringlinge,  der  Eber  die  auf  diesen  Berg  zurück- 
gedrängten Eingeborenen  dar.  Bellicus  ist  das  Beiwort  des 
Löwen,  um  den  Mut  der  Angreifer,  und  Surbur  das  des  Ebers, 
um  den  Widerstand  der  Eingeborenen  zu  bezeichnen,  die  ihre 
Verschanzung  verteidigten.»  Auf  die  Römer  weise  auch  die 
Inschrift  in  lateinischen  Buchstaben  hin  ;  weniger  wahrschein- 
lich erscheine  die  Annahme,  dass  das  Denkmal  von  den 
Franken  stamme,  was  noch  weiter  ausgeführt  wird.  Was  die 
Gebäude  auf  dem  Frankenberg  betrifft,  so  können  sie  Grab- 
inäler  der  ersten  Fran  ken  herz  öge  oder  die  Woh- 
nungen   der  Druiden  gewesen  sein. 

Am  Ende  des  Briefes  stellt  A.  weitere  Ausgrabungen  füi* 
das  nächste  Frühjahr  in  Aussicht,  um  ein  sichereres  Urteil  über 
die  zuletzt  berührten  Fragen  zu  gewinnen.  Doch  scheinen  sich 
dieselben  verzögert  zu  haben;  denn  erst  unter  dem  14.  Sep- 
tember 1696  folgt  ein  neuer,  dritter  Brief  an  dieselbe 
Adresse.  • 

Er  war  in  Begleitung  seines  Bruders,  des  schon  genannten 
Petrus  Alliot,  Abt  von  Senones,  seines  Neffen  Hyacinthus 
AUiot »  und  anderer  Ordensbrüder  auf  den  Donon  gegangen  und 
hatte  Arbeiter   für   die  Ausgrabungen   mitgenommen,   um  wo- 


1  Derselbe  ist  abgediiickt  nach  einer  die  Orthographie  beibe- 
haltenden Abschrift  —  wo  das  Original  aufbewahrt  wird,  ist  nicht 
angegeben,  vermatlich  aber  in  Epinal  —  von  J ol  1  o i  s,  Memoire 
8ar  les  antiquit6s  du  Donon  (im  Journal  de  la  Society  d' Emulation 
du  d^p.  des  Vosges,  II.  vol.;  Sep.-Abdr.  davon  Epinal  1828)  und 
genauer:  Id.,  Memoire  sur  quelques  antiquit^s  remarqnables  du 
d6p.  des  Vosges.  Paris  1843.  S    132  Anm 

*  Derselbe  war  religieux  B6n6dictin  de  la  Congregation  de 
S.  Vannes  und  hat  im  JournaK  des  Savants  1696,  S.  18,  über  eine 
in  Beauvais  gef.  Mercurstatue  berichtet,  wobei  er  auch  der  Funde 
auf  dem  Berge  von  Framont  Erwähnung  thut. 


—    10    — 

möglich  die  Bestätigung  seiner  Vermutung,  dass  jene  Gebäude 
Grabstätten  gewesen  seien,  zu  finden. 

In  dieser  Absicht  Hess  er   durch  das  erste  Gebäude  seiner 
ganzen  Breite  nach  einen  4'  breiten  und  2'  tiefen  Graben  aus- 
heben, wobei  man  bald  mehrere   Stücke    von    verschie- 
denen   Urnen    fand:     A.  zweifelte    nun    nicht   mehr,   dass 
jenes  Gebäude  zur  Zeit  des   Heidentums  als  Grabstatte  gedient 
habe.  Infolge  seiner  weiteren  Vermutung,  dass  auch  die  grosse 
Säule  ähnlichen  Zwecken  gedient   haben   könnte   und   dass    sie 
vielleicht   über   den  Urnen  der   angesehensten    Leute  errichtet 
war,  Hess  er  ringsherum  in  der   Nähe,    besonders  da,  wo  ihm 
die  Basis  derselben  einst  gestanden  zu  haben    schien,  die  Erde 
umgraben  ;  und  in  der  That,  man  stiess  auf  Stucke  von  drei 
verschiedenen  Urnen.     Die    Erde    war   hier    aschfarbig, 
vielleicht,    dass    bei    früheren    Ausgrabungen   die    Asche,    mit 
der  die  Urnen    gefüllt  waren,  an    der    Erde   zerstreut  wurde; 
vielleicht  auch,  da   keine  einzige  Urne  ganz  war,  dass  der  re- 
Hgiöse  Fanatismus    der   altchristlichen   Bevölkerung,    vermischt 
mit  der   Hoffnung,    in  diesen    Urnen    Münzen  zu  finden,  diese 
Zeugen  des  Heidentums  zertrümmert  hat. 

Auf  dem  obersten  Gipfel  des  Berges,  am  Fusse 
des  denselben  bedeckenden  Felsens,  forderten  die  Ausgrabungen 
noch  die  Reste  von  21  Statuen  (d.  i.  Basreliefs)  zu  Tage» 
die  zum  Teil  unter  den  beinstarken  Baumwurzeln  und  der 
1 1|2  Fuss  dicken  Moosdecke  hervorgeholt  werden  mussten.  Von 
den  aufgefundenen  Bildwerken  waren  einige  noch  vollständig 
unversehrt,  von  anderen  waren  nur  noch  die  Beine,  Füsse, 
Hände  oder  andere  Teile  vorhanden.  Unter  diesen  Bruchslücken 
war  besonders  eins  mit  einem  Paar  Füssen,  an  denen  man 
noch  deutlich  die  Sandalen  eikennen  konnte,  bemerkenswert. 
Alle  Köpfe,  die  man  gefunden,  gehörten  scheinbar  Frauen  an. 
Inbetreff  der  Einzelheiten  verweist  der  Briefschreiber  auf  die 
Abbildungen  1  und  die  dabei  stehenden  Bemerkungen. 

Durch  die  oben  angeführten  Urnenfunde  glaubt  nun 
A.  seine  Ansicht  bestätigt  zu  finden,  dass  jene  Gebäude  be- 
stimmt waren  zur  Aufnahme  der  Totenurnen,  und  eine  ausser- 
halb derselben  gefundene  Scherbe  einer  Urne  führt  ihn  zu  der 
Vermutung,  dass  der  ganze  Platz  ringsherum  überhaupt  diesem 
Zwecke  geweiht  war.  Sachverstandige  denen  er  die  Urnen- 
fragmente vorlegte,  erkannten  sie  als  wirkliche  Graburnen  an ; 
sie  ähnelten  sehr  einer  Urne,  die  man  drei  bis  vier  Jahre  zuvor 
in  Strassburg   beim    Bau   einer    Bastion    gefunden    hatte.     Der 


1  Die  sog.  Rotstiftzeichimngen  ;  s.  unten. 


—  11  — 

Briefschreiber  zweifelt  nicht,  dass  man  bei  weiteren  Aus- 
i^rabungen  noch  manches  Stück  Altertum  zu  Tage  fördern 
werde.  Leute  aus  der  Umgegend,  welche  kamen,  um  zu  sehen, 
was  die  Mönche  da  oben  machten,  haben  den  Bildern  die  Ex- 
tremitäten zum  Teil  abgeschlagen. i 

Einen  Bericht  aber  seine  Entdeckungen  auf  dem  Donon 
nebst  Abbildungen  der  Reliefs  hat  Dom  H.  Alliot  femer 
an  Dom  Jean  Mabillon^  Ben^dictin  de  la  congregation  de 
S.  Maur  in  der  Abtei  St.  Germain  des  Pr6s,  geschickt  (Jahr?), 
den  dieser  (wohl  wörtlich)  in  seinem  Discours  sur  les  anciennes 
•sepultures  de  nos  Rois  benutzt  hat.  2  Derselbe  stimmt  meist 
enau     mit    dem    oben    erwähnten    Brief    Alliots    (Journ.    des 


ir 


1  Einen  Brief  Alliots  an  seinen  Bruder  ans  dem  Jahre  1697 
erwähnt  SchÖpflin ;  er  befand  sich  handschriftlich  in  seiner  Bibliothek 
und  ist  nach  seiner  Angabe  niemals  gedioickt  worden.  (Als.  ill.  I, 
S.  84  Anm.  [a].)  Ans  den  von  ihm  daraus  citierten  Angaben  ergiebt 
sich  indessen,  dass  es  kein  anderer  sein  kann,  als  der  oben  be- 
sprochene, im  Journ.  des  Sav.  16  93  abgedruckte.  Ein  einziges  Citat 
könnte  dieser  Annahme  widersprechen.  S.  84  zählt  nämlich  Scböpflin 
den  Hyacinthus  Alliot  unter  denjenigen  Gelehrten  auf,  welche  in  den 
mit  den  Sagum  bekleideten  Bildern  (Doppel bild  und  einfaches  Bild, 
SchÖpflin  tab.  III)  Druidenpriester  erkennen  wollen  und  verweist  auf 
obigen  Brief,  in  dem  indessen  Alliot  sich  nicht  in  diesem  Sinne  aus- 
spricht. Vergleicht  man  aber  damit  S.  454,  wo  SchÖpflin  jene  Ansicht 
mehrerer  Gelehrten  über  die  Druidendarstellungen  wiederholt  und 
wo  er  in  Anm.  [g]  sagt :  «Alliotus  in  Epistola  Ms.  dnbius  haesit,  ita 
enim  scribit:  Aedificia  in  monte  Dononis  reperta  vel  monimenta 
faerint  priscorum  Ducum  Francorum,  vel  habitationes  Druidum», 
so  merkt  man,  dass  dies  die  Worte  sind,  aus  denen  er  auch  S.  84 
auf  Alliots  Ansicht  von  jenen  Bildern  geschlossen  hat.  Die  beiden 
andern  Citate  (S.  453  Anm.  0  und  S.  455  Anm.  u)  aus  Alliots  Brief 
finden  sich  klar  und  deutlich  in  dem  oben  erwähnten  zweiten 
Briefe.  Man  kann  also  die  Identität  von  Schöpflins  Brief  aus  dem 
Jahre  1697  mit  dem  obigen  im  Journ.  des  Sav.  1693  abgedruckten 
nicht  bezweifeln  und  muss  inbezug  auf  die  Jahreszahl  ein  Versehen 
Schöpfiins  annehmen  und  ebenso  die  Angabe,  dass  der  Brief  niemals 
gedruckt  sei,  auf  Unkenntnis  Scböpflins  zurückführen. 

An  einer  andern  Stelle  (S.  452  Anm.  [i])  citiert  SchÖpflin  einen 
Brief  H.  Alliots  an  seinen  Bruder,  der  im  Journ.  des  Sav.  1696 
Jan.  p.  25  abgedruckt  sein  soll ;  auch  dieses  Citat  ist  falsch,  was 
aber  nicht  verhindert  hat,  dass  dasselbe  noch  oft  von  andern  Ge- 
lehrten wiederholt  worden  ist. 

2  Vorgelesen  in  der  Pariser  Akademie  am  25.  April  1702; 
abgedruckt  in  Ouvrages  po&thumes  de  J.  Mabillon  et  de  Thierri 
Ruinart.  Paris  1724  T.  II,  p.  43  suiv.,  und  in  den  M^moires  de 
TAcad^mie  des  inscript.  et  helles  lettres  1736  T.  II,  p   633  suiv. 


—    12    — 

Sav.   1693)   überein,    enthält   aber   noch   einige   wichtige  Zu- 
sätze : 

Nachdem  er  Seite  45  von  den  Einzelheiten  des  Gebäudes 
gesprochen,  fährt  er  fort :  ecMan  kann  nicht  sehen,  ob  die 
Steine  mit  Mörtel  oder  mit  Eisen  [Klammern]  verbunden  sind. 
Die  Ziegel,  die  dieses  Gebäude  bedeckten,  waren  flach, 
10"  breit  und  1"  dick  mitlifs  zölligem  Rand.»  Die  Höhe  der 
Säule  wird  hier  nur  auf  29  Fuss  angegeben.  Erwähnt  werden 
femer  die  Inschriften  auf  den  SteiniJn  dieser  Säule ;  eine 
derselben  lautete  : 

L  0.  M. 

C.  LVCVLLVS 

LEPIDINVS 

V.   S.    L.   M. 

In  Bezug  auf  die  Besti  mmung  der  Gebäude:  cEs 
ist  schwerlich  anzunehmen,  dass  diese  Gebäude  zu  etwas  anderm 
gedient  haben,  als  zu  Tempeln  oder  zu  Wohnungen  für 
die  Priester,  i  Vielleicht  können  die  heidnischen  Umwohner 
(payens)  auch  ihre  Begräbnisstätte  hier  gehabt  haben»;  Beweis: 
Ürnenfunde,  worunter  auch  die  3  unter  dem  Säulenfuss  ge- 
fundenen erwähnt  werden.  (Vergl.  den  dritten  Brief  AUiots !)  — 

Von  Petrus  Alliot,  dem  Abte  von  Senones,  ist 
uns  ein  kürzerer  Bericht  über  den  Donon  und  seine  Denkmäler, 
vermutlich  ebenfalls  aus  dem  Jahre  1692,  erhalten,  den  ich, 
obwohl  er  manches  aus  den  angeführten  Mitteilungen  seinem 
Bruders  bereits  Bekannte  enthält,  doch  in  extenso  in  deutscher 
Uebersetzung  wiedergebe,  da  er  bisher  nur  in  einem  sehr  selten 
gewordenen  Memoire  sur  les  antiquit^s  du  Donon  von  Gravier 
veröffentlicht  ist,  *  Es  heisst  da  : 

ccVon  der  Abtei  in  Senones  steigt  man  auf  sehr  schmalen^ 
holperigen  Wegen  mitten  durch  die  schrecklichste  Wildnis  der 
Vogesen ;  aber  nach  einem  zweistündigen  Marsche  wird  man 
angenehm  überrascht  durch  den  Anblick  von  weiten  Hoch- 
ebenen, von  den  Umwohnern  Chaumes  genannt,  die  sich  bei 
wechselnder  Breite  drei  Stunden  weit  hinziehen.  An  diesen 
wandert  man  gemächlich  vorbei  bis  in  die  Nähe  des  Beides  von 
Framont ;  dann  geht's  allmählich  und  mühelos  wieder  auf^irts 


1  Ob  diese  Bemerkang  auch  von  Alliot  stammt? 

2  Im  Journ.  de  la  See.  d'fimulation  Nr.  VII,  1827 ;  da&  Original 
wird  vermutlich  in  Epinal  aufbewahrt.  —  Irrtümlicher  Weise 
schreibt  Gravier  diesen  Bericht  dem  Dom  [Hyacinthus]  Alliot,  Abt 
von  Moyenmoutier,  zu;  äussere  und  innere  Gründe  lassen  den 
Irrtum  leicht  erkennen. 


—    13    — 

auf  dem  Wege,  der  in  früheren  Zeiten  die  grosse  Landstrasse 
aus  Lothringen  nach  Elsass  bildete,  bis  zu  einer  Wiese,  wo 
man  eine  frische,  wasserreiche  Quelle  trifft.  Von  hier  aus  steigt 
man  noch  eine  Viertelstunde  ziemlich  bequem,  dann  aber  wird 
der  Abhang  so  steil,  dass  man  nur  mit  vieler  Mühe  empor- 
klettern  kann.  ^  Kommt  man  endlich  auf  die  Höhe,  so  findet 
man  ein  ziemlich  ausgedehntes  Plateau  (terre-plein),  das  im 
Osten  von  einem  noch  höheren  Felsen  überragt  wird. 

Der  ganze  so  hohe  und  schwer  zugangliche  Gipfel  ist  von 
einer  sehr  ausgedehnten  Mauer  umschlossen,  welche  auf  dem 
oberen  Rand  des  Abhanges  ruht,  der  von  dem  Fusse  der  Mauer 
an  eine  Art  Glacis  bildet.  Dieses  hat  Menschenhand  noch  steiler 
and  fast  unzugänglich  gemacht  dadurch,  dass  man  die  Erd- 
massen überall  zu  diesem  Zwecke  entfernt  hat. «  Diese  Mauer 
war  in  gewissen  Abständen  gestützt  durch  viereckige  Türme, 
die  aber  in  der  Mauer  selbst  lagen  und  durch  diese  mit  ein- 
ander verbunden  waren,  so  dass  sie  jener  wiederum  als  Strebe- 
pfeiler dienten. 

In  dieser  ganzen  Umfangsmauer  war  nur  ein  einziges  Thor, 
nämlich  da,  wo  sich  die  Wege  aus  Lothringen  nach  Deutsch- 
land vereinigten,  die  zwischen  diesem  und  einem  benachbarten 
Bei^e,  dem  sogenannten  Kleinen  Donon  hindurchführten.  Dieses 
Thor  wurde  gebildet  durch  zwei  dicke  Türme,  deren  Unterbau 
man  noch  sieht. 

iOO  Schritte  von  dem  ersten  Felsen  s  gegen  Osten  trifft 
man  zunächst  die  Reste  eines  alten  Gebäudes,  das  im  Innern 
37'  lang,  28'  breit  und  bis  zum  Dach  13'  hoch,  bis  zur  Spitze 
des  Giebels  noch  um  9'  3"  höher  war.  Die  beiden  Thüren,  die 
eine  im  Osten  und  die  andere  im  Westen,  waren  5'  hoch  und 
2'  breit ;  die  Fenster  auf  der  Nord-  und  Südseite  ebenfalls 
5'  hoch  und  4'  breit.  Es  scheint,  als  ob  sich  über  der  einen 
der  Thüren  eine  Inschrift  befand;  sie  war  aber  so  verwittert 
(efTacee),  dass  man  nichts  darauf  erkennen  konnte  ;  nur  eine  Art 
quer  liegender  Keule  (une  espece  de  massue  placke  en  travers) 
war  hier  zu  sehen.  Man  fand  im  Innern  des  Gebäudes  Reste 
von  Urnen,  Ziegeln  und  Kohlen,  was  zu  der  Meinung  führt, 
däss  es   einst  vollendet   gewesen    und  dass    es    nur  durch    die 


^  Es  ist  dies  der  direkte  Weg  voq  Grandfontaine,  der  von  der 
Südseite  her  das  Plateau  erreicht. 

^  .  .  .  nn  glacis  qae  la  natare  et  la  main  de  T hemme  ont  es- 
carp6  et  rendn  inaccessible  par  les  terres  qui  ont  €t^  rang^es  presqae 
partout. 

3  D.  i.  der  sog.  Felsen  von  Grandfontaine  am  westlichen  Abhang. 


—    u   — 

Zeit  oder  durcli  Feuer  zerstört  wurde.  Um  den  Felsen  heiiim, 
besonders  im  Norden  und  Süden,  findet  man  die  Resle  mehrerer 
Bildsäulen.  Es  waren,  bevor  wir  an  diesem  Ort  Ausgrabungen 
veranstaltet  hatten,  nur  ihrer  drei  zu  sehen ;  aber  später  haben 
wir  mehr  als  30  gefunden,  allerdings  nicht  alle  ganz,  aber 
alles  ansehnliche  Stücke,  obgleich  wir  nicht  überall  gegraben 
haben.»  — 

Weitere  Nachrichten  über  die  Entdeckung  der  Donondenk- 
mäler  gegen  das  Ende  des  17.  Jahrhunderts  verdanken  wir 
einem  andern  gelehrten  Benediktiner. 

Dom  Thierri  (Theodoricus)  Ruinart  nämlich  war 
durch  seine  litterarischen  Arbeiten  seinem  gelehrten  Ordens- 
bruder, dem  schon  genannten  Mabillon,  zur  Mitarbeiterschafl 
an  dessen  Werke,  der  Geschichte  des  Benediktinerordens, 
empfohlen  worden.  Zum  Studium  der  Archive  der  Kirchoa, 
Abteien  und  Klöster  reiste  nun  Ruinart  mit  Mabillon  von  der 
Abtei  St.  Germain  de  Pr6s  aus,  wohin  ihn  dieser  zu  sich  ge- 
zogen hatte,  nach  Lothringen  und  Elsass.  Ueber  diese  Reise 
hat  uns  Ruinart  in  einer  ausführlichen  Beschreibung  berichtet 
s.  t.  Iter  iiterarinn  in  Alsatiam  et  Lotharingiam.  ^ 

Ruinart  war  mit  seinem  Lehrer  Mabillon  am  20.  Augus! 
1696  von  Paris  aufgebrochen.  Den  13.  September  kamen  sie 
nach  Moyenmoutier,  am  14.  September  nach  Senones.  Hier 
traf  Ruinarl  nicht  nur  den  Abt  von  Senones,  Petrus  Alliot, 
sondern  auch  dessen  Bruder  Hyacinthus  Alliot,  den  Abt  von 
Moyenmoutier,  auf  dessen  Einladung  er  am  folgenden  Tage 
noch  einmal  nach  Moyenmoutier  zurückkehrte,  da  er  ihn  bei 
seinem  ersten  Besuche  daselbst  nicht  angetroffen.  Von  ihnen 
ging  ganz  offenbar  auch  die  Anregung  zum  Besuch  de> 
D  0  n  o  n   aus.  « 


1  Gedr.  am  Schlüsse  des  8.  Bandes  der  Oavrages  posth.  de 
Mabillon  et  de  Rainart.  Paris  1724.  Von  dieser  Reise  Rninarts  er- 
schien im  Jahre  1826  and  1827  von  Prof.  Matter  eine  französische 
Bearbeitung  mit  erklärenden  Anmerkungen  zum  Teil  von  Schweig- 
häuser im  Journ.  de  la  Soc.  des  Sciences  du  Bas-Rhin  III.  u.  IV.  Bd. : 
eine  zweite  französische  Uebersetzung  von  Abb6  Marchai  im  Recueil 
de  documents  sur  Thistoire  de  Lorraine.  Tome  VII.  Nancy  1862.  - 
Eine  deutsche  Uebersetzung  aus  dem  latein.  Original  Yon  dem  den 
Donon  betr.  Abschnitt  lieferte  Prof.  Euting  in  der  Literar.  Beilage 
zur  Gemeinde-Zeitung  für  E.-L.  1882  Nr.  1  unter  dem  Titel:  «Ein 
gelehrter  Tourist  auf  dem  Donon». 

2  Vom    14.  September    1696   datirt   der  B.   Brief  H.   Alliots  as 
seinen  Bruder  (s.  oben  S.  9}. 


—    15    — 

Am  16.  September  wurde  aufgebrochen  :  während  Mabillon 
unter  Begleitung  der  beiden  Aebte  rechts  nach  dem  Elsass 
reiste,  *  wandte  sich  Ruinart  cum  aliis  (Ordensbrüdern,  denen 
der  Donon  jedenfalls  schon  bekannt  war,  und  die  als  Führer 
dienten)  links,  cum  animus  esset  famosum  montem  Franken- 
bergenseni  perlustrandi.  Wie  lebhaft  übrigens  damals  bereits, 
vier  Jahre  nach  dem  ersten  Besuch  der  beiden  Aebte  Alliot, 
der  Besuch  des  Donon  war,  ersieht  man  aus  der  Notiz  Ruinarts, 
dass  am  Fusse  des  Berges  *  Reste  einer  alten  Behausung  (anti- 
quae  cujusdam  villae  rudera)  zu  sehen  waren,  die  der  Abt 
von  Moyenmoutier  hatte  ankaufen  und  für  die  Bergbesucher  al:^ 
Rasthaus,  besonders  auch  für  die  Pferde,  die  man  hier  zurück- 
lassen musste,  einigermassen  herrichten  lassen. 

Die  Beschreibung  der  auf  dem  Donon  vorhandenen 
Denkmäler,  die  aber  keineswegs  erschöpfend  ist,  beruht  aut 
dem  oben  erwähnten  Bericht  H.  Alliots  (zweiter  Brief 
und  Bericht  bei  Mabillon),  den  er  später  bei  der  Abfassun;r 
derselben  jedenfalls  benutzt  hat.  3  Er  erwähnt  : 

1.  Das  noch  ziemlich  vollständig  erhaltene  Haus  (wie  bei 
Alliot) ;  2.  die  dreifach  übereinandergesetzte  viereckige* 
Säule;  die  Entfernung  von  jenem  Gebäude  hier  25  Schritte. 
Von  der  nach  Alliots  Vermutung  oben  auf  derselben  stehenden 
Bildsäule  «konnte  trotz  der  sorgfaltigsten  Nachforschungen  bis 
jetzt  unter  den  Gebäuderesten  nichts  aufgefunden  werden.» 
«Ganz  unten  an  der  Basis  waren  Inschriften  eingemeissell , 
wie  wir  noch  aus  einzelnen  verschwindenden,  beinahe  abge- 
schliffenen Spuren  von  Buchstaben  seh  Hessen  konnten.  Trolz 
aller  Anstrengung,  wenigstens  einige  Worte  daraus  zusammen- 
zustellen, gelang  uns  das  doch  nicht,  ausser  den  paar  V^orten, 
die  schon  einige  von  unserem  Orden  herausgebracht  hatten».«'» 
3.  25  Fuss  weiter  ein  anderes  Gebäude,  4.  und  in 
gleichem  Abstände  noch  ein  gleichartiges  drittes;  5.  dem 
zweiten  gegenüber  nach  Norden  zu  die  Spuren  eines  Brun- 
nens; 6.  Basrelief  Belliccus  Surbur  an  einem  Felsen 
auf  dem  Gipfel  (wie  bei  Alliot).   7.    Ueber  die  Reliefbilder 


1  Ueber  Saales,  Steige,  Weilerthal  nach  Schlettstadt.  (Euting.) 

*  Nach  Matters  Vermntang  da,  wo  jetzt  Grandfontaine. 

3  Wie  schon  Scböpflin,  Als.  ill.  I,  S.  452  Anm.  (i)  bemerkt   hat. 

*  Alliot  hat  über  ihre  Gestalt  nichts  bemerkt;  nach  den  Rot- 
stiftzeichnnngen  könnte  sie  rund  erscheinen. 

5  Wie  diese  Worte  lauteten,  erfahren  wir  von  Rainart  nicht ; 
dagegen  wird  eine  Inschrift  erwähnt  bei  Mabillon  s.  oben  S.  12. 
Näheres  s.  unten  S.  28. 


—    10    — 

auf  dem  oberen  Gipfel  sagt  R.  :  «  Es  war  kein  einziges  Stack  an- 
zutreffen in  vollständigem  Zustande,  sondern  orania  medio  tantum 
corpore  eminent,  i  Die  Steine,  aus  denen  sie  gemeisselt  sind, 
stammen  aus  der  nächsten  Umgegend,  mit  Ausnahme  einiger 
weniger,  die  offenbar  nicht  so  in  der  Gegend  vorkommen.  Die 
Figuren  sind,  wenn  meine  Vermutung  richtig  ist,  nicht  gerade 
von  Barbaren,  aber  doch  von  Leuten  verfertigt,  die  wenig  UebuDg 
in  der  Bildhauerei  hatten ;  einige  verraten  römische  Hand,  ja, 
wenn  ich  mich  nicht  irre,  habe  ich  das  Bild  eines  Mannes 
in  römischer  Soldatentracht  gesehen.  *  Während 
unseres  Aufenthaltes  in  Moyenmoutier  zeigte  man  uns  einen 
von  hier  w^eggeholten  weiblichen  Kopf  in  gut  römischem  Kunst- 
Stil.  3  Ferner  stellen  diese  Bilder  heidnische  Gottheiten 
oder  deren  Priester  dar.  Darunter  haben  wir  mehr  als 
einen  Mercur  bemerkt,  den  Flügelstab  in  der  Linken,  den 
Geldbeutel  in  der  Rechten  haltend.  Auch  eine  Frau  ist  da, 
vielleicht  eine  Bacchuspriesterin,*  welche  umeinander- 
gewundene  Schlangen  in  den  Händen  hält,  während  zu  ihren 
Füssen  noch  anderes  derartiges  Gewürm  liegt.  Ich  sah  dort 
noch  eine  andere  weibliche  Figur,  mit  einem  Hahn  zu 
ihren  Füssen  —  vielleicht  eine  Pallas.  Auf  einem  weiteren 
Stein  ist  ein  D  o  p  p  e  1  b  i  l  d  von  einem  Manne  und  einem 
K i n d e, 5  aber  es  sind  auch  viele  andere  vorhanden  ohne 
irgend  etwas  Bemerkenswertes  darauf.^ 

In  Bezug  auf  Zeit  und  Nation,  der  jene  Monumente 
angehören,  verweist  Ruinart  ausdrücklich  auf  den  Brief  H.  Alliols 
an  seinen  Bruder  im  Joum.  des  Sav.  [1693].  «Ich  für  meinen 
Teil  glaube,  dass  sie  den  Galliern  angehören,  die  zur  Zeit  ihrer 
Vermischung  mit  den  Römern  nach  heidnischer  Sitte  hier  auf 
diesem  Berge  ihre  religiösen  Feiern  abhielten.»  — 

Ebenfalls  noch  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  (1697)  schrieb 
Job.  Schilter  eine  Abhandlung  in  deutscher  Sprache 
über  die  Donondenkmäler,  von  der  wir  aber  leider  nur 
aus  den  Citalen  Schöpflins'  Kenntnis  haben.  Letzterer  be- 
wahrte sie  unter  seiner  Handschriftensammlung,  mit  der  sie 
wohl  1870  verbrannt  ist ;  gedruckt  scheint  sie  nicht  zu  sein.  — 


1  Was  nicht  ganz  richtig  ist ;    vielen  fehlt  allerdings  der  Kopf. 
»  Jollois,  PI.  36,  2. 

3  Ob  vielleicht  der   unter   den   Rotstiftzeichnnngen   (Jollois.  PL 
35,  7.  8.)  befindliche? 
*  PI.  36,  1. 
6  PI.  36,  5. 
«  Als.  ill.  I,  S.  84  Anm.  (b)  und  454  Anm.  (t)  u.  ö. 


—    17    — 

Ausser  den  schriftlichen  Nachrichten  über  die  Denkmäler 
des  Donon  verdanken  wir  dem  Abte  Hyacinthus  Alliot  oder 
einem  seiner  Mönche  auch  die  ersten  bildlichen  Dar- 
stellungen derselben. 

Es  sind  dies  mit  Rotstift  hergestellte  Zeich- 
nungen, die  jetzt  noch  in  zwei  Sammlungen  vorhanden  zu 
sein  scheinen.! 

A)  Eine  Sammlung  aus  20  Blättern  bestehend^  die 
Gravier  um  1820  im  Archiv  zu  St.-Di^  aufifand ;  *  wie  und  wo- 
her sie  dahin  gekommen,  war  nicht  festzustellen.  Sie  diente 
Gravier  und  Jollois  (s.  u.)  gewissermassen  als  Wegweiser  bei 
ihren  Erforschungen  und  wurde  in  den  dreissiger  Jahren 
auf  des  ersteren  Veranlassung  nach  Epinal  geschickt,  wo  sie 
Jollois  für  sein  Werk  (Antiquit^s  des  Vosges)  benutzen  wollte.^ 
In  diesem  sind  sie  auch  (PI.  35  u.  36),  und  zwar  in  einem 
auf  ein  Viertel  verkleinerten  Massstab  der  Originalgrösse  repro- 
duziert. (Dazu  die  Erläuterungen  S.  189  ff.)  Da  «man  vergessen 
hat,  sie  wieder  zurückzuschicken»,  so  beGnden  sie  sich  vermut- 
lich noch  in  Epinal.  Nur  ein  einziges  Bl/tt  mit  dem  Belliccus 
Surbur,  auf  der  Rückseite  eine  männlic)^  Gestalt  mit  einem 
Ziegenfell  bekleidet,^  ist  in  St.-Di^  noch  vorhanden  (in  Nr.  99 
der  Handschriften  der  dortigen  Bibliothek). &  Nach  dieser  hat 
F.  Dinago    den   Belliccus  Surbur    in    der  Grösse  des  Originals 


1  Die  folgenden  Ausführnngen  stützen  sich  aaf  die  Anschauung 
der  von  Jollois  reproduzierten  Abbildungen,  sowie  einer  Reihe  mir 
gütigst  zur  Verfügung  gestellter  Pauszeichnungen  im  Besitze  des 
Herrn  Save  in  St-Di6;  ferner  auf  die  kurzen  Notizen  bei  Gravier 
und  Jollois,  sowie  auf  schriftliche  Mitteilungen  des  Herrn  Save  und 
entsprechen,  wie  ich  glaube«  in  allen  wesentlichen  Punkten  dem  wirk- 
lichen Thatbestand.  Absolut  sicher  wäre  dieser  nur  in  Epinal, 
wo  beide  Sammlungen  vermutlich  aufbewahrt  werden,  festzustellen. 
Ein  erster  Versuch,  dort  die  nötigen  Erkundigungen  einzuziehen, 
fand  aber  so  wenig  Entgegenkommen  —  nur  eine  allgemeine  Be- 
stätigung von  dem  Vorhandensein  jener  Zeichnungen  war  zu  erreichen, 
—  dass  ich  von  weiteren  dahinzielenden  Versuchen  glaubte  abstehen 
zu  sollen.  In  erfreulichem  Gegensatz  dazu  steht  die  Liebenswürdig- 
keit, mit  der  Herr  Save  mir  durch  Rat  und  That  zur  Seite  stand ; 
ihm  verdanke  ich  viele  wertvolle  Notizen  für  meine  Arbeit.  Ihm 
sei  auch  hier  nochmals  mein  aufrichtiger  Dank  ausgesprochen. 

*  Jollois,  Antiquit^s  du  Donon,  S.  6 ;  Antiquit^s  des  Vosges, 
S.  130. 

3  Schriftliche  Mitteilung  des  Herrn  Save. 

4  Jollois,  PI.  36,  4. 

^  Notiz  von  G.  Save  im  Bull,  de  la  Soc  philomat.  Vosg.  St-Di6 
1877,  p.  47. 

2 


—    18    — 

herausgegeben    s.  1.  Un   Basrelief  du    Donon    (im    Bull,  de   la 
Soc.  philoniat.  187ö  p.  205 ;  auch  separat). 

Die  einzelnen  Blätter  bringen  folgende  Gegenstände  zur 
Anschauung : 

Einen  Plan  des  oberen  Plateaus  des  Donon^  auf 
dem  die  verschiedenen  Denkmäler  zur  Zeit  Alliots  einge- 
zeichnet sind  ; 

den  Grundriss  des  am  besten  erhaltenen  Gebäudes. 
Aufrisse  der  Lang-  und  Giebelseite  dessell)en  nebst 
einigen  Architekturdetails; 

Rekonstruktion  der  29'  hohen  Säule; 

ferner  die  Flachreliefs,  die  auf  dem  Donon  noch  vor- 
handen waren,  nebst   zwei   Köpfen    von    Statuen. 

B)  Eine  zweite  Sammlung  stammte  von  Dom 
Galmet,  i  von  dem  sie  ein  Herr  Guery  in  Senones  erhielt,  der  sie 
wieder  der  Gommission  des  Antiquit^s  du  departement  des  Vosges 
(der  späteren  Society  d'£mulation  des  Vosges)  in  Epinal  schenkte, 
wo  sie  jedenfalls  noch  aufbewahrt  wird.  Diese  Sammlung  be- 
steht aus  24  Blättern.  «  Sie  enthält  ausser  den  Abbildungen 
der  Sammlung  A  noch  einige  andere,  nämlich  3  Basreliefs, 
1  Inschriftenstein  und  1  Votivaltar  mit  In- 
schrift, die  wir,  da  sie  bisher  noch  nicht  veröffentlicht  sind, 
weiter  unten  reproduzieren  (Fig.  4—8),  wo  bei  den  einzelnen 
Abbildungen  das  Nähere  nachzusehen  ist.  Ich  verdanke  die- 
selben Herrn  Save,  der  im  Besitze  einer  Sammlung  von  Pau?- 
zeichnungen  ist,  die  der  verstorbene  Bibliothekar  Simon  in 
St. -Die  in  den  dreissiger  Jahren  für  seinen  Gebrauch  herge- 
stellt hat.  —  Jollois  scheint  sie  nicht  selbst  gesehen  zu 
haben, 3  doch  hatte  er  offenbar  wenigstens  Kenntnis  von  ihrer 
Existenz,  da  er  sie  ausd  ruck  lieh  von  der  Sammlung  A  nntei- 
scheidet.  * 

Ob  sich  unter  diesen  beiden  Sammlungen  die  Original- 
zeichnungen Alliots  befinden,  ist  von  hier  aus  schwer  fest- 
zustellen. Sollte  dies  der  Fall  sein,  so  wurden  dies  die  der 
Sammlung  A  sein,  da  B  handgreifliche  Fehler  enthält,  die  nur 


1  Schweighänser  erwähnt  sie  als  in  Senones  befindlich  im  M^m. 
de  la  Sog.  des  Antiquaires  1836,  S.  II. 

2  Journ.  de  la  Soc.  d'fimulation.  N»  VII,  S.  20  Anm.  2. 

8  Man  vergl.  unten:  Basreliefs  N**  14  u.  17, 

^  Indem  er  von  dieser,  damals  noch  in  St-Die  befindlichen 
Sammlung  spricht,  sagt  er  im  M^m.  snr  les  antiqnit^s  du  Donon. 
S.  7,  dass  sie  absolument  semblable  ä  celle  cit^e  dans  le  memoire 
de  M.  Gravier  (im  Journ   de  la  Soc,  d'fimulat.  VII)  sei. 


—    19    — 

von  einem  un[;eschickten  Abzeichner  herrühren  können.  Dafür 
nur  zsvei  Beispiele :  Der  Aufriss  der  nördlichen  Tempelwand 
(s.  u.  unsei'e  Abbildung  Fig.  2)  in  A  enthält  u.  a.  die  hand- 
schriftliche Randbemerkung :  G.  Fenötre  plus  ä  Toccident  qu'ä 
Torient  und  demgemäss  richtig  das  Fenster  auf  der  rechten 
Seite.  Auf  der  entsprechenden  Zeichnung  in  B  liest  man  die- 
selbe Bemerkung ;  trotzdem  ist  das  Fenster  ganz  links  ein- 
gezeichnet. Ferner:  In  dem  Grund riss  des  Gebäudes  in  A  sind 
handschrifllich  die  Langenmasse  der  Seiten  eingetragen  :  die 
Langseite  mit  den  Fenstern  40'  und  die  Giebelseite  mit  den 
Thüren  31' ;  die  Zeichnung  entspricht  genau  diesen  Massen. 
In  B  dieselben  Angaben ;  trotzdem  ist  auf  der  Zeichnung  die 
G i e h e  1  s e i t e  um  */«  länger  als  die  Langseite;  auch 
inbezug  auf  die  Einzeichnung  der  Thüren  stimmen  Plan  und 
Aufriss  nicht  überein.  ^ 

Eine  dritte  Sammlung  besass  Schöpilin  in  seiner 
Bibliothek ;  sie  ging  mit  letzterer  in  den  Besitz  der  Stadt 
Strassburg  über«  und  teilte  mit  ihr  1870  das  gleiche  Schicksal. 

Auf  diese  Rotstiftzeichnungen  des  Abtes  Hya- 
cintbus  Alliot  gehen  nun  alle  Reproduktionen  der  Do- 
nondenkmäler  in  den  Werken  des  18.  Jahrhunderts 
zurück. 

Es  sind  dies  : 

Dom  Bernard  de  Montfaucon,  religieux  B^n^ictin  de 
)a  Gongregalion  de  S.  Maur,  L'antiquit6  expliqu^e 
JL  T.  2«  Partie,  Paris  2«  6d.  17  22:  PI.  186.  187.  188. 

Dom  [Jacques  Martin],  religieux  B^n^dictin  de  la  Con- 
gr^alion  de  S.  Maur,  La  religion  des  Gaulois.  Paris 
172  7,  Tome  I.  PL  6  el  9. 

Schöpfli'n,  Alsatia  illustrata.  Colmar  1751, 
Tome  I.  tal).  II  et  III.  Seh.  sagt  S.  452  u.  ausdrücklich  : 
Hyacinthi  Allioti^  in  Mediano  Vogesi  Monasterio  Abbatis,  schedis 
adjutus. 

Dom  Aug.  Calmet,  Abbe  de  Senones,  Notice  de  la 
Lorraine.  Nancy  17  56,  Tome  I.  PL  i  et  2- 

Diese  Zeichnungen  haben  alle  denselben  Typus  und  unter- 
scheiden sich  von  einander  nur  durch  mehr  oder  wenige!- 
grosse  Unvollkommenheit ;  die  in  Calmets  Notice  de  la  Lorraine 
sind  die  fehlerhaftesten.' 


1  Man  vergl  auch  unten  die  Bemerkung  zu  Inschrift  Nr.  2  letzte 
Anmerkung. 

^  Schweighänser,  a.  a.  0. 

3  Vergl.  da»  oben  zu  Sammlung  B  Gesagte.  —  Selbständige 
Zeichnungen    nach    den    Originalen     fertigte    Mitte    des 


—    20    — 

Erst  1821  hat  J.-B.  P.  Jollois  im  Verein  mit  X.  F. 
G  r  a  V  i  e  r  im  Auflra^^e  der  Commission  pour  ]a  recherche  des  an- 
tiquit^s  du  d^partement  des  Vosges  in  Epinal  es  unternommen,  den 
Donon  von  neuem  grundlich  auf  seine  Denkmäler  hin  zu  unter- 
suchen und  genaue  Zeichnungen  nach  den  Originalsculpturen 
zu  geben,  die  damals  noch  zu  einem  Teile  an  Ort  und  Stelle 
^aren,  ^  wobei  er  gewissenhaft  die  Angaben  der  früheren  Ge» 
lehrten  geprüft  hat.  Das  Resultat  seiner  Untersuchungen  legte 
J[ollois  am  7.  November  1821  der  genannten  Kommission  in 
einem  Memoire  sur  les  antiquit^s  du  Donon  vor,  das  in  dem 
Journal  de  la  Soci^t^  d'£mulation  des  Vosges  vol.  II  abgedruckt 
ist.s  Das  Gleiche  that  Gravier.  Nachdem  ein  Auszug  aus 
dessen  Memoire  mit  einem  a:Plan  topographique  de  l'^tat  da 
Donon,    lors  du   1*^  voyage    de   Dom  Alliot,   en   1092»   eben- 


Torigen  Jahrhunderts  Dom  Pelletier,  Car6  de  Senones,  an,  die 
er  seiner  Abhandlang  über  den  Donon  beifügte  (a.  a.  0.  S.  393); 
ob  dieselben  sich  erhalten  und  wo  sie  etwa  aafbewahrt  werden,  ist 
mir  nicht  gelangen  festzastellen.  Die  Abhandlung :  D^scription  de 
la  principautS  de  Salm  avec  une  Dissertation  sur  les  monuments 
de  la  raontagne  de  Framont,  welche  Pelletier  handschriftlich  mit 
einem  Begleitschreiben  im  Jahre  1755  an  den  Grafen  von  Salm-Salm, 
in  dessen  Gebiet  der  Donon  lag,  richtete,  enthält  nicht  Neues;  sie 
beruht  im  Wesentlichen  auf  den  Arbeiten  der  früheren  Gelehrten, 
unter  denen  vor  allen  Schöpflin,  dessen  Alsatia  wenige  Jahre  zuTor 
erschienen  war,  za  Rate  gezogen  ist.  Erst  1856  wurde  sie  von 
Ferry-Millon,  der  das  Manuscript  in  dem  Archive  der  Forstverwaltnng 
von  St-Di6  fand,  in  der  Revue  d'Alsace  (18)6.  S.  385-405)  —  aber 
ohne  die  Zeichnungen  —  herausgegeben. 

i  H.  Alliot  (in  seinem  3.  Briefe,  bei  Jollois  S.  132}  zählte 
1696  noch  21  Bilder  (Petrus  Alliot  spricht  von  mehr  als  30?;; 
Schöpflin  (Als.  ill.  I,  453}  sah  im  Anfang  des  vorigen 
Jahrhunderts  nur  noch  14  teils  unversehrte,  teils  verstümmelte 
Rehefs,  von  denen  er  die  9  besten  abgebildet  hat;  Jollois  (S.  137] 
konnte  bei  seinen  Nachforschungen  1821  noch  8  Fragmente  kon- 
statieren, von  denen  2  bis  dahin  unbekannt  waren.  Heutzutage  sind 
alle  bedeutenderen  Skulpturen  vom  Donon  verschwunden.  Mancher 
Altertumsfreuud,  der,  wie  L.  Levrault  sich  drastisch  ausdrückt,  über 
einen  Wagen  mit  einem  Paar  Ochsen  verfügte,  hat  sich  damit  seine 
Sammlung  bereichert;  andere  wanderten  in  das  Strassburger  Museom, 
wo  sie  mit  den  übrigen  Schätzen  der  Bibliothek  1870  zu  Grande 
gingen.  Sieben  Reliefs  und  der  Belliccus  Surbur  werden  im  Musenm 
zu  £pinal  aufbewahrt.  (Catalog  Nr.  88—94  u.  167.)  Nur  geringe 
Reste  finden  sich  noch  in  dem  modernen,  im  Jahre  1869  erbantoi 
Tempel  auf  dem  Donon  hinter  einem  Eisengitter  vereinigt.  (S.  Nachtr.) 

^  Ein  kurzer  Bericht  über  seine  Untersuchungen  erschien  im 
Ännuaire  du  dipart.  des  Vosges  1822,  p.  74. 


—    21    — 

daselbst  vol.  VII  1827  erschienen  war,  gab  Jollois  seine  obige 
Arbeit  in  einem  Separatabdruck  heraus  (Epinal  1828  mit  zwei 
Bildern:  1.  Der  Donon  von  Raon-sur-Plaine  aus.  2.  Ansicht 
des  Donongipfels  von  der  grossen  Strasse  im  Westen  aufge- 
nommen, —  und  zwei  Tafeln  mit  Abbildungen  der  Skulpturen). 
—  Diese  Arbeit  wurde  dann  abermals  abgedruckt  mit  einigen 
Erweiterungen  in  dem  oben  erwähnten  Werke:  Paris  1843, 
S.  126—146  nebst  PI,  31 — 36  und  dazu  gehörigen  Erläuterungen 
S.  186-193 : 

PI.  31 :  Ansicht  des  Donon  von  Raon-sur-Plaine.  —  Ansicht 
des  oberen  Gipfels  mit  den  Tempel ruinen. 

PI.  32:  Aufriss  (Südseite)  und  topographischer  Plan  des 
Dononplateaus. 

PI.  33  :  Felsen  auf  der  Spitze  mit  dem  Relief  Belliccus 
Surbur.  —  Gnmdriss  des  Tempels  und  Detailzeichnungen  ein- 
zelner Architekturstücke. 

PI.  34:  Von  J.  aufgefundene  Basreliefs  vom  Donon. 

PI.  35  und  36 :  Reproduktion  der  oben  genannten  Rotstift- 
zeichnungen (Sammlung  A). 

II.  Uebersichtliche  Zusammenstellungr  der 

•Donondenkmäler. 

1.  Die    UmfASBiingBniaiier.  —  Die   Gebäude  und  die  Säule 
(Votivaltäre)  auf  dem  untern  Plateau. 

Von  der  Mauer,  die  nach  Petrus  Alliot  i  den  obern 
Teil  des  Donon  auf  drei  Seiten  einschloss  und  durch  dicke 
Turme  verstärkt  war  und  die  auch  auf  dem  Plan  des  Plateaus 
unter  den  Rotstiftzeichnungeh'  eingezeichnet  ist,  konnten 
Jollois  und  Gravier  trotz  der  Ausgrabungen,  die  an  verschie- 
denen Stellen  zu  diesem  Zwecke  veranstaltet  wurden,  keine 
Reste  mehr  entdecken;»  überall  stiess  man  etwa  V«  "^  unter 
der  jetzigen  Oberfläche  unmittelbar  auf  den  anstehenden  Felsen. 
Nur  eine  Art  Terrasse  von  3 — 4  m  Breite  war  vorhanden,  die 
von  Menschenhand  eingeebnet  zu  sein  schien ;  ferner .  be- 
merkte man  in  gewissen  Abständen  ungeheure   Felsblöcke,  die 


1  Siehe  oben  S.  12. 

2  Bei  Jollois  PI.  3ö,  1  und  bei  Gravier  im  Journ.  dela  See. 
d'£mQlat.  VII.  Nach  letzterem  hat  Bavenez  ihn  in  seiner  Uebersetzung 
von  Schöpflins  Als.  ill.  reproduziert  fll.  Bd.  Fl.  compl^m.  Nr.  1, 
S.  524.) 

'  Jollois,  Antiq.  des  Vosges,  S.  128. 


_    2"2    

scheinbar  eine  Bearbeitung  zeigten  und  die  die  Fundamente 
jener  viereckigen  Turme  gewesen  sein  könnten.  *  Auch  Voulot* 
will  auf  der  Nordseite  einen  Wall  aus  Erde  und  Steinen  ge- 
funden haben.  Doch  sind  alle  diese  Spuren  zu  unsicher,  aU 
dass  man  darauf  weitere  Folgerungen  über  den  Zweck  der 
Mauer  aufbauen  könnte,  wie  das  Gravier  (a.  a.  0..S.  27  f.] 
thut,  der  ihr  eine  militärische  Bedeutung  abspricht  und  sie  auf 
religiöse  Einrichtungen  des  Druidenkultes  zurückfuhrt.  3 

Auf  dem  Plateau  des  Donon,  das  375  m  lang  und 
80 — 100  m  breit  ist  und  an  das  sich  im  Osten  der  eigentliche 
Gipfel  anschliesst,  der  jenes  um  ca.  40  m  überragt  und  seiner- 
seits wieder  eine  Art  Plattform  aus  Felsen,  100 — ^110  m  lan^ 
und  20 — 25  m  breit,*  bildet,  wurden  von  H.  Alliot  die  Reste 
dreier  Gebäude  entdeckt, ^  die  auch  Schöpflin  und  Calmel 
in  den  ersten  Jahrzehnten  des  vorigen  Jahrhunderts  noch  ge- 
sehen haben.  Doch  scheint  schon  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
nur  eines  derselben  noch  in  ansehnlichen  Resten  vorhanden 
gewesen  zu  sein,  da  Alliot  die  beiden  andern  nur  kurz  erwähnt, 
ohne  auf  Einzelheiten  einzugehen.  Von  diesem  einen  dag^en 
sind  unter  den  Rotstiftzeichnungen  genaue  Pläne  (Grundriss, 
Aufriss  der  Giebel-  und  Langseite  nebst  handschriftlichen 
Notizen  über  die  Dimensionen  und  die  Beschaffenheit  einzelner 
Steine)  vorhanden,  die  uns  gestatten,  uns  ein  vollkommenes  Bild 
davon  zu  machen.  (Fig.  1—3.)  Es  liegt  120  m  östlich  von  dem 
westlichen  Felsabsturz  des  Plateaus  und  bildet  ein  Rechteck,  das 
im  Innern  37'  lang  und  28'  breit«  (Jollois  S.  131  :  11  m  X 
7,6  m)  war.  Die  Stärke  der  Mauern  betrug  nach  Calmet  (S.  471) 
3 '  (Jollois  80  cm) ;  doch  nahm  dieselbe  nach  oben  zu  etwas 
ab.  7  Die  Höhe  bis  zum  Dach  gibt  Alliot  auf  13  '  an,  Ruinart 
fügt  hinzu,  wie  man  aus  den  noch  vorhandenen  Steinen  schliessen 
konnte.  An  dem  oberen  Rand  der  Giebel  mauern,  die  bis  zur 
Spitze  noch  um  9 '  3  "  höher  als  die  Längsseiten  waren,  waren 


i  Gravier,  Journ.  de  la  See.  d'fimulat,  Nr.  VII,  S.  21  f. 

2  Les  Vosges  avant  Thist.,  S.  147. 

5  Wenn  aber  nun  gar  Fachot  (Bull,  de  la  See.  philomat.  1883— W, 
S  133  f.)  von  einer  Mauer  spricht,  die  sich  vom  Donon  bis  vm 
Odilienberg  erstreckte,  so  ist  diese  Angabe  ohne  Zweifel  in  du 
Reich  der  Phantasie  zu  verweisen. 

*  Masse  nach  Jollois  S.  128. 

^  Journ.  des  Sav.  1693,  S.  25. 

€  Gerechnet  ist  nach  dem  pied  du  roi  =  0,325  m. 

7  Handschriftliche  Randbemerkungen  zu  den  Rotstiftzeichnungen. 


—    23    — 


Fig.  1 :  Westlicher  Giebel. 


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1   1    1 

1    1  1 

1      1 

1 

1    1 

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1     1    1 

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1    1 

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Fig.  2 ;  Nördliche  Langseite. 


o 

X 


aa 


Fig.  '6 :  Grundriss  des  Tempels 
nach  den  Rotstiftzeichnnngen  bei  Jollois. 


Einschnitte  zur  Aufnahme  der  Dachbalken.  Das  Gebäude  war 
erbaut  aus  viereckig  behauenen  Steinen  von  rotem  Vogesensand- 
stein,  wie  man  ihn  auf  dem  Berge  findet,  4 — 5 '  lang^  von 
denen  jeder  einzelne  die  ganze  Dicke  der  Mauer  bildete.  Sie 
hingen  so  fest  mit  einander  zusammen,  dass  man  sie  eher  zer- 
trümmern,  als  aus  den  Fugen  reissen  konnte,  ^    weshalb  man 


1  Alliot  a.  a.  0  ;  Ruinart  S.  444. 


—    24    — 

nicht  sehen  konnte,  oh  sie  mit  Eisen  oder  Mörtel  zusammen- 
gefügt waren.  Jollois  konstatieile,  was  schon  Calmet  hemerkt 
hatte,  in  fast  allen  Steinen  Einschnitte,  die  zur  Aufnahme  von 
eisernen  oder  hölzernen  Zapfen  oder  Klammern  dienten«  so  dass 
nicht  nur  die  Steine  derselhen  Lage^  sondern  auch  die  der 
verschiedenen  Lagen  ühereinander  zusammen  verbunden  waren ; 
von  Mörtel  war  keine  Spur  zu  entdecken.  Den  Sockel  bildeten 
die  zwei  untersten  Schichten  mit  einem  einfachen  Gesims.  lo 
der  östlichen  und  westlichen  Giebelseile  waren  zwei  Thüren, 
aber  nicht  in  der  Mitte  derselben,  sondern  mehr  nach  der  nörd- 
lichen Wand  zu  gelegen.  Sie  waren  4 '  7  "  hoch,  und  an  der 
Aussenseite  2',  im  Innern  2*|2'  breit.  Jollois  fand  an  der 
westlichen  Thürschwelle  in  der  Ecke  eine  Art  Zapfenmutter 
zur  Aufnahnie  des  Thürzapfens.  Ueber  der  einen  Thür  war 
nach  P.  Alliot  eine  Inschrift  angebracht,  die  aber  zur  Zeit 
schon  so  verwittert  war,  dass  man  nichts  mehr  daran  erkennen 
konnte ;  nur  eine  Verzierung,  die  A .  mit  einer  liegenden  Keule 
vergleicht,  war  noch  zu  sehen.  Auch  Calmet  spricht  von  In- 
schriften in  verzierten,  von  zwei  Genien  gehaltenen  Einrahmungen, 
die  nach  seiner  Meinung  über  den  Thüren  angebracht  waren,  < 
doch  scheinen  sie  schon  damals  (Calmet  sah  die  Steine  in  den 
ersten  Jahrzehnten  des  vorigen  Jahrhunderts)  nicht  mehr  an 
ihrem  Platze  gewesen  zu  sein.  Wie  soll  man  diese  Angaben 
mit  einander  vereinigen,  da  beide  offenbar  verschiedene  Dinge 
im  Auge  haben?  Ob  vielleicht  Calmets  Steine  zu  einem  der 
beiden  andern  Tempel  gehörten? 

Die .  beiden  Fenster  in  der  südlichen  und  nördlichen 
Langseite  liegen  ebenfalls  nicht  genau  in  der  Mitte,  sondern 
mehr  nach  Westen  zu ;  sie  waren  5 '  hoch  und  4 '  breit.  Da? 
Gebäude  war  mit  Ziegeln  von  römischer  Arbeit  ge- 
deckt, deren  Reste  man  noch  in  und  um  das  Gebäude  herum 
aufgefunden  hat.  > 

Im    Innern    des    Gebäudes   fand    Jollois   einen    Säulen- 


1  Eine  Abbildung  davon  befindet  sich  in  der  Sammlang  B  der 
Rotstiftzeichnangen ;  s.  unsere  Abbildung  fig.  7.  Das  N&here  darüber 
unten  u.  Inschriften  Nr.  1  und  2.  —  H.  Alliot  und  Ruinart  er- 
wähnen nichts  von  derartigen  Verzierungen;  auch  auf  der  Rot- 
stiftzeichnung des  Aufrisses  der  Qiebelwand  findet  sich  keine  An- 
deutung davon. 

2  Ruinart  S.  444.  t-  AUiot  bei  Mabillon,  Les  s^pult  OuTr.  postL 
n.  45,  erwähnt  platte  Ziegeln,  10''  breit,  1"  dick  mit  einem  Vy 
^and.  —  Auch  Jollois  S.  132  f.  fand  eine  sehr  gut  erhaltene  Flach- 
ziegel mit  Rand :  38  cm  lang,  30—32  cm  breit ;  ebenso  Stücke  einer 
Rundziegel. 


—    25    — 

Schaft  von  0,50  m.  Durchmesser  und  0,40  m.  Höhe;  auf 
der  oberen  und  unteren  Fläche  waren  in  der  Mitte  Löcher 
eingemeisselt  zur  Aufnahme  hölzerner  oder  eiserner  Zapfen,  die 
die  einzelnen  Säulentrommeln  mit  einander  verbanden.  Ob 
Säulen  das  Innere  des  Gebäudes  geschmückt,  glaubt  J.  auf 
Grund  dieses  einzigen  Fundstückes  nicht  als  sicher  hinstellen 
zu  können.  Ausserdem  fanden  sich  innerhalb  der  Mauern  Frag- 
mente von  Gefässen  aus  sehr  feinem  roten  Thon.  Schon 
Alliot  hatte  ausser  Ziegelbruchstücken  und  Kohlen  ^  hier  mehrere 
Scherben   von   Urnen   aufgedeckt.  * 

Von  diesem  Gebäude^  von  dem  zu  der  Zeit,  als  H.  Alliot  den 
Donon  besuchte,  mindestens  noch  die  Nord-  und  Westseite 
ziemUch  vollständig  erhalten  gewesen  sein  müssen  (vergl.  die 
Rotstiflzeichnungen),  sah  Dom  Calmet  ums  Jahr  1710  die 
Mauern  noch  in  einer  Höhe  von  4 — 5  Fuss. '  Seitdem  ist  das 
Gebäude  zertrümmert,^  indem  man  die  meisten  Steine  nach 
Framont  hinabgeschafft  und  mit  ihnen  die  Wasserbehälter  für 
die  Eisenwerke  daselbst  gebaut  hat.  &  Jollois  fand  im  Jahr  1821 
nur  noch   eine  einzige  Steinlage   über   dem  Boden.  ^   Heutigen 


1  Journ.  des  Sav.  1693,  S.  75. 

2  Alliot  bei  Jollois  S.  132. 

s  Notice  de  la  Lorr.  S.  471. 

^  Scböpflin,    Als.   ill.    I,    453:    Templum,   quod   modo  descripsi, 
plane  destractam  est. 

^  Nach  einer  Anmerkung  von  Matter  zu  Ruinarts  Yoyage  liit^- 
raire  im  Jonmal  de  la  Sog.  des  sciences  etc.  dn  d6p.  dn  Bas-Rhin 
III,  1826,  S.  Iö2  ist  es  im  Jahr  1732  geschehen.  —  Eine  sehr 
charakteristische  Mitteilung  Schweighäusers  über  dieses  — 
um  es  milde  auszudrücken  —  geringe  Verständnis  für  die  Denk- 
mäler der  ältesten  Vergangenheit  des  Landes  in  früheren  Zeiten, 
findet  sich  im  Kunst-Blatt  1823,  S.  322 :  «...  Ja,  um  die  über  diese 
Barbarei  (nämlich  eben  die  Verwendung  jener  Steine  zu  dem  ange- 
gebenen Zwecke)  laut  werdende  allgemeine  Unzufriedenheit  durch 
einen  neuen  Vandalismus  zu  beschwichtigen,  wurden  kurz  dietrauf 
Ton  den  damaligen  Besitzern  jener  Behälter  noch  einige  dieser 
Steine,  welche  durch  ihre  nach  aussen  gekehrten  Schriften  oder 
Bildwerke  die  Aufmerksamkeit  fortdauernd  an  sich  zogen,  heraus- 
genommen und  verkehrt  wieder  eingemauert,  so  dass  sie  seitdem 
auch  mit  dem  besten  Willen  der  auf  die  Zerstörer  gefolgten  Eigen- 
tümer dieser  Eisenwerke  nur  sehr  schwer  hätten  gefunden  werden 
können  oder  es  noch  werden  könnten,  was  jedoch  noch  immer  sehr 
wünschenswert  und  nicht  ohne  Hoffnung  bleibt.»  Vielleicht  nimmt 
einmal  die  Gesellschaft  ftLr  Erhaltung  der  histor.  Denkmäler  Gelegen- 
heit, die  Sache  an  Ort  und  Stelle  untersuchen  zu  lassen. 

^  Siehe  die  Abbildung   PI.  31,  2  und  den  Grnndriss  PI.  33. 


—    26    — 

Tages  ist  auch  diese  verschwunden,  und  nur  noch  die  Funda- 
mente sind  sichtbar. 

In  einiger  Entfernung  östlich  davon  traf  Alliot  die  Ruinen 
eines  zweiten  Gebäudes^  und  von  diesem  wiederum 
weiter  nach  Osten  die  Reste  eines  dritten  Gebäudes.* 
Dem  zweiten  Gebäude  gegenüber,  gegen  Norden,  lag  ein 
Brunnen,  der  aber  im  Laufe  der  Zeit  verschüttet  ist  (Rui- 
nart). Der  Brunnen  oder  die  Gisterne  ist  heutigen  Tages  noch 
in  dem  gleichen  Zustand  wie  damals. '  —  Nähere  Angaben 
über  die  BeschalTenheit  dieser  beiden  Gebäude  werden  von 
keinem  der  Gelehrten,  die  dieselben  noch  gesehen  haben  (ausser 
Alliot  und  Ruinart  noch  Calmet  und  Schöpflin),  gemacht ;  sie 
liegnügen  sich  mit  allgemeinen  Ausdrücken,  wie  :  ein  ähnliches, 
ein  jenem  ersten  ganz  ähnliches  Gebäude.  Es  scheint,  als 
ob  diese  beiden  Gebäude  schon  damals  in  einem  Zustande 
ziemlichen  Verfalls  sich  befunden.  Jollois  (S.  134)  konnte  trotz 
eifriger  Nachforschungen  und  Nachgrabungen  an  den  sich  aus 
den  Beschreibungen  und  dem  Plan  der  Rotstiftzeichnungen  er- 
gebenden Punkten  keine  Spuren  derselben  mehr  entdecken; 
nur  Trümmer  bearbeiteter  Steine,  die  da  und  dort  am  Boden 
lagen,  besonders  nach  dem  obersten  Berggipfel  zu,  waren  xu 
sehen.  Darunter  ist  bemerkenswert  ein  4,92  m  langer,  0,60  m 
breiter  und  0,50  m  dicker  Stein  mit  vier  parallelen,  halb- 
kreisförmigen  bandartigen   Verzierungen,    die    vermutlich  den 


^  Bei  Calmet  S.  473  ist  die  Lage  der  beiden  Gebäade  fälschlich 
im  Westen  des  ersten  angegeben.  -—  Inbezag  aaf  die  Angaben  der 
Entfernung  herrscht  bei  den  Gelehrten,  die  die  Gebäude  noch  gesehen 
haben,  keine  Uebereinstimmung  :  Nach  Alliot  im  Journ.  des  Sav.  1693 
betrug  sie  20' ;  bei  Mabillon  p.  45,  25';  ebenso  bei  Calmet,  S.  473, 
bis  zur  B'undstätte  der  Säulenfragmente  und  von  da  weitere  25'  bis 
zum  zweiten  Tempel ;  Ruinart,  Iter  lit.  p.  444,  gibt  25  Schritte 
und  25  Fuss;  ebenso  nach  ihm  Schöpflin. 

3  Alliot  (Journ.  des  Sav.) :  «200  Schritte  von  dem  zweit en>;  den. 
bei  Mabillon  p.  46  und  Calmet  a.  a.  0. :  «und  etwas  weiter  entfernt 
ein  drittes» ;  Ruinart  und  Schöpflin  :  «und  in  gleichem  Abstand  (wie 
das  zweite  vom  ersten)  noch  ein  gleichartiges  drittes.»  —  Die  Ent- 
fernungen sind  wohl  nur  annähernd  geschätzt,  nicht  genau  gemessen. 

3  Ueber  diesen  Brunnen  sagt  etwas  geheimnisvoll  F.  Voulot 
(Revue  arch.  1876,  32.  Bd.,  S.  47) :  «Au  sommet  du  Donon  loi-mlme, 
un  puits,  sans  doute  fun^raire  (car  il  est  assez  pr^s  d^un  poits 
d'eau),  a  utie  forme  absolument  itteonnue.  La  partie  sup^rieure,  taill^e 
en  entonnoir,  se  termine  ä  la  base  par  nne  ouverture  en  crotMCwt, 
donnant  acc4s  dans  la  partie  inf^rieure.  II  n^est  connu  que  de  moi 
et  d'un  ami  discret,  et  ne  sera  fouill^  que  dans  des  conditions  dont 
nous  serons  les  seuls  juges.» 


—    er- 
oberen Abschluss  einer  Fensteröffnung  bildeten  (PI.  33,  5  und  6). 
Schon  AUiot  hatte   ihn   bemerkt   und    ihn   unter  die   Rotstift- 
zeichnungen autgenommen.  ^  Nach  der  Fundstatte  zu  8chliessen> 
könnte  er  zum  dritten  Gebäude  gehört  haben. 

In  geringer  Entfernung  2  von  dem  ersten  Gebäude  gegen 
Nordosten  fand  H.  AHiot  die  Stücke  einer  Säule,  die  nach 
seiner  Annahme  aus  drei  atrfMnandevgesetzten  Säulen,  jede  mit 
Basis  und  Kapital,  bestand  und  zusammen  39  Fuss  hoch  war.  ^ 
Eine  Abbildung  unter  den  Rotstiftzeichnungen  nebst  beigefügten 
Randbemerkungen  veranschaulicht  uns  dieses  Säulenmonstrum : 
die  unterste  hatte  2'  4",  die  Basis  3',  das  Kapital  3'  im  Durch- 
messer ;  die  mittlere  2'  2"y  die  Basis  3',  das  Kapital  2'  6''  im 
Durchmesser;  die  oberste  2'  2"^  das  Kapital  i'  3"  im  Durch- 
messer ;  Basis  fehlte  dieser.  Die  Säule  war  vierkantig, 
wie  Ruinart  u.  A.  das  ausdrücklich  bestätigen,^  während  es  die 
Zeichnung  zweifelhaft  lässt.  Die  Höhe  von  39  Fuss  ist  bereits 
von  Alliot  bei  Mabillon  S.  45  auf  29  Fuss  ermässigt,  eine  An- 
gabe, die  auch  Ruinart  und  Schöpfiin  haben.  Auf  dieser 
Kolossalsäule  soll  sich  dann  nach  Alliots  und  Ruinarts  Ansicht 
eine  Bildsäule  erhoben  haben,  von  der  sie  freilich  trotz  der 
eifrigsten  Nachforschungen  nichts  auffanden. 

Ueber  die  Bestimmung  dieser  Säule  hat  sich 
H.  Alliot  in  seinem  dritten  Briefe  an  seinen  Bruder^  ausge- 
lassen. Er  hält  sie  für  ein  vornehmes  Grabdenkmal  und  glaubt 
diese  seine  Ansicht  bestätigt  zu  sehen  durch  Bruchstücke  dreier 
Urnen,  die  er  an  der  Stelle  ausgegraben,  wo,  wie  er  glaubte, 
die  Basis  der  Säule  stand.  ^ 

In   dem  an  Mabillon   geschickten   Bericht  (S.  45)  erwähnt 
er  dann  noch  mehrere  auf  der  Säule  eingegrabene  Buchstaben ; 
«auf  einem  der   Steine  liest    man  folgende    Inschrift,    welche 
beweist,  dass  sie  für  einen  vornehmen  Römer  bestimmt  war» : 

I.  0.  M. 

G.   LVCVLLVS 
LEPIDINVS 
V.  S.  L.  M. 

>  Bei  JoUois  PI.  3d,  6;  vergl.  auch  Schweighäaser,  Kunstblatt 
1823,  S.  328  o.  —  Noch  1831  sah  ihn  Berge,  (Annales  de  la  Soc. 
d'fmalai  I.  3.  Heft  1833,  S.  139  f.)  an  Ort  und  Stelle. 

2  Ueber  die  von  einander  abweichenden  Angaben  der  Fjntfernang 
siebe  oben  S.  26  Anm.  1. 

3  Jonm.  des  Sav.  1693,  S.  7d. 

«  Iter  lit.  S.  4M.,  Schöpfiin  8.  452  u.  Pelletier  S.  393. 

&  Bei  Jollois  S.  132. 

^  Näheres  siehe  oben  S.  10. 


—    28    — 

Ruinart,  der  sich  über  den  Zweck  der  Säule  nicht  näher 
auslässt,  sagt  nur,  dass  auf  der  untersten  Basis  Inschriften 
eingemeisselt  waren,  wie  man'  aus  den  sehr  abgeschliffenen 
Buchstaben  entnehmen  konnte;  doch  gelang  es  ihm  und  seinen 
Begleitern  nicht,  mehr  herauszubringen  als  das,  was  vor  ihm 
schon  Ordensbrüder  entziffert  hatten.  ^ 

Der  erste,  der  eine  richtige  Ahnung  von  dieser  Säule  hatte, 
war  Dom  Calmet.  Er  sagt  S.  473  :  «Man  sieht  auch,  oder 
vielmehr  man  sah  vor  40 — 45  Jahren  (d.  i.  ca.  1710)  vier- 
kantige Steine,  die  höher  als  breit  sind  und  welche,  wie  ich 
glaube,  Votivaltäre  mit  lateinischen  Inschriften  versehen 
waren. «  Diese  Altäre  waren  etwa  4 — 5  Fuss  hoch.  Die  am 
besten  erhaltene  Inschrift  lautete  :  I.  0.  M.  C.  LVCVLLVS» 
etc.  wie  oben.  Letzterer  Zusatz  lässt  keinen  Zweifel  an  der 
Identität  mit  jener  von  Alliot  bei  Mabillon  erwähnten  Säule.  * 
Schöpflin  (S.  452)  suchte  die  Inschrift  bereits  vergeblich.  Nach 
Matter  (oder  Schweighäuser  ?)*  hätte  jede  Basis  der  drei  Altare 
eine  Inschrift  getragen,  von  denen  aber  nur  eine  —  die  oben 
angeführte  —  lesbar  war,  während  die  beiden  andern  viel  mehr 
verstümmelt  waren ;  doch  konnte  man  gleichfalls  die  Buch- 
staben I.  0.  M.  erkennen,  ä  woraus  man  auf  einen  gleichen 
Zweck  derselben  schliessen  kann. 


1  Irriger  Weise  glaubt  Schöpflin,  dass  Rainart  diese  Inschrift 
mitgeteilt  habe.  Siehe  S.  452  Anm.  [h],  womit  zu  yergl.  S.  473, 
Anm.  [h]. 

*  So  anch  Pelletier  a.  a.  0.  S.  393,  der  sie  aber  um  1755  nicht 
mehr  an  Ort  und  Stelle  finden  konnte. 

3  JoUois  hat  offenbar  nicht  gemerkt,  dass  diese  von  Calmet  er- 
wähnten  Votivaltäre  gleich  sind  jenen  drei  aufeinander  gesetzten 
Säulen  des  Alliot.  Die  von  ihm  citierte  Inschrift:  Jovi  Opt.  Max.  a 
C.  Lucullo  Lepidino  dedicata,  aus  Schöpflin  S.  452  entnommen,  ist 
von  diesem  nur  inhaltlich,  nicht  wörtlich  angeführt.  An  der  von 
ihm  (Jolloisl  citierten  Stelle  bei  Mabillon  II,  p.  46,  steht  sie  dem 
Wortlaut  nach,  ebenso  bei  Schöpflin  S.  473.  —  Jolloin  fand  noch 
einzelne  der  zu  diesen  oder  ähnlichen  Altären  gehörige  Steine  am 
Boden,  nicht  aber  die  Inschrift,  glaubte  aber,  dass  sie  als  Pfeiler 
zu  einem  jener  drei  Gebäude  gehört  haben  (S.  \'M).  Es  ist  sehr 
wahrscheinlich,  aber  nicht  sicher,  dass  das  von  ihm  PI.  Xi,  Fig.  2, 
8  und  4  abgebildete  Kapital  einem  dieser  Altäre  angehört  hat. 
(Langseite  desselben  0,94  m,  bei  Alliot:  3  pieds  du  roi.) 

*  Anm.    zu   Ruinaii,   Voyage   litt^r.  im  Journ.   de   la  Soc.  des 
Eciences  du  Bas-Rhin  III,  1826,  S.  149. 

ö  Woher  diese  Notiz  ? 


—    29    — 

Neuerdings  hat  Zangemeister^  unter  Hinweis  auf  die 
Jupiter-  oder  Gigantensaulen  von  Merten,  Heddemheim,  Schier- 
stein und  Trier  versucht,  die  frühere  Ansicht  von  einer 
einzigen  Säule,  wie  sie  Alliot  und  Ruinart  vorschwebte, 
wieder  zur  Geltung  zu  bringen,  ohne  indessen  stichhaltige 
Grunde  dafür  vorzubringen.  * 

Was  nun  endlich  die  Bestimmung  jener  drei  Ge- 
bäude anlangt,  so  sind  die  Ansichten  darüber  sehr  aus-, 
einander  gegangen. 

In  seinem  ersten  ausführlichen  Bericht  an  seinen  Bruder  > 
lässt  Hyacinthus  Alliot  es  dahin  gestellt,  ob  man  sie  als 
Grabmäler  der  ersten  Frankenherzöge  oder  als 
Wohnungen  der  Druiden  ansehen  soll.  Zu  der  ersteren 
Ansicht  führt  ihn  seine  Etymologie  von  Framont  =  Mont  des 
Francs,  die  er  in  der  deutschen  Bezeichnung  Frankenberg  be- 
stätigt findet,^  zu  der  zweiten  die  zahlreichen  Funde  von  Mer- 
curbildern,  die  darauf  schliessen  Hessen,  dass  der  Donon  den 
umwohnenden  Galliern  eine  Gultusstätte  dieses  ihres  höchsten 
Gottes  gewesen  sei.  Diese  Vermutungen  hat  Alliot,  nachdem 
er  genauere  Untersuchungen,  besonders  Ausgrabungen  inner- 
halb und  ausserhalb  des  ersten  Gebäudes  veranstaltet  hat,  zum 
Teil  wieder  aufgegeben.^  Da  er  nämlich  in  dem  Gebäude  Reste 
mehrerer  Urnen,  andere  ausserhalb  desselben,  darunter  Frag- 
mente von  drei  verschiedenen  Urnen  bei  der  Säule,  aufgefunden, 
nimmt  er  an,  dass  das  ganze  Plateau  als  Begräbnisplatz  ge- 
dient habe  und  dass  jene  drei  Gebäude^  speziell  Grabstätten  in 
der  Zeit  des  Heidentums  gewesen  seien. 

Mabillon,  der,  wie  erwähnt,  in  seinen  Discours  sur  les 
anciennes  sepultures  de  nos  Rois'  eine  ihm  von  H.  Alliot  ge- 
schickte Beschreibung  dieser  Gebäude  und  der  andern  Donon- 
denkmäler  eingeflochten  hat,  schreibt:  «Es  ist  schwer  zu  glauben, 
dass  diese  Gebäude  zu  einem  andern  Zwecke  als  zu  Tempeln 


1  Im  Korrespondenzblatt  der   westdeutsch.  Zeitschr.   far  Qesch. 
xmd  Kanst  1890,  Nr.  8.  (Ang ) 

*  Vergl.  meine  Entgegnung  ebendas.  1891,  Nr.  1  (Jan.). 
3  Joum.  des  Sav.  1693,  S.  78  f. 

*  Vergl.  oben  S.  3. 

6  3.  Brief  an   seinen  Bruder    vom    14.    Sept.    1696   bei   Jollois 
S.  132  f.  Anm.  S.  oben  S.  10. 

^  Funde  scheint  er  nur  in  dem  ersten   gemacht  zu  haben;  in 
betreff  der  beiden  andern  erwähnt  er  nichts. 

7  Ouvr.  posth.  IL  S.  46.   —  Aus   ihm   wörtlich   entlehnt  ist 
die  Beschreibung  Dom  Martins,  La  Religion  des  Gaulois.  I.  S.  338  ff. 


—    3()    — 

oder  Wohnungen  der  Priester  erbaut  seien.  E&  scheint 
auch,  dass  die  Heiden  an  diesem  Oriei  ihre  Grabstätten 
hatten. 9  £s  ist  leider  nicht  festzustellen,  ob  M.  hier  nur  Alliols 
Ansicht  wiederg-ibt,  oder  ob  er  nicht  vielleicht  —  was  wahr- 
scheinlicher ist  —  seine  eigene  mit  der  seines  Gewährsmannes 
vermischt,  so  dass  er  uns  die  Auswahl  zwischen  Tempel  — 
Druiden  Wohnungen  —  Grabslatten  lässt. 

Ruinart,^  der  es  ablehnt,  auf  die  Zeit  und  die  Nation 
einzugehen,  der  jene  Donondenkmäler  angehören ,  und  der  in- 
bezug  auf  diese  Frage  ausdrücklich  auf  Alliots  Berichte  ver- 
weist, sagt  von  dem  ersten  Gebäude  :  (cdass  jenes  Gebäude 
einst  bewohnt  gewesen  ist,  geht  mit  Sicherheit  henor 
aus  den  Resten  von  Kohlen  und  Ziegeln,  die  man  im  Innern, 
wenn  man  nur  ein  wenig  die  £rde  wegschalTt,  in  ziemlicher 
Menge  antrifft.» 

Schöpflin'  scheint  es  als  selbstverständlich  zu  beti-achteii, 
dass  das  zu  seiner  Zeit  (d.  h.  im  Anfang  des  vorigen  Jahr- 
hunderts, dagegen  nicht  mehr,  als  er  sein  Greschichtswerk 
schrieb)  noch  ziemlich  erhaltene  Gebäude  ein  Tempel  war. 
Dann  heisst  es  weiter :  «Der  Tempel,  der  auf  dem  untern  Plateau 
der  Berges*  lag,  war,  wie  die  im  vorigen  (17.)  Jahrhundert 
noch  vorhandenen  Inschriften,  von  denen  eine  von  Jupiter,  eine 
andere  von  Mercur  spricht,  zu  beweisen  scheinen,  dem 
Jupiter  und  dem  Mercur  geweiht.»  Diese  Angaben 
Schöpflins  sind  ungenau  :  jene  auf  Jupiter  bezügliche  Inschritt 
oder  vielmehr  Inschriften  (s.  oben  S.  28)  befanden  sich  auf 
der  Basis  der  3  Altäre,  von  denen  es  doch  sehr  zweifelhaft  ist, 
ob  sie  zu  dem  Tempel  gehörten.  Dagegen  wai^en  wahrscheinlich 
—  aber  auch  diese  Angabe  ist,  wie  wir  sahen,  keineswegs 
sicher  —  über  den  Thüren  des  Tempels  Inschriften  angebracht, 
die,  wenngleich  verstümmelt,  doch  den  Namen  des  Mercur 
sicher  erkennen  Hessen.  Schöpflin  sah  sie  freilich  nicht  mehr, 
wohl  aber  Calmet,  der  sie  uns  überliefert  hat. »  Und  dass  jenes 
Gebäude  ein  römischer  Tempel  war,  glaubt  letzterer  wohl 
mit  vollem  Recht   aus  seiner  rechteckigen  Grundfläche,    seinen 


1  £n  ce  lieu-Iä:  in  den  Gebäuden  oder  in   ihrer  nächsten  Um- 
gebung? 

8  Her  lit.  S.  444,  446. 

a  Als.  ill.  I.  453. 

*  Schöpflin    glaubt,    dass   auch   auf  dem    obersten    Gipfel    ein 
Mercurtempel  gestanden  habe 

^  Notice  de  la  Lorraine  I.  S.  473;    das   Nähere  über  diese  In* 
Schriften  s.  unten  S.  71 ;  vergl.  auch  oben  S.  24. 


—    31     — 

Dimensionen  und  jener  lateinischen  Weiheinschrifi  entnehmen 
zu  können.  Demgegenüber  kann  die  Meinung  Grandidiers,i 
dass  diese  Gebäude  römischen  Soldaten,  die  hier  den  Uebergang 
aus  Elsass  nach  Lothringen  schützten,  als  Wohnslätten  gedient, 
keinen  Anspruch  auf  ernstliche  Widerlegung  maclien. 

Von  den  Inschriften  fand  Jollois  keine  Spur  mehr;  in- 
bezug  auf  die  Bestimmung  der  Gebäude  spricht  er  keine  be- 
stimmte Meinung  aus,  sondern  ist  nur  der  —  natürlich  richtigen 
—  Ansicht,  dass,  wenn  es  ein  Tempel  war,  dieser  jedenfalls 
in  der  Zeit  nach  dem  Eindringen  der  Römer  in  Gallien  erbaut 
wurde. 

2.  Die  Reliefbilder  auf  dem  Gipfel. 

Von  einem  Tempel,  der  nach  der  Ansicht  einiger  Ge- 
lehrten, u.  a.  Schöpflin '  und  Schweighäuser»  auf  dem 
obersten  Gipfel  des  Donon  gestanden  haben  soll,  konnte 
Jollois  (S.  135)  nicht  die  geringste  Spur  entdecken. 
Die  Oberfläche  des  Felsens,  der  die  Spitze  des  Berges  bildet 
und  der  die  Grundfläche  des  Tempels  hätte  bilden  müssen,  ist 
ganz  uneben;  nirgends  Spuren  der  Bearbeitung.  Es  ist  deshalb 
wenig  wahrscheinlich,  dass  jemals  hier  oben  ein  Tempel 
gestanden. 

A.    Relief  mit   Inschrift    Belliccus   Surbur. 

Dieses  vielberufene  Relief  war  in  den  anstehenden  Felsen 
des  obersten  Gipfels,  und  zwar  in  einer  Einbuchtung  desselben 
auf  der  Südseite,  *  eingemeisselt ;  die  Länge  desselben  be- 
trägt 80  cm.  Hie  Höhe  45  cm.  Jollois  sah  es  18'21  noch  an 
seinem  Platze,  ebenso  Schweighäuser  1823»  und  Berge«  im 
Jahre  1831  ;  bald  darauf  scheint  es  aber  von  den  Felsen  los- 
gelöst und  nach  Epinal  geschafTl  worden  zu  sein,  7  wo  es  in 
der  Hofmauer  des  Musee  döpartemental  eingemauert  ist.  (Catalog 
No.   167.)     Alle    Abbildungen    dieses    Denkmals   aus   früheren 


'  Uistoire  de  TAlsace  p.  99. 

2  Als.  ill.  I.  452. 

3  Kunstblatt  1823,  S.  328. 

*  Vergl.  die  Abbildung  PI.  33,  1  und  den  Plan  PI.  32  bei  Jollois. 
5  Kunstblatt  1823,  S.  328. 

«  Annales  de  la  See.  d'fimulation.  Tome  I,  3'  cah.  1833   p.  140. 
7  Nach  Jollois  1843  S.  126  Anm.  1  ist  es  bereits  in  Epinal. 


—    32    — 

Zeiten  gehen  auf  die  Rotstiftzeichnung  AUiots  zurück,  ^  die 
F.  Dinago  in  der  Grösse  der  im  Archiv  zu  St-Di^  aufbewahrteo 
Originalzeichnung  reproduziert  hat.  >  Jollois  fertigte  eine  neue 
Zeichnung  nach  dem  noch  an  Ort  und  Stelle  beGndlichen  Original 
an  (PI.  34,  1).  Da  dieses  aber  sehr  hoch  angebracht  war,  was  eine 
genaue  Untersuchung  der  ziemlich  verwitterten  Formen  sehr 
erschwerte,  so  darf  auch  seine,  dazu  in  sehr  kleinem  Massstabe 
gehaltene  Abbildung  keinen  Anspruch  auf  absolute  Genauigkeit 
machen,  wenn  sie  auch  einige  der  gröbsten  Ungenauigkeiten  in 
den  früheren  Reproduktionen  beseitigt  hat.  Neuerdings  bal 
nun  G.  Save  in  St-Die  wiederholt  (1869  und  1877)  das  Original 
in  Epinal  untersucht  und  Zeichnungen  davon  angefertigt,  von 
denen  eine  in  ziemlich  grossem  Massstabe  im  Bulletin  de  la 
Soc.  philomat.  Vosgienne  1877  veröffentlicht  ist.  Leider  stellt 
auch  seine  jetzige  Aufstellung  der  genaueren  Betrachtung  grosse 
Schwierigkeiten  in  den  Weg.s  Musste  man  nach  den  älteren 
Darstellungen  zugestehen,  dass  wir  eine  recht  unvollkommene 
Arbeit  vor  uns  haben,  die  zwar  mit  den  übrigen  bildlichen 
Denkmälern  des  Donon  im  Einklang,  mit  den  schönen  Schrift- 
Zügen,  die  unter  demselben  stehen,  aber  im  Widerspruch  steht, 
so  finden  wir  in  Saves  Darstellung  —  vorausgesetzt  natürlich, 
dass  sie  wirklich  dem  Original  entspricht  —  diesen  Wider- 
spruch gelöst :  Die  Körper  formen  der  beiden  Tiere  zeigen  ebenso 
wie  die  Inschrift  künstlerische  Vollendung. 

Was  nun  diese  beiden  Tiere  betrifft,  so  bestand  unter  den 
früheren  Forschern  über  das  rechts  vom  Beschauer  stehende 
kein    Zweifel:   alle   sahen  in  ihm  einen    Eber,^   in    ruhigern 


^  Bei  Jollois  PI.  3d,  11.  —  Ich  verweise  inbezag  auf  die  vor- 
handenen Abbildangen  dieses  und  der  weiter  unten  za  besprechenden 
Denkmäler  auf  die  S.  40  f.  beigefügte  tabellarische  Uebersicht. 

2  Ball,  de  la  Soc.  philomat.  1876.  S.  205. 

3  £&  ist  unter  sehr  angünstigen  Beleachtangsverhältnissen  in  der 
Höhe  des  ersten  Stockwerkes  in  der  Hofmauer  eingelassen.  (G.  Save 
a.  a.  0.  S.  49).  Dies  wohl  auch  der  Grand,  weshalb  keine  Photographie 
davon  existiert,  wie  ich  auf  Anfrage  in  Epinal  erfahren  habe.  Es  wäre 
dringend  za  wünschen,  wenn  die  hiesige  Gesellschaft  für  Erhaltung 
der  histor.  Denkmäler,  in  deren  jetzigem  Gebiet  dieses  interessante 
Denkmal  sich  einst  befanden,  Veranlassung  nähme,  einen  Gypsabgoss 
anfertigen  za  lassen;  erst  dann  wird  man  eine  sichere  Unterlage 
gewinnen,  auf  der  man  an  die  Lösang  der  mannigfachen  Fragen 
herantreten  kann,  die  ans  dieses  rätselhafte  Denkmal  trotz  allen 
Scharfsinnes,  der  auf  seine  Den  tun  g  verwendet  worden  ist,  noch 
immer  bietet. 

*  Nnr  de  Montfaucon  nennt  es  an  animal  qai  n'est  pas  recon- 
naissable.  (L'antiquite  expliqa^e  II,  2  1722,  S.  417.) 


—    33    — 

Hallun«,^  d<?''  ©«^if*^»  einen  Felsen  gedränj^t  zu  sein  scheint. 
Bemerkenswerl  ist  auf  den  älteren  Zeichnungen  die  Form  des 
männlichen  Gliedes,  das  dem  des  Menschen  nachgebildet  scheint. 
Dieser  Ansicht  trat  G.  Save  entgegen,  der  dieses  Tier  auf  das 
Bestimmteste  als  einen  Stier  erkennen  will,  der  mit  ge- 
senktem Kopf  und  vorgestreckten  Hörnern  auf  seinen  Gegner 
losgeht.  1  Inbezug  auf  das  links  stehende  Tier  bestand  schon 
unter  den  älteren  Gelehrten  keine  Uebereinstimmung.  Während 
es  H.  Aliiot  und  Ruinart,  dann  de  Montfaucon,  und  neuerdings 
Jollois  u.  A.  für  einen  Löwen  ansehen,  weist  Schöpflin  diese 
Meinung  energisch  zurück  und  glaubt  sicher  in  ihm  einen 
Hund  zu  erkennen  ;  ihm  sind  Galmet,  Pelletier  und  Grandidier 
gefolgt ;  doch  haben  alle  vier  offenbar  Unrecht.  Der  Löwe  geht 
mit  geöffnetem  Rachen  und  vorgestreckter  Zunge  (was  Schöpflin 
bestreitet)  auf  den  Gegner  los ;  im  übrigen  scheint  seine  ruhige 
Haltung  mit  diesem  Ausdruck  dtr  Wut  im  W^iderspruch  zu 
stehen.  Scböpflins  Zweifel  an  diesem  Ausdruck  ßnden  ihre 
Bestätigung  in  G.  Saves  Abbildung.  Save  stellt  ebenfalls  einen 
prächtigen  Löwen  dar,  der  aber  in  ruhiger  Haltung,  den  Rachen 
geschlossen,  seinen  Gegner  erwartet;  die  vorgestreckte  Zunge 
desselben  auf  den  Zeichnungen  der  älteren  Zeit  erklärt  er  für 
moderne  Vertiefungen  im  Stein,  die  bei  ungünstiger  Beleuchtung 
die  früheren  Zeichner  getäuscht  haben. 

Die  Inschrift  lautet  BELLICcVS  SVRBUR. 
Das  erste  Wort  derselben,  unter  dem  Löwen  stehend,  ist  trotz 
des  doppelten  G*  ohne  Zweifel  lateinisch.  Dunkler  ist  das  zweite  : 
Surbur,  das  man  allgemein  für  keltisch  hält. »  Beide  Wörter 
sind    durch    einen    wagrechten  Strich  von    einander  getrennt.  * 

Was  nun  die  Deutung  dieses  Denkmals  betrifft, 
so  sind  die  meisten  Erklärer  darin  einig,  dass  wir  es  mit 
einer  symbolischen  Darstellung  zu  thun  haben. 
Nur  Dom  Galmet  (S.  486)  sieht  darin  einfach  die  Jagd 
eines  Hundes  gegen  einen  Eber.  Das  Wort  Belliccus 
ist  lateinisch  und  kann  einen  Krieger  bezeichnen ;  Surbur  ist 
deutsch   und   bezeichnet   «schneidig,    kühn»  (aigre,  fier).     Das 


1  Schon  Chevignard,  der  das  Relief  fär  die  Histoire  de  France 
d'apres  les  monaments  par  Bordier  et  Charten  2  vols.  Paris  1859—60 
zeichnete,  hatte  es  als  einen  Stier  erkannt. 

^  Das  zweite  ist  etwas,  aber  nicht,  wie  auf  der  Rotstift- 
zeichnang  and  ihren  Kopieen,  fast  am  die  Hälfte  kleiner  als  das  erste. 

^  Das  Nähere  über  diese  Inschrift  s.  anten  S.  35. 

*  Nach  Jollois  nnd  Save  ,*  die  Rotstiftzeichnnngen  haben  ein 
besonderes  Zeichen^  )(,  woraus  Rainart  ein  H  gemacht  hat. 

3 


—   :u   — 

Denkmal  ist  ein'femeisselt  zum  Andenken  an  eine  Ja(^d,  auf 
der  ein  Herr  der  Familie  Surbur  einen  Eber  in  den  Wäldern 
des  Donon  erlegt  hat.  So  Galmet. ^  —  Auch  Grandidiei 
(S.  101)  sieht  hier  nur  eine  Jagdtrophäe,  die  ein  Gallier  seinem 
Hunde  Belliccus  errichtet,  der  in  den  Wäldern  des  Donon 
einen  Eber  überwältigt  hat;  Surbur  ist  der  keltische  Name  für 
dieses  Tier. 

R  u  i  n  a  r  t  und  de  Montfaucon  begnügen  sich  mit  der 
Beschreibung  des  Reiiet's  (Kampf  eines  Löwen  gegen  einen 
Eber),  ohne  auf  die  Bedeutung  desselben  einzugehen.  Dagegen 
hatte  schon  H.  Alliot^  die  V^ermutung  ausgesprochen,  das^ 
die  Römer  dieses  Bild  als  ein  Siegesdenkmal  errichtet  haben 
könnten  :  Der  Löwe  bezeichne  die  nach  Gallien  eindringenden 
Römer,  der  Eber  die  Einwohner  des  Landes,  die  sich  auf  dem 
Donon  verschanzt  haben.  Belliccus  sei  das  Beiwort  des  Löwen, 
um  den  Mut  der  Angreifer,  Surbur  das  des  Ebers,  um  den 
W'iderstand  der  einheimischen  Gallier  zu  bezeichnen,  die  ihre 
befestigte  Stellung  verteidigten.  Auch  die  Inschrift  weise  auf 
römischen  Ursprung. 

Ausführlicher  behandelt  Schöpft  in^  dieses  Reliefbild, 
der,  wie  schon  erwähnt,  in  dem  linken  Tier  einen  Hund  sieht. 
Er  hält  es  für  ein  religiöses,  dem  Mercur  ge- 
weihtes Denkmal,  auf  dessen  Cultus  fast  alle  auf  dem 
Donon  gefundenen  Denkmäler  hinzuweisen  scheinen.  Indem  er 
dann  untersucht,  in  welchen  Beziehungen  die  beiden  Tiere  auf 
demselben  in  der  Mythologie  der  Römer,  Germanen  und  Gallier 
zu  Mercur  stehen,  erinnert  er  daran,  dass  bei  den  Römern  im 
Monat  Mai  dem  Mercur  und  seiner  Mutter  Maja  ein  Schwein 
geopfert  wurde.  Bei  den  nordgermanischen  Völkerschaflen  war 
der  Eber  das  Symbol  des  Gottes,  den  sie  Odin  nannten;  der 
dem  Odin  heilige  Eber  hiess  Serimner.  Diese  Gotterlebre 
könnten  die  Tribocer  aus  Germanien  in  das  von  Mediomatricera 
bewohnte  Elsass  gebracht  haben.  Odin  aber  war  Wodan,  den 
römische  Schriftsteller  mit  dem  Mercur  der  Römer  vergleichen. 
Die  Gallier  endlich  hielten  den  Eber  für  heilig;  die  Wild- 
schweine wurden  nach  Strabo  von  ihnen  gefuttert,  so  dass  .<if 
im  ganzen  Lande  auf  den  Feldern  umherstreiften  und  getahr- 
licher  als  die  Wölfe  waren.  Auf  gallischen  Münzen  kommt  der 
Eber  oft  vor ;    eherne  Bilder  eines  Ebers  sind   in  den  Voge;?eD 


1  Vergl.  damit  Schilters  Ansicht,  der  diese  «Familie  Sarbur» 
erfunden  hat ;  s.  unten  S.  35. 

2  Journ.  des  Sav.  1693,  S.  78,  s.  oben  S.  9. 

3  Als.  ill.  I,  p.  462,  455  ff. 


—   a-i   — 

mehrere  gefunden  worden.  Auch  der  Hund  war  nach 
Plutarch  ein  Symbol  des  Mercur,  der  selbst  bisweilen  mit  einem 
Hundegesicht  abgebildet  und  von  Vielen  für  den  Anubis  der 
Aegyptier  gehalten  wurde.  Aus  diesen  Erwägungen,  die  freilich 
vielfache  Bedenken  erregen,  glaubt  Schöpflin,  dass  der  Eber  und 
der  Hund  unseres  Denkmales  eine  religiöse  Beziehung  habe, 
mag  man  dieselbe  entweder  aus  der  Religion  der  Gallier  oder 
der  Germanen  oder  der  Römer,  die  später  unter  jenen  wohnten, 
oder  auch  aus  einer  aus  diesen  drei  gemischten  Mythologie 
herleiten. 

Was  nun  die  Unterschrift  B  e  1 1  i  c  c  u  s  (orthographische 
Verschiedenheit  für  Bellicus)  betrifft,  so  sieht  Schöpflin  in  diesem 
Wort  ein  passendes  Epitheton  für  Hunde,  «die  Unbekannten 
gern  den  Krieg  ansagen]».  Auch  eine  römische  Gens  führte 
diesen  Namen.  Surbur  dagegen  scheint  nicht  lateinisch  zu 
sein.  Schöpflin  hält  es  für  ein  kelto-mediomatrisches  W^ort,  das 
aus  sur — bur  zusammengesetzt  ist ;  sur=:  deutsch  Sau,  griech.  (i:; ; 
bur,  bar,  her  =  ferns ;  also  Surbur  =  sus  ferus  (=  silvestris).  i 
Schöpflin  nim(nt  an,  dass  der  Fels,  in  dem  dieses  Bild  mit  dem 
Hund  und  dem  Eber  eingemeisselt  gewesen,  die  Wand  eines 
Mercurheiligtums  gebildet  habe,  dass  von  einem  vornehmen 
Manne  jener  Gegend  —  vielleicht  einem  von  denen,  deren 
Bildnis  selbst  auf  einem  der  weiter  unten  zu  erwähnenden 
Reliefs  dargestellt  war  —  geweiht  worden  sei. 

Eine  eigentümliche  Ansicht  hat  Schilter^  aufgestellt. 
Er  glaubt,  dass  die  Inschrift  unter  dem  Bilde  nicht  auf  die 
beiden  Tiere,  sondern  auf  einen  vornehmen,  den  Römern  er- 
gebenen Mann  zu  beziehen  sei,  einen  Mann,  dessen  Name  sich 
in  dem  elsässischen  Orte  Surburg  erhalten  und  dem  wegen 
seiner  kriegerischen  Eigenschaften  von  den  Römern  der  Ehren- 
titel Bellicus  beigelegt  worden  sei.  Ihm  zu  Ehren  sei  das 
Dnkmal  errichtet.  Diese  Meinung  Schilters  weist  Schöpflin 
durch  den  einfachen  Hinweis  auf  die  Etymologie  von  Surburg 
(«Burg  oder  Feste  an  der  Sauer»)  zurück.»    Fügen   wir  noch  j 

hinzu,    dass  die    Verbindung   von    Bellicus   mit    Surbur   schon  \ 


1  Dagegen  wendet  schon  Matter  (a.  a.  0.  S.  150  Anm.)  ein,  dass 
wenn  Snrbat  der  keltische  Name  für  Eber  sei,  man  es  eigentümlich 
finden  müsse,  dass  unter  dem  Löwen  ein  latein.  Wort  stehe,  das 
noch  nicht  einmal  der  eigentliche  Name  des  Löwen  sei. 

-  In  einer  handschriftlichen  Abhandlnng  über  die  Donondenk- 
mäler  bei  Schöpflin,  S.  457. 

»  Nicht  unerwähnt  soll  übrigens  bleiben,  dass  sich  auf  einei 
Urne  im  Zürcher  Museom  der  Töpfername  SVRBVRO  (nominat. 
findet.  fMommsen,  Inscript.  Helvet.  85:^,  Nr    198;. 


—    36    — 

wegen  des  Trennungsstriches  zwischen  den  beiden  Namen  un- 
möglich erscheint. 

N.-F.  Gravier  1  sieht  in  dem  Löwen  die  Römer,  in  dem 
Eber  die  Gallier  symbolisiert,  eine  Vermutung,  die,  wie  wir 
sahen,  schon  Alliot  ausgesprochen.  Der  Löwe,  vor  dem  Ein- 
dringen der  Römer  nach  Gallien  den  Bewohnern  dieses  Landes 
unbekannt,  ist  das  Sinnbild  der  Stärke  und  des  Mutes ;  die 
Inschrift  ßelliccus  druckt  die  feindliche  Stellung  des  Löwen 
dem  Eber  gegenüber  aus.  Letzterer  war  das  dem  Mercur, 
einer  der  Haupfgottheiten  der  Gallier,  heilige  Tier,  wie  schon 
Schöpflin  ausgeführt  hat;  es  bezeichnet  auf  unserm  Denkmal 
speziell  ihre  Priester :  die  Druiden.  Der  Phallus  soll  sein  de 
Symbol  de  la  f§condit^  des  gens  du  nordi».  Das  Bild  drückt  nun 
nach  Gravier's  Meinunj^^  ge wisser massen  einen  moralischen 
Triumph,  den  Sieg,  den  die  Zivilisation  über  die  Barbarei 
davongetragen,  aus  :  nämlich  die  Abschaffung  der  Menschen- 
opfer, die  durch  den  Kaiser  Claudius  befohlen,  von  den  an  den 
Ufern  des  Rheins  stehenden  römischen  Legionen  vollstreckt 
wurde,  und  damit  in  Zusammenhang  stehend,  t^ie  Vertreibung  ' 
der  Druiden  aus  diesen  dichten  Wäldern,  in  die  sie  sich  ge- 
flüchtet hatten.  Die  grobe  Ausführung  —  die  freilich  zweifelhaft  ist, 
vergl.  oben  S.  3t^  —  dieses  demnach  aus  guter  Zeit  stammenden 
Bildes  erklärt  Gravier  so,  dass  er  es  einem  jener  Legions- 
soldaten als  dem  Verfertiger  zuschreibt ;  nur  ein  solcher  konnte 
auf  den  Gedanken  kommen,  hier  in  dieser  abgelegenen  Gegend 
ein  derartiges  Denkmal  zu  errichten. 

Jollois«  stimmt  Gravier  insoweit  bei,  als  auch  er  in 
unserm  Denkmal  eine  Anspielung  auf  das  Eindringen  der  Römer 
in  Gallien  sieht,  ohne  ihm  indessen  in  seinen  weiteren  Aus- 
führungen zu  folgen. 

Ich  muss  gestehen,  dass  mir  diese  Deutung  jenes  Denk- 
mals, ohne  über  allen  Zweifel  erhaben  zu  sein,  doch  recht  an- 
sprechend erscheinen  würde ;  auch  die  Verschiedenartigkeit  der 
Inschrift:  das  römische  Belliccus  unter  dem  Löwen  und  das 
keltische  Surbur  unter  dem  Eber  hätte  dann  eine  gewisse 
Berechtigung,  wenn,  ja  wenn  wir  —  überhaupt  einen  Eber 
in  dem  rechts  stehenden  Tier  vor  uns  hätten.  Aber,  wie  schon 
angedeutet,  ist  dies  durch  G.  Save,  der  das  Bild  wiederholt 
genau  untersucht  und  abgezeichnet  hat,  sehr  in  Frage  gestellt : 
nach  ihm  stellt  es  einen  Stier  dar.  Save  hat  sich  auch  bemüht, 


<  Joam.  de  la   See.  d'£malaiion   des  Vosges    VII,  S.  29  ff  und 
Histoire  de  St-Di6.  Epinal  1836,  S.  19  ff. 
2  Antiqnit^s  des  Vosges,  S.  186  f. 


—    37    — 

für  die  Deutung  dieses  in  neuer  Gestalt  vor  uns  erscheinenden 
rätselhaften  Denkmals  das  nötige  Material  zu  sammeln.  ^  Er 
zählt  mehrere  in  der  Umgegend  gefundene  Stierbilder  auf;  er 
weist  ferner  darauf  hin,  dass  Münzen  mit  dem  Kopt  des  Togirix, 
des  Fürsten  der  Leucer,  auf  der  Rückseite  einen  Stier  tragen, 
und  dass  auf  einer  Münze  desselben  Fürsten  auch  ein  Löwe 
mit  erhobenem  Schweife  zu  sehen  sei ;  dass  auch  andere  gallische 
Münzen  aus  Caladunum  ebenfalls  den  Stier  auf  der  Rückseite 
haben.  Interessant  ist  sein  Nachweis,  dass  auf  dem  Fries  eines 
Trink hornes  (richtiger  einer  Amphora  von  langer,  konischer 
Form)  aus  dem  Hildesheimer  Silberfund  dieselbe  Scene  wie  auf 
unserm  Denkmal  dargestellt  ist :  links  der  zum  Angriff  vor- 
gehende Löwe,  rechts  der  mit  gesenkten  Hörnern  sich  ver- 
teidigende Stier.  2  In  den  beiden  Wörtern  der  Inschrift  will  er 
Eigennamen  sehen ;  inbezug  auf  den  erstem  entnimmt  er  die 
Nachweise  aus  Roget  de  Belloguet,  glossaire  Gaulois  (2«  M. 
Paris  1872)  S.  2Ü1 ;  inbetreff  des  zweiten  verweist  er  auf  das 
schon  citierte  SVRBVRO  auf  einer  Inschrift  im  Züricher  Museum, 
wobei  er  freilich  zugestehen  muss,  dass  die  Etymologie  dieses 
keltischen  Wortes  auf  den  Eber  hinführt.» 

Trotz  aller  dieser  dankenswerten  Hinweise  aber  ist  für  die 
Erklärung  unseres  Denkmals  noch  wenig  gewonnen.  Ich  kann 
übrigens  einen  gelinden  Zweifel  an  der  absoluten  Genauigkeit 
der  Save'schen  Abbildung  nicht  unterdrücken;  es  will  mich 
bedünken,  als  ob  bei  der  Herstellung  derselben  der  Künstler 
mit  dem  Archäologen  durchgeganj^en  sei.  Die  ziemlich  weit  vor- 
geschrittene Verwitterung  des  Steines,  der  über  1')2  Tausend 
Jahre  allen  Unbilden  der  Witterung  ausgesetzt  war,  sowie  die 
frühere  und  jetzige  ungünstige  Aufstellung  des  Denkmals-  er- 
klären die  Schwierigkeiten  vollkommen,  mit  denen  alle  Ab- 
zeichner  zu  kämpfen  hatten ;  ich  möchte  des'  alb  nochmals 
darauf  hinweisen,  wie  notwendig  es  ist,  dass  eine  Photographie 
hergestellt  wird,    die  ein  naturgetreues  Bild  von  dem  Denkmal 


1  Bull,  de  la  Sog.  philomat.  Vosgienne,  3''  ann^e,  St.-Di6  1877, 
S.  47  ff.  und  in  einer  Anmerkung  zu  dem  von  ihm  herausgegebenen 
Memoire  8ur  la  principaut6  de  Salm  par  Fachot.  ibid.  9''  ann6e  1884, 
S.  135. 

2  Kicht  unerwähnt  soll  indessen  bleiben,  dass  auf  demselben 
Fries  auch  der  Kampf  eines  Hundes  mit  einem  Eber  sich  zweimal 
dargestellt  findet.  Yergi.  H.  Holzer,  der  Hildesheimer  Silberfund. 
Hildesh.  1870  Taf.  IV.  2 ;  dazu  S.  70 :  <solcbe  Tierfriese  kommen 
auf  den  etruskischen  Metall-  und  Töpferarbeiten  sehr  häufig  band- 
förmig vor  » 

9  Glossaire  gaul.,  S.  262. 


—    38    — 

uns  vor  Augen  fuhrt;  eine  solche  wird  freilich  erst  uiöglicb 
sein,  wenn  ein  genauer  Gypsabguss  von  demselben  vorhanden 
sein  wird.  Erst  dann  wird  die  sichere  Grundlage  geschaffen, 
auf  der  wir  weitere  Folgerungen  aufl)auen  können. 

Ich  schliesse  diese  übersichtliche  Betrachtung  mit  der 
Ausführung  F.  Voulots^  über  dieses  Denkmal;  sie  ist  jeden- 
falls originell,  wie  sein  ganzes  Werk  ;  wie  weit  sie  aber  An- 
spruch auf  Berücksichtigung  ernsthafter  Forscher  machen 
kann,  überlasse  ich  jedem  Leser  selbst  zu  beurteilen. 

Er  behauptet,  dass  die  Inschrift  —  das  einzige,  was  bis- 
her an  dem  ganzen  Relief  als  sicher  galt  —  von  allen  Vor- 
gangem falsch  gelesen  worden  sei  und  dass  das  erste  Wort 
derselben  nicht  BELLIGcVS,  sondern  BEILIGcVS  laute,  in 
dem  G  wie  auf  vielen  archaischen  Inschriften  =  s  zu  lesen  sei. 
Das  Tier  aber,  unter  dem  dieses  Wort  steht  und  das  man 
bisher  für  einen  Hund  oder  einen  Löwen  gehalten,  sieht  er  für 
einen  Bison  an.^  Dieser  Beilissus  (so  auszusprechen)  ist  ihm 
nun  der  Sonnenstier,  der  die  Vermischung  des  Belcultus 
mit  dem  des  Issus  (Beil  =  Bei,  Issus  =  die  phöni zische 
Isis)  bezeichnet.  S  u  r  b  u  r  ist  zusammengesetzt  aus  sur  =:.  lat. 
sus  =  das  gallische  Schwein  und  ebur  =  Eber  ;  das  zusam- 
mengesetzte surbur  findet  sich  in  dem  bairischen  Dialekt: 
Saubär  =  Eber.  Surbur  war  also  ein  altes  Symbol  einer  GoU- 
heit  der  Vogesenbewohner.  Beide  Wörter  sind  getrennt  durch 
eine  Pfeilspitze,  eine  Erinnerung  an  den  heiligen  Nagel,  eines 
der  grossen  Symbole  der  Ghaldaer  !  Es  handelt  sich  also  auf 
unserem  Bild  um  zwei  symbolische  Tiere,  zwei  Gottheiten,  die 
die  allen  Gallier  verehrten.  Die  Haltung  des  zurückgedrängten 
Surbur  gegenüber  dem  auf  ihn  losgehenden  Bison  stellt  dar, 
dass  der  autochthone  Kult  des  Surbur  von  dem  ausländischen 
Kult  des  Beilissus,  des  Repräsentanten  der  semitischen  Civiü- 
sation  der  asiatischen  Pelasger,  ver-  oder  wenigstens  zurück- 
gedrängt worden  ist  M  ^ 


^  Les  Vosges  avant  Thistoire.  Malhouse  18/2.  p.  207  f.;  dua 
Abbildung,  PL  78. 

^  So  auch  aaf  seiner  Abbildang,  die  im  übrigen  der  Save^schen 
noch  am  ähnlichsten  ist. 

3  In  einem  gefälUgen  Schreiben  des  Herrn  Q.  Save  teilt  mir 
derselbe  mit,  dass  demnächst  im  Ball,  de  la  Soc.  philomat.  Vosgienne 
eine  Abhandlang  von  A.  Foarnier  erscheinen  wird,  in  der  dieser  den 
Nachweis  führen  wird,  dass  unser  Denkmal  keltischen,  nicht 
gallo-römischen  Ursprungs  ist.  Man  darf  gespannt  sein,  welche 
Gründe  der  Verf  dafür  ins  Feld  führen  wird,  da  alle  Anzeigen  dieser 
Ansicht  entgegenstehen.  —  Bisher  ist,  soweit   ich   es   übersehe,  nur 


—    :39    — 

ß.  Die  profanen  Reliefbi  1  de  r.  i 

Von  den  beiden  auf  dem  Donon  aufgefundenen  Basreliefs,  die 
keine  Gottheiten  darstellen,  erwähnt  Jollois^  nur  das  eine  ;  das 
zweile,  ein  Doppelbild,  scheint  zur  Zeit  seiner  Untersuchung 
(1821)  nicht  mehr  existiert  zu  haben  ;  nach  einer  Notiz  von 
Malter  8  war  es  vor  nicht  lanjjer  Zeit  (vor  1826)  zertrümmert 
worden.*  Beide  Reliefs,  aus  Vogesensandstein  gearbeitet,  lagen 
mit  den  übrigen,  noch  zu  erwähnenden  Bildern  am  Fusse  des 
Felsens  auf  dem  obersten  Gipfel. » 

a)   Das   einfache   Bild. 

Eine  genaue  Abbildung  nach  dem  Original  hat  uns 
Jollois  PI.  34,  4"  von  diesem  Bild  geliefert.  Es  stellt  eine 
männliche  Person  dar  (Kopf  imd  oberer  Teil  der  Brust  fehlen), 
bekleidet  mit  dem  bis  über  die  Kniee  in  Fallen  herabhängenden 
Sagum.  Die  Füsse  sind  zum  Teil  verstümmelt,  die  Arme  gerade 
und  fast  cylindrisch.  Oben  an  <ler  Bruchstelle  bemerkt  man 
quer  über  die  Brust  liegende  Binden,  eine  Art  von  Gürtel,  die 
ilas  Sagum  nach  oben  abschliessen.  In  der  Rechten  hat  er  eine 
Geldbörse  oder  vielmehr  ein  Gefäss  (gläserne  Flasche?),  in  dei* 
Linken  einen  Gegenstand  von  der  Gestalt  eines  Rechteckes, 
welchen  Schöpflin  wohl  richtig  als  ein  Buch  oder  eine  Tafel  er- 
kannt hat.  Mit  derselben  Hand  hält  er  ein  langes  Schwert,  oder 
scheint  es  vielmehr  nur  gegen  sein  Kleid  zu  drücken.   Bemer- 


einmal  dieser  Nachweis  versucht,  und  zwar  von  dem  Keltomanen 
L.  Levranlt  (La  valUe  de  la  Brnsche  in  Revue  d^Älsace  1852), 
der  beiläufig  in  dem  Tiere  links  einen  Stier  oder  einen  jungen  Aaer- 
ochsen  erkennen  will :  also  allmählich  eine  ganze  Menagerie !  Er 
hält  es  für  einen  symbolischen  Schmuck  des  Felsens,  der  von  einem 
heiligen  Ring,  sog.  Cromlech,  eingeschlossen  war.  Auch  mit  der 
römischen  Inschrift  weiss  er  sich  abzufinden:  er  lässt  sie  in 
späterer  Zeit  nachträglich  darunter  gesetzt  sein. 

1  S.  die  Uebersichtstabelle  auf  S.  40. 

2  Antiquit6s  du  Donon  Epinal  1828.  S.  24  ff. ;  Antiquit6s  des 
Yosges    Paris  1843,  S.  140  f. 

3  A   a.  0.,  S.  151. 

*  Vergl.  auch  Schweighäuser,  Kunstblatt  1828,  S  328: 
«nur  mit  Ungewissheit  konnte  ich  noch  den  untersten  Teil  desselben 
erkennen»;  u.  S.  332:  eich  glaube  es  in  meiner  Jugend  noch  voll- 
ständig auf  dem  Berge  gesehen  zu  haben.» 

^  Das  einfache  Bild  auf  der  Nordseite  desselben    Jollois,  S.  18S. 

^  Wo  nichts  anderes  angegeben,  ist  im  Folgenden  das  grössere 
Wort  von  Jollois,  Antiquites  des  Vosges,  gemeint. 


—    40     — 


Uebersicht  über  die  vorhandenen  Abbildul 


Rotstift- 

Dom  de 

iDom] 

Gegenstand  der  Darstellung. 

zeichnnngen 

Montfaacon 

Religi« 

bei  JoUois. 

1 

Antiq  ezpl.11,2 

Gao] 

Belliccus  Surbur. 

PL  3n,ll 

PI  188,3 

Gallier:  einfaches  Bild. 

36,2 

188,1 

PL« 

>        Doppelbild. 

36,5 

188.2 

! 

Götterbilder : 

1.  Mercurfragment. 

t 

2.  Mercnr  ohne  Kopf. 

36,3 

187,1 

m 

3. 

36,7 

186,4 

^ 

4.         »       unt.  Hälfte :  2  Stücke. 

35,10« 

f).         »      Mittelst  fick. 

— 

— 

- 

6.        »      Kopf  und  Brust. 

1            35,12 

187,2 

- 

7.        >      Kopf. 

35,13 

186,6 

.« 

8.        »      ohne  Kopf. 

36,1  (u.  34,7  bis) 

186,3 

i 

9.         »       klein. 

36,6 

187,3 

- 

10.         *      ob.  Hälfte  mit  Inschr. 

36.8 

186,5 

- 

11.        >      Kopf. 

36,10 

187,6 

•H 

12.         *      Fragment  mit   Hahn. 

36,13 

-j 

13.         »       vollständig. 

36,14 

186,1 

% 

14.         »       fast  vollständig. 

[Samml.  B.]* 

186,2 

i 

15.  Fragment  mit  Bock. 

35,9 

187.4 

-^ 

16.  Zwei  Bruchstücke  m.  Tierfell. 

36,4 

187,5S 

-1 

1 

17.  Männl.  Figur  mit  Hirsch. 

[Samml.  B]5 

1 

•^ 

18.  Bruchstück:  Beine  mit  Tier. 

[Samml.  B.je 

— 

^ 

Bruchstücke ; 

a)  Zwei  Beine. 

36,11 

—          1 

- 

b)  Zwei  Unterschenkel 

36,12 

1 

— 

Köpfe  von  Statuen: 

1.  Weibl.  Kopf. 

35,7.  8 

— 

- 

2.  Kopf  eines    bärtigen  Mannes. 

36.9 

1 

— 

— 

3.      »       eines  bartlosen  Mannes. 

— 

' 

Anmerkung:    ^  Das    in    Klammern    beigesetzte    R    yerweisi 
auf  den  I.  Bd    (das  blosse  R  —  der  betr.  Tafel  u.  Nummer  bei  Schöpf 
Stück.  —  *  In  der  Sammlung  der  Abbildungen  über  den  Donon  im 


—    41     — 
teliefs  und  Statuen  vom  Donon. 


Ipfiin 

ilL    I. 


Dom  Calmet 

Notice  de 
la  Lorraine  I. 


JoUois 

Antiq.    des 
Yosges. 


,3(RI,7)»,       PI.  2,17 


,1(BI,  5i| 
,2(RI,4. 


,6(R) 
,5(R) 


,9(R) 

,4(R) 
,3(R) 

,7(R) 


»KR) 
,2(R) 

»8(R) 


1,9 

2,10 


2,12 
2,13 
2,löu.l6 

1,2 
1,5 
2,14 

1,4 
1,3 

1,7 
2,11 


1,6 


PL  34,1 


34,4 


Bordier  et  Charten,  Histoire 
de  France  d'apres  les  mo- 
numts  1859-60, 1  p.  48. 

Voalot.  Les  Yo»ges  avant 
rhist.  PL  78. 

Dinago,  BulL  de  la  Soc. 
phil.  vosg.  St-Di6  1876. 

G.  Save,  ebendas    1877. 


34,2  (R  II,  1)1 

34.5  (R  II,  3) 

34.6  (R  II,  li 

34.7  (R  II,  5) 

34.8  (R  II,  8) 


34,3  iR  II,  2) 


34,9.  10  i 

Bache  üebersetzung  Schöpflins  von  Ravenez,  und  zwar  bei   Schöpflin 

Mf  den  II.  Bd.  -    '^  Nur  das   untere  Bruchstück.  —  ^  Nur  das  obere 

Save  Nr.  ify.  (Fig.  4).  —  &  Desgl.  Nr.  64  (Fig.  r).  —  «  Desgl.  Nr.  -ly  (Fig.  6). 


—    42    — 

kenswerl  und  tut*  die  geringe  Kunstfertigkeit  des  Bildhauers 
charakteristisch  ist  der  Umstand,  dass  der  Teil  des  Schwertes 
unterhalb  der  linken  Hand  nicht  genau  in  der  Verlängerung 
des  oberen  Teiles  steht.  Jollois  hält  das  Relief  für  den 
Grabstein  eines  Gallier s.  Das  ist  gewiss  richtige  und 
ich  verweise  zum  Vergleich  auf  ähnliche  Grabsteine,  die  aus 
der  Umgegend  stammen  :  Jollois  PI.  19,  7  stellt  ebenfalls  einen 
Gallier  im  Sagum  dar,  iu  der  Rechten  ein  Gefass,  in  der 
Linken  eine  Tafel  haltend,  aus  Soulosse  (Solimariaca) ;  Golden- 
berg in  Bull,  de  la  Soc.  pour  la  conserv.  IIL  i8(J0,  lig.  11  vom 
Kempel ;  de  Morlet  ebendas.  II  s6r.  I.  1863,  S.  163  vom  Gross- 
Limmersberg ;  Beaulieu,  Recherches  sur  le  Comte  de  Dags- 
bourg  PI.  I,  3  aus  dem  Freiwald  bei  Albersch weiter. 

Hiervon  weichen  die  früheren  Gelehrten  inbezug  auf  die 
Abbildungen,  die  auf  die  Rotstiflzeichnung  Alliots  als  gernein- 
same Quelle  zurückgehen,  und  die  Ansichten  über  die  darge- 
stellte Persönlichkeit  mehr  oder  weniger  ab. 

Ru  i  nart  glaubte  unter  den  von  ihm  auf  dem  Donon  gefun- 
denen Bildern  das  eines  Mannes  gesehen  zu  haben,  der  nach 
Arteines  römischen  Soldaten  bekleidet  gewesen.  Auch 
Allioti  spricht  von  einem  Römer,  dessen  Statue  sie  ausge- 
graben. Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  beide  obiges  Bild  im 
Sinne  hatten.  2  Auf  der  Rotstit1;zeichnung  und  ihren  Kopieen 
bei  de  Montfaucon,  Martin,  SchöpAin  und  Gähnet  sind  die  rohen 
Formen  sehr  verschönert,  insbesondere  zeigen  die  Arme  um- 
risse, die  das  Original  nicht  kennt;  die  rechte  Hand,  welche 
das  Gefass  umfasst,  lässt  fälschlicher  Weise  die  unnatürliche 
Innen-  statt  der  Aussenseite  sehen.  An  dem  rechten  Ober- 
arm ist  eine  Art  von  Aermel  sichtbar,  den  das  Original 
nicht  hat.  Der  Gegenstand  in  der  Linken  erscheint  auf  der 
Rotstiftzeichnung,  so  wie  bei  de  Montfaucon  und  Martin 
als  ein  Handschuh;  Schöpflin  hat  ihn  nach  genauer  Besich- 
tigung des  Denkmals  richtiger  dargestellt ;  er  halt  ihn  für 
ein  Buch  (Schreibtafel);  ihm  ist  Calmet  (S.  481)  gefolgt,  der 
aber  geneigt    ist,    in  ihm    eine    Serviette    zu    erkennen.  ^  Das 


'  Bei  Jollois.  S.  \H:\  Anra. 

'  Die  Nebenumstände,  die  Alliot  angiebt,  stimmen  damit  freilich 
nicht  ganz ;  er  sagt,  dass  die  neugierigen  Bauern,  die  gekommen 
waren,  um  zu  sehen,  was  die  Mönche  auf  dem  Berge  anstellten,  dem 
Bilde  die  Hand,  einen  Teil  seines  Mantels  and  einen  Fnss  abgeschlagen 
hätten.  Bei  Jollois  sind  wenigstens  die  Arme  noch  vollständig  er- 
halten. 

3  Der  Catalog  des  Museums  zu  Epinal  von  F.  Voulot  bezeichnet 
ihn  als  ein  Trinkglas. 


—   4;^   — 

Schwert  hat  Martin  (S.  215  ff.)  für  ein  umgekehrtes  Kreuz 
oder  vielmehr  einen  Schlüssel  angesehen,  der  die  Form  eines 
Kreuzes  hatte,  dessen  unterer  Arm  sehr  lang  ist  und  das  von 
dein  Halse  wie  eine  Bulla  herabhängt,  das  Symbol  der 
Druidenpriester.  Denn  für  einen  solchen  hält  Martin  das 
Bild,  eine  Ansicht,  die  vorher  schon  Schilter  ausgesprochen 
hatte.  1  Diese  weist  Schöpflin  (S.  05  ;  84  f. ;  454  f.)  mit 
Recht  zurück,  indem  er  daran  erinnert,  dass  die  Druiden  schon 
durch  die  ersten  römischen  Kaiser  veilriehen  worden  und  dass 
es  deshalb  unwahrscheinlich  sei,  dass  man  Leute,  die  durch 
kaiserlichen  Befehl  proscribiert  waren,  durch  Denkmäler  geehrt 
habe  zu  einer  Zeit,  wo  die  Römer  in  jenen  Gegenden 
herrschten.  Auch  die  Kleidung  lasse  nicht  darauf  schliessen, 
dass  wir  hier  Druiden  vor  uns  haben,  die  ein  besonderes  Or- 
densgewand trugen  ;  ebenso  wurde  das  Schwert  gewiss  nicht 
von  Druiden  getragen.  Alles  das  schliesst  natürlich  nicht  aus, 
dass  die  Wälder  des  Donon  vor  der  Römerherrschaft  eine 
Stätte  des  Druidenkultes  gewesen  sind. 

Schöptlin  glaubt  vielmehr  aus  dem  Schwerte  daran fschliessen 
zu  müssen,  dass  der  betr.  Gallier  dem  R  i  l  t  e  r  s  t  a  n  d  e 
angehört  oder  ein  Amt  bekleidet  habe,  wie  beiden  Aeduern 
der  Vergobret,«  das  ihm  das  Recht  über  Leben  und  Tod 
der  Bürger  verlieh.  Dass  es  aber  kein  Römer,  sondern  ein 
Gallier  war,  ist  ersichtlich  aus  der  gallischen  Kleidijng  (tunica 
quadrata  striata  vel  virgata)  ;  auch  das  Schwert  ist  ohne 
Zweifel  der  lange  gallische  Degen  ohne  Spitze.  Den  Gegenstand 
in  der  Rechten  hält  Schöpflin  für  ein  Gefäss,  3  nicht  für  eine 
Geldbörse,  wie  es  sich  auf  den  Denkmälern  der  Mediomatricer 
ofl  findet.4 

Calmet  (S.  479(1)  endlich  stützt  seine  Deutung  eben- 
falls auf  das  gallische  Schwert    und  sieht  in  dem  Manne  einen 


'  In  der  schon  mehrfach  citierten  handschriftlichen  Abhandlung 
über  die  Donondenkmäler  aas  dem  Jahre  i6H7.  —  Wenn  Schöpflin 
S.  84  von  de  Montfaucon  sagt,  dass  er  dieses  Bild  ebenfalls  für  einen 
Druiden  gehalten^  so  scheint  dabei  ein  Irrtum  seinerseits  zu  walten, 
denn  an  der  von  ihm  erwähnten  Stelle  spricht  sich  de  Montfaucon 
überhaupt  nicht  über  diese  Frage  aus,  ebensowenig  wie  Alliot. 
Schöpflin  scheint  sich  denn  auch  inbezug  auf  letzteren  nur  auf  ganz 
allgemeine  Bemerkungen  desselben  zu  beziehen.  (Vergl.  oben  S.  11 ; 
Anm    1.) 

<  Caes.  bell.  gall.  I,  16. 
3  So  auch  Pelletier,  S.  397. 

*  Vergl.  z.  B.  Jollois,  Antiquit^s  des  Vosges.  PL  18,  8  ;  19,  7 : 
Grabsteine  ans  Solimariaca  (j.  Soulosse}. 


—    44     - 

^fallischen  Krieger.  Ihm  ist  Pel  leti  er  (a.  a.  0.)  ge- 
folgt, während  G  r  a  n  d  i  d  i  e  r  (S.  35  ff.)  sich  Schöpflins  Ansicht 
angeschlossen  hat.  —  Das  Relief  befindet  sich  jetzt  im  Museum 
zu  Epinal  (Gat.  Nr.  89). 

b)  Das   Doppelbild. 

Inbezug  auf  die  Darstellung  des  Doppelbildes  sind  wir  auf 
die  betreffende  Rothstifl Zeichnung  und  die  darnach  genommenen 
Kopieen  angewiesen,  da,  wie  schon  erwähnt,  Jollois  das  Bild 
nicht  mehr  sah. 

Es  sind  ebenfalls  zwei  Gallier,  die  hier  auf  einem  Stein 
nebeneinander  dargestellt  waren  ;  beide  Köpfe  sind  abgeschlagen. 
Das  Bild  war  schon  zur  Zeit  Alliots  in  der  Mitte  quer  durt-h- 
gebrochen.  Der  vom  Beschauer  links  trägt  ein  bis  fast  auf  die 
Füsse  herabreichendes,  doppeltes  gallisches  Sagum  mit  Aermeln, 
von  denen  das  untere,  längere  unter  dem  oberen  hervoi^uckt.^ 
In  der  Rechten  hält  er  einen  Stab  mit  einem  birnenförmigen 
Aufsatz,  2  die  Linke  ist  nicht  sichtbar.  —  Der  rechte  Gallier 
hat  ein  kürzeres,  nur  bis  über  die  Kniee  herabreichendes 
Sagum  und  über  diesem  einen  Mantel,  aus  dem  er  die  Rechte 
herausstreckt,  ganz  wie  die  Römer  mit  Tunica  und  Toga.  In 
der  Linken  trägt  er  einen  schwer  zu  erkennenden  Gegenstand; 
Schöpflin  glaubt  darin  den  Rucken  eines  Buches  zu  sehen. 

H.  Alliots  hält  beide  für  einen  Mann  (rechts)  und  ein 
Kind  (links) ;  ebenso  R  u  i  n  a  r  t. 

Martin,  der  auch  hier  Druiden  dargestelll  sieht,  sucht 
einen  Lehrer  mit  seinem  Schüler  in  den  beiden,  Schöpflin 
begnügt  sich  ex  sanctimonia  loci  zu  schliessen,  dass  es  Gallier 
in  hohen  Stellungen  (in  dignitate  constituti)  sein  müssten, 
die  hier  abgebildet. 

Ca  Im  et  (S.  482),  ebenso  auch  Grandidier,  sehen  hier 
einen  Gallier  und  eine  Gallierin:  ihnen  möchte  auch 
ich  zustimmen,  nicht  nur,  weil  die  Vereinigung  von  Mann  und 
Frau  auf  gallischen  Grabmälern  häufig  ist,  sondern  auch  weil 
die  linke  Gestalt  kleiner  als  die  rechte  und  von  dieser  durch 
die  Kleidung  unterschieden  ist.  Unterstützt  wird  diese  Ansicht 
durch  den  Vergleich  mit  dem  bei  Jollois  PI.  18,8  abgebildeten 


1  Oder  wäre  es  nur  ein  breiter  Streifen  eines  einfachen  Sagüm? 
So  Calmet,  S.  482. 

*  JolIoiE,  S  192  :  «une  sorte  de  bäton  termin6  par  un  bouton 
de  lotuß»,  der  viel  Aehnlichkeit  hat  mit  den  Augurstäben,  den  die 
Götter    oder   die  Könige   der  alten  Aegypter  in  den  Händen  trugen. 

8  Journ.  des  Sav.  1693,  S.  76. 


—    45    — 

Grabstein  aus  Soulosse,  der  mit  dem  unsrigen,  wenn  man  die 
Unvollkommenheit  der  Zeichnung  des  letzteren  in  Betracht  zieht ^ 
besonders  inbezug  auf  die  ganz  romanisierte  Kleidung  des 
Mannes  (rechts)  und  der  Frau  (links)  eine  bemerkenswerte 
Äehnlichkeit  zeigt. 

C.    Die   Götterbilder. 

Die  Rotstiftzeichnungen  der  Basreliefs  vom  Donon,  welche 
Gölterbilder  darstellen  und  die,  wie  schon  erwähnt,  mancherlei 
Ungenauigkeiten  zeigen,  bieten  zwei  Eigentümlichkeiten,  die 
den  Scharfsinn  der  früheren  Gelehrten,  die  jene  ihren  bild- 
lichen und  schriftlichen  Darstellungen  zu  Grunde  gelegt,  her- 
ausgefordert haben.  Es  ist  dies  : 

1.  Das  Fehlen  des  männlichen  Gliedes,  das  be- 
einigen durch  eine  Art  Band  um  die  Hüfte  verdeckt  ist,  bei 
anderen  gänzlich  fehlt,  wieder  bei  anderen  durch  einen  oder 
zwei  ineinanderhängende  Ringe,  zum  Teil  an  einem  Bande  be- 
festigt, ersetzt  ist ; 

2.  Die  ganz  weiblichen  Formen  der  Gestalte.i  : 
runde  Schenkel,  sehr  ausgebildete  Hüften  und  Brüste. 

Dom  Martin,  Schöpflin,  Dom  Pelletier  und  Dom  Calmet 
haben  eingehende  Untersuchungen  über  diese  Frage  angestellt; 
letzterer  (S.  476  fl.)  sah  in  3 — 4  Bildern,  deren  Köpfe  fehlen, 
weibliche  Druiden  und  wollte  in  den  ineinander  geringelten 
Schlangen  das  Symbol  der  Weissagekunst  oder  einer  andern 
magischen  Kraft  erblicken.  Dass  diese  einen  caduceus  darstellen, 
will  er  deswegen  nicht  glauben,  weil  der  eigentliche  Stab 
fehlt,  wie  ihn  Mercur  trägt. 

Alle  diese  Ausführungen  sind  hinfallig  geworden,  seitdem 
Jolloisi  nachgewiesen,  dass  unter  den  noch  vorhandenen 
Donondenk malern  sich  keines  findet,  bei  dem  nicht  das  männ- 
liche Glied  noch  deutlich  sichtbar,  und  dass  jene  eigentümlichen 
Verhüllungen  nur  einem  unangebrachten  Schamgefühl  der 
Mönche  von  Moyenmoutier  und  Senones,  der  Urheljer  jener 
Zeichnungen,  auf  die  Rechnung  zu  setzen  sind. 

Nachdem  auf  diese  Weise  jene  erste  Eigentümlichkeit 
unserer  Bilder  in  nichts  zerronnen  war,  glaubte  Schweig- 
häuser 2  wenigstens  die  zweite,  die  weiblichen  Formen,  reiten 
zu  können,   wobei  er  sich  auf  seine  eigene  —  wohl  nur  ober- 


1  Antiquites  da  Donon. 

^  Memoire  sar  les  monaments  celtiques  du  d^partement  du 
Bas-Rhin  in  M6moires  de  la  Soc.  royale  des  Antiquaires  de  France. 
Nouv.  s6r.  Tome  XII.  1836,  p.  10  saiv. 


—    46    — 

flächliche  —  Betrachtung  der  Reliefs  herief  und  eine  Art  von 
Mannweibern  (:indro«jynes)  konstruierte,  über  die  er  nun  eben- 
falls eine  tiefsinnige  Betrachtung  anstellt.  Aber  auch  diese 
Hypothese  tiat  Jollois  >  später  zurückgewiesen,  indem  er  aus- 
führt, dass  einige  zwar  ziemlich  stark  ausgeprägte  Haften  haben, 
dass  aber  die  Körperformen  durchaus  männliche  sind. 

In  betreff  der  Bestimmung  dieser  Basreliefs  spricht 
Jollois  (S.  139 f.)  sich  folgendermassen  aus:  «Wir  glauben, 
dass  die  Mehrzahl  der  Reliefbilder  Grabsteine  waren.  Einige 
haben  hier  Statuen  zum  Schmuck  der  Tempel  des  Donon  sehen 
wollen.  Doch  ist  dabei  festzuhalten,  dass  alle  diese  Steine  nur 
auf  der  Vorderseite  bearbeitet  waren  und  keine  eigentlichen 
Statuen  darstellen.  Mercur  war  der  von  den  Galliern  vorzugs- 
weise verehrte  Gott.  Die  auf  dem  Donon  bestatteten  Leute 
wollten  deshalb  vermutlich  ihr  Grab  von  dem  Bilde  desjenigen 
Gottes  beschützt  h:iben,  für  den  sie  im  Leben  die  grösste  Ver- 
ehrurg  hegten.  Ganz  ähnliche  Grabsteine  fanden  sich  an 
melireren  Orten  des  Departement  des  Vosges,  besonders  in 
Escies  und  Soulosse,  dem  alten  Solimariaca.» 

Indem  ich  noch  auf  die  zahlreichen  im  Dagsburger  Lande. 
also  in  unmittelbarer  Nachbarschaft  des  Donon,  gefundenen 
Mercurbilder  hinweise,  *  bemerke  ich  zu  diesen  Ausführungen 
.loilois\  dass  ich  mich  ihnen  nur  bedingt  anschliessen  kann. 
Denn  nach  meiner  Ueberzeugung  sind  unter  den  Rehefs  vom 
Donon  nur  zwei  Grabsteine,  die  beiden  oben  besprochenen  mit 
den  Galliern ;  alle  übrigen  waren  Votiv steine,  wie  schon 
der  mit  der  Dedicationsinschrift  versehene  Stein  (s.  u.  Nr.  iO) 
beweist,  mit  dem  die  übrigen  im  Wesentlichen  übereinstimmen. 

Alle  Reliefbilder  sind  aus  Vo  g  e  s  e  n  s  a  n  d  s  t  e  i  n,  wie  er 
sich  auf  dem  Donon  fmdet.  Bemerkenswert  ist,  dass  fast  alle 
zertrümmert  sind.  Nicht  unwahrscheinlich  ist  es,  da??? 
dieser  Umstand  auf  gewaltsa)ne  Zerstörung,  vielleicht  von  Seiten 
der  altchristlichen  Bevölkerung  zurückzuführen  ist,  die  ihren 
religiösen  Fanatismus  an  diesen  Zeugen  des  Heidentums  aus- 
li essen.  3 


*  Antiquit6s  des  Vosges,  S.  138. 

2  Man  vergl  u.  a.  die  Abbildungen  der  vom  Gross-Limmersberg 
stammenden  Mercurbilder.  (Bull,  de  la  Soc.  pour  la  conserv..  III. 
1860.) 

3  Diese  Zerstörung  der  Donondenkmäler  behandelt  eine  Ballade 
des  schon  einmal  citierten  anonymen  Dichters,  unter  der  Üeberschrift : 
Deodat  (der  Gründer  von  St-Di6)  in  Strassb.  Zeitg.  1879,  Nr.  103. 
3.   Mai;    wiederabgedr.  in    Gemeinde-Zeitg.  f.  E.-L.  1881,  Nr.  46.  — 


—    47    — 
a)   M  e  r  c  n  r  b  i  l  d  e  r. 

Die  meii<ten  Reliefs  sind  M  e  r  c  u  r  b  i  l  d  e  r,  die  durch  den 
Flügelhut  (pelasus),  den  Heroldslab  (caduceus)  und  die  Geld- 
börse (mai*supiunrk)  charakterisiert  sind ;  manchen  fehlt  das  eine 
oder  das  andere  Attribut. 

Beginnen  wir  unsere  Aufzählung  mit  denjenigen,  die 
durch  die  Zeic  hn  u  n  gen  J  o  1  lo  i  s*  genau  festge- 
stellt  sind: 

1.  Fragment,  Brust  und  Kopf  fehlen.  Jollois  (S.  138  f.) 
fand  es  in  einer  Felsspalte  auf  dem  Gipfel;  vermutlich  lag  es 
noch  an  seinem  ursprünglichen  Platz  oder  wenigstens  nicht 
weit  davon.  Die  Gestalt  häh  in  der  Rechten  einen  Beutel,  in 
der  Linken  den  Heroldstab;  die  Schlangen,  die  zwei  längliche 
Schleifen  bilden,  hängen  an  einem  Stab  abwärts.  Obwohl  von 
roher  Arbeit,  gehöil  das  Relief  doch  zu  den  besten  des  Donons, 
insbesondere  zeigen  die  Beine  ziemhche  Nalurtreue ;  die  männ- 
lichen Geschlechtsteile  sind  unversehrt.  Der  untere  Teil  des 
Steines  ist  dicker  als  der  obere,  als  wenn  er  einen  Sockel  hätte 
bilden  sollen.  Das  Bild  fmdet  sich  nicht  unter  den  Darstellungen 
aus  früherer  Zeit,  (jetzt  in  Epinal  Gat.  Nr.  88.) 

2.  *  Kopf  fehlt,  der  rechte  Arm  ist  verstümmelt,  doch  kann 
man  noch  erkennen,  dass  er  einen  Heroldstab  trug,  der  ihm 
an  der  Seite  herabhing  (Schlangen  oben,  Stab  unten) ;  der 
linke  Arm  ist  verkürzt,  in  der  Linken  eine  lange  Geldbörse. 
Die  Formen  des  Oberkörpers  und  der  Beine  sind  die  eines 
Mannes,  der  Unterleib  stark  ausgebildet ;  das  männliche  Glied 
vollkommen  deutlich.  Eine  Art  Mantel  (fast  unsichtbar,  aber 
auf  der  Rotstiflzeichnung  nicht  zu  verkennen)  fallt  von  der 
Schulter  herab,  an  der  er  durch  einen  über  die  Brust  und  den 
linken  Arm  liegenden  Riemen  befestigt  ist.  —  Die  Rotstift- 
zeichnung  scheint  eine  Art  infibulatio  des  Gliedes  zu  zeigen; 
bei  de  Montfaucon  und  Schöpflin  ist  der  Ring  deut- 
lich ausgeprägt,  Galmet  zeichnet  deren  sogar  zwei,  die  an 
einem  Bande  hängen.  Die  Körperformen  sind  weiblich  abge- 
rundet, die  Brust  aber  die  eines  Mannes  ;  der  Geldbeutel  fehlt : 
der  linke  Arm  hat  normale  Länge.  Calmet  (S.  474,  3  und 
483)  hält  das  Bild  sonderbarer  Weise  für  das  eines  Kriegers 
und   den    Heroldstab  für   eine  Art   Keule    oder  Wurfspiess    an 


Gravier  (Journ.  de  la  Soc.  d'EmuL,  Nr.  VII,  S.  22  f.)  denkt    an  den 
heil.   Florentins,    den    Gründer    der    Abtei    Haslach   und    eifrigen 
Kämpfer  gegen  das  Heidentum  in  jenen  Gegenden  der  Vogesen. 
«  Jollois,  S.   141  f. 


—     i8    — 

einem  Riemen  (j^aesum),  worin  ihm  Grandidier  gefolgt 
ist  (S.  35). 

3. 1  Kopf  fehlt ;  in  der  Rechten  ein  Gegenstand,  der  un- 
deutlich, aber  eine  Geldbörse  zu  sein  scheint ;  in  der  Linken 
ruht  der  Heroldstab  aufwärts  gegen  die  Brust  gelehnt.  Eine 
Furche,  die  sich  um  den  Hals  herumzieht^  scheint  zur  Auf- 
nahme eines  Halsbandes  aus  Edelmetall  gedient  zu  haben; 
letzteres  ist  herausgerissen.  Die  Hüften  sind  ziemlich  ausge- 
bildet. Das  Glied,  wenn  auch  verstummelt,  ist  deutlich  zu  er- 
kennen;«  der  Unterleib  sehr  prononciert  und  durch  eine  Art 
Schnur  bezeichnet.  Letztere  ist  in  den  Rotstiftzeich- 
nungen zu  einer  Binde  geworden,  die  die  Schamteile  ver- 
hüllt. Die  Körperformen  sind  vollständig  weiblich,  die  Brüste 
ziemlich  ausgebildet.  De  Montfaucon  (S.  417)  und  Martin 
hallen  die  Figur  für  einen  geschlechtslosen  Mercur,  Ca  Im  et 
(475  f)  für  eine  Druidenpriesterin  des  Mercur;  Pelletier 
(S.  397)  vermutet  die  Frau  eines  Galliers !  —  (jetzt  in  £pinal 
Gat.  No.  90). 

4.3  Zwei  Bruchstücke,  beide  nahe  bei  einander  gefunden, 
die  scheinbar  zusammengehören,  obgleich  sie  nicht  genau  an- 
einander passen.  Das  obere  (Schenkel  und  Unterleib)  gehörte 
sicher  zu  einem  Mercur,  denn  in  der  Linken  ist  der  Herold- 
stab SU  sehen,  von  dem  die  beiden  Schlangen  noch  vorhanden; 
die  Rechte  ist  geschlossen  und  zeigt  die  Innenseite.  Die  Ge- 
schlechtsteile sind  deutlich  männliche ;  der  Unterleib  stark  aus- 
gebildet .  Das  zweite  Fragment  (zwei  Drittel  der  Beine) 
ist  gut  erhalten,  der  Stein  dagegen  in  der  Nähe  des  rechten 
Schenkels  verstümmelt.  JoUois  glaubt  eine  Aehnlichkeit  mit 
der  Rotsti  ftzeichn  ung  PI.  36,  1  zu  finden,  die  die  ganze 
Gestalt,  aber  ohne  Kopf  darstellt;  die  Haltung  der  rechten  Hand 
ist  die  gleiche,  das  Kniegelenk  auf  beiden  stark  ausgebildet.^ 
Auf  der  Rotstiftzeichnung  sieht  man  neben  dem  linken  Fuss 
einen  kleinen  Sockel,  auf  dem  ein  Vogel,  vielleicht  ein  Hahn, 
das  dem  Mercur  heilige  Tier,  steht.  Dieses  Sinnbild  war  zu 
Jollois'  Zeit  ganz  verwischt  und  nur  noch  an  der  Rauhheit  des 


J  Jollois,  S.  142. 

^Schweighäuser,  Kunstblatt  1823,  S.  332 :  €  Geschlechts- 
teile am  Steine  sehr  undeatlich ;  ein  ganz  neuer  Verstümmler  hftt 
hier  eine  ehedem  nicht  existierende  Vertiefung  eingemeisselt,  die  sie 
noch  undeutlicher  macht.» 

3  Jollois,  S.  143  f. 

^  Das  ist  auf  den  meisten  Rotstiftzeichnungen  der  Fall,  also 
kein  entscheidendes  Kennzeichen. 


—    49    — 

Steines  an  jener  Stelle  erkennbar.  Letzteres  ist  jedenfalls  un- 
sicher. —  Ich  zweifle  an  der  Identität  dieser  2  Fragmente  mit 
der  erwähnten  Rotstiftzeichnung,  glaube  vielmehr,  dass  das 
obere  Fi*agment  gleich  ist  dem  bei  Calmet  PI.  2,  15  abgebildeten, 
mit  dem  es  ziemlich  genau  (Haltung  der  Hand !)  stimmt.  Möglich 
wäre  es,  dass  dann  Nr.  16  bei  Calmet  dem  unteren  gleich  zu 
setzen  wäre,  *  wobei  ich  freilich  nicht  verschweigen  will,  dass 
auf  letzterem  etwas  Wesentliches  fehlt,  nämlich  der  untere 
Teil  des  Heroldstabes,  der  bei  Galmet  und  auf  der  Rotstift- 
zeichnung sichtbar  ist.  Was  Jollois  übersehen  hat,  ist  der 
fragmentarische  Rand  des  Steines  auf  der  Rotstiftzeichnung 
{PI.  36,  1),  während  die  von  Jollois  reproduzierten  Stücke  einen 
gut  erhaltenen  Rand  haben,  der  bei  dem  unteren  Stück  bei 
Calmet  (Nr.  16)  ebenfalls  vorhanden  ist,  während  er  an  dem 
oberen  (Nr.  15)  allerdings  fehlt.  —  Ist  meine  Vermutung 
richtig,  so  muss  auch  hier  darauf  aufmerksam  gemacht  werden, 
dass  an  der  Stelle  der  zwei  ineinanderhängenden  Ringe  auf  der 
Calmet'schen  Zeichnung  das  Original  das  männliche  Glied 
deutlich  erkennen  lässt.  —  Galmet  (S.  476)  hält  beide  Stücke 
für  Fragmente  weiblicher  Druiden. 

5.«  Fragment:  Mittelstück;  in  der  Rechten  die  Geldbörse, 
linker  Arm  nicht  vorhanden;  das  männliche  Glied  deutlich. 
Jollois  hält  es  für  identisch  mit  dem  bei  de  Montfaucon  PI.  187,  5 
abgebildeten,  welches  letztere  ohne  Zweifel  gleich  der  Rotstift- 
zeichnung PI.  36,  4  (oberer  Teil)  ist,  so  dass  Jollois'  Bemerkung, 
es  befinde  sich  nicht  unter  den  Rotstiftzeichnungen,  unzutreffend 
wäre,  wenn  man  die  Identität  beider  (Jollois  PI.  34,  8  und 
de  Montfaucon  PI.  187,  5)  überhaupt  anerkennt,  was  aber  sehr 
fraglich  erscheint.  3  (jetzt  in  Epinal  Cat.  Nr.  93.) 

Ausser  diesen  von  Jollois  1821  wieder  aufgefundenen 
Mercurbildem,  finden  sich  unter  den  Rotstift  Zeich- 
nungen (Sammlung  A)  noch  folgende,  die  er  PL  35  und 
36  reproduziert  hat. 

6.  Fragment :  Kopf  und  oberer  Teil  der  Brust  eines 
Mercur.  Auf  dem  Kopf  der  Flügelhut,  an  der  rechten  Seite 
der  caduceus  aufrecht,  der  wie  eine  zweizinkige  Gabel  aussieht. 
In  der  Originalzeichnung  ist  die  Brust  scheinbar  bekleidet,  so 
auch  bei  Schöpflin  und  de  Montfaucon  ;  bei  Galmet  ist  sie  nackt. 

7.  Mercurkof:    Der  Flügelhut   ist    durch    wulstariige  Auf- 


1  Nr.  16  bei  Calmet  ist  ohne  Zweifel  =  Rotstiftzeichnang 
FI.  35,  10;  letztere  zeigt  auch  am  linken  Schenkel  das  ausgeprägte 
Knie,  was  bei  Galmet  nicht  der  Fall  ist,  nnd  den  gut  erhaltenen  Rand. 

2  Jollois,  S.  144. 

3  Vgl.  TL  Nr.  16. 


—    50    — 

Sätze  auf  dem  Kopf  nur  undeutlich  angedeutet.  Der  Siein  auch 
an  der  rechten  Seite  bis  an  den  Kopf  heran  beschädigt.  Die 
Abbildung  bei  Calmet  hat  ihn  ergänzt. 

8.  Rehefbild  eines  Mercur,  der  durch  den  von  der  Linken 
herabhängenden  Heroldstab  ckarakterisiert  ist.  Letzterer 
besteht  nur  aus  den  beiden  verschlungenen  Schlangen  ohne 
Stab.  Die  weiblichen  Formen  (Brüste,  Hüften,  Oberschenkel) 
sind  stark  ausgeprägt,  die  Geschlechtsteile  durch  2  ineinander 
und  an  einer  Schnur  hängende  Ringe  verdeckt.  Bemerkens- 
wert ist  die  Haltung  der  beiden  Hände,  welche  die  Innenseite 
nach  aussen  kehren.  Kopf  fehlt.  Unter  den  Schwanzenden  der 
beiden  Schlangen,  neben  dem  linken  Fuss,  steht  auf  einem 
kleinen  Sockel  eine  Art  Vogel,  vielleicht  ein  Hahn.  —  Es  ist 
dies  das  Bild,  das  J  o  1 1  o  i  s  in  seinen  beiden  PI.  34,  7  abge- 
bildeten Bruchstucken  wiedererkennen  will,  wie  ich  glaube, 
mit  Unrecht  (s.  das  Nähere  oben  unter  Nr.  4).  Die  Abbildungen 
bei  de  Montfaucon  und  Schöpft  in  stimmen  genau  mit 
der  Originalzeichnung.  Trotz  einiger  Abweichungen  bei  Calmet 
(natürliche  Haltung  der  Hände,  Fehlen  des  Sockels  mit 
dem  Hahn)  nehme  ich  doch  an,  dass  auch  seine  Abbild uu«; 
(PI.  2,  14)  auf  jenes  Original  zurückgeht,  wofür  die  grosse 
Aehnlichkeit  beider  im  übrigen  spricht.  —  Calmet  hält  da& 
Bild  für  eine  weibliche  Druidin,  die  eine  der  Schlangen  beim 
Kopf  hält  und  sie  zu  zerdrücken  scheint.  H.  Alliot^  sieht 
in  ihm  eine  Bacchuspriesterin,  in  dem  Tier  am  Fus^ 
einen  Bock;  ihm  folgt  R  u  i  n  a  r t ,  der  letzteres  aber  mit  aiia 
ejusmodi  (=  wie  die  Schlangen)  reptilia  bezeichnet,  was  schon 
Matter  zurückgewiesen  hat.  Pelletier  (S.  397)  vermutet 
auch  hier  die  Frau   eines   Gallier s. 

9.  Geschlechtslose  Figur,  bedeutend  kleiner  als  die  übrigen 
Reliefs.  Der  von  der  Rechten  gehaltene,  un verhält nismässij^' 
grosse  Geldbeutel  lässt  in  ihm  wohl  einen  Mercur  erkennen. 
Andere  Attribute  fehlen  ;  auf  dem  Kopf  eine  eigentümliche,  zu 
beiden  Seiten  herabhängende  Kopfbedeckung,  sonst  nackt.  Sebr 
schlechte  Arbeit. 

10.  Obere  Hälfte  eines  Mercur,  der  durch  den  Flügelhut 
deutlich  charakterisiert  ist.  Sein  Gewand,  das  an  drei  über  die 
Brust  liegenden  Falten  erkennbar  ist,'  scheint  durch  einen 
von  der  rechten  Schulter  über  den  linken  Arm  laufenden 
Riemen  oder  Band  festgehalten  zu  werden.  —  Besonderes  In- 
teresse erweckt  dieser  Stein  durch  eine  Inschrift,  die 
einzige    auf    einem    Relief    des    Donon    bekannte. 


1  Journ.  des  Sav.  1693,  S.  76,  4. 

2  Fehlt  auf  Calmets  Abbildung;    nnr  der  Riemen  ist  vorhanden. 


—    51     — 

weiche  auf  dem  oberen  Rand  desselben  eingegraben  ist,  deren  Ent- 
zifferung aber  einige  Schwierigkeiten  verursacht.  Dieselbe  lautet 
auf  der  Rotstiftzeichnung,  die   Schöpf! ins   Abbildung  genau 


wiedergibt : 

DE   M 

PVC       M 

V  •  S 

L  .  RI 

Bei  C  a  1  m  e  t  ist  sie  unvollständig,  auf  deMontfaucons 
Abbildung  fehlt  sie  gänzlich.  De  Montfaucon  (S.  417) 
liest  sie  folgendermassen :  DEo  Mercurio  P.  V.  C.  (Name 
des  Mannes)!  Votum  Solvit  Lubens  MeRIlo. 

Ebenso  Schöpfl  in  (S.  453  f.)  und  Pelletier  (S.  395). 
J  o  1 1  o  i  s  (S.  192)  deutet  den  Namen  PVblius  Gaius.  S  c  h  i  1 1  e  r 
(bei  Scliöpflin  a.  a.  0.)  stellt  die  vier  letzten  rechts  stehenden  Buch- 
staben anders  und  liest  sie  so :  Miles  I^egionis  RIparialorum 
oder  Miles  Legionis  RI  =  tricesimae  (T  unci  R  in  einen 
Buchstaben  zusammengezogen). 

11.  Kopf  eines  Mercur,  dem  vorigen  ähnlich  ;  der  Flügel- 
hut nur  durch  die  Flügel  angedeutet.  Der  halbkreisförmige 
Rand,  der  den  Stein  oben  abschliesst,  fehlt  bei  Calmet. 

12.  Fragmente  eines  Reliefs,  von  dem  indessen  kaum  zu 
erkennen,  was  es  darstellt.  Dagegen  deutlich  sichtbar  ein 
grosser  Hahn.  Da  dieser  Vogel  dem  Mercur  heilig  war,  so 
dürfen  wir  wohl  auch  in  diesem  Bruchstück  ein  Mercurbild 
sehen.    —  Das  Bruchstück  findet  sich  nicht  weiter  abgebildet. 

13.  Ein  vollständig  erhaltenes  Mercurbild  mit  allen  Attri- 
buten in  einer  flachen  Nische  :  auf  dem  Kopf  der  Flügelhut, 
auf  den  Schultern  liegt  ein  Mantel,  der  auf  der  rechten  mit 
einer  Art  Spange  (fibula)  zusammengehalten  wird;  von  dieser 
läuft  ein  Riemen  oder  Band  nach  dem  linken  Arm,  über  den 
eine  Art  Schärpe  hängt.  In  der  herabhängenden  Rechten  eine 
Geldbörse  von  eigentümlicher  Gestalt :  de  Montfaucon 
(S.  416  f.)  und  Schöpfl  in  (S.  453)  glauben,  dass  ein  Band 
an  derselben  hänge  (vergl.  auch  Calmet  S.  475).  In  der 
erhobenen  Linken  den  caduceus  über  die  linke  Schulter  tragend. 
Die  Geschlechtsteile  sind  durch  zwei  ineinanderhängende  Ringe 
ersetzt.  An  dem  linken  Fuss  ist  ein  Tier  sichtbar,  das  schwer 
festzustellen  ist.  Schöpfl  in  hält  es  für  einen  Bock,  wobei 
er  daran  erinnert,  dass  dieses  Tier  öfters  auf  Mercurbildern 
vorkomme  z.  B.  auf  dem  am  Staufenberg  bei  Baden-Baden  ge- 


1  Andere  Beispiele  für  die  Sitte,  dass  der  Dedicant  eines  Yotiv- 
denkmals  sich  nur  mit  den  Initialen  bezeichnet,  s.  Bonner  Jahrb.  69 
S.  42  f.;  70,  S.  B  ( Jupiter altar)  u.  in  Allmer's  ReToe  6pigr.  1885 
(St,  33),  S.  107  Nr.  533. 


—    52    — 

fundenen;  ebenso  Pelletier  (S.  394).  Ca  Im  et  (S.  473,  i)  sieht 
darin  einen  Hahn.  Pelletier  sah  um  1755  das  Bild  noch 
vollständig  erhalten  in  der  Mauer  eines  Wasserbehälters  in 
Fraraont.  i 

Daran  schliesse  ich  noch  ein  anderes  Mercurbild,  das  sich 
unter  den  von  Jollois  veröffentlichten  Rotstift- 
zeichnungen nicht  befindet,  wohl  aber  bei  den  Ge- 
lehrten, die  ihre  Abbildungen  nach  diesen  Zeichnungen  ange- 
fertigt haben. 

14.    Fast    vollständig   erhaltener   Mercur   (nur  der  oberste 


Fig.  4. 

Teil  des  Kopfes  ist  abgeschlagen)  in  einer  flachen  Nische ;  nackt, 
mit  weiblichen  Brüsten  (ausser  bei  Calmet) ;  statt  der  Geschlechts- 
teile die  beiden  Ringe.  In  der  herabhängenden  Rechten  der 
Geldbeutel  wie  ein  Leinentuch,  in  der  herabhängenden  Linken 
der  Heroldstab,  Griff  nach  unten.  Neben  dem  rechten  Fuss 
ein  Hahn  (fehlt  bei  Calmet).  — Ruinart  hält  ihn  falschlich 
für  eine  P  a  1 1  a  s  ,  C  a  1  m  e  t  für  einen  Krieger  mit  einem 
Wurfspiess  am  Riemen  (gaesum);*  ihm  ist  auch  hier  Gran- 
didier  (S.  35)  gefolgt.  —  Pelletier  (S.  394  f.)  sah  das 
Relief  noch  an  Ort  und  Stelle.  Es  ist  wohl  wegen  seiner  Voll- 


1  Vgl.  die  Anm.  ö,  S.  25. 

2  Vgl.  üben  Nr.  2. 


—    53    — 

ständigkeit  bei  allen  Gelehrten  des  vorigen  Jahrhunderts 
(de  Montfaucon,  Martin,  Schöpflin,  Calmet)  abgebildet,  fehlt  aber 
merkwürdigerweise  unter  den  Rotstiftzeichnungen  bei  Jollois, 
dagegen  ist  es  in  der  Sammlung  B  erhalten.  Die  Abbildung 
(Fig.  4)  verdanke  ich  Herrn  Save  (vergl.  oben  S.  18).* 

b)  Andere  Reliefs. 

Neben  diesen  zahlreichen  Mercurbildem  treten  die  übrigen 
Bilder  der  Zahl  nach  sehr  zurück.  Es  lassen  sich  folgende 
feststellen : 

15.  Fragment :  zwei  Schenkel  ohne  Füsse.  Neben  dem 
linken,  sehr  verstümmelten  Bein  ist  ein  Stück  eines  herab- 
hängenden Mantels  sichtbar.  Das  Interessante  an  diesem  Stein 
ist  das  vor  dem  linken  Bein  stehende  Tier,  das  jedenfalls 
ein  Ziegenbock  (so  auch  Schöpft  in)  mit  einem  Bart  und 
einem  Halsband  ist ;  ein  Hörn  ist  abgebrochen.  De  Montfaucon 
(S. 417) nennt  es  einfach  einanimal  cornu  (?),  Jollois  (S.  190) 
sieht  darin  eine  Hirschkuh  (hiebe),  was  schon  wegen  des 
Hornes  ganz  unmöglich  ist,  und  hält  deshalb  den  Stein  für 
das  Fragment  einer  Diana;  Kraus»  für  einen  A  e  s  c  u  1  a  p 
mit  der  Ziege.  Nach  dem,  was  oben  zu  Nr.  13  gesagt  worden 
ist,  könnte  es  sehr  wohl  einem  Mercur  angehört  haben. 

16.  Zwei  zusammengehörige  Bruchstucke  (Kopf  und  Brust 
fehlen);  die  Glieder  zeigen  weibliche  Rundung,  das  männliche 
Glied  eine  inßbulatio.  Die  Gestalt  scheint  mit  einem  Tierfelle 
bekleidet  zu  sein,  von  dem  man  den  herabhängenden  Fuss 
neben  dem  linken  Bein  und  die  unteren  Enden  auf  den 
Schenkeln  und  dem  Leib  noch  erkennen  kann.  3  An  den  Füssen 
Sandalen,  deren  Riemen  aber  nicht  sichtbar;  Attribute  fehlen. 
Jollois  (S.  144)  hat  falschlicher  Weise  den  oberen  Teil  mit 
dem  von  ihm  gefundenen,  PI.  34,  8  abgebildeten  Fragment 
identifiziert.  (Vergl.  oben  Nr.  5) ;  dagegen  ist  der  obere  Teil 
bei  de  Montfaucon  reproduziert. 

17.  Zu  keiner  sicheren  Entscheidung  gekommen  sind  die 
Ansichten  über  das  von  Jollois  PI.  34,  3  nach  dem  Original  abge- 
bildete Basrelief,  das  er  noch  selbst  auf  dem  Donon  gefunden. 


'  Der  Katalog  des  Mnseums  in  Epinal  zählt  noch  ein  Mercur- 
bild  auf,  das  ich  sonst  nirgends  erwähnt  gefunden  habe  (N*'  91: 
Nackter  Mercur  in  natürlicher  Grösse  stützt  seine  rechte  Hand  auf 
einen  Bock,  der  hinter  ihm  steht.  Mit  der  Linken  hält  er  eine  Börse, 
die  fast  ganz  zerstört  ist.) 

'  Kunst  u.  Altert,  in  E.-L.,  III,  s.  v.  Donon. 

3  S.  Alliot,  Journ.  des  Sav.  1693,  S.  76  Nr.  1. 


—    54    — 

Unter  den  von  ihm  reproduzierten  Rotstiflzeiohnungen  befindet 
sich  das  Bild  nicht,  er  sagt  sogar  ausdrücklich  (S.  139),  dass 
eine  Abbildung  unter  den  Rotstiftzeichnungen  nicht  vorhanden 
sei ;  dagegen  existiert  eine  solche  in  der  Sammlung  B,  nach  der 
es  Galmet  dargestellt  hat,  und  zwar  ist  seine  Abbildung  iht^m 
ganzen  Typus  nach  verschieden  von  seinen  übrigen  Darstellungen, 
so  dass  wohl  Schweighäuser  ^  richtig  vermutet  hat,  dass  er  diese 
einem  anderen  Künstler  verdankt.  —  Der  Stein  ist  nach 
Jollois  (S.  139}  1,40  m  hoch,  0,70  breit  und  0,25  dick.  Er 
stellt  eine  roh  gearbeitete  menschliche  Gestalt  dar,  deren  Oljer- 
körper  im  Verhältnis  zu  den  Beinen  viel  zu  lang  ist;  das 
Gesicht  ist  vollkommen  abgeschlifTen,  die  Hände  au  den  auf 
beiden  Seiten  herabhängenden  Armen  und  die  Füsse  sind  ab- 
geschlagen. Die  Geschlechtsteile  sind  verstümmelt  (also  doch 
wohl  ursprünglich  vorhanden).  Alle  Attribute  scheinen  zu 
fehlen  und  waren  wohl  überhaupt  nie  vorhanden.  Gut  erhalten 
ist  ein  Hirsch,  der  hinter  der  menschlichen  Gestalt  steht 
und  dessen  Körper  von  der  Seite,  dessen  Kopf  dagegen  von 
vorn  dargestellt  ist  (in  Sammlung  B  und  bei  Calmet  auch  dieser 
von  der  Seite).  Bei  letzterem  steht  auf  der  linken  Schulter  des 
Menschen  eine  Art  von  Vogel  (etwas  anders  auf  der  Rotstifl- 
zeichnung  der  Sammlung  B.  s.  Fig.  5),  während  er  in  der  dazu 
gehörigen  Beschreibung  (S.  473  f.)  von  der  Spitze  eines  Wurf- 
spiesses  oder  auch  von  einem  Köcher  oder  von  einem  Bogen 
spricht,  der  hinter  der  linken  Schulter  sichtbar  sei ;  bei  Jollois 
ist  nichts  der  Art  vorhanden.  —  Calmet  glaubt,  besonders 
auch  wegen  des  Hirsches,  eine  Diana  in  der  menschlichen 
Gestalt  zu  erkennen  (so  auch  Matter «).  Schweighäuser 
a.  a.  0.),  der  die  Existenz  eines  männlichen  Gliedes  nach 
Jollois*  Vorgang  als  sicher  ansieht,  erblickt  auch  hier  eines 
seiner  Mannweiber »  und  hält  die  Gestalt  für  eine  männliche 
Diana,  mit  der  er  einen  Dens  lunus  auf  alten  Denkmälern 
in  Vergleich  stellt.  Jollois  endlich  erklärt  das  Bild  für  das 
eines  gallischen  Jägers  und  hält  den  Stein,  ebenso  wie 
die  meisten  der  aufgezählten  Basreliefs  für  einen  Grabstein.  — 
Man  wird  zugestehen  müssen,  dass  alle  diese  Erklärungen 
wenig  befriedigen,  zum  Teil  unmöglich  sind.  Ich  möchte  deshalb 
eine  andere  Vermutung  aussprechen,  die  freilich  keinen  An- 
spruch macht,  mehr  als  das  sein  zu  wollen.  Zange  meistert 


1  In  dem  oben  citierten  Memoire   sar  les   monnments   celtiqnes 
du  dep.  da  Bas-ßhin,  S.  14. 

2  Anm.  1/2  zu  Rainart,  Voyage,  S.  151. 

3  S.  darüber  oben  S.  45  f. 

*  Stades  archeologiqaes  d^di^es  ä  Leemans.  Leide  1885,  S.  239  it 


hat  auf  einem  in  <ler  Uii)ge;jend  von  Nietlei-bronn  gefundenen 
Stein  ein  Bild  entdeckt,  ilas  zwar  sehr  abj^eschlißen,  auf  dem 
er  aber  Qber  den  Schultern  Kikiher  und  Pfeile,  aisu  die  Attri- 
bute der  Diana,  noch  erkennen  konnte  ;  die  darüber  stehende 
Inschrift  charaklerisierte  es  als  das  des  Voseffus  Silvestris, 
dessen  Name  er  auch  noch  auf  einer  zweiten  Inschrift  in  Görsdorf 
bei  Wftrth  konstatierte:  also  der  SchutzgoU  unseres  Gebir^s  als 
Freund  des  Waidwerkes  dai^eslelll.  Sollten  wir  etwa  auch  auf 


Fig.  5. 


Fig.  fi. 


unserm  Stein  diesen  Vosegus  vor  uns  haben  ?  {Das  Original 
wird  noch  in  dem  Tempel  auf  dem  Donon  aufbewahrt  ;  siehe 
Nachtrag.) 

18.  Ich  schliesse  diese  Aufzählung  mit  einem  Bruchstück 
aus  der  Sammlung  B  (s.  Fig.  6).  Freilich  ist  nur  noch  der 
untere  Teil  der  Beine  vorhanden,  aber  das  dahinter  stehende 
Tier,  dessen  hinlerer  Teil  neben  dem  linken  Bein  noch  deutlich 
sichtbar  und  dessen  Bauchünien  auch  noch  zwischen  den  beiden 
Beinen  angedeutet  ist  Ider  vordere  Teil  nelien  dem  rechten 
liein  fehlt),  zeigt  eine  auffallende  Aehnlichkeit  mit  dem  auf  dem 


—    56    — 

vorhergehenden  Stein,  so  dass  die  Vermutung,  wir  hätten  hier 
das  Bruchstück  eines  ähnlichen  Bildes,  wie  Nr.  17,  vor  uns, 
nicht  allzu  kühn  ers<;heint.  —  Die  Abbildung  findet  sich  nicht 
unter  den  Rotstiftzeichnungen  bei  Jollois  und  ist  auch  sonst 
noch  nicht  veröffentlicht. 

c)  Kleinere  Brachstücke. 

Unter  den  von  Alliot  i  gezählten,  von  ihm  auf  dem  Donon 
gefundenen  Skulpturen  gab  es  eine  Anzahl  Bruchstücke,  auf 
denen  nur  noch  Extremitäten  (Beine,  Hände)  und  andere  Teiie 
zu  sehen  waren.  Unter  den  Rotstift  Zeichnungen  bei 
Jollois  sind,  ausser  den  schon  aufgeführten,  die  durch  bestimmte 
Attribute  charakterisiert  sind,  zwei  davon  abgebildet  (ein  drittes 
aus  Sammlung  B  ist  unter  Nr.  18  soeben  besprochen). 

a)  PI.  36, 11  :  Zwei  Beine  bis  zum  Unterleib  ;  Geschlechts- 
teile fehlen,  weshalb  sie  Alliot  (Journ.  des  Sav.  1693  S.  76, :!) 
als  zu  einer  Frau  gehörig  betraohtet.  Der  rechte  Oberschenkel 
ist  zum  Teil  abgeschlagen. 

b)  PI.  36,  12:  Zwei  Unterschenkel  auf  einem  Sockel;  be- 
merkenswert durch  die  Sandalen  an  den  Füssen.  (Vergl. 
Alliot    bei  Jollois  S.  133  An'm.)  Vergl.  Nachtr.  Nr.  4. 

c)  Ein  Fragment  mit  2  Beinen  fand  Jollois  (S.  140)  am 
Nordabhang  des  Gipfels,  das  nach  seiner  ausdrücklichen  Ver- 
sicherung in  keiner  Sammlung  abgebildet  war.  Wegen  seiner 
geringen  Bedeutung  und  schlechten  Erhaltung  hielt  er  es  nicht 
für  der  Mühe  wert,  eine  Abbildung  davon  zu  geben. 

In  dem  Gatalog  des  Museums  zu  Epinal  von 
F.  Youlot  finden  sich  in  §  8  unter  den  Basreliefs  vom  Dor.on 
noch  zwei  weitere  Fragmente,  die  ich  unter  den  oben 
aufgeführten  nicht  identifizieren  konnte,  nämlich : 

d)  Fragment  (eines  Mercur?) :  Schultern,  Kopf  und  oberer 
(?  unterer?)  Teil  der  Beine  fehlen,  ebenso  die  Attribute.  Natür- 
liche Grösse.  (Cat.  Nr.  92.) 

e)  Fragment  (eines  Mercur  ?) :  Kopf,  rechte  Schulter  und 
Beine  fehlen.  Die  Gestalt  war  von  einem  Bock  begleitet,  von 
dem  das  hintere  Bein  und  die  Grenzlinie  des  Bauches  notli 
sichtbar  sind.  Vergl.  oben  Nr.  18.  (Cat.  Nr.  94.) 

Als  Professor  X.  Kraus*  im  Jahre  1876  den  Donon 
besuchte,  konstatierte  er  in  dem  modernen  Tempel  auf  der  Spitze 
ausser   zwei  Inschriflensteinen  (s.  unten)    noch    zehn   unbe- 


1  Bei  Jollois,  S.  133  Anm. 

2  A.  a.  0.  III,  s.  V.  Donon. 


—    57    — 

deutende  Fragmente,  darunter  vier  kleine  Architektur- 
bruchstücke,  von  denen  er  folgende  aufzählt  (S,  den  Nachtr.)  : 

f)  Unterteil  eines  Reliefs:  zwei  Füsse. 

g)  Relief:  Bruststück. 

h)  Desgl. :  Rücken  einer  menschlichen  Gestalt, 
i)  Desgl. :  Nackter  männlicher  Unterkörper,  in  der  Rechten 
eine  Flasche  (Geldbörse?  wohl  zu  einem  M  er  cur  gehörig). 
k)  Unterer  Teil  zweier  Füsse. 

D.    Köpfe  von    Statuen. 

Gering  an  Zahl  sind  die  Reste  von  eigentlichen  Statuen, 
die  auf  dem  Donon  gefunden  wurden. 

i.  Ruinart  (S.  446)  erzählt,  dass,  als  er  auf  seiner  Reise 
nach  Moyenmoutier  kam,  man  ihm  einen  weiblichen  Kopf 
gezeigt  habe,  der  vom  Donon  stammte  und  der  plane  Romanorum 
arte  dignum  est.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  das  der 
PI.  35,  7  u.  8  (bei  Jollois)  abgebildete  ist,  auf  den  in  der  That 
das  von  Ruinart  Gesagte  passt ;  freilich  ist  das  ganze  Gesicht 
abgeschlagen,  dagegen  zeigt  die  Behandlung  des  Haares  ein 
besseres  Können,  als  die  anderer!  Denkmäler  des  Donon. 

2.  Einen  zweiten  Kopf  findet  man  unter  den  Rotstiftzeich- 
nungen PI.  36,  9:  es  ist  der  eines  bärtigen  Mannes, 
de-ssen  ganzes  Angesicht  aber  ebenfalls  fehlt. 

3.  Jollois  (S.  144  f.)  sah  in  dem  Garten  des  Maire  von 
Allarmont  (im  oberen  Plainethal),  wo  er  lange  Zeit  gelegen 
hatte,  den  Kopf  einer  männlichen  Statue,  der,  wie  ihm 
von  denn  Maire  bestimmt  versichert  wurde,  von  dem  Donon- 
gipfel  stammte.  Auffallig  ist  es,  dass  er  nicht,  wie  alle  andern 
Bilder,  aus  dem  roten  Sandstein  des  Donon,  sondern  aus  einem 
kalkigen  Sandstein  (gr^s  calcaire)  von  hellerer  Farbe  gefertigt 
ist.  Es  ist  übrigens  geringe  Arbeit  (das  eine  Ohr  ist  viel  grösser 
als  das  andere),  das  Gesicht  aber  fast  unversehrt,  nur  die  Spitze 
des  Kinnes  und  der  Nase  ist  abgeschlagen,  i 

3.  Kleinere  Fnndgegenstände  Tom  Donon. 


Scherben  von  verschiedenen  Urnen  fand  schon 
H.  Alliot  bei  seinen  Ausgrabungen  im  Innern  de<  ersten 
Gebäudes,  und  Reste  von   drei   weiteren    Urnen   in   der 


1  Vergl.  auch  Nachtr.  N"  7. 


—    58    — 

Umgebung  desselben.  (S.  oben  S.  10.)  Auch  P.  Alliot  er- 
wähnt solche  in  seiner  Reisebeschreibung.  >  Neuerdiojrs  ent- 
deckte J  0 1 1  0  i  s  (S.  1J33)  bei  seinen  Nachfoi'schungen  Bruch- 
stücke von  Gefässen  aus  sehr  feinkörnigem  rötlichen  Thon 
mit  glänzender  Glasur,  andere  aus  ähnlicher  Masse  mit  schwarzem 
Ueberzug.  (S.  oben  S.  25.)» 

«Zahlreiche  Grablampen»  erwähnt  Fachot  ia 
seinem  schon  erwähnten  Memoire  sur  la  principaute  de  Salm 
(1784),»  die  aber  alle  verschleudert  zu  sein  scheinen. 

Ganz  aufiallig  ist  die  verschwindend  kleine  Zahl  von 
Münzen,  die  man  auf  dem  Donon  gefunden.  Nur  nebenher 
spricht  Pelletier  (S.  394)  von  quelques  m^ailles  qu'on  a 
ronserv6es  et  qui  sont  d'un  goüt  moins  barbare  (nämlich  als 
die  bildlichen  Darstellungen).  Die  früheren  Forscher,  die  uns 
ausfuhrlich  über  die  Donondenkmäler  berichtet  haben,  erwähnen 
nichts  davon,  und  Fachot  stützt  auf  die  Abwesenheit  römischer 
Münzen  in  den  Fundamenten  der  Gebäude  auf  dem  Donon 
sogar  seine  Vermutung,  dass  diese  den  Römern  überhaupt  ah- 
zusprechen  seien.  In  einer  Anmerkung  zu  dieser  Stelle  macht 
nun  G.  Save  auf  den  einzigen  wirklich  nachweisbaren  Munz- 
fund  aufmerksam,  über  den  Gravier  im  Journ.  de  la  Soc. 
(rfimul.  VII,  S.  35,  berichtet  hatte.  Im  Jahre  4826  nämlich 
wurden  von  einem  der  Arbeiter,  welche  die  zur  Landesver- 
messung bestimmte  Steinpyramide  auf  dem  obersten  Felsgipfel 
J)auten,  aus  einer  Felsspalte  zwei  ziemlich  abgeschliffene 
römische  Münzen,  Mittelbronze,  herausgeholt,  von  denen 
die  eine  das  Bild  des  Antoninus,  die  andere  das  des 
Domitianus  trug.  Sie  gelangten  in  die  Sammlung  nach 
Strassburg,  *  wo  sie  1870  mit  vielen  andern  gleiches  Schicksal 
teilten. 

Ich  schliesse  hieran  noch  die  Aufzählung  der  in  der  un- 
mittelbaren Nähe  des  Donon  gefundenen  Gegenstände  aus 
der  Steinzeit.    Es  sind  dies  die  folgenden  : 

1 .  Ein  sehr  grosses  Steinbeil,  190  mm  lang, 
37  mm  breit  und  nur  40  mm  dick.   Gefunden  am  Fusse  des 


'  Bei  Gravier,  Journ.  de  la  Soc.  d'fimul.  VII,  S.  21.  S.  oben  S.  13. 

^  Ich  vermute,  dass   diese  jetzt   im  Museum   zu   Epinal  aufbe- 
wahrt werden. 

3  Abgedr.  im  Bull,  de  la  Soc.  philom.  Vosg.  9e  annee,  1883-84, 
p.  133. 

^  Schriftliche  Mitteilung  Schweighäusers  an  Gravier    (im  ArchiT 
der  Society  d'fimulation  Vosg.  in  Epinal). 


—    59    — 

Donon.     Mus.  arch.  lorr.  in  Nancy;    beim  Brand  des  Palais 
der  Herzöge  von  Lothringen  1871  beschädigt,  i 

2.  Durchbohrter  Stein  hanimer,  120  mm  lang,  aus 
schwarzem  Serpentin  gut  gearbeitet.  Dr.  Bedei  in  Schirmeck 
erwarb  das  Stück  von  einem  in  Blancrupt  (oberes  Weisses- 
Saartbal)  wohnenden  Holzhauer.    Museum  in  Epina).* 

3.  Sehr  gut  erhaltenes,  durchbohrtes  Steinbeil,  gefunden 
1882  bei  Anlage  des  Verbindungsweges  vom  Donon - 
Sattel  nach  der  neuen  Strasse  Donon-Albersdiweiler.  — 
Sammlung  der  Gesellschaft  für  Erhaltung  der  histor.  Denkm. 
in  Strassburg.s 

4.  Durchbohrte  S  i  I  e  x  a  x  t  aus  grünem  Serpentin,  gefunden 
in  der  Umgegend  des  Donon.  Sammlung  des  Dr.  Marchai 
in  Lörchingen.* 

4.  Inschriften. 

Von  den  auf  dem  Donon  entdeckten  Inschriften  sind  einige 
schon  gelegentlich  erwähnt.  Ich  führe  sie  hier  noch  einmal  mit 
den  übrigen  auf,  um  einige  Bemerkungen  daran  zu  knüpfen, 
und  füge  noch  ein  paar  andere  bei. 

1.  und  2.  Im  Jahre  1732  wurden  auf  dem  Donon  zwei  Steine 
gefunden,»  auf  welclien  in  verzierten  Einrahmungen,  die  auf 
beiden  Seiten  von  Genien  gehalten  wurden,  Inschriften  einge- 
meisselt  waren.  Nach  Calmets  Vermutung  —  er  hat  sie 
oflenbar  nicht  mehr  an  ihrem  Platze  gesehen  —  dienten  die- 
selben als  Schlusssteine  der  Thüren  des  Tempels.«  Eine  Ab- 
schritt von  der  am  besten  erhaltenen  Inschrift  schickte  Calmet 
an  Schöpflin, 7  die  freilich  recht  fehlerhaft  ist. 


1  Bleicher  et  Faadel,  Matdriaax  pour  une  6tade  pre- 
historique  de  TAlsace.  Colmar.  P«  Pnbl.  1878,  S.  22  Nr.  46. 

2  EbeDda,  S.  42  Nr.  233. 

»  Ebenda,  III«  Publ.  1883,  S.  24  Nr.  481  Nach  einer  gefälligen 
Mitteilung  des  Herrn  Oberförsters  Sachs  in  Metz,  früher  in  Schirmeck, 
warde  in  der  Nähe,  etwa  60  m  von  der  im  Dononsattel  stehenden 
Pferdebaracke,  eine  anechte  Bernsteinperle  gefanden,  c wie 
sie  in  fränkischen  Fraaengräbern  vorkommen». 

*  L.  B^noit,  Repertoire  arch.  etc.  in  M^moires  de  la  See.  d'arch. 
lorr.  n«  s6r.  IV,  1862,  p.  19;  Lorqain. 

^  Sie  verschwanden  bald  wieder  (Schöpflin)  and  werden  wohl  mit 
anderen  Steinen  in  die  Wasserbehälter  von  Framont  gewandert  sein. 

^  Was  indessen,  wie  wir  sahen,  nicht  ganz  sicher  ist;  s.  oben 
S.  24  a.  30. 

7  Als.  ill.  I,  457. 


—    60    — 

Schöpflin  lässt  es  dahingestellt,  ob  die  Fehler  auf  Rechnung 
des  Steinmetzen  oder  des  Abschreibers  oder  auf  Rechnung 
beider  zu  f^etzen  seien.  Sie  lautet  bei  Schöpflin : 

MERCVRIO  SECATE 

LSVLPO  GELIO 

VSL  CAM 

TRIAFANO  DACI  V 

und  ist  so  von  Brarabach  (Corp.  inscr.  Rhen.  Nr.  4907)  abge- 
druckt. Schöpflin  interpretiert  sie  so:  Mercurio  et  Hecatae 
L.  Sulpicius  Celio  votum  solvit  (ubens  (merito)  Traiano  Dacico 
Y  consule.  (Dieses  Consulat  des  Traianus  fallt  in  das  Jahr 
103  n.  Chr.  und  war  berühmt  durch  den  Sieg  des  Traianus 
über  die    Dacier.) 

Dieselbe  Inschrift  hat  Calmet  selbst  in  seiner  Notice  de 
la  Lorraine  I  473  veröfl'entlicht,  wo  sie  folgendermassen  lautet: 

MER  ....  VO  ...  .  SECATE 
LISS  ....  MEPO  ....  CELLO 

V S LM 

TRAIANO  ....  DACICO 

Wiederabgedruckt  mit  einigen  Veränderungen  in 
Calmets  Histoire  de  Lorraine  VII  p.  XXVI: 

MERC  ....  VO  ...  .  SECATE 

LISS  .  .  .  MEPO  .  .  .  CELLO 

V.  S.  L.  M. 

TRAIANO  DACICO. 

Von    ei ner   zweiten    Inschrift    waren    nur    noch  die 

Worte 

.  .  .  MERCVRIO  .  .  .  LENI 

zu  lesen. 

Seh  weig hau se  r  hatte  nun    Gelegenheit,    mehrere  alte 

Abschriften    der    längeren   Inschrift  einzusehen   und   berichtet 

darüber  im  Kunst-Blatt  1823  S.  322  f.  :  «Ich  habe  mehrere  alte 

Handzeichnungen     derselben     mit     einander    verglichen,     aus 

welchen  sich  blos  dieses  mit  einiger  Gewissheit   herausbringen 

lässt,  dass  sie  mit 

MERCVRIO  VOGESO  ET  HECATE 

anfing.  Ganz  bestimmt  lesbar  war  von  dieser  ersten  Zeile,  wie 
es  scheint,  nur: 

MERCVR  VOGES  ECATE 

so  dass  über  den  letzten  Götternamen,  den  Schöpflin  SECATE 
schreibt,  aber  dennoch  die  stygische  Herrscherin  darin  erkennt, 


—    61     — 

auch  selbst  nach  dieser  Verbesserunj^,  die  das  S  zu  Vogeso 
zahlt,  wo  aber  immer  das  H  fehlt,  noch  einige  Ungewissheit 
übrig  bleibt,  was  um  so  mehr  zu  bedauern  ist,  da  die  römischen 
hischriften,  wo  Mercur  mit  Hecate  vorkommt,  äusserst  selten 
sind.]»  In  einer  Anmerkung  fügt  Schweighäuser  hinzu :  «Die 
einzige  mir  bekannte,  die  gerade  so  lautet,  kommt  in  Sattlers 
Würtemberg.  Altertümern  vor.» 

Wenn  Schweighäusers  Ansicht  richtig  ist,  so  hätten  wir  hier 
eine  sehr  interessante  Inschrift  vor  uns.  Ein  Deus  Vosegus 
war  früher  nur  bekannt  aus  einer  aus  Bergzabern  stammenden, 
leider  wieder  verlorenen  Inschrift,  die  uns  Gruter  überliefert 
hat.  1  Neuerdings  hat  Zangemeister'  den  Namen  des  Vosegus 
Silvestris  auf  zwei  im  Elsass  (in  Görsdorf  bei  Wörth  und  am 
Fusse  des  Reiberges  an  der  Strasse  von  Zinsweiler  nach  Off- 
weiler) gefundenen  Inschriften  nachgewiesen.  Diese  inschrift- 
lichen Zeugnisse  bestätigen  die  Form  Vosegus,  während  Vo- 
gesus  bisher  nur  handschriftlich  überliefert  war,  also  jenen 
Zeugen  gegenüber  in  Zweifel  gezogen  werden  konnte.  *  Hier 
hätten  wir  also  auch  für  diese  Form  einen  inschri filichen 
Nachweis. 

Was  nun  die  Verbindung  dieses  Namens  mit 
dem  des  Mercurius  betrifft,  so  ist  zwar  kein  weiteres 
Beispiel  dafür  bekannt,  aber  nicht  wenige  Inschriften  bieten 
uns  die  Beweise  für  die  Sitte,  römischen  Gottheiten  Beinamen 
zu  geben,  die  von  gallischen  Orten  oder  Lokalgottheiten  herge- 
nommen sind,  unter  denen  ich  besonders  auf  die  Diana 
Ahn  ob  a  d.  i.  die  auf  dem  Schwarzvvalde  lokalisierte  Diana, 
die  auch  als  [Dea]  Abnoba  vorkommt,  *  hinweisen  möchte,  weil 


2  Bei  Brambach  Nr.   178^. 

2  £tade8  archöologiques  d^diöes  ä  Leemans.  Leide  1885.  S.  239  ff. 

3  Näheres  darüber  s.  bei  Zangemeister,  a.  a.  0. 

*  Abnoba  (Brambach  1626.  1690) ;    Dea   [Diana]    Abnoba    1680  ; 
Diana  Abnoba  1654  (1655);  Deana  Abnoba  168H.  —  Andere  Beispiele  : 
Mercurius  Alaunus  (I717j,  genannt  nach  Alauniam  in  Gallia  Narbon. 
od.  Alaana  in  Gall.  Lngdun. ;    Mercurius  Arvernus    (256.    257.    593. 
1741.  2029\  nach  den  Arvernern  in  der  Auvergne;   Mercurius  Cisso- 
nius  (400.  1461.  1739 ;   Schöpflin,  Als.  ill.  L  459),  daneben  Cissonias 
allein  (1831) ;  Mercurius  Visucius  (1581  in  Yerbindang  mit  einer  Göttin 
Visacia);  Visucius  Mercurius  (1696);  daneben  Visucius  allein  (1704): 
nach  der  gewöhnlichen  Annahme  Gott  von  Vesontio   (Besannen).   — 
Mars  Caturix  (1588 k   nach  den  Caturigern   in  der  Dauphin^;   Mars 
Leucetius  (930.  1540) :  nach   den   Leucem    am   Westabhang  der   Vo- 
gesen  genannt;  Mars  Cnabetitts  (in  Erbstetten   Württemb.   u.    Oster- 
burken Baden).  — 


—   m  — 

sie  j^ewissermassen  das  Gegenstück  zu  unserem  Mercurius  Vi>- 
gesus  bildet.  Trotz  seiner  Vereinzelung  wurde  also  dieser  Mer- 
curius  Vogesus  nicht  ausserhalb  der  Möglichkeit  liegen.  Dagegen 
erregt  der  Name  der  H  e  c  a  t  e  in  Gesellschaft  des  Mercur  einige 
Bedenken,  die  auch  Schweighäuser  nicht  unterdrücken  konnte : 
denn  selbst  die  von  ihm  angeführte  Inschrift  aus  Württembei^ 
existiert  in  Wirklichkeit  nicht,  *  sowie  auch  sonstwo  keine  In- 
schrift mit  diesen  beiden  Gottheiten  nachgewiesen  ist. 

Die  beigegebene  Abbildung  unseres  Inschriflensteines 
(Fig.  7)  stammt  aus  Sammlung  B,  die  früher  im  Besitz 
Calmets   war,   und   scheint  bisher  noch  nicht   veröfTentlicht  zu 


Fig.  7. 

sein.  Ich  verdanke  sie  der  Freundlichkeit  des  Herrn  Save,  der 
sie  nach  der  in  seinem  Besitze  befindlichen  Zeichnung  durch- 
gepaust hat.  2 

3.  Die  auf  einem  Mercurrelief  stehende  In- 
schrift ist  schon  oben  S.  51  ausführlich  besprochen,  wes- 
halb ich  hier  mich  begnüge,  darauf  zurückzuweisen.  (Brani- 
bach  Nr.  1908.) 


1  Von  Sattler  gibt  es  kein  Werk  mit  dem  von  Schweighäaser 
angegebenen  Titel,  sondern  nur :  Gesch.  des  Herzogt.  Würtemberg 
1757  u.  Topograph.  Gesch.  des  Herzogt.  Würtemb.  1784:  in  keinem 
von  beiden  wird  eine  solche  Inschrift  erwähnt 

2  Wenn  der  Stein,  wie  Schöpfiin  berichtet,  wirklich  erst  1732 
aufgefunden  wurde,  so  könnte  sich  die  Abbildung  davon  natürlich 
auch  nicht  unter  den  von  Alliot  oder  auf  seine  Veranlassung  he^ 
gestellten  Rotstiftzeichnungen  befunden  haben;  der  Umstand,  dass 
Alliot  und  Ruinart  seiner  keine  Erwähnung  thun,  bestätigt  ebenüalls 
die  Annahme,  dass  sie  ihn  nicht  gekannt  haben.  Es  ist  daher  höchst 
wahrscheinlich,  dass  erst  Calmet  ihn  abgezeichnet  hat  und  dass  also 
auf  ihn  obige  Originalabbildung  zurückgeht. 


—    63    — 

4.  Dasselbe  ist  mit  der  auf  einem  Votivallar 
stehenden  Inschrift:  I.  0.  M.  C.  Lucullus  Lepidinu^ 
V.  s.  i.  m.  (S.  oben  S.  27  f.)  der  Fall.  Zangemeister 
(Korrespondenzbl .  1890  Nr.  8)  zweifelt  an  der  richtigen  Lesun^^ 
des  Namens  Lucullus,  wohl  weil  an  dieser  Stelle  ein  Gentii- 
name  stehen  müsste,  was  Lucullus  nicht  ist,  und  vermutet 
LVCVLLVS  =  Luculliusi  (Brambach  Nr.  1906). 

5.  Matter  hatte,  wie  wir  sahen  (S.  28),  die  Notiz  mitge- 
teilt, dass  auch  auf  zwei  anderen  Altären  sich  Reste  von  In- 
schriften t)efunden,  von  denen  aber  nur  noch  die  Buchstaben 
I.  0.  M.  erkennbar  gewesen  seien. 

Nun  befindet  sich  in  der  Sammlung  B 
die  Abbildung  eines  Altars  mit  einer  In- 
schrift, deren  erste  Zeile  jene  drei  Buch- 
staben I.  0.  M.  (lovi  optimo  muximo) 
zeigt,  von  der  im  übrigen  aber  nur  noch 
einzelne  Buchstaben  erhalten  sind,  deren 
Entzifferung  Schwierigkeiten  bereitet.  Es 
ist  höchst  wahrscheinlich,  dass  der  Altar 
einer  jener  von  Matter  erwähnten  ist.  Ich 
gebe  die  bisher  noch  nicht  veröffentlichte 
Abbildung  ebenfalls  nach  einer  Kopie  des 
Herrn  Save.  (Fig.  8.) 

6.  Wegen  der  Inschrift  Bell  i  c  c  u  s 
Surbur  verweise  ich  auf  die  Aus- 
führungen S.  31  ff. 

7.  Prof.    Kraus  fand  bei 


Fig.  8. 


seinem  Besuche  des  Donon  im 
Jahre  1876  in  dem  sogenannten  «Musee»  eine  Inschrift, 
die  bis  dahin  nocht  nicht  veröffentlicht  war ;  sie  lautet  nach 
ihm  (III.  s.  V.  Donon): 

D  M 
GANEIVS 
MARTI  ALI 

Dis  manibus  oder  Deo  Mercurio  Ganeius  Martiali(s).  (Vergleiche 
Nachtr.  Nr.  10.) 

8.  Im  Jahre  1869  fand  Dr.  ßedel,  Arzt  in  Schirmeck,  bei 
Ausgrabungen,  die  in  dem  Sattel  zwischen  dem  grossen  und 
dem  kleinen  Donon  veranstaltet  wurden,  an  einem  alten  We^^e 
den  Stumpf  einer  oben  konisch  zulaufenden  Säule  aus  Vogesen- 


1  Vgl.  auch  H  et  in  er,   Westd.  Zeitschr.   für   Gesch.   u.   Kunst 
V,  1885.  S.  371. 


—    64    — 

Sandstein,  0,75  m  hoch,  0,38  m  oberer,  0,42  m  unterer  Durch- 
messer, mit  einer  fünfzeiligen  römischen  Inschrift  aus  ziemlich 
schönen,  aber  sehr  abgeschliffenen  Buchstaben  bestehend. 
F.  V  0  u  1 0 1 ,  der  den  Stein  damals  besichtigte,  schickte  Ab- 
schrift und  Interpretation  der  Inschrift  an  die  Gesellschaft  der 
historischen  Denkmäler  in  Strassburg.  1875  fertigte  er  einen 
wohlgelungenen  Abguss  für  das  Museum  in  St.  Germain,  einen 
gleichen  schickte  er  an  das  Museum  in  Epinal  (Gat.  Nr.  34), 
während  er  zugleich  schriftliche  Mitteilung  über  seine  Deutungs- 
versuche an  L^on  Renier  in  Paris  sandte.  Da  er  von  Seilen 
Reniers  keiner  Antwort  gewürdigt  wurde,  glaubte  Voulot,  dass 
die  Inschrift  keinen  Wert  besitze,  bis  er  durch  Mowat  in 
Rennes,  der  durch  einen  Freund  von  dem  Denkmal  Kenntnis 
erhalten  hatte,  eines  besseren  belehrt  wurde.  Dieser  hatte  zu- 
erst in  der  Acad^mie  des  Inscriptions  (Sitzung  vom  4.  Februar 
1876)  und  dann  durch  einen  Aufsatz  in  der  Revue  arch^lo- 
gique  1876,  Avril,  S.  261  ff.  «Dicouverte  d'un  vicus  gaulois  de 
l'epoque  romaine»  die  Inschrift  in  weiteren  Kreisen  bekannt 
gemacht.  Nunmehr  veröffentlichte  auch  Voulot  (ebendas.  Juillel 
unter  dems.  Titel  mit  Abbildung  des  Steines  nach  einer  Pho- 
tographie S.  46  ff)  seine  Ansicht  und  gab  eine  —  wie  ich  glaube 
richtige  —  Interpretation  derselben.  —  Der  Stein  befindet  sich 
gegenwärtig  in  dem  modernen  Tempel  auf  dem  Donongipfel 
hinter  einem  Eisengitter  eingeschlossen.  Hier  sah  ihn  1876 
Kraus,  der  die  Inschrift  freilich  «infolge  einer  die  Lesung  er- 
schwerenden Aufstellung»  falsch  wiedergibt.  {Vergl.  Nachlr- 
Nr.  11.) 

Die  Inschrift  lautet  : 

nach  Mowat :  nach  Voulot  : 

D.  M  IHR  D.  M 

L  •  VATINI  •  FEL  L  •  VATINI  •  FEL 

MILIARIA  A-  VIG  MILIARIA  A  •  VIC 

SARA  VC  •  LXII  •  C  •  I|||  SARAVO  L  •  XII  •  C  •  I 

V.  S.  L.  M.  V.  S.  L. 

Es  handelt  sich  also  um  einen  Meilenstein,  aber  nicht 
von  der  gewöhnlichen  Art,  auf  denen  neben  der  Angabe  der 
Entfernung  von  einem  bestimmt  bezeichneten  Ausgangspunkt 
der  Name  des  Kaisers  genannt  wird,  unter  dessen  Regierung 
der  betreffende  Stein  gesetzt  ist.  Auf  dem  unsrigen  finden  wir 
vielmehr  den  Namen  eines  —  wenn  auch  gewiss  vornehmen  — 
Privatmannes  oder  Beamten,  des  Lucius  Vatinius Felix. 
Merkwürdig  ist  ferner  die  erste  Zeile  D.  M.  in  Verbindung  mit 
der  letzten  Zeile  der  Inschrift  in  etwas  grosseren  Buchstaben 
V.  S.  L.  [M].  Letztere  weisen  deutlich  darauf  hin,  dass  wir  es 


—    65    — 

mit  einer  Dedicationsinschrift  zu  thun  haben,  denn  das  so 
häufige  V.  S.  L.  [M]  bedeutet  bekanntlich  =  votum  solvit 
lubens  merito.  Was  nun  D.  M.  der  ersteren  2feile  betrifft,  so 
finden  sich  diese  beiden  Buchstaben  oft  auf  Grabdenkmälern, 
wo  sie  =  Dis  Manibus.  Mowat  glaubte  hinter  dem  M  noch  die 
Spuren  eines  ER  zu  sehen,  was  indessen  Voulot  bestreitet  und 
was  allerdings  auch  deshalb  nicht  recht  wahrscheinlich  er- 
scheint, weil  dadurch  die  Symmetrie  der  Inschrift  gestört 
würde.  Trotzdem  ist  auch  er  der  Ansicht,  dass  D.  M.  hier  die 
Bedeutung  Deo  Mercurio  hat,  i  weil  Mercur  nicht  nur  der  Be- 
^^chützer  der  Wege,  sondern  auch  derjenige  Gott  war,  auf  den 
ilie  Denkmäler  des  Donon  in  erster  Linie  hinweisen,  während 
die  Bei  manes  auf  einem  Meilenstein  keinen  Sinn  hätten. 

Einige  Schwierigkeit  bietet  die  Erklärung  der  dritten  und 
vierten  Zeile  der  Inschrift.  Ein  vicus  Saravus  wird  in 
keinem  der  bekannten  römischen  Itinerarien  oder  sonstwo  er- 
wähnt, nur  das  ist  sicher,  dass  Saravus  der  lateinische  Name 
für  die  Saar  ist.  Mowat,  der  die  Inschrift  so  verstand: 
L.  Yatinius  Felix  Hess  von  Vicus  Saravus  an  LXII  Meilen- 
steine setzen  (condi  jussit  oder  curavit  poni),  kam,  von  der 
richtigen  Voraussetzung  ausgehend,  dass  dieser  Vicus  Saravus 
an  der  Saar  gelegen,  von  der  er  seinen  Namen  erhalten  habe, 
auf  Saarbrücken  als  den  Vicus  Saravus,  das  ziemlich 
genau  62  römische  Meilen  =  ca.  90  km  vom  Donon  entfernt 
ist.  Voulot,  der  es  ebenso  wie  L.  Renier«  für  unglaublich 
hält,  dass  ein  Privatmann  eine  so  grosse  Anzahl  von  Meilen- 
steinen auf  seine  Kosten  habe  setzen  lassen,  liest  L.  XII  = 
leucis  XII  und  übersetzt  demnach  :  «L.  Vatinius  Felix  liess  für 
die  12  Leuken  vom  Vicus  Saravus  an  (nämlich  bis  zum  Donon) 
die  Meilensteine  setzen»,  so  dass  also  miliaria  hier  im  weiteren 
Sinne  für  Leukensteine  zu  fassen  wäre.  (Die  gallische  leuca  = 
1,5  römische  milia  passuum.)  Nimmt  man  nun  diese  Entfernung, 
also  XII  leucac  =  XVIII  milia  passuum  =  27  km  an,  so  kommt 
man  nach  Saarburg,  das  in  der  That  eine  grössere  Nieder- 
lassung zu  römischer  Zeit  war,  wie  die  Funde  beweisen.  ^ 
Damit  stimmt  auch  vorzüglich  der  Name  Saarburg,  der  genau 
die  üebersetzung  des  lateinischen  Vicus  Saravus  ist.  Leider 
tritt   uns  dabei    eine    neue    Schwierigkeit   entgegen :    es  kann 


1  Vergl.  Brambach  Nr.  1851—53. 

^  Bei  Mowat,  Revae  arch.  a.  a.  0.  p.  265 ;  derselbe  hat  übrigens 
eine  sehr  eigentümliche  Ansicht  über  diese  Inschrift  geäussert,  in 
der  er  eine  Art  von  Palimpsest  erblickt  (Das  Nähere  a.  a.  0.) 

9  Krans  III  s.  v.  Saarbarg. 

5 


—  m  — 

nicht  zweifelhaft  sein,  dass  Saarbur^^  die  in  dem  Itinerariurn 
Antoninum  Pons  Saravi,  auf  der  Peutinger'schen  Tafel 
Pontesaravi  genannte  Oertlichkeit  ist.  Woher  also  der 
Doppelname?  Voulot  sieht  die  Schwierigkeit  nicht,  da  er  Pon$ 
Saravi  für  Saarbrücken  hält.  Trotzdem  ich  keinen  Ausweg  sehe, 
dieses  Rätsel  zu  lösen,  möchte  ich  doch  Voulots  Ansicht  von 
den  12  Leuken  beistimmen,  nicht  sowohl  deshalb,  weil  ich  es 
für  unmöglich  balte,  dass  ein  Privatmann  62  Meilensteine  habe 
setzen  lassen,  sondern  weil  hier  nur  von  einem  Weg  minderer 
Ordnung,  einem  Handelsweg,  die  Rede  sein  kann,  der  sicher 
in  die  grosse  Heerstrasse  Argentoratum-Divodurum  einmündete, 
während  er  nach  Mowats  Annahme  sich  über  dieselbe  hinaus 
bis  an  die  untere  Saar  fortgesetzt  hätte.  Aus  diesem  Grunde 
ist  es  auch  sehr  unwahrscheinlich,  dass  ein  solcher,  nur 
lokalen  Bedürfnissen  dienender  Weg,  nach  römischen 
Meilen  abgemessen  war,  während  selbst  die  an  den  grossen 
Heerstrassen  in  unseren  Gegenden  des  nordöstlichen  Galliens 
gefundenen  Meilensteine  meistens  die  Angaben  der  Entfernun^r 
in  gallischen  Leuken  aufweisen. 

5.  Römerwege. 

Sichere  Spuren  weisen  darauf  hin,  dass  der  Donon  von 
den  Römern  mit  der  bewohnten  Umgegend  durch  Strassen  in 
Verbindung  gesetzt  war,  wobei  jene  vermutlich  zum  Teil  schon 
vorhandene  Wege  der  eingeborenen  Bevölkerung  benutzt  haben. 
Da  aber  alle  diese  Wege  keine  grossen  Heerstrassen  waren,  so 
ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  uns  die  Itmerarien  nichts 
davon  melden. 

1.  Donon-Saarburg.  Die  Verbindung  des  Donon  mil 
dem  Vicus  Saravus  (Saarburg)  durch  eine  Strasse  ist  durch  den 
oben  besprochenen  Meilenstein  zur  Gewissheil  erhoben.  Schwie- 
riger ist  es  indessen,  den  genauen  Verlauf  des  Weges  anzugeben. 
Wir  sahen,  dass  die  auf  dem  Steine  angegebene  Entfernung' 
von  42  Leuken  mit  der  wirkhchen  Entfernung  Dononsattel- 
Saarburg  stimmt,  aber  —  fügen  wir  hier  hinzu  —  auch  nur, 
wenn  wir  die  direkte  Linie  berechnen.  Dieser  also  müssen 
wir  folgen,  wenn  wir  unsern  Weg  feststellen  wollen,  wo- 
bei wir  übrigens  durch  die  Gewohnheit  der  Römer  unter- 
stützt werden,  ihre  Strassen  möglichst  geradlinig,  soweit  es  die 
Terrain  Verhältnisse  gestatteten,  mil  Vermeidung  der  en^jen 
Thuler  über  die  Höhen  hinweg,  anzulegen,  ein  Grundsatz,  dem 
zu  Liebe  sie  selbst  vor  grossen  Steigungen,  die  man  heutigen 
Tages  unbedingt  vermeiden  würde,  nicht  zurückscheuten.  Die>e 


—    67    — 

direkte  Linie  geht  nun  über  den  Bergrücken  zwischen  dem 
Thal  der  roten  und  weissen  Saar,  Alberschweiler,  Harzweiler, 
Schneckenbusch  nach  Saarburg.  Sehen  wir  also  zu,  ob  er- 
haltene Spuren  diese  Annahme  rechtfertigen. 

Folgt  man  vom  Dononsattel  aus  dem  alten  Fahrweg,  an  dem 
das  S.  59  unter  Nr.  3  erwähnte  Steinbeil  gefunden  wurde,  nach 
Norden,    so   erreicht   man   nach    etwa    20  Minuten    die    neue 
Strasse,   die  vom  Forsthause  Donon    durch  das  Thal   der  roten 
Saar  nach  Alberschweiler  führt.  Nach  wenigen  Schritten  zweigt 
sich  von  derselben  links  wieder  ein  alter  Fahrweg  ab,  der  sich 
am   westlichen  Abhang   des    Bergrückens   hinzieht :    es   ist  ein 
alter  Grenzweg,    der   durch   die  noch  stehenden  hohen  Grenz- 
steine mit  dem  Wappen  des  Klosters  St.  Quirin  (9  Ringe  in  einem 
auf  der  Spitze  stehenden  Dreiecke)  bezeichnet  ist.  Oberhalb  des- 
selben  (unweit   der  Malcöte),  nur  etwa  150  m   von  dem  Wege 
entfernt,  steht  der  berühmte  Sac  de  pierre  oder  Sac  du  march6,i 
der,  trotzdem  keine  Inschrift  mehr  auf  demselben  zu  konstatieren 
ist,  s  durch  seine  Gestalt  ohne  Zweifel  sich  als  römischer  Meilen- 
stein   und  zwar  von   demselben    Umfange    wie   der   auf 
dem  Dononsattel  gefundene,  3  dokumentiert.  Es  ist  im  höchsten 
Grade  wahrscheinlich,   dass  er   aus   der  Nähe,    d.  h.   von 
jenem  Römerwege,   an    dem  er  stand,    hierher  geholt   und    zu 
seinem  spateren  Zwecke  verwendet  worden  ist.    Der  Weg  läuft 
an  dem  westlichen  Abhang  weiter  bis  unterhalb  des  Fr^sillon- 
kopfes;    hier   spaltet  sich  der  bis  dahin   einheitliche  Kamm    in 
zwei.  Dem  rechten  folgte,  wie  ich  glaube,  unser  Weg,  auf  dem 
Messtischblatt   Chemin  de  Pierre  de   St.  Quirin   genannt,    und 
senkte  sich  später  über  Lettenbach  nach  Alberschweiler  hinab,  4 
in    dessen   Nähe   zahlreiche    Reste    von   Wohnungen   und   Be- 
festigungen auf  eine  starke  Besiedlung  in  alter  Zeit  hinweisen.» 
Indem   er  weiter   seine  bisherige  Richtung  beibehält,    zieht   ei 
sich  nach  Weiher,  wo  Beaulieu  «  aus  Substructionen  und  anderen 
Funden   auf  dem   benachbarten  Hügel   einen    römischen    vicus 


1  S.  darüber  Dugas  de  Beanlien,  le  Comte  de  Dagsbourg  S.  305  f. 
Mündel,  Vogesen  5.  Aufl.  S.  165.   6.  Aufl.  S.  175. 

2  Möglich,  dass  überhaupt  keine  darauf  war,  wie  auch  sonst  auf 
Meilensteinen. 

3  Seine  Höhe  beträgt  1,30  m,  während  jener  Inschriftenstein  nur 
0,75  hoch,  aber  verstümmelt  ist. 

*  Möglicherweise  auch  über    «Zweikreuze»,    das   Saarthal  westl, 
¥on  Alb.  schneidend. 

ä  Beaulieu  a.  a.  0.  S.  267. 

6  A.  a.  0.  S.  303  f. 


—    08     — 

und  einen  zweiten  in  dem  nahen  Walde  von  Barville  glaubte 
konstatieren  zu  können  und  wo  ein  We|?  in  der  Richtung  auf 
Walscheid  (sog.  Ghemin  des  Princes) »  sich  abzweigte.  Weitere 
Spuren  des  Weges  in  der  Hichtung  auf  Saarburg  sind  bei 
Harzweiler  (in  dem  Walde  zwischen  Harzweiler  und  Hessen) 
und  bei  Schneckenbusch  nachgewiesen.« 

Misst  man  diesen  Weg  auf  der  K?irte  ab,  so  ergeben  sich 
genau  27 — 28  km  ;  wir  dürfen  demnaih  mit  einiger  Sicherheit 
annehmen,  dass  dies  der  Verlauf  unserer  gesuchten  Strasse 
war.  3 

Da  wo  unser  Weg  vor  dem  Frijs?i  Hon  köpf  sich  rechts  ab- 
zweigte, folgte  ein  anderer  Weg  dem  westlichen  Kamm  nach 
St.  Quirin.  Da  sich  nun  Spuren  eines  i\\ien  Verbindungsweges 
von  letzterem  Orte  nach  Niederdorf  und  auf  das  linke  Ufer  der 
Saar  nachweisen  lassen,^  so  ist  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass 
eine  Abzweigung  des  obigen  Wegei  den  Donon  mit  dem  stark 
l)esiedelten  linken  Saarufer  in  der  Umgegend  von  Fraquelfingen, 
Lörchingen  u.  s.  w.s  in  direkte  Verbindung  setzte. 

2.  Donon  —  Chemin  allemand  —  (T  a  r  q  u  i  n  p  o  1). 
Als  ein  zweiter  Römer  weg  vom  [Donon  aus  in  nordwest- 
licher Richtung  wird  von  den  Lokalforschern  der  sogenannte 
Chemin  allemand  oder  d'Allemagne  betrachtet.  Er 
zweigt  sich  hinter  dem  Dononsattel  von  dem  unter  1.  be- 
schriebenen Weg  ab,  zieht  sich  um  das  obere  Plainethal  herum 
und  folgt  der  Wasserscheide  zwischen  Plaine  und  weisser  Saar, 
hier  einst  die  Grenze  zwischen  den  beiden  Departements 
Meurthe  und  Vosges,  jetzt   zwischen    den  Bezirken  Unterelsass 


1  Vielleicht  setzte  sich  derselbe  auch  westlich  nach  LÖrchingeD 
zu  fort.  Beaulieu  S.  291. 

3  B  6  n  0  i  t,  Repertoire  arch.  de  rarrondissement  de  S&rrebourg 
in  Memoire  de  la  See.  d'archeol.  lorr.  1862  s.  y.  Hartzwiller  S.  40 
a.  Schneckenbusch  S.  48. 

^  Zu  einem  ähnlichen  Resultat  ist  auch  Voulot,  Revne  arcL 
a.  a.  0.  gekommen,  doch  enthält  seine  Beschreibung  einige  Unrichtig- 
keiten :  der  Weg  geht  nicht  über  Haut-du-Bon-Dieu,  sondern  östL 
daran  vorbei;  den  Namen  Chemin  des  AUemands  fuhrt  nicht  dieser 
(so  auch  Bönoit  a.  a.  0.  S.  15  s.  y.  Abreschwiller),  sondern  der  unter 
Nr.  2  beschriebene  Weg. 

*  B6noit,  a.  a.  0.  s.  y.  M6tairie-de-St-Quirin  S.  21  und  dere. 
Voies  rom.  in  M6m.  lorr.  1865  S.  23. 

^  Ueber  die  Funde  und  die  Literatur  darüber  s.  Kraus  IQ  s.  t. 
Fraquelfing,  Lörchingen,  Schweizingen. 


—    69    — 

und  Lothringen,  und  in  seinem  weiteren  Verlaufe  grösstenteils 
die  deutsch-französische  Grenze  bildend.  * 

Die  an  vielen  Stellen  zu  Tage  tretenden  Reste  zeigen  ein 
9Jlt — 3  m  breites,  aus  cyklopischen  Sandsteinquadern,  dem 
örtlich  vorhandenen  Material,  zusammengefügtes  Pflaster,  auf 
dem  sich  auf  längere  Strecken  die  tief  eingeschnittenen  Geleise 
verfolgen  lassen ;  *  ein  besonders  gut  erhaltenes  Stück  des 
Weges  ist  zwischen  der  Bezirksgrenze  und  La  large  Pierre  vor- 
handen, s  Hintei"  Lascemborn  (LafrimboIIe)  mundet  unser  Weg 
in  die  Strasse  zwischen  Bertrambois  und  Hattigny  bei  der 
Ferme  Bonlieu.  Hier  befand  sich,  wie  Ruinen  von  Gebäuden, 
Ziegelreste,  Münzen  und  andere  Funde  beweisen,  eine  römische 
Niederlassung.*  Von  hier  aus  geht  jede  weitere  Spur  des 
Weges  verloren ;  gehen  wir  aber  in  der  bisherigen  Richtung 
weiter,  so  kommen  wir  nach  Tarquinpol  am  Linder- Weiher, 
dem  Hauptort  der  Decempagi  der  Itinerarien. »  Und  nun  ist 
es  überraschend,  zu  bemerken,  dass  in  der  That  zwischen 
Azoudange  und  Maizi^res  die  Spuren  eines  Römerweges  zu 
Tage  treten,^  welcher  die  moderne  Staatsstrasse  rechtwinkelig 
schneidet  und  sich  demnach  an  die  von  uns  verfolgte  Richtung 
anschliesst.  Bald  darauf  aber  macht  er  eine  Biegung  nach 
Norden  gegen  Tarquinpol.  Er  ist  nachgewiesen  in  der  Nähe 
der  Weiher  zwischen  Videlingen  und  St.  Clemens  und  in  dem 
Wald  westlich  der  Ferme  Alteville,  den  er  auf  einem  Damm 
durchschneidet. '  In  Tarquinpol  traf  er  die  grosse  Römer- 
strasse, die  von  Argentoratum  und  Tres-Tabernae  über  Decem- 
pagi nach  Divodurum  (Metz)  führte.  Ich  halte  es  für  keine  allzu- 


1  Der  Weg  ist  genau  verzeichnet  auf  der  Messtischkarte.  — 
Yergl.  auch  B6noit,  R^pei-t.  8.  v.  Raon-les-FEaa  S.  22.  LafrimboIIe 
S.   19,  Turquestein  S.  24,  Bertrambois  S.  16. 

^  Letztere  stammen  jedenfalls  z.  T  aus  jüngerer  Zeit.  Der  Weg  wurde 
nämlich  früher  benutzt  hauptsächlich  zum  Transport  der  Holzkohlen 
nach  den  Glaswerken  von  Alberschweiler,  Lettenbach  u.  s.  w.  und 
den  Eisenwerken  von  Grandfontaine  u.  Framont.  Ans  dieser  Benutzung 
aber  darauf  zu  schliessen,  dass  der  Weg  zu  dem  Zweck  angelegt 
sei,  halte  ich  nicht  für  begründet.  —  Ich  verdanke  .obige  Notizen 
einer  gefälligen  schriftlichen  Mitteilung  des  Herrn  Oberförsters  Sachs 
in  Metz,  früher  in  Schirmeck. 

'  Nach  einer  mündlichen  Mitteilung  des  Herrn  Mündel. 

^  Kraus  III  s.  v.  Hattigny. 

»  Kraus  III  s.  v.  Tarquinpol. 

^  Benoit,  Rupert,  s.  v.  Azoudange  S.  35. 

7  Beauiieu,  archöologie  de  la  Lorr.  II  S.  12  f. 


—    70    — 

kühne  Vermutung,  wenn  wir  in  diesem  Slück  die  Fortsetzung 
der  vom  Donon  kommenden  Strasse  erblicken. 

3.  Donon  —  Breuschthal  —  (St  rass  bürg). 
Die  unter  1.  und  2.  beschriebenen  Strassen,  die  aus  dem 
Xfediomatricergebiet  zum  Donon  fährten,  hatten  ihre  Fortsetzung 
nach  Osten  in  die  Rheinebene  durch  das  Breuschthal; 
schon  Schöpflin*  hat  auf  diesen  Römerweg  aufmerksam  ge- 
macht und  uns  den  volkstümlichen  Namen  Sarazenenweg*, 
((was  in  der  Terminologie  der  Gegend  Heiden-  oder  Zigeuner- 
weg heissti),8  überliefert,  der  heutigen  Tages  verschwunden  zu 
sein  scheint.  Er  führte  vom  Dononsattel  aus  vermutUch  auf 
der  Grenze  zwischen  dem  Gemeindewald  von  Schirmeck  und 
Wisch  am  West-  und  Südabhange  des  Kohlberges  herum  und 
von  der  Ostseite  dieses  Berges  in  gerader  Richtung  über  den 
Bergrücken,  zuletzt  ziemlich  steil  abwärts  nach  dem  Dorf 
Wisch.  Schweighäuser  fand  Reste  des  alten  Pflasters, 
«das  zwar  schmal,  aber  sehr  wohl  gelegt  gewesen  zu  sein 
scheint».*  Von  Wisch  aus  folgte  die  Strasse  dem  Laufe  der 
Breusch.  De  Morlet,  der  die  Römerwege  im  Unter -Elsass 
beschrieben  hat,  glaubte  *  die  Spuren  derselben  in  den  langen 
sterilen  Kiesstreifen  zu  erkennen,  die  sich  mitten  durch  die 
Wiesen  des  Breuschthales  hinziehen  und  die  in  den  Grund- 
büchern unter  dem  Namen  Langallmend  bezeichnet  sind.* 
Das  erscheint  mir  recht  unwahrscheinlich ;  denn  hätte  der  Weg 
wirklich  in  unmittelbarer  Nähe  des  Flusses  hingeführt,  so  wäre 
er  fortwährenden  Ueberschwemmungen  und  Zerstörungen  aus- 
j,^esetzt  gewesen,  und  eine  solche  Kurzsichtigkeit  dürfen  wir 
den  praktischen  Römern  nicht  zutrauen.  Ich  glaube  deshalb, 
dass  wir  ihn  vielmehr  au  den  letzten  Ausläufern  der  gegen  das 
linke  Breuschufer  herantretenden  Berge  zu  suchen  haben,  in 
der  Nähe  oder  unter  der  modernen  Strasse,  was  auch 
Schweighäuser'  bestätigt,    der  erwähnt,  dass  man  in  der 


1  Als.  ill.  I  253. 

2  Derselbe  (cfaemin  des  Sarrasins)  findet  sich  schon  in  einer 
Teilungsarkunde  der  Grafschaft  Salm  v.  J.  1598  (Gravier,  Jonm.  de 
la  See.  d'fim.  ji»  VII  S.  26) 

3  Schweighäoser,  Kunstblatt  1823  S.  331. 

«  Kunstbl.  1823  S.  331  u.  Golböry  a.  Schweighäuser,  Antiqnit^s 
de  FAlsace  1828  U,  S.  28  f. 

^  Bull,  de  la  See.  ponr  la  conservat.  etc.  lY  1861.  Mem.  p.  63. 

*  Ueber  diese  sog.  Langallmend  und  die  verschiedenen  Ver- 
mutnngen  aber  ihre  Bedeutang  s.  Levranlt,  La  vail^e  de  la 
Bruche  S.  10. 

'^  Annnaire  du  Bas-Rhin  1822  S.  35'i. 


—    71     — 

Thal  Spui-en  eines  alten  Weges  längs  der  jetzigen  Strasse  ge- 
funden habe.  Ebenso  wenig  will  es  mir  einleuchten,  dass  die 
Römerstrasse  am  Fusse  von  Heiligenberg  vorübergegangen  sei. 
Ich  weiss  nicht,  ob  vorhandene  Spuren  darauf  hindeuten  — 
de  Morlet  erwähnt  nichts  davon,  sondern  beruft  sich  nur  auf 
handschrifthche  Aufzeichnungen  Schweighäusersi,  —  aber  da 
in  Heiligenberg  die  Existenz  eines  romischen  Castrums  nachge- 
wiesen ist,  2  so  wäre  es  gegen  alle  Regein  der  römischen  Be- 
festigungskunst,  wenn  die  Strasse  nicht  durch  oder  unmittelbar 
an  ihm  vorbei  über  den  Berg  hinweg  geführt  worden  wäre. 
In  Dinsheim,  wo  ebenfalls  Funde  auf  eine  römische  Nieder- 
lassung hinweisen,  hat  unsere  Strasse  jedenfalls  die  Thalsohle 
wieder  erreicht,  s  um  dann  etwa  bei  Mutzig  die  Breusch  zu 
überschreiten  und  nunmehr  bis  Strassburg  dem  rechten  Ufer 
des  Flusses  zu  folgen.  Spuren  derselben  fand  man  zwischen 
Dinsheim  und  Dorlisheim,  sowohl  ober-  als  auch  unterhalb  von 
Mutzig.  ^  Ueber  den  weiteren  Verlauf  der  Slrasse  bis  Strass- 
burg geben  einen  Anhalt  die  in  Dorlisheim»  und  Altdorf«  ge- 
machten Funde :  sie  beweisen,  dass  sie  sich  nicht  wesentlich 
von  der  jetzigen  Strasse  entfernte.  In  der  Nähe  von  Strassburg, 
wo  sie  sich  (bei  Königshofen)  mit  der  von  Helvetus  (Ehl)  und 
Zabern  (Tres  Tabernae)  kommenden  grossen  Heerstrasse  ver- 
einigte, soll  sie  sich  unter  dem  Namen  Herren  weg  wieder 
finden.  ? 


1  Schweighäiiser  a.  a.  0.  sagt  dagegen  ausdrücklich :  «Eine 
kleine  gepflasterte  Strasse  führt  von  Heihgenberg  in  das  Brensch- 
thal  hinab  >  Vergl.  Raven^z  (II  82  f),  der,  wie  ich  nachträglich  sehe, 
jene  Aufzeichnungen  Schweighäasers  abgedruckt  hat. 

3  J.  Schneider,  Befestigungen  in  den  Vogesen  1844  S.  36  f  Auch 
andere  Spuren  einer  römischen  Niederlassung,  u.  a.  mehrere 
Ziegelöfen  wurden  aufgedeckt.  (^Golb^ry  und  Schweighäuser,  Antiqui- 
tes  II  S.  91,  Schweighäuser,  Annuaire  du  Bas-Rhin  1822  S.  352  ff.i 
Levrault,  a  a.  0.  S.  7.)  Funde  von  merovingischen  Münzen  neben  solchen 
römischer  Herkunft  scheinen  darauf  zu  deuten,  dass  diese  feste 
Stellung  auch  später  von  den  Franken  besetzt  gehalten  wurde.  Sehr 
wahrscheinlich  ist  es,  dass  die  in  2  Urkunden,  von  Karl  dem 
Grossen  aus  dem  Jahre  778  und  von  Ludwig  dem  Frommen  aus  dem 
Jahre  817  erwähnte  regia  strata  unsere  Römerstrasse  im  Breuschthal 
ist  (Grandidier,  Bist.  d'Als.  S.  82  f.) 

s  Coste,  Alsace  romaine  S.  115  nimmt  eine  Verbindung  aus  dem 
Breuschthal  mit  dem  Odilienberg  über  Rosenweiler,  Börsch  an. 

*  Levrault  a.  a.  0.  S.  3. 
^  Scfaweighäuser  u.  Golb^ry  S.  68. 
«  Bull,  de  la  Soc.  U  P.-V.  p.  84. 
7  De  Morlet  a.  a.  0. 


4.  Donon  —  Plainethal  —  [Langres].  Eine 
vierte  Strasse  endlich,  eine  Verbindung  vom  Donon  durch 
das  Gebiet  der  Leucer  nach  Andemantunum,  der  Haupt- 
stadt der  Lingonen,  führte  in  südwestlicher  Richtung  durch 
das  Plainethal.  Sie  nahm  ihren  Anfang  jedenfalls  im 
Dononsattel,  1  wo  sie  mit  den  oben  beschnel)enen  Strassen  zu- 
sammentraf, und  begleitete  dann  die  Plaine  von  ihrer  Quelle 
bis  zu  ihrem  Einfluss  in  die  Meurthe  bei  Raon-Tfltape  auf  dem 
linken  Ufer.  Die  Spuren  derselben,  die  schon  Schöpf lin  «  er- 
wähnt, sind  jetzt  verschwunden,  da  sie  von  Raon-sur- Plaine 
aus  der  modernen  Strasse  als  Unterbau  gedient  hat.  Oberhalb 
von  Raon-r£tape  überschritt  sie  die  Meurthe,  an  deren  linkem 
hohen  Ufer  sie  dem  Flusse  eine  Strecke  aufwärts  folgte,  um 
dem  Dorfe  St-Blaise  gegenüber  die  Höhe  des  Bei*ges  von  Repy 
(Röpit)  zu  erklimmen,  w^o  Reste  von  Befestigungen  mit  zahl- 
reichen Funden  römischer  Altertümer  die  Stelle  eines  castra 
stativa  bezeichnen,  s  Ueber  den  Rücken  des  Bei-ges  lief  sie 
weiter  abwärts  nach  Rembervillers,  überschritt  die  Mosel 
zwischen  Chatel  und  Portieux  lauf  dem  linken  Ufer,  auf  dem 
Hügel  von  Beaucamp  Spuren  eines  römischen  Lagers  ;  bei  La 
Marche  ein  drittes  Lager)  und  erreichte  Langres,  das  römische 
Andemantunum. 

Zum  Schluss  möchte  ich  noch  einmal,  die  gelegentlich  ge- 
machten Andeutungen  zusammenfassend,  auf  die  Fnige  nach 
der  Zeit,  der  unsere  Donondenkmäier  angehören,  und  nach 
dem  Volk,  dem  sie  entstammen,  sowie  nach  dem  Zweck 
und   der  Bestimmung  derselben  zurückkommen. 

Ich  gehe  dabei  aus  von  den  beiden  Reliefs  mit  den  römi- 
schen Inschriften,  die  uns  sicher  auf  die  Zeit  hinführen,  wo 
im  Lande  bereits  die  Römerherrschafl  aufgerichtet  war.  Da 
aber  auch  die  andern  Bilder,  so  unvollkommen  auch  die  uns 
vorliegenden  Abbildungen    derselben    sein    mögen,    im  Ganzen 


1  J  ol  1 0  i s  (Antiqnit^s  da  d^p.  des  Vosges  1843  [m.  Karte]. 
Introduction  p.  XXIV  sniv.),  dem  ich  im  übrigen  folge,  lässt  sie  aaf 
seiner  Karte  —  der  Text  lässt  die  Entscheidang  unklar  —  von 
liaon-sur-Plaine  ans  aufwärts  der  jetzigen  Strasse  westlich  am  Donon 
vorbei  über  Grandfontaine-Schirmeck  gehen.  Sicher  ist,  dass  im  Mittel- 
alter der  vielbegangene  Weg  aus  Lothringen  in  das  Elsass  Ober 
Schirmeck  führte,  aber  ebenso  unwahrscheinlich  ist  es,  dass  zur  Zeit 
der  Römer  erst  in  Wisch  die  Verbindung  mit  den  obengenannten 
Strassen  hergestellt  sein  sollte. 

*  Als.  III  I  451,  annot.  (x.) 

^  Näheres  darüber  Gravier,  Histoire  de  St-Di6  S.  24  ff. 


—     73    — 

denselben  Typus  wie  jenes  Mercurhild  aufweisen,  so  trage  ich 
kein  Bedenken,  es  als  sicher  hinzustellen,  dass  auch  sie  jener 
Zeit  zuzuweisen  sind.  Man  hat  zwar  geglaubt,  dass  diese 
letzteren  auch  der  vorrömischen  Zeit  angehören  könnten  und 
sich  dafür  auf  das  Zeugnis  Caesars  berufen  (ball.  gall.  VI,  47: 
Deum  maxime  Mercurium  colunt :  hujus  sunt  plurima  simulacra), 
der  uns  allerdings  bestimmt  überliefert^  dass  schon  damals,  als 
die  Römer  in  das  Land  kamen,  bildliche  Darstellungen  der 
gallischen  Götter  vorhanden  waien.  Demgegenüber  ist  aber 
Folgendes  zu  erwägen :  Wenn  Caesar  den  von  den  Galliern 
vorzugsweise  verehrten  Gott  Mercurius  nennt,  so  folgt  er  dabei 
einer  auch  bei  andern  Schriftsiellern  (u.  a.  Tacitus  in  Bezug  auf 
die  Germanen)  üblichen  Gewohnheit,  die  Götter  fremder  Völker 
nach  der  Aehnlichkeit  ihrer  Funktionen  mit  dem  römischen 
Namen  zu  benennen  ;  so  auch  an  jener  Stelle,  wo  er  hinzufügt : 
hunc  omnium  inventorem  artium  ferunt,  hunc  viarum  atque 
itinerum  ducem,  hunc  ad  quaestus  pecuniae  mercaturasque 
habere  vim  maximam  arbitrantur.  Hiermit  haben  wir  aber 
für  die  bildliche  Darstellung  jenes  gallischen  Mercurius 
vor  der  Römerherrschaft,  den  die  Gallier  selbst  Teutates  (Lucan. 
Pharsal.  I,  445)  nannten,  auch  nicht  den  geringsten  Anhalt  ; 
wie  diese  ihren  Teutates  dargestellt,  dai  über  ist  uns  auch  nicht 
eine  Andeutung  erhalten ;  alles,  was  darüber  geschrieben  ist, 
ist  eitel  Phantasie.  Unsere  Mercurbilder  —  um  zunächst  ein- 
mal bei  diesen  zu  bleiben  —  zeigen  ebenso  wie  die  unzähligen 
andern  im  westlichen  Deutschland  und  in  Frankreich  gefundenen 
rein  römische  Attribute  :  den  Heroldstab  mit  den  Schlangen 
(caduceus),  den  Flügel hut  (petasus)  und  die  Geldbörse  (marsu- 
pium).  Und  nicht  anders  ist  es  mit  den  andern  Gölterbildern 
vom  Donon  und  aus  seiner  weitem  Umgebung. 

Auf  römischen  Ursprung  weisen  ferner  die  Gebäude,  die 
anderen  Inschriften,  die  Münzen,  Urnen  und  Sacrallampen  hin, 
auf  die  Gallier  sicher  nur  die  Kleidung  auf  den  beiden  Grab- 
stelen, höchst  wahrscheinlich  der  Name  Surbur  auf  dem  sonst 
römischen  Reliefbild.  i 

Somit  kommen  wir  zu  dem  Resultat  :  Die  Denkmäler  des 
Donon  gehören  jener  Zeit  an,  wo  in  unserer  Gegend  sich  eine 
Mischbevölkerung  bildete,  die  ihrer  grossen  Masse  nach  gallisch 
(in  der  Ebene  auch  germanisch),  sich  von  den  der  Zahl  nach 
viel   geringeren    Römern    eine    höhere    Kultur  aneignete ;    von 


^  Es  bedarf  kaum  der  Erwähnung,  dass  die  Fände  aus  der  Stein- 
zeit sicher  einer  älteren  Zeit  angehören  ucd  den  einheimischen  GaUiern 
zuzuweisen  sind ;  ebenso  die  Mauer,  falls  sie  wirklich   existiert   hat 


—    74    — 

letzteren  entlehnten  sie  auch  die  bildliche  Darstellung  ihrer 
Götter  nebst  deren  Namen.  Wäre  die  angeblich  von  einem  der 
Tempel  stammende  Inschrift  authentisch,  so  würde  sie  eio 
charakteristisches  Beispiel  für  jene  Zeit  bieten  :  Der  gallisch- 
römischeMercur  lokalisiert  durch  den  Beinamen  Voge  s  u  s 
in  Verbindung  mit  der  griechischen  Hecate. 

Und  nun  zur  zweiten  Frage  :  Welches  war  der  Zweck 
und    die  Bestimmung  jener  Denkmäler? 

Es  hat  eine  Zeit  gegeben,  die  übrigens  noch  nicht  über- 
wunden ist,  wo  man  in  jedem  Felsblock,  in  jeder  Vertiefung, 
in  jeder  Rinne  in  denselben  die  Spuren  des  alten  Druidenkultes 
hat  sehen  wollen  ;  dass  auch  die  auf  dem  Donon  liegenden 
Felsen  davor  nicht  sicher  waren,  ist  ja  bei  der  sonstigen  Be- 
schaffenheit des  Berges  ganz  natürlich,  i  Man  ist  noch  weiter 
gegangen  und  hat  in  dem  Donon  sogar  «das  hieratische  Centrum 
der  gallischen  Urbevölkerung»  unserer  Vogesen  seheii  wollen. 
Alle  diese  Ausführungen  beruhen  ebenfalls  auf  einer  ausgebildetea 
Phantasie :    ein  Körnchen   Wahrheit  steckt  aber  gewiss  darin. 

Ich  habe  schon  oben  meine  Meinung  über  die  Reliefbilder 
dahin  ausgesprochen,  dass  man  in  ihnen  der  grossen  Mehrzahl 
nach  Votivsteine  sehen  müsse.  Auf  eine  Kultusstätte 
weisen  auch  die  Votivaltäre  mit  den  Dedicationsinschriflen  für 
Jupiter,  ferner  die  Gebäude,  die  wir  vermutlich  als  Tempel 
anzusehen  haben.  Stammen,  wie  bemerkt,  alle  diese  Zeugen 
auch  aus  römischer  Zeit,  so  ist  es  doch  höchst  wahrscheinlich, 
dass  jener  Ort  nicht  erst  damals  diesem  seinem  Zweck  ge- 
weiht wurde :  der  Donon  scheint  in  der  That  schon  von  den 
Galliern  zu  einer  Kultusstätte  ausersehen  gewesen  zu  sein. 
Es  ist  bekannt,  dass  die  heidnischen  Völker  mit  Vorliebe  auf 
den  Höhen  ihren  Göttern  opferten,  wo  sie  ihnen  näher  zu  sein 
glaubten,  und  der  frei  sich  erhebende  Felsgipfel  des  Donon 
forderte  geradezu  dazu  auf.  Wenn  wirklich,  wie  uns  P.  Alliol 
überliefert,  eine  Mauer  den  Gipfel  umschloss,  so  hat  sie  sicher 
nur  religiösen  Zwecken  gedient,  und  es  ist  wohl  nicht  zufällig, 
dass  alle  Reliefbilder  gerade  um   den  Felsgipfel    herum    lagen. 

Wir  finden   solcher    «Ringe»    auf  den    Bergen    des  Dags- 
burger  Landes  noch  mehr,  in  oder    bei    denen  ebenfalls  solche 


1  Bei  V.  Seydlitz,  Touristenfübrer  für  die  Vogesen  ^,  S.  114  xäUt 
ein  bekannter  Keltomane  unseres  Landes  davon  Folgendes  auf :  Einige 
megalithische  Denkmäler,  einige  Schatzfelsen  (sog.  Abris-sous-rocheX 
Schüsseln,  zwei  menschliche  Fnsstapfeu  and  eine  Pferdetrappe,  die 
alle  von  F.  Voalot  in  seinem  merkwürdigen  Werke  sorgfaltig  Te^ 
zeichnet  sind  (PI.  XXXIX,  XLII  a.  LXXIXi.  —  Man  vergl.  aach  die 
Phantastereien  Levraults,  Vall6e  de  la  Brache.  S.  36  f. 


—    75    — 

Volivstelen  {gefunden  wurden ;  sie  sind  überhaupt  weit  über 
die  Grenzen  unseres  engeren  Heimatlandes  hinaus  verbreitet. 
Es  ist  also  gar  kein  Grund  vorhanden,  den  DoRon  zu  einem 
Cent r um  des  altgallischen  Gottesdienstes  zu  stempeln. 

Dass  aber  die  Höhe  des  Donon  nicht  nur  als  eine  Kultus- 
Stätte,  sondern  auch  als  Begräbnisplatz  gedient  hat, 
dafür  können  wir  uns  auf  das  Zeugnis  H.  u.  P.  Alliots  be- 
rufen, welches  durch  Jollois'  Funde  eine  Bestätigung  erhalten 
hat,  die  ausdrücklich  berichten,  dass  sie  Graburnen  auf  dein 
Plateau  des  Donon  aufgedeckt  haben.  Fügen  wir  hinzu,  dass 
wir  wenigstens  in  zwei  Reliefbildem  Grabsteine  vor  uns  haben. 
Diese  Verbindung  von  Kultus-  und  Begräbnisstätte  ist  deshalb 
bemerkenswert,  weil  die  Römer  es  streng  vermieden,  in  der 
Nähe  der  Heiligtümer  ihre  Toten  zu  begraben.  Wir  müssen 
also  hierin  eine  Sitte  der  einheimischen  Bevölkerung 
erblicken,  wie  denn  auch  bei  den  Germanen  und  andern 
Völkern  eine  innige  Beziehung  zwischen  Kultus  und  Grab  be- 
standen hat.  Wir  können  an  der  Thatsache  um  so  weniger 
zweifeln,  als  uns  auch  andere  Orte  der  Umgegend  zahlreiche 
Beispiele  dafür  vor  Augen  führen.  So  finden  wir  auf  den  Drei 
Heiligen  bei  Walscheid,  auf  dem  Kempel,  dem  Gross-Limmers- 
berg,  der  Schlosserhöhe  und  dem  Falberg  bei  Zabern  u.  a.  Orten 
neben  Graburnen  und  Grabdenkmälern  Votivstelen  in  grosser 
Anzahl,  i 

Aber  eben  dieser  Vergleich  führt  uns  wieder  auf  einen 
wohl  zu  beachtenden  Unterschied.  Nirgends  findet  man  an  den 
genannten  Orten  die  Reste  eines  römischen  Tempels,  und 
ferner,  während  überall  die  Urnen  in  zum  Teil  sehr  charakteri- 
stischen Steinen  eingeschlossen  oder  mit  ihnen  bedeckt  waren, 
ist  davon  auf  dem  Donon  auch  keine  Spur  entdeckt  worden. 
Eine  Erklärung  dieser  Erscheinung  habe  ich  noch  nicht  fmden 
können. 

Ich  schliesse  meine  Arbeit  mit  einer  Bitte  an  alle  Freunde 
unserer  vaterländischen  Altertümer,  mir  sei  es  durch  Berich- 
tigungen, sei  es  durch  Zusätze  dieselbe  verbessern  zu  helfen. 
Derartige  Beiträge  sollen  dann  mit  Dank  an  derselben  Stelle 
im  nächsten  Jahre  Verwendung  finden. 


^  Man  vergL:  Beanliea,  le  Comt6  de  Dagsboarg  S.  318  ff.; 
Goldenberg  im  Bull.  I.  86r.  III,  1  S.  127  ff.;  L.  B6noit  in 
Mem.  de  la  Soc.  d'arch.  lorr.  II.  s6r.  X.  vol.  1868  S.  361  ff . ;  d  e 
Morlet  in  Bull.  IL  s^r.  I,  S.  163. 


—    76    — 

Nachtrag. 

Die  in  dem  Tempel  auf  dem  Donongipfel  anfbewahrten  Denk- 
mäler betreffend. 

Leider  war  es  mir  unmöglich,  vor  Drucklegung  vorstehender 
Abhandlung  noch  einmal  persönlich  die  in  dem  modernen  Tempel 
aufbewahrten  Denkmäler  zu  untersuchen :  die  bis  spät  in  den  April 
hinein  auf  dem  Donon  lagernden  Schneemassen  vereitelten  einen 
dahin  zielenden  Versuch.  Erst  nachdem  die  erwärmenden  Sonnen- 
strahlen in  überraschend  kurzer  Zeit  die  Schneedecke  weggenommen, 
konnte  ich  Anfang  Mai  an  die  Ausführung  des  Planes  gehen.  Da 
indessen  der  Druck  damals  bereits  fast  vollendet  war,  so  dass  eine 
Verwertung  des  gefundenen  Resultates  in  der  Arbeit  selbst  unthun- 
lich  erschien,  so  gebe  ich  dasselbe  in  einem  Nachtrag. 

Es  sind  im  ganzen  11  Steine  (1  vollständiges  ELeliefbild, 
6  Bruchstücke  von  solchen,  2  Architekturfragmente  und  2  Inschriften- 
steine), die  als  letzte  Ueberbleibsel  der  einst  so  zahlreichen  Denk- 
mäler dort  oben  hinter  einem  Eisengitter  aufbewahrt  werden.  Freilich 
ist  der  Zustand,  in  dem  sie  sich  befinden,  ein  recht  trauriger.  Denn 
nicht  nur  arbeiten  die  auf  dem  hohen  Gipfel  besonders  wirksamen 
atmosphärischen  Einflüsse  fortwährend  an  der  Zerstörung  der  alters- 
grauen Steine,  sondern  mehr  noch  haben  dieselben  unter  den  fort- 
währenden mutwilligen  Beschädigungen  der  modernen  Besucher  za 
leiden,  gegen  welche  selbst  die  energischen  Bemühungen  des  Hern 
Försters  Heyer  die  seiner  Obhut  anvertrauten  Denkmäler  nur  un- 
genügend zu  schützen  vermögen.  Es  wäre  unter  diesen  Umständen 
jedenfalls  wünschenswert,  wenn  die  Denkmäler  je  eher  je  besser  jenen 
Einflüssen  entzogen  und  an  sicherer  Stätte  geborgen  würden,  ehe 
sie  durch  vollständige  Zerstörung  wertlos  werden. 

1.  Unter  den  Skulpturen  ist  noch  ein  vollständiges  Relief- 
b  i  1  d  vorhanden ;  es  ist  das  von  mir  oben  S  53  f.  Nr.  17  beschriebene. 
Das  Bild  hat  in  neuerer  Zeit  noch  weitere  Verstümmelungen  erfahren: 
so  ist  ihm  der  obere  Teil  des  Kopfes  und  ein  Teil  der  Beine  abge- 
schlagen. Der  Gegenstand  hinter  der  linken  Schulter  ist  auf  der  von  uns 
reproduzierten  Abbildung  ziemlich  genau  dargestellt,  die  Bestimmung 
desselben  aber  schwer  zu  erkennen.  Es  scheint  mir  nicht  unmöglich, 
dass  ein  Riemen  von  der  linken  Schulter  über  die  Brust  nach  rechts 
lief;  die  starke  Verwitterung  des  Steines  lässt  indessen  die  Frage 
nicht  sicher  entscheiden.  —  Wie  es  gekommen,  dass  das  Bild  seiner 
Zeit  nicht  mit  den  übrigen  nach  Epinal  geschafft  wurde,  vermag  ich 
nicht  zu  sagen.  Nach  Aussage  des  Försters  Heyer  ist  es  schon  seit 
Anfang  der  70er  Jahre  an  seinem  Platze. 

B  ru  chstücke : 

2.  Relief:  Bruchstück  mit  Unterleib  und  dem  oberen  Teil  der 
beiden  Schenkel. 

3.  Desgl. :  nackter,  männlicher  Unterkörper,  in  der  Rechten  eine 
Geldbörse;  Füsse  fehlen. 


—    77    — 

4.  Unterteil  eines  Reliefs :  2  Fasse  auf  einem  Sockel.  (Vergl.  Jol- 
lois  PI.  36,  12.) 

5.  Desgl. ;  neben  den  Füssen  noch  andere  Skulptnrreste  sichtbar^ 
u  a.  Fnss  einer  Ziege  (?). 

6.  Bruchstück  eines  bekleideten  Oberkörpers  (?) :  Falten  des 
Gewandes  dentlich. 

7.  Bruchstück,  das  einer  Vollfigur  anzugehören  scheint :  Gewand- 
falten auf  Vorder-  und  Rückseite  vorhanden;  die  auf  der  Brust 
liegende  linke  Hand  hält  einen  Gegenstand.  Es  scheint  das  von 
Kraus,  der  den  Stein  vermutlich  nicht  umgedreht  hat,  als  Rücken 
einer  menschlichen  Gestalt  bezeichnete  Fragment  zu  sein.  Das  Ganze 
ist  stark  verwittert. 

Architektur  fr  agmente  : 

8.  Säulenbasis  auf  einem  viereckigen  Sockel. 

9.  Desgl.^  dem  vorigen  sehr  ähnlich. 

Inschriftensteine : 

10.  Die  oben  S.  63  Nr.  7  erwähnte  Inschrift.  Der  erste  Buch- 
stabe des  Namens  in  der  2.  Zeile  ist  sicher  ein  C,  nicht  wie  bei 
Kraus,  der  sie  zuerst  veröffentlichte,  ein  G. 

11.  Das  wertvollste  Stück,  der  oben  S.  63  f.  ausführlich  be- 
sprochene Meilenstein,  ist,  was  sehr  zu  bedauern,  ganz  besonders 
das  Ziel  menschlicher  Zerstörungswut  gewesen;  ein  moderner  Van- 
dale  hat  aus  der  Inschrift,  die  auch  unter  den  Witternngseinflüssen 
sehr  gelitten  hat,  ein  grosses  Stück  mutwillig  herausgeschlagen,  ein 
anderer  auf  der  Rückseite  seinen  Namen  in  grossen  Buchstaben 
eingemeisselt.  Ich  gebe  ein  Bild  von  dem  gegenwärtigen  Zustand 
der  Inschrift,  indem  ich  unter  Zugrundelegung  des  Wortlautes  bei 
Voulot  die  fehlenden  Buchstaben  unterstreiche,  die  infolge  Verwitte- 
rung kaum  noch  erkennbaren  punktiere  : 

D  •  M  • 

L  •  VATINI^  •  FEL  * 

MILIARIA   A    •    VIC 

SARAVb  L  •  XII  C  •  I  • 

V  •  's  '  L  ' 

Inbetreff  der  auf  dem  Alliot^schen  Plane  eingezeichneten  Ring- 
mauer sind  infolge  einer  allerdings  nur  flüchtigen  Besichtigung 
unter  Führung  des  Herrn  Försters  Heyer  meine  Zweifel  an  der 
Existenz  derselben  wesentlich  abgeschwächt  worden ;  um  zu  einem 
sicheren  Resultate  zu  kommen,  bedürfte  es  jedenfalls  einer  genaueren 
Untersuchung  mit  der  Hacke  in  der  Hand,  da  eine  sehr  hohe  Moos- 
decke die  allerdings  auch  so  deutlich  sichtbaren  Fundamente  bedeckt. 
Eine  gleiche  Untersuchung  wäre  inbetreff  der  Cisterne  zu 
wünschen. 


—    78    — 


Bibliographie  über  den  Donon. 

Die  mit  *  bezeichneten  Bücher  konnten,  weil  auf  den  hiesigen  Bibliotheken 
nicht  vorhanden,  nicht  von  mir  selbst  eingesehen  werden. 


£xtrait  d'une  lettre  de  TAbbe  de  Moyenmontier  [Hyacinthe  Alliot] 
ä  M.  Alliot,  conseiller-m^decin  ordinaire  du  Roi.  (In:  Journal  da 
Si^avam  1693.  S.  74— 7«.) 

Dom  Mabillon,  Disconrs  snr  les  anciennes  sculptures  des  rois 
de  France.  (Abgedr.  in :  Ouvrages  posthumea  de  D.  Jean  Mabillon  et 
de  D.  Thierri  Ruinart,  par  D.  Vinc.  Thuillier.  Paris  1724.  T.  H 
S.  44 — 47.  —  und  in :  Mhnoires  de  VAcadimie  des  inscr.  et  belle»- 
lettrea  1736.  Tome  II.  S.  633-637.) 

D.  Theodor ici  Ruinarti,  Iter  lüterarium  in  JJsatiam  et  Lotha- 
ringiam  (in  den  oben  citierten  <Ouvrages  posthumes»  III,  S.  442  bis 
446).  Dazu  französ.  Oebersetzung  mit  Anmerkungen  tob 
Prof.  Matter,  Voyage  littSraire  en  Alsace,  par  Dom  Ruinart,  im 
Journal  de  la  Soci^te  des  sciences,  agriculture  et  arts  du  depart 
du  Bas-Rhin.  Strasbourg  1826.  T.  m.  S.  144—153.  —  Eine 
zweite  französ.  üebersetzung  von  Abbe  Marchai  ia 
Nancy  in  Recneil  de  docnments  sur  Thistoire  de  Lorraine.  T.  VII. 
Nancy  1862.  Der  den  Donon  betr.  Abschnitt  S.  50—56. 

Eine  deutsche  Üebersetzung  ebenfalls  mit  Anmerkungen  Ton 
dem  den  Donon  betr.  Teil  der  Reise  lieferte  Prof.  Euting  (-gj 
in  der  Literar.  Beilage  zur  Gemeinde- Zeitung  für  Elsass-Lothr. 
1882,  Nr.  1 :  cEin  gelehrter  Tourist  auf  dem  Donon.»  —  Auch 
separat,  Strassburg  bei  Schultz  u.  Comp.  1882,  mit  Skizzen : 
Ansicht  des  Donon  von  Südosten.  —  Uebersichtskarten  der  Oert- 
lichkeit.  —  Plan  der  Altertümer.  —  Das  Relief  Belliccus  Surbur. 

Dom  Bernard  de  Montfaucon^  religieux  B6n6dictin,  L^anti- 
quite  expliquee.  T.  II,  2.  Paris.  2«  §d.  1722.  S.  416—418;  dazu 
PI.  186.  187.  188. 

Dom  [Jacques  Martin],  religienx  B6n^dictin,  La  religion  da 
Gaulois.  Paris  1727.  Tome  I,  p.  215—218,  dazu  PI.  6;  und 
p.  338—343,  dazu  PI.  9. 

J.  D.  Schöpflin,  Älsatia  illustrata.  I.  Colmar  1751:  Dononis  mo- 
nimenta.  S.  451—458,  473,  71  sq.,  84  sq.;  dazu  Tab.  II  u.  IIL 

Derselbe,  L'AUace  iUustree.  Traduction  de  L.  W.  Ravenez  Mul- 
house  1849.  I,  p.  145,  184;  dazu  auf  PI.  I  u.  11 :  Reproduktion 
der  Schöpflin'schen  Abbildungen;  II,  508—522.  —  Hinzugefügt  ist 
ein  Kapitel :  £tat  actuel  du  Donon  (fast  vollständiger  Abdruck  von 
Jollois,  <M6moire  sur  les  antiq.  du  Donon>  s.  unten)  nebst  PL 
compl6ment.  I :  Plan  topographique  du  Donon  en  1692  (nach 
Gravier)  und  PI.  II :  Bas-reliefs  (nach  Jollois,  Antiquit§s  des  Yosgcs 
PI.  34). 


—    79    — 

Dom  Aug.  Calmet,  Abb§  de  Senones,  Notice  de  la  Lorraine.  Nancy 
1756.  Tome  I:  au  mot  Framotit  p.  470—486;  dazu  PI.  1  u.  2. 

Derselbe.  Histoire  de  Lorraine.  Nancy.  Nouv.  ed.  1757.  I,  p.  270; 
Vn,  p.  XXVI. 

Dazu  vergl.  Dissertation  sur  les  divinit^s  payennes  adorees  autrefois 
dans  la  Lorraine  et  dans  d^autres  pays  voisins.  Oeuvres  in^dites 
de  Dom  A.  Calmet,  par  F.  Dinago  (in  Bull,  de  la  Soc.  philomat. 
vosgienne.  St-Di6.  U,  1876,  p.  137,  154,  163). 

Dom  Ambroise  Pelletier^  cur6  de  Senones,  La  Montagne  de 
Framont  et  U  Donon  [1755],  herausgeg.  von  Ferry-Millon  in  Uevue 
d'Alsace  1856,  S.  385—405. 

Abb6  Bexon,  Histoire  de  Lorraine  1777.  Tome  I  (einziger):  Prem. 
disconrs  p.  XXVI  suiv.  u.  Notice  des  hommes.  ill.  p.  312—314. 

Facbot  Fain^,  Memoire  sur  la  principaut^  de  Salm  en  1784  (hrsg. 
und  mit  Anmerkungen  versehen  von  6.  Save  in  St-Di6)  in  Bull, 
de  la  Soc.  philomat.  vosgienne  1883—84,  p.  127  suiv.  (den  Donon 
betr.  p.  131—135}. 

Abb6  Grandidier,  Histoire  de  la  province  d'Alsace.  Strasbourg 
1787.  Tome  I  (einziger),  p.  95-101,  36—37. 

J.-B.  P.  Jollois:  1.  Kurzer  Bericht  über  die  von  ihm  auf  dem 
Donon  veranstalteten  Untersuchungen  im  Annuaire  du  dep.  des 
Vosges  1822,  p.  74. 

2.  Ausführlicher ;  Memoire  sur  les  antiquites  du  Donon  in  Journal 
de  la  Soc.  d'£mulat.  des  Vosges.  Vol.  IL  Dasselbe  separat  unter 
dems.  Titel.  Epinal  1828  mit  4  Tafeln. 

3.  Wiederabdruck  mit  einigen  Erweiterungen  in  Memoire  sur  quelques 
antiquites  remarquables  du  d^part.  des  Vosges.  Paris  184d,  p.  126  bis 
146;  dazu  PI.  31—36  nebst  Erläuterungen  p.  186—193. 

N.-F.  Gravier^  Extrait  d^un  Memoire  sur  les  antiquites  du  Donon 
in  Journal,  de  la  Soc.  d'fimulat.  des  Vosges  Nr.  VII.  Epinal  1827. 
S.  18—3«. 

Derselbe,  Histoire  de  St-Di6.  Epinal  1836.  p.  17—21. 

J.  G.  Schweighäuser,  Antiquites  du  döpart.  du  Bas-Rhin  in 
Annuaire  du  d6p.  du  Bas-Rhin  1822,  S.  305,  313  ff. 

Derselbe,  Altertümer  in  den  Vogesen,  in  Kunst-Blatt  [ohne  Angabe 
des  Orts]  1823,  Nr.  81-83. 

Derselbe  [Golb^ry  et  Schweighäuser],  Antiquites  de  l'Alsace.  II  T. 
Bas-Rhin  von  Schweighäuser  1828,  p.  92  f. 

Derselbe,  Memoire  sur  les  monuments  celtiques  du  dep.  du  Bas- 
Rhin  in  Mem.  de  la  Soc.  des  antiquaires  de  France.  Nouv.  &er. 
Tome  II.  Paris  1836.  p.  10—19. 

Derselbe,  Enumeration  des  monuments  les  plus  remarquables  du 
dep.  du  Bas-Rhin.  Strasb.  1842.  p.  5. 


-    80    — 

*  [Friry],  Essai  snr  les  origines  et  antiqaitSs  de  Tarrond.  de  Be- 
miremont.  Remiremont  1835.  p.  11  ff. 

H.  L  6  p  a  g  e,  Le  departement  des  Vosges,  statistiqae,  historiqae  et 
administrative.  II.  P.  Nancy  1845  au  mot  Raon-snr-Plaine  ^nach 
Jollois). 

L.  L  e  V  r  a  u  1 1,  La  Taille  de  la  Brache,  Haslach,  Girbaden,  Nideck 
et  le  Donon.  (Revae  d'Alsace  1852.  p.  369  sniv.,  385  sniv.,  433  soIt.) 
Anch  separat  Extrait  de  la  Revae  d^AUace  :  Donon.  S.  33 — 39  (rom 
Standpankt  eines  Keltomanenj. 

F.  X.  Kran  s,  Kanst  and  Altertham  in  Elsass-Lothringen.  III.  Bd. : 
Lothringen.  Strassbarg  1889.  s.  v.  Donon  (Hohe  Donne)  mit  Bi- 
bliographie. 

Beliiccus  Surbur: 

Bordier  et  Charton,  Histoire  de  France  d^apres  les  mona- 
ments  originanx.  2  vols.  Paris  1859/60.  (Abbild,  des  Bell.  Sarb. 
T.  I  p.  48.) 

F.  Dinago,  Un  bas-relief  da  Donon:  Belliccas  Sarbar  in  Balletin 
de  la  Soc.  philomat.  Yosgienne.  )£•  ann6e.  St-Die  1876.  p.  205—206 
mit  Abbild. ;  (anch  separat  erschienen.) 

Gaston  Save,  Note  sar  le  Belliccas  Sarbar  (ebendas.  1877 — 78. 
S.  47-52).  Mit  Abbild. 

F.  V  o  a  1  o  t,  Les  Vosges  avant  Thistoire.  Malhoase  1872.  S.  205  bis 
209  (mit  Abbild.  PI.  LXXVni). 

Roget  de  BeUogaet,  Ethnog^nie  gaaloise :  I.  Glossaire  ganlois. 
2«  6d.  Paris  1872.  S.  261—263.  (Erkl&rang  der  Worte  Beliiccus 
Sarbar.) 

Inschriften  : 
Brambach,  Corpas  inscript.  Rhenan.  1857.  Nr    1906—1909. 

Meilenstein : 

Roh.  M o  w a t,  D6coaverte  d'un  vicus  gaulois  de  T^poqae  romaine 
(in  Revae  arch6ol.  Paris  1876.  Noav.  s6r.  voL  31.  p.  261—267). 

F6lix  Yoalot,  Derselbe  Titel  (ibid.  vol.  32.  p.  46—49  mit  Abbüd). 

Säule  (Votivaltflre) : 

Zangemeister,  Juppitersäule  auf  dem  Donon  (in  Korrespondeni- 
blatt  der  westd.  Zeitschr.  f.  Gesch.  a.  Konst  1890,  Nr.  8  [Ang.]. 
S.  197—200). 

Bechstein,  Zu  den  Jt^ppitersäulen  (ebendas.  1891,  Nr.  1  [Jan.], 
S.  24  ff.  Entgegnung  auf  Z.). 


—     8t     — 


Name  : 


Elsässischer  Patriot  (Wochenschrift)  1776.  l.  Viertelj.  S.  31  : 
Frankenberg,  fr.  Framont,  lat.  Ferratus  mons. 

Der  Name  Donon:  unterzeichnet  oe.  (in  Lit.  Beilage  zur  Ge- 
meinde-Ztg.  für  Els.-Lothr.  1881,  Nr.  2o,  S.  100. 

Sagen  und  Erzählungen : 

A.  St  ob  er,  Sagen  des  Elsass.  2.  Ausg.  St.  Qallen  1858.  S.  196: 
König  Pharamands  Grab  auf  dem  Wasgenstein.  S.  201:  Der 
Teufelsgeiger  (am  Lac  Lamaix). 

Festina  Lente  (Pseudonym),  Sagen   vom  Donon.    i.Strassb.  Ztg. 

1879,  Nr.  108,  3.  Mai.  2  Gedichte:  I.  Faramunds  Leichenfeier. 
II.  Deodat  (Zerstörung  der  heidn.  Denkmäler  auf  dem  Donon.) 
Letzteres  auch  wieder  abgedr.  Gemeinde-Ztg.  für  £.-L.  1881,  Nr.  46. 

Erckmann-Ghatrian,  L'invasion  ou  le  fou  Y^gof.  (Ort  der 
Handlung :  Umgebung  des  Donon  während  des  Krieges  1814.) 

E.-A.  S  e  i  1 1  i  e  r  e,  Au  pied  du  Donon.  Scenes  de  moBurs  vosgiennes. 
2'  ed.  Paris  1861.  (Ort  der  Handlung :  Das  obere  Plaine-  und 
RabodeauthaL) 

Schilderungen : 

F.  M.  [Paul  Merlin],  Promeuades  Alsaciennes.  Paris  1824.  Pro- 
menade au  Donon  p.  9—104. 

£d.  Berge,  Promenade  au  Donon  eu  1831  (in  Annales  de  la  Soc. 
d'Emulation  da  d6p.  des  Vosges.  Tome  I,  H"  cah.  Epinal  1838. 
p.  125-142}.  (Feailletonistische  Schilderung  mit  kurzer  Erwähnung 
der  damals  noch  vorhandenen  Denkmäler.) 

*  de  Bazelaire,  Promenades  dans  les  Vosges.  Paris  1838. 

*  D  6  s  i  r  e  C  a  r  r  i  e  r  e,  Oeuvres  choisies.  Souvenir  ä  ses  parents  et 
ä  ses  amis.  l8ö3/öo.  Mirecourt.  p.  400.  (Reise  durch  das  Dags- 
burger  Land.) 

Ch.  Charton,  Les  Vosges  pittoresques  et  historiques.  Paris  1862 
S.  258-261. 

La  Lorraine  [illustreej.  Paris  1883.  (Schilderung  des  Donon  in  dem 
Abschnitt:  Les  VosgeSj  von  Louis  Jouve.  S.  330  f.) 

Geologische  Charakteristik  der  Donongruppe : 

Merkwürdige  Vogesenberge^  von  [Gerlan]d,  in  Gemeinde-Ztg.  f.  E.-L. 

1880.  Nr.  11. 

Reiseliteratur. 

Cdüection  des  Guides-Joanne :  Vosges  et  Ardennes.  Paris,  Hachette 
et  Cie,  (I8fJ8:  S.  425  ff.i. 

A  Schricker,  In  die  Vogesen.  Ein  Führer.  Strassb.  1873.  S.  40  f. 

6 


—     8t>     — 

C.  Mündel,  Die  Vogesen.  Ein  Handbach  f.  Touristen.  Strassborg. 
Trübner.  5.  Aufl.  1888.  S.  184  f.    6.  Aufl.  1891.  S.  193  f. 

G.  V.  Seydlitz,  Touristen-Führer  für  die  Vogesen.  Metz,  Lang 
2.  Aufl.  1881.  S.  114.    3.  Aufl.  1891. 

Kruhöffer,  Oberförster,  Wanderungen  im  Breuschthale.  (S.Heft 
der  Streifzüge  und  Rastoi'te  im  Reichslande.)  Strassburg.  Heitz  c. 
Mündel,  o.  J.  S.  59—64.  (Mit  Abbild,  des  modernen  Tempels  auf 
dem  Gipfel.) 

J.  Näher,  Panorama  vom  Donon  i.  Eis.  Strassburg.  Heitz  u.  Mündel, 
o.  J. 


II. 
Ein  Förderer 

des 

Verkehrswesens   in    Elsass-Lothringen 

im    16.    Ja.lii"'hiiander't 

von 

Otto  Winckelmann. 

Uie  volle  Erschliessung  der  Vogesen,  welche  es  dem  Natur- 
freunde ermöglicht,  mit  leichter  Muho  das  Gebirge  bis  in 
die  entlegensten  Winkel  zu  durchstreifen,  ist  bekanntlich  erst 
eine  Errungenschaft  der  letzten  zwei  Jahrzehnte,  ein  Werk, 
dessen  Verdienst  der  Vogesenklub,  ohne  unbescheiden  zu  sein, 
grossen  Teils  für  sich  in  Anspruch  nehmen  darf.  Allein  wenn 
früher  zur  Hebung  des  Touristenverkehrs  auch  nur  wenig  ge- 
schehen ist,  so  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  dass  während 
der  französischen  Herrschaft  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  in- 
folge des  Bestrebens,  Elsass  mit  Frankreich  fester  zu  verknüpfen, 
eine  Reihe  trefflicher  Kunststrassen  quer  über  das  Gebirge  ent- 
stand, durch  welche  die  Entwicklung  des  Handels  und  nament- 
lich der  Industrie  in  den  Vogesenthälern  mächtig  gefördert 
worden  ist. 

Was  die  französische  Epoche  in  dieJser  Hinsicht  geleistet 
hat,  tritt  in  besonders  vorteilhaftem  Lichte  hervor,  wenn 
man  es  mit  den  traurigen  Zuständen  der  Verkehrswege 
wahrend  des  Mittelalters  und  bis  ins  17.  Jahrhundert  hinein 
vergleicht.  Zu  jenen  Zeiten  war  das  Gebirge  nur  von  wenigen, 
schlechten   Strässchen  und  Saumpfaden  durchzogen,  welche  meist 


—    84    — 


noch  der  Römerzeit  ihre  Entstehung  verdankten.  Neue  Wege 
anzulegen  oder  die  alten  zu  verbessern,  fiel  ni^ht  leicht  jemandem 
ein;  vielmehr  geriet  mancher  alte  Römerweg  während  des 
Mittelalters  in  Verfall,  weil  niemand  sich  um  seine  Unterhaltung^ 
kümmerte.  Die  Erklärung  hierfür  zu  finden,  ist  nicht  schwer: 
die  Vogesen  galten  eben  in  den  Zeiten  der  deutscheu  Reichs- 
Oberhoheit  nicht  als  ein  Bindeglied  zwischen  den  benachbarten 
Landschaften,  sondern  als  Grenzgebirge,  und  zwar  besonders. 
für  die  Bewohner  des  Elsasses  als  ein  sehr  brauchbarer,  natür- 
licher Schutzwall  gegen  feindliche  Absichten  der  westliclien 
Nachbarn.  Man  hütete  sich  deshalb  wohlweislich,  selber  durch 
Verbesserung  der  Wege  und  Pässe  Breschen  in  diese  Ver- 
teidigüngsmauer  zu  legen  und  damit  dem  Feinde  das  Eindringen 
zu  erleichtern.  Lieber  nahmen  die  elsässischen  Herren  und 
Städte  die  mannigfachen  Unbequemlichkeiten  und  Hindernisse 
in  den  Kauf,  welche  für  den  Handel  mit  dem  Welscliland 
aus  der  Unwegsamkeit  des  Gebirges  entsprangen.  Wagte  hier 
und  da  einmal  jemand  dieser  herrschenden  Anschauung  zum 
Trotz  auf  eigene  Faust  Verbesserungen  oder  Neuanlagen  von 
Wegen  vorzunehmen,  so  musste  er  auf  heftigen  Widerspruch  der 
benachbarten  Landstände  gefasst  sein.  Diese  Erfahrung  machte 
besonders  der  Pfal  zgraf  Georg  Hans  von  Vel den z-Lüt /ei- 
st ein  bei  seinen  im  letzten  Drittel  de.s  16.  Jahrhunderts  unter- 
nommenen Versuchen,  die  Verkehrsverhältnisse  des  heull<^ea 
Reichslandes  zu  heben.  Verdienen  seine  Bestrebungen  schon  des- 
halb, weil  sie  in  jener  Zeit  ganz  vereinzelt  dastehen,  eine  nähere 
Würdigung,  so  steigert  sich  die  Teilnahme  für  dieselben  noch 
erheblich  bei  Betrachtung  der  eigenartigen  Mittel  und  Wege^ 
durch  die  er  seine  Zwecke  zu  erreichen  suchte. 

Zunächst  sei  es  gestattet,  die  Aufmerksam  keil  auf  die 
äusseren  Lebensschicksale,  den  Charakter  und  die  Ziele  dieses 
merkwürdigen  Mannes  zu  lenken.  ^ 

Georg  Johann  war  der  1543  geborene  Sohn  und  Nachfolger 
des  Pfalzgrafen  Ruprecht,  welcher  als  Stifter  der  Veldenzer 
Seitenlinie  des  Pfalz-Z weibrück en'schen  Hauses  anzusehen  ist. 
Er  erbte  ausser  dem  Stammschloss  Veldenz  a.  d.  Mosel  und 
einigen  andern  Gerechtsamen  hauptsächlich  die  Grafschaft 
Lützelstein,  welche  durch  die  Eroberung  Friedrichs  des 
Siegreichen  1452  in  den  Besitz  der  Pfalzgrafen  gekommen  war. 
Als  unmündiges  Kind  gelangte  er  zunächst  unter  der  Vormund- 


1  Vgl.  u.  a.  besonders  PatriotiRches  Archiv  für  Deutschland 
( l79u)  t.  XU  und  den  Aufsatz  von  Dagobert  Fischer  über  die  Oe- 
schichte  der  Grafschaft  Lützelstein  in  der  Revue  d^Alsace,  1880. 


—    85    — 

schafl  seines  Vetters  Wolfgang  von  Zweibrücken  zur  Herrschaft 
und  ei^riff  1563  nach  erreichter  Volljährigkeit  die  Zügel  der 
Regierung.  Alsbald  zeigte  sich  nun,  was  für  ein  seltsamer, 
wunderlicher  Herr  dieser  junge  Pfalzgraf  war.  Er  überragte 
wohl  die  meisten  seiner  fürstlichen  Zeitgenossen  an  natür- 
licher Begabung  und  geistiger  Regsamkeit ;  dabei  fehlte  es  ihm 
aber  leider  vollständig  an  sittlichem  Ernst  sowie  an  praktischer 
Einsicht  und  an  nüchterner,  ruhiger  Beurteilung  der  Verhält- 
nisse. Er  war  mit  einem  VVoiie  ein  Phantast,  der  sich  sein 
ganzes  Leben  lang  mit  den  grossartigsten  Ideen  und  Entwürfen 
trug,  der  die  ganze  Welt  beglücken  wollte  und  doch  schliesslich 
nicht  einmal  sich  selbst  und  sein  kleines  Fürstentum  vor  Not 
und  Schaden  bewahren  konnte.  Häufig  lagen  seinen  Plänen 
überraschend  richtige,  originelle  Gedanken  zu  Grunde,  Gedanken, 
welche  dem  Geist  und  dem  Verständnis  des  Jahrhunderts  weit 
voraufgeeilt  zu  sein  schienen ;  ging  er  dann  aber  an  die  weitere 
Ausgestaltung  seiner  Entwürfe,  an  die  Versuche  zur  Verwirk- 
lichung^ so  scheiterte  er  stets,  weil  er  kein  Mass  zu  halten 
wusste,  die  eigenen  Hülfsmittel  überschätzte  und  die  entgegen- 
stehenden Schwierigkeiten  in  keiner  Weise  zu  würdigen  ver- 
stand. Auch  durchkreuzten  sich  in  seinem  Hirn  zu  verschieden- 
aiiige  Pläne,  als  dass  er  die  nötige  Ruhe  und  Beharrlichkeit 
bei  der  Ausführung  jedes  einzelnen  gehabt  hätte. 

Unstet  wie  sein  Geist  war  auch  sein  Wesen  und  Charakter. 
Von  grenzenloser  Heftigkeit  und  lächerlichem  Eigendünkel,  der 
mitunter  fast  in  Grössen  Wahnsinn  ausartete,  schwankte  er  zu 
Jämmerlichem  Kleinmut  und  völliger  Verzagtheit,  von  despo- 
tischer Willkur  und  Selbstsucht  zu  sentimentalen  Anwandlungen 
von  Grossmut  und  Aufopferung.  Mit  den  Häuptern  der  andern 
pfalzischen  Linien  lag  er  bis  an  sein  Ende  in  fortwährendem 
Zank  und  Streit;  die  Akten  seiner  Prozesse  am  Reichskammer- 
gericht füllen  dicke  Bände. 

Es  gab  kaum  eine  grosse  Frage  der  Zeit,  mit  der  sich 
Georg  Hans  nicht  eingehend  beschäftigt,  zu  deren  Lösung  er 
nicht  ein  nach  seiner  Meinung  unfehlbares  Mitlei  gefunden 
hätte.  So  arbeitete  er  —  der  übrigens  Protestant  war  —  ein 
weitläufiges  Gutachten  darüber  aus,  wie  der  religiöse  Gegensatz 
zwischen  Katholizismus  und  Protestantismus  beseitigt  und  die 
Einheit  der  Kirche  wieder  hergestellt  werden  könnte.  Er  machte 
sich  ferner  anheischig,  die  grossen  Parteigegensätze,  unter 
welchen  Frankreich  damals  zu  leiden  hatte,  auszugleichen  ;  er 
spielte  sich  als  Finanzgenie  auf  und  entwarf,  während  er  in 
seinem  eigenen  Ländchen  von  der  Schuldenlast  schier  erdruckt 
wurde,  umfas.sende  Reformpläne  zur  Vermehrung  der  Reichs- 
<'innahmen  in  Frankreich  sowohl  wie  in  Deutschland.  Der  Grund- 


—    86    — 

gedanke,  von  Nvelcliem  er  bei  seinen  deul sehen  Finauzprojekteii 
ausging^  ist  übrigens  —  wie  so  häufig  bei  ihm  —  von  über- 
raschender Eigenart.  Er  verlangte  nätnUch  durch  Reichsgesetz- 
i^ebung  die  Schaffung  einer  Einrichtung  zum  Schutz  des 
deutschen  Seehandels  in  der  Nord-  und  Ostsee.  *  Die  althen^e- 
brachten  oder  verbrieften  Rechte  der  deutschen  Hansa,  deren 
Macht  und  Ansehen  damals  schwer  darniederlag,  sollten  wieder 
aufgerichtet  und  thatkräftig  gestützt,  dem  Seeräuberwesen  ge- 
steuert, Zölle  und  Abgaben  fest  geregelt  weixlen.  Ein  vom 
Kaiser  ernannter  Admiral  sollte  die  Wahrnehmung  der  deut- 
schen Handelsinteressen  besorgen  und  nötigen  Falls  mit  Hilfe 
einer  kleinen  Flotte  seinen  Massnahmen  Nachdruck  verschaflen. 
Eine  solche  Organisation  hätte  bei  verständiger  Durchführung 
und  weiser  Schonung  berechtigter  Privatinteressen  vielleicht 
wirklich  grossen  Nutzen  stiften  und  zur  Hebung  des  nationalen 
Wohlstandes  beitragen  können;  allein  man  durfte  doch  auch 
nicht  die  ungeheuren  Schwierigkeiten  verkennen,  welche  sich 
einem  solchen  Projekt  infolge  der  unglaublichen  Zerfahrenheil 
und  Selbstsucht  der  deutschen  Reichsstände  entg^enstellten. 
Unser  Pfalzgraf  aber  war  hierfür  vollständig  blind  und  schadete 
seiner  Sache  gerade  durch  den  Ungestüm,  mit  welchem  er  auf 
allen  Reichs-  und  Standetagen  den  Antrag  immer  von  neuem 
befürwortete.  Es  entstand  dadurch  der  natürliche  Argwohn, 
dass  er  bei  der  ganzen  Angelegenheil  nur  seinen  eigenen  Vor- 
teil im  Auge  habe.  Und  so  ganz  unbegründet  war  dieser  Vor- 
wurf in  der  That  nicht;  denn  selbstverständlich  war  der  gute 
Georg  Hans  der  Uebei-zeugung,  dass  nur  er  selber  zum  Reich*- 
admiral  tauglich  sei.  Auch  erscheint  seine  bei  jeder  Gelegenheit 
prahlerisch  an  den  Tag  gelegte  Begeisterung  für  das  Heil  des 
römischen  Reichs  deutscher  Nation  in  einem  eigentümlichen 
Licht,  wenn  man  erwägt,  dass  er  mit  dem  Herzog  von  A^njou, 
dem  Bruder  des  französischen  Herrschers,  einen  engen  Freund- 
schafts vertrag  abschloss,  und  dass  er  sich  bei  König  Heinrich  HK 
für  die  Wohlfahrt  Frankreichs  nicht  minder  besorgt  zeigte  wie 
bei  Maximilian  H.  für  diejenige  Deutschlands. 

Dass  ein  Mann  wie  unser  Pfalzgraf  den  weit  verbreileten 
c<geheimen  Künsten»  der  Alchymisten  nicht  fremd  blieb,  sondern 
sich  mit  Vorliebe  namentlich  auf  das  «Goldmachen»  verlejrte, 
kann  nicht  Wunder  nehmen.  Aber  auch  sonst  beschäftigte  er 
sich  sehr  eingehend  mit  technischen  und  gewerblichen  Anlagen 
und  Erfindungen  und  rühmte  sich  selber  der  grossartigsteo 
Erfolge.   Freilich  wird  man  sich  kaum  eines  Lächelns  erwehren 


I  Näheres  bei  Höhlbanm,  Mitteilungen  ans  dem  Stadtarchiv  von 
Köln,  Heft  18. 


—    87    — 

könneu,  wenn  man  vernimmt,  was  für  Erfindungen  auf  dem 
Gebiete  der  Kriegskunst  er  beispielsweise  dem  Könige  von 
Frankreich  zum  Kaufe  anbot.  Da  will  er  einmal  einen  von 
eisernen  Reifen  umspannten  ledernen  Ballon  konstruiert  haben, 
welcher,  mit  20000  Pfund  Pulver  gefüllt,  tausend  Fuss  weit 
geschleudert  werden  könne,  so  dass^man  damit  imstande  sei,  die 
grösste  Stadt  mit  einem  Schlage  in  die  Luft  zu  sprengen! 
Ferner  rühmt  er  sich  einer  Erßndung,  welche  es  ermöglichen 
5oll,  den  tiefsten  —  sei  es  trockenen  oder  nassen  —  Wallgraben 
binnen  einer  Viertelstunde  auszufüllen !  Auch  eine  neue  Bewaff- 
nung des  Fuss  Volkes  hat  er  ausgedacht,  um  dasselbe  in  den 
Stand  zu  setzen,  sich  mit  Erfolg  gegen  die  gleiche  Anzahl 
Reiter  zu  verteidigen  etc. 

Der  französische  König  scheint  für  diese  merkwürdigen 
Maschinen  allerdings  wenig  Verständnis  gezeigt  zu  haben  ; 
wenigstens  behandelte  er  den  Urheber,  der  persönlich  zu  ihm 
nach  Paris  kam,  in  so  wenig  zuvorkommender  Weise,  dass  der 
empfindliche  Georg  Hans  sich  in  seinem  Selbstgefühl  höchlich 
gekränkt  fühlte  und  später  von  seiner  Residenz  aus  einen  von 
Grobheit  strotzenden  Brief  an  den  König  richtete.  Dabei  war 
er  aber  doch  naiv  genug,  in  demselben  Schreiben  nochmals 
seine  Erfindungen  zum  Kauf  anzubieten. 

Während  der  zweiten  Hälfte  seiner  Regierungszeit  —  etwa 
seit  i573  —  wurde  Georg  Hans  dann  namentlich  von  dem  GrC- 
danken  beherrscht,  Handel  und  Verkehr  durch  Schiflharmachung 
der  natürlichen  Wasserläufe  und  durch  Anlage  von  Kanälen  zu 
heben.  Es  war  das  wohl  von  allen  seinen  grossen  Entwürfen 
noch  der  verständigste  und  im  Prinzip  brauchbarste.  Nur  wusste 
er  sich  auch  hierin  nicht  auf  das  nach  dem  Stande  der  da- 
maligen Technik  und  nach  Lage  der  politischen  Verhältnisse 
Mögliche  und  Durchführbare  zu  beschränken.  Für  Anlage  von 
Kanälen  war  d-tmals  in  Deutschland  noch  sehr  wenig  geschehen . 
Seitdem  Karl  der  Grosse  die  Verbindung  des  Mains  mit  der 
Donau  geplant,  al)er  nicht  zur  Ausführung  gebracht  hatte,  war 
in  Deutschland  nur  eine  künstliche  Wasserstrasse  angelegt 
worden,  der  von  Lübeck  gegen  Ende  des  14.  Jahrhunderts  ge- 
iiaute  Stecknitzkanal  zwi.schen  Stecknitz  und  Trave  einerseits, 
Delvenau  und  Elbe  andrerseits.  Weitere  Kanalbauten  im 
grösseren  Masstabe  entstanden  erst  im  17.  Jahrhundert  in  der 
Mark  Brandenburg  durch  die  Fürsorge  des  Grossen  Kurfürsten, 
welcher  die  Oder  mit  Spree  und  Havel  verband.  Somit  fehlte 
es  dem  Pfalzgrafen  Georg  Hans  zu  seiner  Zeit  noch  sehr  an 
Vorbildern  für  seine  Entwürfe  :  ein  Umstand,  der  bei  der  Be- 
urteilung seiner  Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  nicht  unberück- 
sichtigt bleiben  darf. 


—    88    — 

Anlass,  sich  mit  dem  Studium  der  Wasserhaukunst  zu  be- 
schäftigen,  gab  ihm  zunächst  jedenfalls  der  Wunsch,  dem 
Handelsverkehr  seines  eigenen  Ländchens  durch  Anlage  eines 
Kanals  aufzuhelfen ;  indessen  bei  seinem  unruhigen,  immer  über 
das  nächste  Ziel  hinausstrebenden  Ehiyeiz  blieb  er  bei  diesem 
Gedanken  nicht  stehen,  sondern  wollte  alsbald  alle  Welt  mit 
Kanälen,  Entwässerungsanlagen  u.  dergl.  beglücken.  So  dacht <* 
er  daran,  den  Lech  durch  Isar  und  Amper  mit  dem  Inn  zu 
verbinden,  ferner  die  Mosel  mit  der  Maas,  und  noch  ;;e«^en 
Ende  seines  bewegten  Lebens  erwarb  er  sich  von  Kurtrier, 
Kurköln  und  den  spanischen  Niederlanden  Privilegien,  welche 
ihn  zu  Kanal isierungsarbeiten  in  diesen  Gebieten  ermächtigten.  < 
Zur  Ausführung  kamen  diese  kühnen  Pläne  jedoch  ehensi» 
wenig  wie  das  ihm  besonders  am  Herzen  liegende  Projekt  ties 
Zorn-Saar- Kanals,  auf  welches  ich,  da  es  Elsass- Lothringen 
betrifft,  etwas  ausführlicher  eingehen  will.« 

Die  Grafschaft  Lützelstein  war  durch  ihre  geographische 
Lage  ein  äusserst  wichtiges  Mittelglied  für  den  Verkehr  zwischen 
Elsass  und  Deutschland  einerseits,  Lothringen  und  Frankreich 
andrerseits.  Besonders  galt  dies  von  den  südlich  an  die  Zorn 
stossenden  Gebieten  von  Einarzhausen,  Lützelbui^  etc.,  wo  sich  die 
Zaberner  Senke,  diese  Hauptverkehrsader  mit  ihrer  uralten 
Heerstrasse  l)efand.  Mit  Recht  bezeichnete  man  im  16.  Jahr- 
hundert diesen  Landstrich  als  den  ((Schlüssel  des  Reichs». 
Pfalzgraf  Georg  Johann  wusste  die  Bedeutung  desselben  auch 
wohl  zu  schätzen  und  suchte  sie  noch  auf  jede  W^eise  künstlich 
zu  steigern.  So  baute  er  im  Jahre  1570  an  Stelle  des  Dorfe.< 
Einarzhausen,  d.  h.  an  dem  Punkte,  welcher  die  Zaberner 
Steige  im  Westen  beherrscht,  mit  kaiserlicher  Genehmiorun;; 
eine  befestigte  Stadt,  der  er  den  Namen  Pfalzburg  beilegte. 
Sodann  richtete  er  sein  Augenmerk  auf  eine  bessere  Ausnulzun;: 
der  natürlichen  Wasserwege  in  seinem  Gebiet,  besonders  der 
Zorn  und  der  Zinzel,  wobei  er  zunächst  hauptsächlich  die  grund- 
liche Verwertung  des  Holzreichtums  der  Vogesen  Ijezweckte. 
Nun  war  ja  Holzflösserei  auf  den  Nebenflüssen  des  Rheins  da- 


1  Strassb.  Bezirksarchiv,  G  945. 

2  Dieses  Kanalprojekt  ist  bis  jetzt  am  ansführlichsten  von  Pfannen- 
schmid  in  der  literar.  Beilage  zar  Gemeindezeitnng  für  EIsass-Loth- 
ringen,  1881,  Nr.  6 — 8  besprochen  worden.  Flüchtige  Andeutungen 
ünden  sich  anch  bei  Grandidier  oeavres  inöd.  VI,  S65,  bei  A.  Benoir 
Phalsbourg  et  Sarrebourg  p.  222  und  bei  Dagob.  Fischer,  a.  a  0 
Unseren  Ausführungen  liegen  ausser  den  von  Pfannenschmid  benutzten 
Akten  des  Strassb.  Bezirksarchivs  G  940  namentlich  die  des  Stadt- 
archivs G  ü  P    184  zu  Grunde. 


—    89    — 

mals  nichts  Ungewöhnliches  mehr,  i  allein  kunstliche  Regu- 
lierimgsarbeiten,  wie  sie  der  Pfalzgraf  zur  Hehung  des  Verkehrs 
auf  den  Flüssen  vornahm,  erregten  denn  doch  mannigfachen 
Widerspruch.  >  Dazu  kam,  dass  Georg  Hans  bald  darauf  aus- 
ging, die  Flüsse  nicht  blos  für  die  Flösserei  besser  zugänglich 
zu  machen,  sondern  sie  überhaupt  der  Schiffahrt  zu  öffnen. 
Bischof  und  Stadt  Strassburg,  Hanau  und  Leiningen  erhoben 
ihre  Stimme  gegen  solche  Unternehmungen,  von  denen  sie 
nichts  als  Störungen  für  ihre  Mühlen,  Wiesen  und  sonstige 
Gerechtsame  erwarteten,  und  Hessen  sich  nur  schwer  von  der 
Nützlichkeit  überzeugen.  Auch  konnten  sie  sich  nicht  von  dem 
Argwohn  frei  machen,  dass  der  Pfalzgraf  sie  listiger  Weise  zu 
übervorteilen  suche.  Indessen  setzte  dieser  1573  doch  zunächst 
die  Flösserei  auf  der  Zinzel  durch  und  erwarb  von  Strassburg 
gegen  Entgelt  einen  Stapelplatz  im  Banne  von  Dossenheim.  ^ 

Sein  weiterer  Plan  ging  dann  dahin,  die  Zinzel  bis  fast 
zum  Ursprung  ihres  nördlichen  Quellbachs  in  der  Nähe  von 
Lützelstein  auch  für  Schiffe  fahrbar  zu  machen  und  ebenso  die 
nicht  weit  davon  entspringende  Eichel,  welche  in  die  Saar 
mündet,  derart,  dass  die  Schiffsladungen  von  einem  Fluss  zum 
andern  nur  noch  eine  halbe  Meile  weit  über  Land  geführt  zu 
werden  brauchten.  Er  wusste  sogar  den  Kaiser  für  dieses  Pro- 
jekt zu  interessieren  und  zu  bewirken,  dass  Graf  Philipp  der 
Aeltere  von  Hanau  und  Johann  Sfraiff,  Amtmann  von  Xassau- 
Saarwerden,  als  kaiserliche  Kommissare  beauftragt  wurden,  eine 
Ortsbesichtigung  vorzunehmen  und  bei  brünstigem  Ausfall  der- 
selben den  Widerwillen  der  angrenzenden  Stände  gegen  daj*^ 
Unternehmen  durch  gütliche  Vermittelung  zu  beseitigen  ;  denn 
es  könne,  wie  der  Kaiser  sagt,  grosser  Nutzen  für  das  ganze 
Reich  aus  der  Verwirklichung  des  Plans  erwachsen.  Die  Kosten 
berechnete  Georg  Hans  in  einem  zur  Befürwortung  an  Karl 
von  Lothringen  gerichteten  Schreiben  auf  24 — 30000  Gulden.  * 

Sei   es   nun,  dass  die   Kommission   gegen   die  Ausführun;^ 
Bedenken  erhob,  oder    dass   anderweitige    Schwierigkeiten  sich 


'  Vgl.  Pfannenschmid,  a.  a.  0 ,  besonders  bezüglich  der  Zorn, 
auf  der  nachweislich  schon  seit  mehr  als  lOO  Jahren  Flös:;erei  ge- 
trieben wurde. 

-  Die  Regalierang  der  Breasch  durch  den  Bischof  und  die  Stadt 
Strassburg  zu  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  ist  wohl  ein  vereinzelt 
dastehender  Fall  in  jener  Zeit.  Vgl.  Schneegans.  Strassb.  Geschichten, 
Sagen  etc.  p.  261. 

3  Strassb.  Stadtarchiv,  Protokolle  der  XXL 

*  Pfannenschmid  a.  a.  0. 


—     IK)     — 

erjjMben,  Jedent'alts  hat  der  Pl'alzgraf  in  der  tolgenden  Zeil  von 
diesem  Plan  Abstand  genommen  und  seine  Aufmerksamkeit 
mehr  der  Zorn  zugewendet,  welche  er  1578  von  Hasel  bürg*  bis 
Lützelburg  schiffbar  machte.  Zu  gleichet  Zeit  bewog  er  den 
Grafen  Philipp  von  Nassau- Saar  werden,  ähnliche  Räumungs- 
arbeiten auf  der  Saar  vorzunehmen.  Nicht  denselben  Erfolg 
wie  bei  Nassau  hatte  er  bei  dem  Stras$bui*ger  Bischof,  welchen 
er  lange  vergeblich  zur  Regulierung  der  Zorn  unterhalb  Lützel- 
burgs  zu  bestimmen  suchte.  Die  Stadt  Zabern  hatte  sich  schon 
früher  mit  aller  Macht  gegen  die  Durchführung  einer  Massregel 
gesträubt,  von  welcher  sie  die  grösste  Schädigung  zu  gewärtigen 
meinte,  und  eine  inständige  Bittschrift-  deswegen  an  ihren 
Landesherren,  den  Bischof,  gerichtet.  So  wirkten  Unverstand 
und  engherzige  Interessenpolifik  zusammen  mit  allerlei  tech- 
nischen und  finanziellen  Schwierigkeiten,  um  dem  Pfalzgrafen 
die  Ausfuhrung  seiner  Pläne  zu  verleiden.  Anstatt  sich  aber 
dadurch  einschüchtern  zu  lassen,  wurde  Georg  Hans  immer 
kühner  in  seinen  Entwürfen  und  brachte  den  Gedanken  an 
einen  Zorn-Saarkanal  immer  mehr  in  sich  zur  Reife.  Im  Jahr 
1580  zog  er  den  berühmten  Strassburger  Baumeister  Specklin 
darüber  zu  Rate.  Ein  sehr  bemerkenswerter  Bericht  des  letzteren 
an  seine  Herren,  die  Dreizehn  von  Strassburg,  fasst  die  Mit- 
teilungen des  Pfalzgrafen  über  das  Projekt  in  folgenden 
Worten  zusammen  : ' 

«Es  haben  Ihre  fürstlichen  Gnaden  auf  hohen  bergen  — 
als  nämlich  auf  der  hohen  und  grossen  Thonn  [Doiion],  uf  dem 
Man  [Grossmann]  und  andern  bergen  —  vil  kleine  Bächle, 
welche  da  entspringen,  zuletzt  zusammenfliessen  und  die  Saar 
giebt,  welchs  in  die  Mosel  lauft,  nachmalen  bei  Goblenz  in 
Rhein.  Wan  aber  solche  flüss  und  bäch  würden  uf  der  höhe 
der  thäler  gefangen  und  solche  neben  uf  den  bergen  einge- 
senkt und  durch  die  berg  und  felsen  geleit,  kan  solches  uf 
der  höhe  bis  gen  Pfalzburg  gefürt  werden;  von  dannen  kan 
mans  wenden  durchs  thal  bis  gen  Lützelburg  in  die  Zorn  oder 
nach  Wilsberg  durchs  thal  hinab  in  die  Zinzel  und  also  fortan 
bis  in  Rhein.  Es  kann  aber  bei  Niederweiler  etliche  schleissen 
gemacht  werden,  das  man  bald  in  der  Saar  kan  sein.  Wan 
das  gemacht  were,  köndte  man  leichtlich  von  Strassburg  vom 
Rhein  hinauf  in  die  Saar  und  dan  in  die  Mosel  schiffen,  de:» 
gleichen  herauswärts  auch.i> 

Bleibt  nach  diesen  summarischen  Angaben  noch  mancherlei 
Ungewissheit   über    die   Art    der  geplanten    Anlage,    so    giebt 


1  StrasEb.  Stadtarchiv  G  ü  P  184. 


—  m   — 

eine  noch  erhaltene,  merkwürdige  Kartenskizze  des  Pt'alz^raten  » 
willkommene  Aut'klärun<|;.  Allerdings  vergeben wärti^ft  dieser 
Plan,  welcher  vermutlich  1591  dem  Bischof  zugestellt  wurde, 
das  Projekt  augenscheinlich  in  einer  etwas  vorgerückteren  Phase 
der  Entwickelung  —  besonders  hinsichtlich  der  Fassung  der 
Saarquellen  — ,  im  Ganzen  jedoch  pas.it  sie  noch  zu  der  von 
Specklin  gegebenen  Schilderung  und  kann  zur  Erläuterung  der- 
selben dienen. 

Hiernach  war  es  die  Absicht  des  Pfalzgrafeii,  die  Quell- 
häche  der  Roten  Saar  bei  Zweibach,  wo  sie  sich  vereinigen^ 
—  eine  Stunde  oberhalb  Alberschweiler  —  aus  dem  natürlichen 
Flussbett  abzuleiten  und  in  einem  künstlichen  Weiher  aufzu- 
fangen. Von  hier  sollte  dann  der  Kanal  beginnen  und  zwar» 
vom  Flusslauf  rechts  abzweigend,  zunächst  parallel  mit  dem- 
selben, jedoch  etwas  höher  thalauswärls  bis  gegen  Albersch- 
weiler hin  geführt  werden,  wo  sich  das  Gebirge  zum  welligen 
Hügellande  verflacht.  Sodann  sollte  er  nördlich  und  nordöstlich 
immer  im  gleichen  Niveau  gegen  Biberkirch  hin  verlaufen^ 
hier  die  Biber,  ein  Nebenflüsschen  der  Saar,  durchschneiden 
und  weiter  bei  Niederweiler  voiülier,  ferner  ül>er  Arzweiler 
und  Mittelbronn  bis  nahe  an  Pfalzburg  herangehen,  schliesslich 
eine  scharfe  Wendung  nach  Süden  machen  und  bei  Lützelburg 
in  die  Zorn  münden.  Von  seinem  Beginn  bei  Zweibach  bis 
Pfalzburg  hätte  der  Kanal  demnach  keine  erheblichen  Niveau- 
unterschiede zu  bewältigen  gehabt,  da  beide  Punkte  fast  die 
gleiche  Meereshöhe  (etwa  320  m)  besitzen ,  und  das  zwischen 
ihnen  liegende  Gelände  nur  wenig  hügelig  ist.  Zwischen  Pfalz- 
burg und  Lützelburg  dagegen  beträgt  der  Höhenunterschied  bei 
horizontaler  Entfernung  von  nur  4  Kilometern  etwa  110  m,  so 
dass  schwer  zu  begreifen  ist,  wie  ein  Kanal  selbst  mit  Hülfe 
mehrerer  Schleusen  hier  möglich  sein  sollte.  Dieselbe  Schwie- 
rigkeit musste  sich  auch  einer  etwa  beabsichtigten  Leitung  des 
Kanals  über  \^ilsberg  in  die  Zinzel  entgegenstellen.  Um 
andrerseits  die  Verbindung  nach  Westen  mit  der  Saar  herzu- 
stellen, wollte  der  Pfalzgraf  bei  Niederweiler  eine  Kanal-Ab- 
zweigung südwestlich  zur  Biber  eintreten  lassen  und  durch 
dieses  schiffbar  zu  machende  Flüsschen  etwas  unterhalb  Saar- 
burgs  in  die  Saar  gelangen. 

Welche  Zwecke  er  bei  dieser  ganzen  Anlage  hauptsächlich 
im  Auge  hatte  und  welche  Vorteile  er  sich  versprach,  darüber 
giebt  uns  Specklin  nach  eignen  Aeusserungen  des  Fürsten  zu- 
verlässigen Aufschluss.  Wir  erfahren,  dass  es  dem  Lülzelsteiner 


>  Strassb.  Bezirksarchiv   G  945.    In  der   diesem   Aufsatz    beige- 
fügten Skizze  ist  der  projektierte  Kanal  hiemach  eingetragen. 


—    yt>    — 

in  erster  Linie  darauf  ankam,  seiner  Schöpfun^^  Pfalzbur^^  zu 
raschem  Emporblühen  zu  verhelfen.  Er  wollte  dieses  neu  ge- 
schaffene Slädtchen  um  jeden  Preis  zu  einer  der  ersten 
Handelsmetropolen  Europas  machen  und  hoffte  durch  Anlage 
des  Kanals  am  sichersten  und  vollkommensten  zum  Ziele  zu 
gelangen.  In  seiner  lebhaften  Phantasie  sah  er  bereits,  wie  die 
Waren  von  aller  Herren  Länder  in  Pfalzburg  zusammen- 
strömten, um  von  da  weiter  nach  den  verschiedensten  Rich- 
tungen des  Weltteils  befördert  zu  werden.  Mit  den  bedeutendsten 
Kaufleuten  in  den  grossen  Handelsstädten  der  Nord-  und  Ost- 
see wie  auch  des  Mittelmeers  hatte  er  schon  Verbindungen 
angeknüpft,  um  sie  zu  überzeugen,  dass  nach  Vollendung  des 
Kanals  kein  Ort  als  Knotenpunkt  für  den  Welthandel  wichtiger 
sei  als  Pfalzburg.  Nebenbei  hoffte  er  auch,  Handwerk  und 
Gewerbe  in  seiner  Stadt  binnen  kurzem  zu  so  hoher  Blute  zu 
bringen,  dass  der  Ruhm  Nürnbergs  neben  demjenigen  Pfalzburgs 
verbleichen  sollte.  Er  rechnete  hierbei  namentlich  auf  die  An- 
ziehungskraft, welche  Pfalzburg  durch  die  Billigkeit  des  Lelicns- 
Unterhalts  auf  die  Gewerbetreibenden  ausül^en  müsste. 

Einen  gewaltigen  Erfolg  versprach  er  sich  aber  vor  allem 
für  seine  eigne,  der  Füllung  dringend  bedürftige  Kasse.  Es  geht 
das  beispielsweise  daraus  hervor,  dass  er  den  benachbarten 
Stünden,  welche  etwa  durch  die  neue  Wasserstrasse  in  ihren 
Zolleinnahmen  geschädigt  würden,  gi^ossmülig  versprach,  sie 
nicht  blos  für  ihre  Verluste  schadlos  zu  halten,  sondern  ihnen 
noch  die  Hälfte  mehr  zu  zahlen.  Soviel  die  Handelsleute  betraf, 
meinte  er,  sie  würden  bei  Benutzung  des  Kanals  grosse  Zoll- 
ersparnisse machen ;  denn  ein  Fuder  Wein,  das  auf  dem  Rhein 
zwischen  Strassburg  und  Coblenz  mit  48  Goldgulden  Zoll  be- 
lastet werde,  würde  auf  dem  neuen  Wasserwege  nur  4  Gulden 
kosten.  Dass  diese  Hoflnungen  des  heissblütigen  Fürsten  nr^ 
übertriebene  waren,  liegt  auf  der  Hand.  Was  die  Ausführlwr- 
keit  des  Plans  betrifft,  so  muss  ich  die  Kritik  natürlich  Sach- 
verständigeren überlas.sen  und  mich  begnügen,  das  wiedei-zu- 
geben,  was  Daniel  Specklin  vom  Standpunkte  seiner  Zeit  aus 
über  den  Entwurf  urteilte. 

Er  wandte  zunächst  ein,  dass  das  Werk,  wenn  überhaupt 
möglich,  so  doch  nur  mit  Ungeheuern  Kosten  durchgeführt 
werden  könne;  denn  abgesehen  von  den  zu  leistenden  Ent- 
schädigungen für  Gnindbesitz  würde  die  Herstellung  des  Kanals 
und  der  200  notwendigen  Schleusen  200000  fl.  erfordern  ;  dazu 
kämen  die  sehr  erheblichen  Unterhaltungskosten  und  die  Be- 
soldungen für  etwa  100  Schleusenwärter  im  Betrage  von  unge- 
Hihr  40000  fl.  jährlich.  Auch  sei  zu  berücksichtigen,  dass  die 
Schleu.sen    etwa   nlie  20  Jahre  erneuert   werden  müsslen.     Das 


—    93    ~ 

sind  für  die  heutige  Zeit  allerdin*^s  verhältnismässig  geringe 
Summen,  wenn  man  bedenkt,  dass  der  Rhein-Marnekanal  über 
7  Millionen  Franken  gekostet  hat :  im  16.  Jahrhundert  aber 
war  es  für  einen  fmanziell  so  zerrütteten  Fürsten  wie  den 
Lützelsteiner  mehr  als  zuviel. 

Den  überschwänglichen  Erwartungen  des  Pfalzgrafen  hin- 
sichtlich der  Hebung  des  Handels  und  Verkehrs  durch  die 
Kanalanlage  hält  Specklin  die  nüchterne  Berechnung  entgegen, 
dass  der  Weg  von  Strassbu rg  nach  Goblenz,  der  auf  dem  Rhein 
7  Tage  erfordere,  auf  der  neuen  Wasserstrasse  etwa  7  Wochen 
in  Anspruch  nehmen  würde.  Was  konnte  demgegenüber  die 
von  Georg  Hans  in  Aussicht  gestellte  Zollersparnis  für  eine 
Bedeutung'  beanspruchen  ?. 

Specklin  fasst  seine  Ansicht  dahin  zusammen,  dass  es 
«ein  unmöglich  Werk»  sei.  «Wan  es  aber  solte  fortgahn,  so 
were  es  über  die  7  Wunderwerk  der  weit,  dan  man  würd 
über  die  1200  schu  hoch  uf  den  felsen  und  bergen  fahren. 
Hie  unden  im  thal  ward  man  wohnen,  bauen  und  pflanzen, 
und  wo  ein  dam  oder  schleissen  —  welche  über  2  schuh  dick 
nit  ist  ^  solte  einreissen,  würde  es  ganze  thäler  erdrenken 
und  verschwemmen  und  mit  schiffen  und  gut  ins  thal  fahren. 
Derhalben  menniglichen  ir  f.  g.  solhen  davon  abweisen,  dan 
es  zu  verderbung  armer  leut  auch  seiner  selbs  gerichtet,  auch 
wider  gottes  Ordnung,  dan  gott  in  seiner  erschöpfung  nichts 
vergessen  hat,  und  wiewol  man  die  element  in  kleinen 
werken  etwas  zwingen  kan,  so  ist  doch  solches  wider  die  Ver- 
nunft.)) Zum  Schluss  kommt  Specklin  zu  folgender  bemerkens- 
werten Würdigung  der  Persönlichkeit  unseres  Pfalzgrafen  : 
«Wiewol  ich  bekennen  muss,  das  ir  f.  g.  eines  anschlegigen 
und  geschwinden  kopfs  ist,  so  gehn  doch  gewöhnlichen  seine 
ralschleg  mit  der  armen  verderben  aus,  welches  gott  schwer- 
lichen straft,  auch  kein  glück  noch*  segen  bei  der  regierung 
].<t.  Was  sonst  ir  f.  g.  mit  unerhörten  künsten  umbgehet,  ist 
mehr  zu  lachen  dan  nachdenkens  zu  haben.» 

Specklin  hatte  denn  auch  sehr  wenig  Lust,  dem  Wunsche 
Georg  Hansens  entsprechend  einen  genauen  Entwurf  für  die 
Kanalanlage  auszuarbeiten,  obwohl  ihm  ein  Honorar  von  2000 
Thalern  versprochen  wurde,  wovon  die  eine  Hälfte  sofort,  die 
andere  nach  Fertigstellung  des  Plans  gezahlt  werden  sollte. 
Er  glaubte  sich  durch  Beförderung  des  Projekts  «wider  Gott 
und  arme  Leute  zu  versündigen»  und  lehnte  deshalb  nach 
kurzer  Bedenkzeit  den  Antrag  ab. 

Auch  diese  Missbilligung  des  Plans  durch  einen  der  ei'slen 
Fachmänner  der  Zeit  vermochte  den  Lützelsteiner  nicht  zu  er- 
schüttern.   Wenn    schon    infolge   des   Verkaufs   von   Pfalzburg, 


—    94    — 

vorauf  ich  später  zurückkomme,  zeitweilig  anderweitige  Ent- 
würfe mehr  in  den  Vordergrund  traten,  so  gab  er  doch  das 
Kanalprojekt  niemals  auf,  sondern  vertiefte  sich,  wie  es  scheint, 
immer  selbständiger  in  die  technischen  Fragen  der  Wasserbau- 
kunst. 1591  nahm  er  dann  das  alte  Projekt  in  Verbind unj; 
mit  dem  eines  Mosel-Maaskanals  mit  verdoppeltem  Eifer  wieder 
auf  und  bewarb  sich,  wie  ich  schon  früher  erwähnte,  nicht 
ohne  Erfolg  um  Privilegien  für  Kanalbauten  und  Entwässerungs- 
anlagen im  Erzbistum  Köln  und  in  den  Niederlanden.  Im  Juni 
desselben  Jahres  hatte  er  auch  die  Grenugthuung,  dass  ihm 
endlich  der  Bischof  von  Strassbnrg  ein  gleiches  Privileg  aus- 
stellte, und  so  schien  der  Plan  jetzt  wirklich  seiner  Ausführung 
näher  zu  rücken.  Indessen  bakl  nachher,  am  8.  April  1592, 
erlag  der  kaum  50jährige  rastlose  Mann  einer  tückischen 
Krankheit  und  alle  seine  hoch  fliegenden  Entwürfe  sanken  mit 
ihm  ins  Grab.  Beinahe  drei  Jahrhunderte  hat  es  dann  gedauert, 
bis  die  Vollendung  des  Rhein-Marne-Kanals  in  grossartigster 
Weise  den  Lieblingsgedanken  des  Lützelsteiners  verwirklichte. 
Wir  dürfen  von  unserm  Pfalzgrafen  nicht  Abschied  nehmen, 
ohne  vorher  noch  eine  andere  Seite  seiner  Wirksamkeit  für  die 
Hebung  des  Verkehrs  gewürdigt  zu  haben,  nämlich  seine 
Wegebaulen.  i  Auf  diesem  Gebiet  hat  er  wirklich  Anerkennens- 
wertes geleistet.  Eine  wichtige  Veränderung,  welche  sich  1584 
in  seinem  Territorialbesitz  vollzog,  gab  den  Hauptanstoss 
zu  seiner  Thätigkeit  in  dieser  Richtung.  Herzog  Karl  von 
Lothringen  hatte  nämlich  schon  lange  seine  begehrlichen  Blicke 
auf  das  neu  gegründete  Pfalzburg  gerichtet,  das  ihm  sowohl 
zum  Schutze  seines  Landes  wie  als  Einfallsthor  ins  Elsass  von 
grossem  Werte  zu  sein  schien.  Als  nun  Georg  Hans  wieder 
einmal  in  drückender  Geldnot  war  und  ihm  der  Lothringer 
lockende  Anerbietungen  machte,  konnte  er  nicht  widerstehen 
und  verkaufte  die  Stadt,  auf  deren  Emporblühen  er  erst  st» 
grosse  Hoffnungen  gesetzt  hatte,  nebst  Zubehör  für  400  0(K» 
Gulden.  Vergebens  protestierten  die  elsassischen  Stände  und 
die  Angehörigen  des  pfälzischen  Hauses  gegen  die  Veräusserung: 
am  1.  Oktober  1584  wurde  Lothringen  in  den  Besitz  von 
Pfalzburg  nebst  Lülzelburg,  Haselburg,  Wilsberg  etc.  einge- 
wiesen. Eine  Wiedereinlösung  der  Herrschaft,  welche  sich 
Georg  Hans  bis  1588  vorbehalten,  fand  nicht  statt.  Bald  nach- 
her kaufte  der  Pfalzgraf  mit  einem  kleinen  Teile  des  Erlöses, 
nämlich  mit  47000  fl.,  von  der  Familie  Ratsamhausen  die 
reichslehnbare    Herrschaft  Steinthal,  wo   er   schon    seit  einiger 


'   Das  für  diesen  Abschnitt  des  Aufsatzes  benutzte  Material  ent- 
stammt teils  dem  Stadtarchiv  teils  dem  Bezirksarchiv  zu  Strassbnrg 


—     95    — 

Zeit  das  Ber*rreg^al  Ijesass.  Es  scheint,  dass  er  überschwängliche 
Hoffnungen  auf  den  Ertrag  dieser  sonst  sehr  armen  Gebirgs- 
gegend an  Erzen  setzte.  In  Rothau  und  an  einigen  anderen 
Orten  errichtete  er  grosse  Schmelzöfen  und  Eisenhämmer,  und 
das  bisher  so  abgeschiedene  stille  Thal  wurde  der  Mittelpunkt 
eines  lebhaften  Treibens.  Selbst  weiter  abwärts  auf  bischöf- 
lichem Gebiet  bei  Schirmeck  und  sonst  liess  der  Pfalzgraf  nach 
Erzen  graben.  ^  Nun  ergab  es  sich  aber  bald  als  ein  sehr 
lästiger  Uebelstand,  dass  das  Steinthal  nach  aussen  höchst 
mangelhafte  und  ungenügende  Verbindungen  hatte  und  na- 
mentlich von  der  Grafschaft  Lützelstein  her  nur  schwer  oder 
auf  Umwegen  zugänglich  war.  Sollten  die  Rothauer  Bergwerke 
und  Fabrikanlagen  gedeihen,  so  mussten  sie  vor  allem  auf 
guten  fahrbaren  Wegen  vom  Rhein  und  von  Lothringen  her 
zu  erreichen  sein.  Mit  grossem  Eifer  warf  sich  der  Pfalzgraf 
daher  auf  den  Strassenbau.  An  Geldmitteln  fehlte  es  ihm  ji 
zur  Zeit  nicht,  da  er  von  Lothringen  soeben  300000  Gulden 
als  Anzahlung  erhalten  hatte.  Hunderte  von  ArJieitern  wurden 
gleichzeitig  auf  verschiedenen  Strecken  beschäftigt  und  mancher 
sonst  ganz  einsame  Platz  glich  nach  den  Aussagen  von  Augen- 
zeugen mit  den  zahlreichen  Hütten  und  Küchen  einem  förm- 
lichen Feldlager.  Im  Allgemeinen  baute  der  Pfalzgraf  nicht 
ganz  neue  Wege,  sondern  begnügte  sich  mit  der  Verbreiterun^r 
und  Fahrbarmachung  vorhandener  Pfade.  Natürlich  rnussten 
hierfür  namentlich  zu  starke  Steigungen  und  Senkungen  ver- 
mieden werden.  Dies  soll  denn  auch  nach  unparteiischen  Be- 
richten vortrefflich  gelungen  sein.  Einer  Strassburger  Mitteilung 
zufolge  betrug  die  Steigung  der  Strassen  nie  mehr  als  2 — 3 
Fuss  auf  50  Fuss  Länge,  also  höchstens  4 — 6o|o.  Ini  Ganzen 
wurden  die  Wege  derart  verbessert,  dass  eine  Last,  zu  deren 
Beförderung  früher  18  Pferde  nötig  waren,  jetzt  mit  nur 
6  Pferden  bewältigt  werden  konnte. 

Ein  Ueberblick  über  die  Wegebauten  Georg  Johanns  lehrt, 2 
dass  drei  verschiedene  Strassenzüge  zu  unterscheiden  sind, 
welche  alle  mehr  oder  weniger  zur  Erschliessung  des  Stein - 
thals  -bestimmt  scheinen. 

Der  eine  geht  von  Rothau  über  das  Hochfeld  und  den  Odi- 
lienberg  nach  Oberehnheim  und  Barr  unter  Benutzung  de.s 
alten,  noch  heute  begangenen  Weges,  welchen  der  Pfalzgraf 
nur  ausbaute  und  fahrbar  machte.    Er  führt   von  Rothau  nach 


1  Hiernach  ist  die  von  Schöpflin  verbreitete  Meinung,  dass  der 
Bergbau  im  Breuschthal  erst  im  18.  Jahrb.  begonnen  habe,  zu  be- 
richtigen. 

2  Vgl.  die  beiliegende  Kartenskizze. 


—   J^   — 

Schötiberg  (Belmont),  zieht  sich  von  da   auf  das   Hocbfeld  und 

über  die   Höhe  hin  am    Ratsamhauser   Stein    vorbei,  über   die 

früher  «Rotes    Kreuz»,  jetzt    Rotlach   genannte   Lichtung  zum 
Odilienberg  und  hinab  nach  Ottrott  und  Oberehnheini. 

Die  beiden  andern  Strassenzüge  suchen  von  Norden  her 
(Jas  Steinthal  zu  erreichen  und  haben  den  Ort  Haselburg  an 
der  Zorn  zum  Ausgangspunkt.  Von  da  zieht  die  eine  Strasse 
südwestlich  an  den  zum  fothringischen  Plateau  sich  ver- 
flachenden Ausläufern  der  Vogesen  entlang  über  Walscheid, 
Alberschweiler,  St.  Quirin,  Schloss  Türkstein  nach  Chätillon. 
Dann  biegt  der  Weg  in  scharfem  Winkel  südöstlich  nach  Raon 
sur  Pleine  und  unter  dem  Gipfel  des  Donon  vorbei  nach 
Schirmeck  und  Rot  hau.  Etv^'as  näheres  über  die  Anlage  des 
letzten  Teils  dieser  Strecke  ist  nicht  berichtet^  doch  ist  zu  ver- 
muten, dass  der  Weg  im  ganzen  dieselbe  Richtung  einhielt 
wie  die  alte  Römerstrasse  und  die  heutige  Strasse  Raon- 
Schirmeck. 

Die  dritte  Strasse  lallt  auf  der  ersten  Strecke  von  Hasel- 
burg über  Dagsburg  und  die  Steige  nach  Wangenburg  mit  dem 
alten  Wege  zusammen.  ^  Von  Wangenhurg  aus  ging  es  sodann 
auf  den  ((Umwerfe,  einen  hochgelegenen  Punkt,  wo  die  Grenzen 
des  Strassburger  Oedenwalds,  des  bischöflichen  und  Leiningischen 
Gebiets  zusammentrafen.  Allem  Anschein  nach  ist  mit  dieser, 
heute  verschwundenen  Lokalbezeichnung  eine  Wegkreuzuni^ 
auf  der  Höhe  südlich  von  Wangenburg  am  östlichen  Ausläufer 
des  Schneebergs  gemeint^  etwa  die  heute  als  Pandurenplafz 
bekannte  Stelle  oder  der  Standort  des  Forsthauses  Breitlierg 
unweit  der  Försterei  Niedeck.  Von  dort  führten,  wie  aus  den 
Quellen  hervorgeht,  alte  Wege  in  die  verschiedensten  Rich- 
tungen, besonders  nach  Haslach,  Wangenburg,  Westhofen  und 
Marlenheim.  Vom  Umwerf  aus  ging  die  Strasse  bis  in  die 
Nähe  des  Ursteins,  wo  sie  nach  den  Berichten  vom  Novemlier 
und  Dezember  1584  vorläufig  endigte.  Es  bestand  aber  die  be- 
stimmte Absicht,  sie  auf  der  Höhe  hin  südwestlich  weiter  bis 
zum  «Haselsprung»  auszubauen,  d.  h.  bis  zum  Ursprung  des 
Haselthals  zwischen  Grossmann  und  Narion.  Von  dort  —  so 
heisst  es  in  den  Berichten,  —  kann  der  Pfalz^raf  dann  leicht 
ins  Breuschthal,  nach  Oberhaslach,  Wisch,  zu  den  Eisenwerken 
oei  Rothau  oder  durchs  Saarthal  nach  Lothringen  gelangen.  Es 
erhellt  hieraus,  dass  auch  der  heute  kaum  noch  gekannte 
Haselsprung  damals  ein  sehr    wichtiger   Vogesenübergang  war, 


1  Von  der  «Schleife»  ans  beabsichtigte  übrigens  der  Pfalzgraf 
noch  einen  direkten  Weg  nach  dem  RoBskopf  and  dem  Drstein  zu 
bauen.  Ueber  die  Ausführung  verlautet  jedoch  nichts  Bestimmtes. 


KARTE  ZUR  ERLÄUTERUNG 

DER  STRASSENBAUTEN  UND  DES  KANALPROJEKTS 

DES  PFAIZGRAFEN  GEORG  JOHANN. 


d#*       SadrlHU 

^^^^ 

U  ^^^^Atnafa. 

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■^ 


—     97     — 

was  fibrigens  auch  durch  ältere  Zeugnisse  bestätigt  wird.  Mög- 
lich, dass  sogar  schon  zur  Merovingerzeit  ein  Weg  von 
Lothringen  her  durch  das  Saarthal  i'iber  den  Haselsprung  und 
den  um  werf  nach  der  Königspfalz  Marlenheim  führte.  Ob  und 
wie  nun  Georg  Hans  vom  Haselsprung  aus  seine  Strasse 
weiterbaute,  um  zu  seinen  Rothauer  Gruben  und  Schmieden  zu 
kommen,  geht  aus  den  gleichzeitigen  Berichten  nicht  hervor. 
Vermutlich  aber  wird  er  vom  Noilen  aus  dem  uralten,  jetzt 
unler  dem  Namen  des  *  Kohlen  wegs  von  Framont»  bekannten 
Wege  auf  der  Höhe  bis  zum  Donon  gefolgt  sein  und  dort  den 
Anschluss  an  seine  von  Raon  herauflührende  Strasse  erreicht 
haben. 

Alle  diese  Bauten  wurden  vom  Pfalzgrafen  mit  ausser- 
ordentlichem Eifer  und  Nachdruck  betrieben,  so  dass  sie  meist 
in  wenigen  Monaten  vollendet  waren.  Dabei  ist  wohl  zu 
beachten,  dass  sich  die  Wegeanlagen  nicht  blos  auf  die  eigenen 
Territorien  des  Fürsten  beschränkten,  sondern  vielfach  aul 
fremde  Gebiete  übergriflen,  so  besonders  auf  die  Herrschaften 
des  Slrassburger  Bischofs,  der  Grafen  von  Leiningen  und  Salm. 
Obwohl  diese  Herren  nun  mit  dem  Gebahren  ihres  unruhigen 
Nachbarn  keineswegs  einverstanden  waren,  so  vermochten  sie 
sich  doch  zu  keinem  lebhaften  Widerstände  aufzuraffen,  be- 
«fnügten  sich  vielmehr  mit  wiederholten  Drohungen  ^  und  Pro- 
testen. Hätte  Georg  Hans  erst  auf  diplomatischem  W^ege  ihre 
Zustimmung  zu  erlangen  gesucht,  so  wäre  er  bei  der  Zer- 
fahrenheit der  damaligen  Verhältnisse  und  dem  gegenseitigen 
Misstrauen  der  Stände  kaum  jemals  zum  Ziele  gelangt,  während 
jj'erade  die  Unverfrorenheit  seines  Vorgehens  die  Nachbarn  ver- 
blüfft und  ihren  Widerstand  gelähmt  zu  haben  scheint.  Aber 
—  wirfl  man  sagen  -^  wie  war  es  möglich,  dass  die  Stände 
die  ihnen  ohne  Unkosten  gewissermassen  in  den  Schoss  ge- 
worfenen Verkehrserleichterungen  nicht  mit  Freuden  begrüsstea? 
Darauf  ist  nur  zu  erwidern,  dass  die  elsässischen  Stände,  so 
sonderbar  es  scheint,  in  der  That  blos  die  möglichen  Nachteile, 
nicht  aber  den  wirklichen  Nutzen  der  Strassen  bauten  in  Betracht 
zogen.  Es  war  bei  ihnen  nur  eine  Stimme  darüber,  dass  das 
Unternehmen  des  Pfalzgrafen  ebenso  rechtswidrig  wie  nach- 
teilig und  gefährlich  sei:  rechtswidrig,  weil  es  einen  Eingriff  in 
fremde  Gerechtsame  bedeute,  nachteilig  wegen  der  Beschädigung 
von  Wald  und  Flur,  getlihrlich  vor  allen  Dingen,  insofern  da- 
durch  das    Reich    oc fremden     Nationen»    i^eöffnet    werde.     Die 


'  So  äasserte  der  Graf  von  Leiningen  einmal,  er  werde,  wenn 
der  Pfalzgraf  mit  seinen  Strassenbauten  fertig  sei,  wieder  alles  <ver- 
liauen  lassen».  Doch  war  diese  Drohung  kaum  ernst  gemeint. 

7 


—    98    — 

Furcht  vor  feindlichen  Ueberfallen  der  Welschen  war  unl)edingt 
der  Hauptgrund  zur  Opposition,  namentlich  bei  denjenigen 
Ständen,  die  von  den  St rassenan lagen  sonst  nicht  untnittei)>ar 
berührt  wurden.  Man  begreift  dies  übrigens,  wenn  man  die 
allgemeinen  politischen  Verhältnisse  in  Verbind u'^g  mit  der 
zweideutigen  Haltung  des  Pfalzgrafen  erwägt.  Frankreich  war 
zwar  damals  durch  die  Hugenotten  kriege  so  zerrüttet,  dass  es 
an  eine  energische  Aktion  nach  aussen  nicht  denken  konnte ; 
allein  der  Rückschlag  der  heftigen  Parteikämpfe  auf  das  an- 
grenzende Elsass  konnte  doch  nicht  ausbleiben,  und  am  wenigsten 
konnte  sich  der  Lützelsteiner  bei  der  Lage  seines  Fürstentums 
den  lothringischen  und  französischen  Einflüssen  entziehen.  Ob- 
wohl er  seine  Liebe  zum  deutschen  Vaterlande  gern  in  voll- 
tönenden Redensarten  zu  beteuern  pflegte,  hat  er  doch  häulig 
genug  gegen  das  Reichsinteresse  gehandelt,  wobei  dahingestellt 
bleiben  mag,  inwieweit  ihn  die  Not  dazu  drängte.  Wenn  man 
seinen  eignen  Angaben  trauen  wollte,  so  wäre  er  alierdmgs 
nur  durch  die  Lässigkeit  und  Gleichgültigkeit  des  Kaisers  und 
der  Reichsstände  zur  Anlehnung  an  das  Ausland  gezwungen 
worden  ;  doch  ist  er  mit  solchen  Vorwürfen  sehr  schnell  bei 
der  Hand.  Als  beispielsweise  Strassburg  1574  ein  von  ihm  ein- 
gereichtes Gesuch  um  Unterstützung  mit  Geld,  Munition  und 
Proviant  ablehnt,  möchte  er  ohne  weiteres  der  Reich.sstadt  die 
Verantwortung  dafür  aufbürden,  dass  er  sich  mit  Frankreich 
einlassen  müsse.  Thatsache  ist  ferner,  dass  er  1579  und  1580 
im  Verdacht  stand,  mit  den  Franzosen  etwas  gegen  die  elsäs- 
sischen  Stände  im  Schilde  zu  führen  und  an  dem  Plan  einer 
Ueberrumpelung  Strassburgs  beteiligt  zu  sein. 

Unter  solchen  Umständen  ist  es  nicht  zu  verwundern, 
wenn  seine  Strassenbauten  den  Argwohn  erweckten,  es  handle 
sich  darum,  den  Franzosen  den  W^eg  ins  El.sass  zu  bahnen. 
Statt  dass  nun  aber  jeder  in  seinem  Gebiet  sich  den  Unter- 
nehmungen des  Pfalzgrafen  kräftig  widersetzt  hätte,  ei^schöpfle 
man  sich  in  ohnmächtigen  Protesten  und  hielt  Vcsammlungen 
über  Versammlungen  ab,  ohne  jemals  zu  einem  ordentlichen 
Entschlüsse  zu  kommen.  Als  im  Herbst  1584  die  ersten  An- 
fänge der  Wegaulagen  bekannt  wurden,  kam  die  Sache  auf 
dem  unterelsässischen  Ständetage  zu  Schlettstadt  zur  Sprache 
und  man  einigte  sich  glücklich  so  weit,  dass  eine  KommissioD, 
bestehend  aus  je  einem  Abgesandten  des  Bischofs,  der  Stadt 
Strassburg,  der  Ritterschaft,  der  Landvogtei,  des  Stra.ssburger 
Domkapitels  und  der  kleineren  Reichsstädte  am  29.  November 
in  Oberehnheim  zusammentreten  sollte,  um  eine  Okular- 
inspektion der  neuen  Strassen  vorzunehmen.  Diese  Besichtigung' 
rand  wirklich  in  den  Tagen  vom  30.  November  ))is  3.  Dezember- 


-     99     ~ 

stall  und  der  Slrabsburger  Maler  Wendung,  welcher  die  Ge- 
sellschaft begleitete,  fertigte  eine  Skizze  der  Wege  an,  die  aber 
leider  nicht  mehr  vorhanden  ist.  Die  Kommission  ritt  von 
Oberehnbeim  über  den  Odilienberg  und  das  Hochfeld  nach 
Rothau  und  Schirmeck,  von  dort  über  den  Donon  und  Raon-sur- 
Plaine,  Chatillon  nach  St.  Quirin,  sodann  über  Haselburg  nach 
Dagsburg,  von  wo  der  Weg  bis  zum  Urstein  besichtigt  wurde. 
In  Maursmfinster  trennte  sich  dann  die  Gesellsthafl.  Das  Er- 
gebnis der  Ortsbesichligung  war  nicht  dazu  geeignet,  die  Stände 
zu  beruhigen,  so  dass  der  Bischof  noch  in  demselben  Monat 
einen  weiteren  untercisüssischen  Tag  zu  Oberehnbeim  anbe- 
raumte. Hier  erschien  nun  Georg  Hans  in  eigner  Person,  um 
sein  Vorgehen  zu  rechtfertigen  und  seinen  lieben  Nachbarn 
klar  zu  machen,  dass  die  Wegeanlagen  nicht  das  Verderben, 
sondern  den  Vorteil  des  ganzen  Landes  bezweckten,  und  dass 
es  Thorheit  sei  zu  meinen,  das  Land  wurde  dadurch  den  Fran- 
zosen geöffnet.  Wenn  die  Franzosen  ins  Elsass  einfallen  wollten, 
so  hätten  sie  auf  den  alten  Pässen  und  durch  die  Thäler 
bessere  Gelegenheit  dazu  als  auf  seinen  neuen  Strassen,  die 
meist  hoch  über  das  Gebirge  führlen.  Der  Eindruck  seines  per- 
sönlichen Auftretens  und  der  Grad  seiner  Beredtsamkeit  muss 
kein  geringer  gewesen  sein  ;  denn  es  gelang  ihm,  wirklich  die 
Mehrheit  der  Gesandten  in  ihrem  Vorurteil  so  zu  erschüttern, 
dass  die  Angelegenheit  vorläufig  bis  auf  weitere  Ueberlegung 
vertagt  wurde. 

Von  nun  an  halte  der  Pfalzgraf  gewonnenes  Spiel. 
Wenn  auch  noch  immer  einzelne  Unzufriedene  über  die  ^Nege 
murrten  und  sogar  den  Kaiser  zu  einer  Einmischung  gegen 
den  Lutzelsteiner  zu  bewegen  suchten,  so  war  doch  die  Oppo- 
sition nicht  mehr  stark  genug  und  schon  Ende  Januar  1585 
konnte  Georg  Hans  dem  Grafen  von  Leiningen,  einem  seiner 
früheren  Gegner,  triumphierend  schreiben,  er  freue  sich,  dass 
jetzt  fast  alle  Nachbarn  den  Nutzen  seiner  Wegebauten  einge- 
sehen hätten.  ^  Inwieweit  sich  freilich  seine  an  die  neuen 
Strasjsen  gel<nüpften  Erwartungen  bezüglich  des  Aufschwungs 
der  Rothauer  Eisenwerke  erfüllten,  lässt  sich  nicht  feststellen. 
Der  frühzeitige  Tod  des  unternehmungslusiigen  Fürsten  machte 
wohl  auch  diesen  viel  verheissenden  Anfangen  einer  gedeihlichen 


1  Als  bezeichnend  für  die  Sorgfalt,  die  er  seinem  Werke  bis  in 
die  Einzelheiten  hinein  widmete,  will  ich  übrigens  aus  dem  Briefe 
noch  anführen,  dass  er  den  Grafen  bat,  in  der  Berrschaft  Dagsbarg 
au  einigen  besonders  wichtigen  Punkten,  wie  in  Walscheid  und  am 
«Omwerf>,  Wirtshäuser  und  Ausspannungen  anlegen  zu  lassen  and 
die  Änsiedlnng  von  Schmieden  und  Wagnern  zu  begünstigen. 


—     iOO     — 

Entwickelunjif  des  Verkehrs  in  den  Vogesen  ein  jähes  Ende. 
Die  Zeit  war  eben  im  ganzen  noch  nicht  reif  zum  Verständnis 
und  zur  Fortführung  von  Werken,  wie-^^sie  dieser  merkwürdige 
Mann  geplant  und  zum  Teil  in  die  Wege  geleitet  hatte. 

Hat  somit  der  Pfalzgraf  auch  nichts  dauerndes  zum  Nutzen 
des  Landes  geschaffen,  so  verdient  sein  Andenken  doch  immer- 
hin gerade  in  den  Kreisen  des  Vogesenklubs  in  Ehren  gehalten 
zu  werden.  Dass  übrigens  seine  Persönlichkeil  und  sein  Wirken 
auch  den  Zeitgenossen,  welche  ihm  näher  standen,  einen  ti<»fen 
Eindruck  gemacht  haben  muss,  geht  daraus  hervor,  dass  in 
den  Gegenden,  welche  seiner  Herrschaft  unterworfen  waren,  die 
Erinnerung  an  den  «Jörry  Hans»  noch  Jahrhunderte  lang  le- 
bendig geblieben  ist. 


i 


IIl. 
Reichenstein 

oder 

das    alte    Schloss    bei    Reichenweier 

von 

E.  Ensfelder. 


Noch  eine  hohe  Säule  zeugt  von  entschwundner  Pracht. 
Und   diese,   schon  geborsten,  kann  stürzen  Ober  Nacht. 

Uhland. 


u, 


nter  ihren  stolzen  Schwestern,  die  hoch  vom  Berge  in 
Hie  Ebene  herahschauen,  ist  der  bescheidensten  Eine  die  Ruine 
Fleichenstein.  Nur  der  BurgtVied  steht  noch  einsam  im  Walde 
hinter  Reichenweier,  auf  einem  niedrigen  Hügel,  der  kaum 
iiber  die  Thalsohle  sich  erhebt.  Man  muss  schon  genau  mit 
der  Lage  des  Turms  bekannt  sein,  um  ihn  selbst  aus  massiger 
EDtfernung  zu  bemerken.  Wer  dahin  will,  verfolgt,  aus  Reichen- 
weiers  oberem  Thor  tretend,  den  Fahrweg  des  Sembacher  Thals, 
an  dessen  linker  Seite  ein  kaum  ansteigender  Ptad  ihn  in  einer 
Ualbstunde,  erst  durch  Kestenwäldchen,  dann  durch  den  Tannen- 
wald zur  Stätte  fuhrt.  Nur  der  Turm,  an  den  Kanten  vielfach 
abgebröckelt,  unten  von  einem  Schatzgräber  an  zwei  Stellen 
durchbrochen,  ist  erhalten;  rin^rsherum  keine  Spur  mehr  von 
anderm  Mauerwerk  ;  ja  nicht  einmal  der  Platz  zu  solchem  ist 
noch  vorhanden ;  der  konische  Hügel  hat  nur  Raum  für  den 
Turm  und  fallt  steil  ins  Thal  hinab.  Nach  einer  mündlichen 
Ueberlieferung  soll  er  freilich  einst  grösser  gewesen  sein;  ein 
Bergrutsch  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  hätte  die  noch  übrigen 
Schlossteile  samt  dem  Geröll  ins  Thal  hinunter  geführt.  Wie 
dem  auch  sei,  das  Schloss  war  eines  der  mitlelalleriichen  Raub- 


—    102     — 

nesfer  und  seine  Lage  passte  vortrefflich  zum  Handwerk  der 
Ritter  vom  Steigbig.il.  Hinter  einem  Schleier  von  Tannen  ver- 
borj<en,  gewahrt  es  doch  dem  spähenden  Auge  die  Aussicht  auf 
die  Ebene,  und  war  ein  Raabzug  gelungen,  so  konnten  die 
Räuber  mit  ihrer  Deute  beinahe  spurlos  dort  verschwinden. 

Wann  das  Sohloss  erbaut  wurde,  ist  nirgends  gemeldet ; 
der  noch  vorhandene  Tur.n  ist  pentagonal  (siehe  den  Riss  in 
Näliers  Burgen  in  Klsass-Lol bringen  1886,  2.  Heft,  Blatt  i), 
un<l  es  könnte  der  Gedanke  erwachen  aus  diesem  Umstand  auf 
die  Erl)auungszeil  zu  schliessen.  Allein  die  vorhandenen  penta- 
gonalen  Bauten  sind  aus  verschiedenen  Zeiten.  So  der  Bei"g^fried 
der  Spesburg  bei  B.ur ;  so  auch  der  sog.  Diebsturm  der  ersten 
Befestigung  von  Reichenweier  (siehe  den  Riss  eben  dort);  diese 
ist  1291  von  Burkart  I.  von  Horburg  erst  erbaut,  während 
Reichenslein  schon  12(59  zerstört  wurde.  Eher  könnte  noch  die 
Spesburg,  v-elche  schon  1246  durch  Bischof  Heinrich  III.  von 
Strassburg  den  Kdeln  von  Dicka  übergeben  wurde,  mit  unserm 
Schloss  gleichzeilig  sein. 

Die  gesihäftige  S.ige  hat  auch  den  einsamen  Turm  mit 
ihren  Dichtungen  umwoben,  die  freilich  in  unserer  nüchternen 
Zeit  kaum  noch  nacherzählt  werden.  Dem  Schreiber  dieses  sind 
sie  noch  von  alten  Leuten  vor  vielen  Jahren  vorgetragen  worden 
und  da  Slöljers  Sagenbuch  des  Elsass  darüber  schweigt,  so 
mögen  sie  hier  milgeteilt  werden.  Wie  in  den  meisten  alten 
Schlössern,  so  erscheint  auch  hier  all  mitternächtig  eine  weisse 
Dame;  lautlos  steigt  sie  hinunter  ins  Thal,  wäscht  im  Sembach 
einen  blutigen  Schlüsselbund  und  verschwindet  wieder  nach 
vei'geblicher  Arbeit.  Ein  Förster  traf  sie  einst  bei  diesem  Ge- 
schäfte und  rief  sie  an.  «Kommt,  entgegnete  sie,  morgen  zur 
gleichen  Stunde  auf  den  Schlossptad  und  zündet  im  Waide 
zwei  Kienfackeln  an ;  ich  werde  euch  in  eine  Kammer  führen, 
worin  auf  einer  Truhe  ein  schwarzer  Hund  liegt  ;  drückt  mir 
dann  die  Hand  bis  Blut  aus  den  Fingern  spritzt  und  lasst  euch 
durch  das  Heulen  des  Hundes  nicht  erschrecken,  so  werdet  ihr 
mich  erlösen  und  dess  grossen  Reichlhum  haben!»  Der  Mann 
kam  um  Mitternacht  zur  Stelle;  als  er  atjer  im  Walde  die 
Kicnfackeln  anzündete,  siehe!  da  war,  statt  des  Pfades,  ein 
breiter,  gepflasterter  Fahrweg  ;  das  Schloss  stand  in  alter  Pracht 
vor  ihm  und  unter  dem  Thore  winkte  ihm  die  weisse  Dame. 
Nachdem  sie  ihm  befohlen  kein  Wort  zu  sprechen,  fährte  sie 
ihn  in  die  Kammer.  Kaum  aber  hatte  er  begonnen,  die  Hand 
seiner  Führerin  zu  drücken,  so  heulte  der  Hund  so  entsetzlich, 
dass  er  vor  Schreck  die  Hand  fahren  Hess,  worauf  ihm  weinenJ 
die  weisse  Dame  sagte  :  «Nun  muss  ich  wieder  neun  mal  neun- 
undneunzig  Jahre  warten ;    dann  wird  die  Eiche  wachsen,    aus 


—     J03     — 

deren  Breitern  die  Wie^e  für  das  Kindlein  jfezimraert  werden 
soll,  das  mich  als  Mann  erlösen  wird.»  —  In  einer  andern 
Fassung  lautet  die  Sage  melodramatischer  :  In  grauer  Vorzeit 
begab  sich  einmal  ein  Brautpaar  von  Schlettstadt  nach  Colmar; 
beim  Rosenkranz  (heute  ein  Wirtshaus  bei  der  Bennweirer 
Station)  wurde  es  von  den  Reichensteiner  Raubrittern  überfallen. 
Der  Bräutigam  wurde  nach  verzvveifelter  Gegenwehr  erschlagen, 
die  ohninächlige  Braut  aber  nach  dem  Schlosse  verbracht.  Im 
Verliess  ist  sie  gestorben  und  sie  ist's  die  heute  als  weisse 
Dame  erscheint.  Gleichzeitig  mit  dem  oben  erwähnten  Berg- 
rutsch soll  aber  die  Dame  erlöst  sein. 

Die  Geschichte  schweigt  über  die  Schicksale  der  Burg;  sie 
meldet  nur  die  Zerstörung  derselben,  und  auch  diese  in  lako- 
nischer Kürze.  Es  war  in  der  « kaiserlosen,  der  schrecklichen 
Zeil».  Die  Chronik  von  Konigshoven  (edit.  Hegel  I  p.  41)  be- 
richtet darüber  :  «Do  zwischent  in  tulschen  Landen  und  ouch 
anderswo  vil  st  rossen  rouber  worenl  und  ouch  edellüle  vil  uazucht 

und  unlustes  begingent» «Do  trat  kunig  Rudolf  an  sins 

vatter  stat  und  wart  ouch  venr  (Fähnrich,  Bannerträger)  der 
stete  zu  Sirosseburg  und  schuf  dnz  man  in  vorhte  durch  alles 
Klsas  und  Swoben  mit  hilfe  der  stat  zu  Strosseburg.;)  Damals 
sassen  auf  dem  Schlosse  zwei  Brüder,  deren  eigentlicher  Name 
unbekannt  ist,  die  aber  Gieselin  zubenannt  waren,  wohl  weil 
sie  die  Geissei  der  Umgegend  waren;  ihre  Sippe  war  die  Familie 
von  Reirhenstein.  Sie  hatten  wohl  häufige  Anfälle  ausgeführt 
auf  jene  zahlreichen  Handelskarawanen,  die  damals  auf  Rollwagen 
landiiuf  landab  die  Messen  der  rheinischen  Städte  besuchten, 
und  hatten  sich  so  den  Strassburgern  lästig  gemacht.  So  ge- 
schahs,  dass  i2()9  ilie  Strassburger  unter  Anführung  ihres 
Bannerherrn  Rudolf  von  Habsburg,  unterstützt  von  den  Gol- 
marern,  vor  die  Burg  zogen,  sie  brachen  und  die  beiden  Brüder 
gefangen  nahmen.  Was  aus  ihnen  wurde,  ist  nicht  bekannt, 
aber  stählerne  Pfeilspilzen,  die  man  ab  und  zu  in  der  Umgebung 
des  Schlosses  findet,  zeugen  heule  noch  von  jenem  kriegerischen 
Vorgang.  Die  Annalen  der  Dominikaner  von  Golmar  (ed.  Gerard 
et  Liblin  p.  30)  berichten  darüber  ganz  kurz  :  1269.  Comes 
Rudolfus  de  Habsburc  et  cives  Columbarienses  expugnarunt 
castrum  Richenstein  et  ceperunt  duos  dominos  casiri  dictos 
Giselin.  Seit  jener  Zeit  ist  das  Schloss  Ruine;  1356  erlitt  es 
neuen  Schaden  durch  ein  Erdbeben  (Annales  des  Dom.  p.  257) 
und   seitdem  verwittert  es  langsam  im  Winterfrost  und  Sturm. 

Die  Familie  derer  von  Reichenstein  starb  jedenfalls  mit 
jenen  Brüdern  nicht  aus ;  es  gab  selbst  zwei  Familien  dieses 
Namens  im  Elsass,  deren  eine,  Reich  von  Reichenstein 
in  der  Nähe    Basels  angesiedelt  war,  während  die  andere,  ein- 


—     104     — 

fach  von  Reichenstein  genannt,  sporadisch  in  Reichen- 
weier  und  Umgebung  später  auftaucht.  Beide  scheinen  Zweige 
desselben  Stammes  gewesen  zu  sein  ;  wenigstens  ist  nach  dem 
Armorial  d'Alsace  das  beiderseitige  Wappen  ähnlich  :  gueules 
a  deux  fasces  abaissees  d'argent  et  en  chef  un  hon  naissant 
de  m^me,  was  aus  dem  heraldischen  Kauderwelsch  in  ehrliches 
Deutsch  überti'agen  heisst  :  rotes  Wappen  mit  zwei  silljernen 
senkrechten  Binden,  und  darüber  ein  silberner  Löwenkopf. 
Nachstehend  geben  wir  nach  Schöpflin-Ravenez  (IV,  p.  543) 
die  dürftigen  Namen,  die  aus  der  Reichenweirer  Linie  noch 
bekannt  sind. 

In  einem  Dokument  von  1466  über  ein  in  der  Kirche  zu 
Kientzheim  vorgefallenes  Wunder  wird  ein  «Junker  Diebolt  von 
Richenstein»  genannt  (Alsatia  1854)55  p.  285).  Zwei  Junker, 
Michael  und  Ulrich  von  Richenstein  waren  1443  und  1475 
Schultheisse,  ersterer  zu  Kientzheim,  letzterer  zu  Kaysersberg. 
Zu  Kientzheim  wohnte  1449  ein  Johann  von  Richenstein,  während 
jener  Ulrich,  Schultheiss  von  Kaysersberg  auf  Sonntag  Judica 
1440  einen  Bericht  über  den  befürchteten  Einfall  der  Schinder 
(Armagnaken)  absendet.  Anno  1538  finden  wir  einen  Hanss 
Bastian  von  Richenstein  als  Vogt  zu  Reichen weier  und  1597 
wird  Friedrich  Diebolt  von  Richenstein  neben  seiner  Gemahlin 
dementia  von  Pfirt  in  der  Kirche  von  Kientzheim  bestaitet; 
eben  dort  soll  auch  in  der  Kapelle  St.  Felix  und  St.  Regula 
ein  Wolfgang  von  Richenstein  samt  seiner  Gattin  Barbara  von 
Watt  Weiler  ruhen. 

So  weit  gehen  die  geschichtlich  beglaubigten  Thatsachen, 
wel«:he  das  Schloss  und  die  Familie  Reichenstein  betrefl'en  ;  das 
Folgende  beruht  auf  Mutma.ssungen,  die  wir  für  das  ausgeL)en 
was  sie  wert  sein  mögen. 

Wie  alle  Ortschatten  deren  Namen  in  Weiler,  Weier  (oder 
Heim)  endet,    verdankt    auch    Reichenvveier    (Richovilla)  seinen 
Ursprung  einer  Villa,  einem  Bauernhof  um  welchen  herum  die 
Leibeigenen  des  Besitzers  sich  anbauten,  und  mit  der  Zeit  aucli 
solche,    die    zum    Hofe   in    loserem    Dienstverhältnis   standen; 
diese  Höfe  standen  zu  ihrer  Umgebung  in  rechtlich  geregeltem 
Verhältnis    und    hiessen    bekanntlich  DingliÖfe.    Noch  ist  heut*» 
an  den    Zinnen    welche    das  Eingangsthor    krönen,    dieser  Hof 
kenntlich    (Haus  des  Herrn  Alb.  Birckel) ;  von  den  Oekonomie- 
gebauden  die  dazu    gehörten  hat  nur  Eines    seinen  Namen  be- 
halten,    der  Marslall    (im    Volksmunde   der    Marktstall,    Herrn 
Mequillet    gehörig).    Auf  dem  Hof  wohnte  wohl  zur  fiankiarheii 
Zeit  ein  freier    Bauer,    Richo  genannt,    den  fruchtbaren    Boden 
ausnützend,    der  hauptsächlich  für    Rebbau  geeignet  ist;    schon 
seil  Kaiser    Probus    wurde   ja   der  Weinstock    im  Elsass  ange- 


—     105     — 

pflanzt.  Sein  Besitz  war  ohne  Zweifel  königliches  Lehen  ;  denn 
das  Land    rings    herum  war   salische   Erde,   d.  h.    unmittelbar 
königliches  Eigentum.    Noch    heute  weisen    etliche   Namen  auf 
diesen  Umstand  hin  :  Selhurg,   Seiacker.   Selthal  (im  Volks- 
inund  Zilthal  oder  Zieltünnei).  Hof  und  Bann  waren  im  9.  Jahr- 
hundert   im  Genüsse   des  Strassburger    Bischofs  Richwin,    und 
bildeten    einen    Teil    der    Wilkisowe,    der    spätem    Grafschaft 
Horburg.    In   der    Folgezeit    kamen    sie  unter    die  Grafen    von 
Egisheim-Dagsburg,    die    1094   der   Abtei   zum    heil.   Kreuz   zu 
Woffenheim   Landereien    zu   «Richovilre»    schenkten    (Schöpftin 
Als.  Dipl.  II  p.  132).    Ihnen  folgten    die  Grafen    von  Horburg, 
die  ihr  Land  1324  an  den  Grafen  Ulrich  von  Würtemberg  ver- 
kauften.   Einen  Beweis,    dass   damals   schon   der   Weinbau   zu 
Reichenweier   betrieben  wurde,    bieten  die    Ereignisse   die  sich 
^n    diesen  Verkauf   anschliessen.    Graf  Ulrich   musste  nämlich 
seinen  Erwerb  mit  den  Waffen  wider  den  Bisctiof  von   Strass- 
burg,     Berthold    von    Bucheck    verleidigen.     Die    Bischöflichen 
drangen  in   das  Städtlein  ein  und    tranken  einen  Teil  des  vor- 
rätigen Weins  ;  der  Ueberrest  wurde  in  die  Keller  des  Bischofs 
verbracht.  In  diesen  wirren  Zeilen  ist  wohl  Reichenstein  erbaut; 
der    Bauer   hatte    so    einen    altvererbten    Hof   zum  Anbau    des 
Landes  (Richovilla)  und  eine  Zunuchtsslatte  im  Wald  bei  feind- 
lichem Ueberfalle  (Richopitra).  Was  ursprünglich  zu  Schutz  und 
Schirm  erbaut  war,    wurde  später   ein  Raubnest    und    aus   der 
freien  Bauernfamilie  entsprossen   jene  Raubritter,  die  den  Ver- 
fall der  Burg  herbeizogen,  während  mit  der  Zeit  aus  dem  Hof 
ein  wohlhabendes  Städtchen  wurde. 


IV. 

Das   napoleonische  Wappen 
von  Strassburg. 

Von 

A.  Schricker. 

Das  altehrwürdige  Wappen  von  Strassburj?,  mit  dem 
roten  Querbalken  im  weissen  Feld,  über  de.*5sen  künstlerische 
Umformungen  im  Laufe  der  Zeiten  uns  Ferdinand  Reiber  eine 
schätzenswerte  Arbeit  gej^eben  hat,  war  in  den  Zeilen  der 
grossen  Uinwülzungen  am  Anfang  des  Jahrhunderts  ernstlich 
in  seiner  Geltung  als  Wahrzeichen  der  Stadt  bedroht. 

Durch  ein  Dekret  des  Kaisers  Napoleon  vom  19.  Mai  1809 
war  bestimmt  worden,  dass  sich  die  Städte,  Gemeinden  und 
Korporationen,  welche  Wappenbriefe  zu  erhalten  wünschte«, 
nach  gehörijjer  Genehmigung  der  Aufsichtsbehörden  an  den 
Erzkanzler    des  Kaiserreichs  Le  Prince  zu  wenden  halten. 

Am  '11.  November  1809  hielt  der  Gemeinderat  von  Slrass- 
burg  hierüber  Beratung.  Anwesend  waren  bei  derselben  und 
dem  Beschluss  ein  neues  Wappen  für  die  Stadt  zu  verlangen 
der  Maire  Wangen  und  die  Gemeinderäte  Lotzbek,  Hecht» 
Zollikofer,  Chastelain,  Richard,  Fourouge,  Walter,  Klein,  Dill- 
mann, Ehrmann,  Pousset,  Renouard-Bussiere,  Scherlz,  Saum, 
Magnus,  Kolb,  Menuel,  iMarono,  Marcbai,  Heilz,  Gau,  Hiruchet, 
Jacoud. 


—     107     — 

Der  Beschluss  wurde  <turch  die  vorgeseUte  Behörde  büstäligl, 
und  der  folgende  Maire  Bi-;(ckenhorer  wendete  sich  an  das 
kaiserliche  Herold^-aml,  worauf  durch  kai^rliches  Dekret,  ge- 
lben in  St.  Cloud  arn  2.  Au^fust  1811  der  «g:ulen  Stadt  Strasä- 
burgB  die  Genehm i;;uo;:  erteilt  wurde,  das  also  beschriebene 
und    hier    abi;ebilde(e    Wappen    zu  tuhren  :     Ein    dunkelblaues 


Feld  durchzoi^en  von  Goldverzierunjf  mit  einem  Schrägbalken 
in  Silber,  darüber  der  fiir  die  Slädte  des  Kaiserreichs  gemein- 
same rote  Streifen  mit  drei  ^'oldnen  Dienen.  Die  Aussenver- 
zierun>r  sohle  bestehen  in  einer  Mauerkrone  mit  sieben  Zinnen, 
überragt  von  einem  aufsteigenden  Adler.  Zwischen  Wappen  und 
Mauerkrone  ein  Merkujslah  (Caduceus)  an  welchem  zwei  Laiib- 
gewinde  in  Gold  (Kestons)  aufgehängt  sind  ;  der  zur  (heraldischen) 
Rechten  von  Eichenlaub,  der  zur  Linken  von  Oelzweij^en, 
beide  umwunden  und  fe.sigehallen  durch  rote  Bänder. 

In  der  motlerneii  Abteilung  des  Studiarchivs,  dem  wir  diese 
Noliz  entnehmen,  findet  sich  auch  das  Schreiben  einer  Band- 
wirkerUrnia  (Frferes  Liice)  von  Paris  vom  i.  Juni  1812  an  den 
Maire  Brackenhofer,  mit  welchem  das  Muster  der  für  die 
Dienst bekleidun;;  notijren  Bandstreifen  übersendet  wird.  Da 
das  Wappen  mit  Zubehör  für  den  Halsslreifen  von  ca  6  cm. 
Höhe  zu  klein  geworden  wäre,  so  legte  man  das  Wappenschild 
in  die  Breite,    Hess  darauf  den  Caduceus   und    die  Mauerkrone 


—    108    — 

mit  dem  Adler  folgen  und  setzte  oben  und  unten  die  Laubge- 
winde, was    einen  komischen   Eindruck  hervorbringt. 

Die  Anwendung  des  Wappens  scheint  nach  dem  Zusammen- 
sturz des  napoleonischen  Regiments  in  aller  Stille  eingestellt 
worden  zu  sein.  Wir  bemerken  keine  weiteren  Spuren.  Das 
alte  Strassburger  Wappen  trat  auch  offiziell  wieder  in  Gebrauch. 

Interessant  ist  es,  dass  in  dem  «Dictionnaire  topographique 
etc.  du  Haut  et  du  Bas  Rhin»  von  Baquol  Ristelhuber  1865 
PI.  1  das  Wappen  von  Colmar  zwar  ohne  den  Streifen  mit 
den  drei  Bienen,  aber  noch  mit  dem  liegenden  Caduceus,  der 
Mauerkrone  (diese  ohne  den  Adler)  und  den  Laubgewinden  er- 
scheint, während  Strassburg  sein  altes  Wappenschild  mit  der 
Helmzier  und  den  beiden  Löwen  zeigt. 


Notizen 


eines   Strassbiirger  Bürgers    um    162o. 

Mitgeteilt   von 

E.  Martin. 

Auf  dem  Strassburger  Stadtarchiv  befindet  sich  ein  Gon- 
volut  von  Papieren,  meist  in  Folio,  auf  welches  mich  Herr 
Stadtarchivar  Dr.  Winckelmann  freundlichst  aufmerksam  machte. 
Diese  Papiere  sind  von  oder  für  Lorenz  Fritsch,  Glaser  zu  Strass- 
burg,  geschrieben,  in  den  ersten  Decennien  des  17.  Jahrhunderts, 
bis  1628  etwa.  Sie  enthalten  in  einem  merkwürdigen  Durch- 
einander allerhand  Aufzeichnungen  des  schreiblustigen  Glaser- 
meisters :  Processacten,  Recepte  für  Speisen  und  Arzneien,  auch 
«von  heimlichen  Künsten»  (Alcbymie),  chronikalische 
und  Tagebuchnotizen,  nachgeschriebene  Predigten,  Lieder  u.  s.  w. 
Man  ersieht  daraus,  dass  Fritsch  d613  zum  Obermeister  erwählt 
wurde.  Vom  Februar  1607  stammt  ein  Liebesbrief  in  Versen, 
übrigens  unbedeutend  ;  1616  wird  er  von  seiner  ehebrecherischen 
Frau  Maria  geschieden ;  1628  setzt  er  w^ieder  eine  «Abredt  an 
meine  Hochzeiterin»  auf,  worin  er  dieser,  einer  Barbara  N.  von 
Augspurg,  ihre  künftigen  Pflichten  ziemlich  streng  einschärft : 
«ob  sie  Gott  und  sein  heiliges  Wort  .  .  will  fleissig  besuchen?  .  . 
ob  sie  auch  verschwiegen  ?  .  .  und  weil  sie  als  ein  alt  gestandes 
Mensch  mich  genommen  .  .»  so  übergibt  er  ihr  die  Morgengabe 
nur   unter   Voraussetzung   ihres   Wohl  Verhaltens.    In   jüngeren 


—     110     — 

Jahren  ist  er  selbst  auf  grosse  Bciuernhochzeiten  hinausgezogen, 
war  lustig  und  kriegte  Prügel,  was  alles  sehr  naiv  vermerkt 
wird. 

Des  Abdrucks  wert  scheinen  mir  I.  Wetterregeln  und  Ge- 
bräuche durch  das  Jahr,  II.  Tierstimmen  und  Volkswilze. 


I 


SprüchT?vörter,  ^welches  die   vor  zelten  vil  aufif 

gehalten  haben. 

Zwölfftag  nach  Weinachten  helt  man  für  die  12  Monath, 
vur  ieglicher  tag  vor  ein  Monat,  der  Christag  für  den  Jenner, 
Steffanstag  für  den  Februarij,  so  fortan  gehalten,  auch  stelt 
man  in  der  Christnacht  12  Zwibelschallen  mit  Sallz,  und  wird 
auch  ein  iede  Schall  für  ein  Monnath  aussgesprochen,  und  in 
welcher  schallen  daz  Saltz  schmeltzt,  und  zu  wasser  wirdt, 
bedeüt  der  selbige  Monnath  ganlz  nass.  Auch  merckt  man  in 
diser  Chiistnacht,  und  sunderlich  zwischen  11  und  12  Uhren, 
uff  den  Hannenschrey,  und  so  offt  der  Han  in  diser  Stundt 
schreyt,  so  vil  Schilling  soll  ein  fl  [viertel]  weytz  kosten  dz 
selbige  Jahr  über,  auch  fangt  man  uff  Thomas  tag  an  bey  den 
weissbecken  hie  Stollbredt  biss  uff  den  Sonlag  als  der  H.  Am- 
meister  umbzufahren  pflegt  zu  bachen.  Uff  den  h.  Dreikönigstag 
pflegen  sie  Königskuchen  zu  bacben,  und  in  einem  ied wedern 
Kuchen  steckt  ein  Bohne,  und  wer  dan  dieselbige  bekompt  der 
wirdt  für  ein  König  gehalten.  Mann  macht  auch  uff  ander 
vielerley  art  Kunigreiche.  Uff  Pauli  Bekehrung  streylen  die 
windt  mit  einander  und  wann  der  oberwindt  dz  feit  erhalt, 
so  sagt  man,  es  gebe  gar  nasse  Johr,  und  wann  es  der  nider- 
windt  gewindt,  der  soll  2  wecken  für  1  ^  wehen,  dz  bedeul 
ein  gut  Jahr. 

F  eb  r  uar  i  i. 

Wann  die  Sonn  uff  Liechtmes  dem  pfaffen  uff  den  Altar 
scheint,  so  schleyfft  der  Bar  wider  ins  Loch  oder  höhle.  Auch 
fragt  ein  gut  gesell  den  andern,  wa  hastu  dich  den  winder 
über  gehalten  ?  Uff  Valentin  pflegen  die  Störeken  wider  zu  uns 
zu  komen.  Peter  Stuolfeyer  soll  uns  den  Fröheling  bringen. 
Mathis  findt  er  eyss,  so  bricht  Eyss,  findt  er  aber  kein  Eyss, 
so  macht  er  Eyss.  Man  sagt  auch,  zu  Fassnacht  soll  man  die 
Küchlein  hinderm  offen,  und  zu  ostern  die  Fladen  an  der  Söhnen 
essen.    Dz  ist,   es  ist  nit  gut  dz  zu  fassnacht  warm,  und  umb 


—   111    — 

Ostern  kalt  ist,  auch  wenn  die  Lerch  zu  frühe  vor  der  Liecht- 
mess  singt,  so  soll  sie  so  lang  nach  Jörgenta((  still  schwigen.  In 
disem  Moni  soll  man  schon  Hornungsblumen  finden. 

Ma  r  ti  i. 

Man  spricht,   die  Mertzen    blühet   sey  gar  nit  gut,    Appril 
blühet  hab  her  s|»ut  [I.  horspuot  ,gelingen' ?],  und  die  Meybiühet 
gar  gut.   LJIT  Gertrudis  können  die  schwalben.  In  diesem  Monath 
und  sunderlich  ufT  gerdrutis  ist  gut   zu  Mertzen  [?],  sollen   die 
schaben    oder  würm  nicht   in  gewandt  o<ier   kleidung  kohmen. 
Vor  dem  frau  tag  sollen  die  Bewm  gesetzt  sein.  Dann  man  sagt 
vor  frawen  tag  Born,    nach  frawentag  Bömlen.  Auch  sagt  man 
wann  man  hört  am  Abent  die  Fröschen  singen  im  angehenden 
Früheling,    bedeut   den   fclgenden   tag   schönes   und  wann    der 
iiimmel  am  abend  hirschrolh  ist,  bedeut  schön,  und  der  Nebel 
utr  der  Erden  bleibt,  ist  auch  schön.    Hergegen  wann  sich  der 
Nebel  über   sich  zeihet,    die  Schwalben    ulF  der  Erden   herum- 
fliegen   und    mann    den    Meüsskönig   oder   zaunschlüpfTer    hört 
singen,    sich    die   gänss    Enden    Baden,    und    die    hundt   grass 
fressen,    die    wasser   oder   Mistlachen   grien   werden,    und   der 
himel  am   moi'gen  roth  ist,    so  regts  gern,    auch  der  speck  im 
Rauch,    und  dz   Saltz   anfangt  zu    frieflen  [?],   so  ists   auch  ein 
anzeigung  eins  regen,   sonderlich  aber  wan  der  Beinwindt  am 
himel  ist,    hats  macht  in  9  Stunden  zu  regnen.    Der   Mertzen- 
staub,  wie  man  sagt,    ist  gross  Goldls  werth.    UfT  dz    Mertzen 
eyss  helt  man  viel  wie  auch  ufT  die   Mertzenvieloten.  3  Donder- 
tag gebad    nach   einander   im  mertz   soll   so    gut    sein   als   ein 
ßadenfarlh.    Man  bacht  auch  die   fassnacht  biss  ufT  Ostern  ge- 
saUzenen  Kuchen. 

App  r  i  1  is. 

Am  ersten  tag  des  Appril  schickt  man  die  Narren  wohin 
man  will.  Man  sagt  auch,  er  sey  nie  so  gut,  er  sehne wt  dem 
hirten  ufT  den  hut.  AufT  den  H.  Ostertag  hat  mans  nit  gern 
dz  es  regnet.  Dann  es  soll  dz  zweit  theil  an  der  fruchten 
verschwinden  und  so  es  am  pfinstag  regnet  soll  dz  3.  theil  an 
der  fruchten  widerkomen.  ein  ey  dz  am  grünen  Donerstags 
gelegt  würt,  soll  gut  für  den  Donderstrall  sein.  Dz  ey  bleibt 
auch  ein  gantzes  Johr  frisch  und  gut.  Sey  ein  Ey  uff  den 
H.  Ostertag  hart,  schölle  es  und  schneid  die  beeden  spitzen  oben 
und  unden  ab  und  bindte  es  in  ein  weiss  tüchlein  und  henke 
es  fein  gradt  übern  tisch  alles  in  diser  Stunden  von  11.  bis  12. 
und  lass  henken  bis  am  pfingstag,  thue  es  than  widerumb  in 
disser  stunden  herunder,  so  ist  es  ein  glässlein  darauss  worden. 


—     1 1"2     — 

thue   darnach  den  Totter    darauss,    dz    gläslin    ist    denen  sehr 
nutzlich  zerslossen,  so  an  den  güchlern  liegen.    Item,  wann  es 
viel  Meyküffer  gibt,  hell  man  es  auch  für  gute  Jahr.  Dz  Steio- 
obs  hats   ;^ern  kiel  und  die   frucht  sampt  dem  wein    hats  gern 
warm.    Es  soll  auch    dz    körn    uff  S.  Jürgentag   in  arren  gehii 
und  die  blühet  von  kohrnaren  abgestreift  und  gessen  unberuoffen 
soll  gut  für  dz  Heber   sein.    Item    man    sagt,    wann  dz    Manna 
oder  himelsthaw  uff  dz  Kohrn    feit,    oder   dz  Kohrn    schwarze 
ange    körne    hat,    bedeüt     dz    es  gar  schülzig    sein    solle.  l)z 
körn  soll  auch  in  24.  Stunden  verblüht  haben.  Item  der  weylzen 
und  der  wein  sollen  mit  einander  blühen.  Item  wann  der  holder 
wol   geralh,    soll   der  wein    auch    woll   gerathen,    allein   dz  es 
umb  dieselbige  zeit  gern  erste  gar  kalte  lieyffen  gibt,    die  raan 
nit   gern    sieht  und  man  alle  zeit    hoITnung   hat,    wan   Jörgen, 
Marx  und  Philipp  und  Jacobi  und  der  erste  mey  tag    vor  über 
seindt,  hofft  man  der  werme.  Man  sagt  wann  einer  ein  Laub- 
fröschele  in  der  handt  lasset  sterben,  oder  bindt  es  ein,  in  ein 
dichlin  und  henkt  es  an  halss  und  am  9.  tag  mu.ss  er  dasselbige 
wider  heraber  thun  in  der  selbigen  Stund,  wie  er  es  an  gehenckt 
hat,    soll   dz  lieber  vertreit^en,    wie   dann   auch   dz   Schlangen- 
pulver sol  dz   giflt  vertreiben.    Item   dess  Maul  werffers  rechter 
fuss  von  einer  reinen  Junggesellen  oder  Junckfrawen  abgebissen 
und    mit  Silber  inngefasst    soll    zu    weissnilwz    brauchen    sein. 
D essgleichen    dz   rechte    hörn  vom  Schrödter    abgebrochen  und 
mit  Silber  inngefasst,    soll  zu  vilen    Sachen  nutz  und  gut  sein, 
und  im   gegentheil    aber   gibts   auch   allerhandt  üngezüffer  im 
Veldt  dz   beides  den  Bäumen  und  dann  dem  gelraydte   grossen 
Schaden  zufiegen.  Als  die  gütTtige  Ruhen,  welche  dz    meistetheil 
von  dem  Miltawen    herwachssen.    Dz  seindt  die  Miltawe,  wann 
die  Son  scheint  und  darein  regnet.  Darnach  die  grossen  Bremmen, 
welche    deren  9.  ein  Ross    können  töden,    darnach    die  Rieger. 
Wo  disses   Ihier  gespiert  wirdt  im  feldt  (ist  etwz  grösser  dann 
ein  hornüssel  oder  Breme),  so  sollen  ehe  9.  uflug  im  feldt  haben 
und  still    stehen  und  dem  thier  zu    eylen  und  dz  selbige  umli- 
bringen.  Item  auch  die  Kornfahrlen  und  Maulwerffer,  züssemüs«, 
Jüglen,    welche    allesampt   schädlich    sindl.    Es    sind    auch    die 
Nussbaum  und  reben  die  zartesten  im  früheling,  wann  man  die 
reyffen  und  Kälte  spürt,    so  sieht  maus  am  ersten  an  inen  an 
Und  am  Kahrfreitag  kombt  der  Gukgauch. 

Vom    Meyenn. 

Man  hat  den  Mey  gern  kiel  und  nass,  der  füllt  kisten  und 
fass.  Rem  der  Mey  tag  ist  ein  stattlich  wasser.  Item  der  Schilken 
messtage  feit  alle   Zeit  den  uff  den  nächsten  sontag    nach  dem 


—    413    — 

heyli^en  creutztage.  Item  ufT  Urbanus  helt  man  vil,  wann  es 
schön  ist,  sunderlich  die  ßappitsten,  die  tragen  den  Urban  umb 
den  ßan,  bleibts  schön^  so  vereren  sie  ime  gewaltig,  regnts 
aber,  so  werffts  in  in  bach  oder  brunnen  zur  Anzeigung  dz  der 
wein  nicht  gar  wol  möchte  gerathen.  Item  man  helt  sehr  vil 
uff  dz  Meybaden.  Am  Uffartstag  verlegt  man  die  hamen 
(=:hammen  Schinken?)  und  vil  andere  schleckbisslen.  Da  würt 
dann  ohn  allen  zweiffei  manche  ham  verlegt  unerlicher  weiss 
dz  ubers  Jahr  wol  zwo  oder  mehr  darauss  werden.  Auch  be- 
reiten die  alten  verlohren  milch  zuger  und  kalte  milchbrocken, 
wie  dan  zu  ostern  die  Oster  eyer,  welche  grüen,  gelb,  roth, 
schwartz  und  blau,  und  andere  art  geferbt  werden.  Also  ist 
auch  in  der  wuchen  nach  ostern  der  Krammitwuch  gehalten. 
Da  aller  handt  viel  für  die  jungen  leut  seindt.  Der  Urban  soll 
uns  den  Sommer  bringen  und  Gregory  im  Mertzen  und  dz 
Greutz  erhöhungstag  im  Herbstmont  sollen  tag  und  nacht  gleich 
sein,  oder  wie  die  alten  sagen,  wann  die  pfirsching  blühen  und 
zeulig  seindt,   ists  auch  also. 


Vom  Br  ach  mo  n  n  ath. 

Uff  Medardus  sihet  man  gar  nit  gern  daz  es  drauff  regnet, 
dann  die  sagen,  dzes  4.  wuchen  stehts  nacheinander  reget,  aber 
es  [1.  es  ist]  falsch  ich  habs  nit  also  funden,  also  soll  man  in  kein 
Bethseucher  mehr  heissen.  Dessgleichen  uff  Johanni  sols  auch 
nit  regnen.  Dann  der  huren  Eker  [?]  daz  seindt  die  hassel 
nussel  nussen  verderben.  Am  gemelten  tag  soll  der  Bruoder- 
bierolff  kohmen,  Inn  den  Sommer  Monaten,  als  Junii,  Julii, 
Augustij  und  September  regiert  die  roth  rühr  gern  von  wegen 
des  Naschobs.  Uff  Uhlrichs  tag  ist  unser  Johannismess  am 
grossesten,  hebt  auch  an  gemeiniglich  zu  schneiden  und  die 
£rnden  ein  zu  bringen.  Und  die  Storeken  fliegen  umb  Jacobi 
wider  hinweg,  die  Schwalben  umb  Michaelystage.  Man  sagt  zu 
den  jenigen  so  im  angehenden  frühling  der  Sonnen  nach  schlief- 
fen,  du  schleiffest  eben  der  sonen  nach  wie  ein  Rögelesser[?], 
dann  der  selbig  legt  sich  miten  in  die  Strass  oder  pfadt,  wo 
er  nit  von  den  fürübergehenten  nit  vertrieben  wirdt.  Man  pflegt 
auch  zu  sagen,  der  faulentz  wil  knecht  an  nemen,  welches  dann 
auff  die  warme  zeit  geredt  ist,  dz  iederman  gar  treg  zu  der 
arbeit  ist,  und  ist  wahr.  Dann  ichs  erfaren  hab  zu  meiner 
Zeit,  dz  ich  nit  der  geringste  bin  darunter  gewessen.  Uff 
Lohren tz  soll  man  schon  den  hanff  schicken  gen  Meintz.  Man 
badt  auch  in  der  Johanny  nacht  die  gantze  nacht  hindurch,  so 
[1.  sol]  als  gut  sein  als  ein  badenfart. 

8 


—    114    — 

Augustij. 

Barlholomeus  brinjrt  uns  den  herbst,  wie  man  sagl,  so  ist 
er  der  erste  winderheilig:en.  Zu  Adolft'i  soll  man  aller  erste 
luegen  ob  die  nussen  auch  schon  gut  sein.  Uff  oder  umb  disse 
zeit  könen  die  Rebleut  schon  sagen,  wie  vil  wein  ein  jeder 
machen  würdt  im  Herbst   ungefehr  biss  uff  i.  oder  2  ohmen. 

S  ep  t  e  m  br  i  s. 

Mann  sagt,  so  vil  Reyffen  dz  vor  St.  Michels  tag  fallen, 
80  vil  sollen  auch  nach  St.  Jörgen  tag  fallen.  Item  St.  Batl, 
Iregt  schon  dz  holtz  oder  ruben  in  Stall.  Dann  gemeiniglich 
umb  disse  zeit  wirdt  dz  feldl  getreten  und  umb  Michelstag 
schon  wider  mit  frucht  gesegt.  Man  hats  auch  gern  im  sept. 
schön  trucken. 

October    und  Novembris. 

Uff  Martiny  bacht  man  hie  Brethslellen,  in  der  Johanistness 
bacht  man  Messtagwecken.  Durffen  frönibht  und  heimisch  Lie 
feil  haben.  Auch  pflegt  man  die  Mardesgantz  mit  einander  zu 
verzehren  und  auss  vilen  stifften  ist  es  von  altershero  gebrauch- 
lich und  geordnet  worden  den  handwercksleuten  so  in  solche 
ördt  arbeiten  und  andern  frömden  die  Mardtsgantz,  etwan  ein 
Capaunen  oder  Fleschen  weins  mit  einem  höltzernen  Becher 
zu  verehren  oder  mit  andern  Sachen  zu  begaben,  also  auch  zu 
weinachten  und  zu  andern  festzeiten.  Die  Alten  sagen,  dz  ein 
iede  Muck  an  St.  Jacobi  halb  neunde  soll  kohmen.  Es  pflegen 
auch  die  weibsbilder,  und  sonderlich  die  ledige  personen,  sich 
uff  St.  Anderes  nacht  ungebätt  nider  schlaffen  zu  gehen,  mit 
dem  erbieten,  es  soll  in  ihr  Buel  in  eygner  gestalt,  den  sie  ins 
künftige  zum  Ehegemahl  bekomen  wQrdt,  erschinen.  Aber  ich 
meine,  es  möchte  wol  der  Teuf  fei  inen  ein  solchen  Launen 
machen,    weil    kein    gebet  da    ist.    U.   Clementz   soll    uns   den 


winder  bringen. 


Decembris. 


Uff  Nicolay  und  zu  weinnachten  pflegt  dz  Christkindlein 
umb  zu  fahren,  (es  seindt  aber  nur  der  Kinder  ihre  Eltern). 
Die  dann  allerley  specerey  und  andere  Sachen  einkauffen,  und 
es  dann  bey  der  nacht  so  die  Kinder  im  schlaff  seindt,  in  die 
Körb,  Schüsseln  und  schuch,  und  in  andere  Sachen  legen,  die 
Kinder  damit  zu  erfreyen.  Auch  pflegt  man  vor  weinna«*iiten 
dz  weltliche  Regiment  uff  allen  Zünfften  zu  verendern  und  zii 
ergentzen,    wan  etwa  davon  abgangen  seindt  und  am  nechslen 


—    115    — 

Mitwuchen  zu  Nacht,  nach  dem  h.  7.  tag  dz  ist  der  Newe 
Jarstag  ist  die  Churnacht,  und  dann  am  Donerstag  hernacher 
macht  man  uff  allen  Zinfften  den  Zünfftmeisler. 

Dz   sei  genug   von  den  Alten  gesagt  uff  dissmal,  sovil  als 
ii'h  mich  hab  wissen  zu  erinnern  und  in  erfahrung  hab  bringen 


mögen. 


II. 


[Tierstimmen  und  Volkswitze.] 

Der  Han  schreuwet  oder  krähet,  i  , Christus  ist  gebohren% 
Die  Kuh  schreyet  ,wu,  wu%  Die  Geyss  schreyet  ,zu  Betlehem*. 

Der  Schwalm  singt,  wann  er  schier  wil  wegfliegen,  ,wann 
ich  wegflüg,  wann  ich  wegflug,  ist  Kisten  und  Keller  voll, 
wann  ich  widerkom,   wann  ich  widerkom,  so  ists   alles  lehrr'. 

Der  GoUhammer  singt,  ,fischer,  fischer,  ists  schüffei  dein^, 
Der  Bruder  Pierolff  schreyt,  ,es  gilt  ein  creutzer  mir  und  dir 
auff  Ex/  Der  Guckguck  schreyet  (aber  nicht  alle)  ,Schuch, 
Schuch',  Die  Mäuss  singt  ,flückte  dich,  Bub,  flickte  dich,  Bub, 
die  Zeit  ist  do,  die  Zeit  ist  do'.  Die  Lerch  singt  im  auffliegen 
,Nit  schwören,  nit  schwören',  aber  im  herunderfliegen  singt 
sie  ,Sacrament,  Sacrament'.  Der  schwartz  Bab  schreyet  ,grob 
grob  grob^  Der  Fink  singt  ,drinck,  drinck,  drinck'. 

Ich  wolt  dz  ich  het  der  Venediger  macht  und  den  Augs- 
purger pracht  und  der  Nürnberger  witz,  dz  Strassburger 
geschütz  und  dz  Ulmer  Gelt,  darzu  auch  dz  Braunschweiger 
Veldt,  so  wer  ich  der  reichst  in  diser  weit. 

Wann  ich  het  dz  Keysserthumb  und  het  dz  Bapstthum  in 
einer  Summ,  und  wer  Venedig  mein,  het  auch  den  Zohl  an 
dem  Rein,  so  köndt  ich  immerdar  lustig  sein. 

Zu  Franckfurt  an  der  Oder 

schlugen  sich  ein  Kürschner  und  ein  Bader, 

darza  kam  ein  Birstenbinder, 

Hilff  Gott,  wie  schlugen  sie  den  (1.  sich  die?)  Katzenschinder. 


1  In  der  Weibnacht,  wenn  die  Tiere  auch  Sprache  erhalten. 
Vgl.  Simrock,  Das  deutsche  Kinderbuch  S.  173,  und  zu  dem  Uebrigen 
Wackemagel,  Voces  Yariae  Animantium,  Basel  1867. 


—    416    — 

An  diser  gemellten  Stett  pforten  henckt  ein  grosser  Schlägel 
und  darbey  disen  nachfolgenden  Reimen  geschriben,  , welch 
Vatter  gibt  seinen  Kindern  dz  Brodt  und  er  stirbt  nachmals 
hungers  noth,  den  schlegt  man  mit  dem  Kuli  zu  todt^ 

Welcher  zeugt  durch  Pollen  ohn  gefangen  und  durch 
Störgert  [Stargard?]  ohn  gehangen  und  durch  die  Schlössien 
ohngefreyt^  der  kan  sagen  von  einer  guten  Heut. 

Item  ein  PoU  und  ein  Böhm^  die  haben  niemand  lieb,  und 
wann  der  Unger  darzu  kompt,  seind  es  nicht  3  rechte  dieb? 


VI. 


Elsässische  Litteratur 

zur  Zeit  Gottscheds 


von 


E.  Martin. 

In  diesem  Jahrbuch  IV  S.  58  f.  habe  ich  über  die  Strass- 
burger  Dichterin,  Frau  Professor  Katharina  Salonie  Linck,  ein^ 
Tante  der  Brüder  Oberlin,  gehandelt,  die  namentlich. durch  die 
Uebersetzung  von  Corneilles  Polyeukt  1727  sich  die  Anerkennung 
ihrer  Zeit  erwarb.  Rühmend  wird  sie  erwähnt  in  [Steinauer] 
Gespräche  zwischen  J.  C.  Günthern  in  dem  Reiche  der  Todten 
und  einem  Ungenannten  im  Reiche  der  Lebendigen,  1739  S.  123: 
«In  Strassburg  machen  sich  die  Frau  P.  Lincken  und  ihre 
Tochter,  die  Frau  P.  Wittern,  durch  ihre  Geschicklichkeit  und 
Liebe  zur  Dichtkunst  bekannt.»  S.  127  :  «Die  Frau  P.  Lincken 
hat  sich  besonders  durch  eine  rechte  feine  Uebersetzung  des 
franz.  Polyeuktes  hervorgethan.  .  .  Ich  habe  dieses  Stück  auf 
einigen  Schaubühnen  in  Deutschland  aufführen  sehen. i>  In  der 
That  wurde  dieser  Polyeukt  ebenso  wie  der  von  P.  Witter 
übersetzte  Mithridates  zu  Frankfurt  1736  gespielt :  s.  E.  Mentzel, 
Geschichte  der  Schauspielkunst  in  Frankfurt  a.  M.  1882  S.  173; 
1737  in  Dresden:  s.  Danzel,  Gottsched  S.  135;  3.  August  1741 
in  Leipzig  s.  Belustigungen  des  Verstandes  und  Witzes  1,  286. 
Als  Repertoirestück  der  Neuberin  wird  das  Stück  angeführt  von 
[Schmid]  Chronologie  des  deutschen  Theaters  S.  66,  der  freilich 
ungünstig  darüber  urteilt :  aPolyeuct,  kläglich  gedeutscht  von 
dep  Linckin  zu  Strassburg.» 

üeber   eine   Privatvorstellung   in   Strassburg   berichtet  ein 


—    118    — 

Brief,  den  Ch.  Wolff  aus  Strassburg  am  29.  December  1730 
an  Gottsched  schrieb  und  wovon  ich  eine  Copie  durch  die  Gute 
des  Herrn  Dr.  Paul  Kühn,  Assistenten  auf  der  Universitäts- 
Bibliothek  in  Leipzig  besitze.  «An  dem  anderen  Feyertage  ist 
Frau  Dr.  Linckin  ihre  übersetzte  Tragödie  privatim  gespielet 
worden.  Die  Actr(icen)  sind  gewesen  der  Frau  Dr.  Linckin 
Tochter  nebst  einer  Kaufmanns  Tochter,  die  Ac(teurs)  aber 
Studenten.  Ihre  Magnif.  Professor  Witterus,  pro  tempore  Rector 
academie  war  Director  von  diesem  Actu  privato-solemni,  zündete 
die  Lichter  mit  an  und  gab  auch  den  Souffleur  mit  ab.  Die 
Jgfr.  Linckin  agierte  sehr  gut,  die  andern  desto  schlimraer. 
Man  spielte  auch  den  Peter  Squenz  zur  Nacbkomödie.  Es  waren 
vornehme  Zuschauer  da,  hübsche  Strassburger  Mädgen.  Ich 
hab  mich  mit  Herrn  Prof.  Fischern  bald  krank  gelacht.  Die 
Strassburger  Sprach  schickt  sich  nicht  recht  zur  Tragödie,  besser 
zur  Comödie.]i>  Der  Tadel  den  der  Gottschedianer  über  das  Strass- 
burger Deutsch  ausspricht,  wird  also  einigermassen  vergütet 
durch  das  Lob  der  Strassburger  Damen.  Irrig  bezieht  übrigens 
Danzel,  Gottsched  S.  266  die  Aufluhrung  auf  Gottscheds  Cato, 
der  erst  dTS'i  erschien.  Strassburg  hat  vor  Gottsched  die  Gott- 
schedsche  Theaterreform,  wenigstens  im  Privatkreis  begonnen. 
Ueber  ein  Gedicht  von  Frau  Linck,  an  Bodmer  1732  s.  J. 
Grueger ,  die  erste  Gesamtausgabe  der  Nibelungen ,  Frank- 
furt 1884,  S.  H. 

2.  Wie  es  damals  mit  der  Volksbühne  aussah,  davon  möge 
folgende  Probe  zeugen  : 

Une  com^die  qu'on  jouait  le  plus  universellement,  etail 
Adam  et  £ve  ou  la  chute  du  premier  homme  :  eile  n*est  pas 
encore  tout  ä  fait  proscrite  et  je  me  souviens  de  l'avoir  vu 
repr^senter  ä  Strasbourg  :  quelques  endroits  du  poeme  de  Milton 
pouvaient  avoir  fait  naitre  Tidee  de  cette  piece  :  on  y  voiait 
une  grosse  five,  dont  le  corps  ötait  couvert  d'une  simple  teile 
couleur  de  chair  exactement  coll^e  sur  la  peau  avec  une  petita 
ceinture  de  feuilles  de  figuier,  ce  qui  formait  une  nudite  Ires 
d(^goutante;  le  hon  homme  Adam  6tait  fagott^  de  m^me;  le 
pöre  ölernel  paraissait  avec  une  vielle  rohe  de  chambre,  affuble 
d'une  vaste  perruque  et  d'une  grande  barbe  blanche  ;  les  diable» 
faisaient  les  bouffons  et  les  mauvais  plaisans. 

(Bielefeld)  Progr^s  des  Allemands,  Amsterdam,  1752  p.  287. 
Noch  1734  ward  Adam  und  Eva  zu  Strassburg  aufgeführt,  wie 
ich  den  handschriftlichen  Collectaneen  von  J.  Grueger  entnehme. 

3.  An  der  zu  1.  angegebenen  Stelle  bezog  ich  mich  u.  A. 
auf  Megalissus  (Lizel),  der  in  seinem  Buch  «Der  undeutsche 
Gatholik»  die  Frau  Linck  gerühmt  hatte.  Inzwischen  hat  mir 
Hr.  Archivral  Dr.  A.  Kaufmann  in  Wertheim  auch  die  zweile 


i 


-~     119     — 

Publikation  Lizels  g^ütig^st  zugänglich  gemacht  :  ((Deutsche 
Jesuiten-Poesie  oder  Eine  Samhmg  Gatholischer  Gedichte»  welche 
zur  Verbesserung  Allen  Reimen schraiden  wohlmeinend  vorleget 
MegalissuSy  Frankfurth  und  Leipzig  Verlegts  Johann«  Ehrenfried 
Müller  1731.»  Unter  den  hier  vereinigten  Gedichten  stammen 
mehrere  aus  dem  Elsass  und  eine  Angabe  ihrer  Titel  und  ihrer 
Anfangsstrophen  wird  nicht  unwillkommen  sein. 

I  (S.  29.)  Bett-Lied  an  die  lieilige  Mutter  GOttes  /  um  die 
Geburth  eines  Dauphins  :  welches  /die  Jesuiten-Schüler  und 
Studenten  zu  /  Strassburg  1728  des  Nachts  zur  Win-/terszeit, 
um  ein  Allmosen  zu  empfan-/gen,  vor  den  Hausern  ab-/gesungen . 

I. 

Himmel,  schicke  und  beglacke 

Unserm  König  Ludwig  fromm! 
Höchster  GOtt,  thue  uns  erwerben  / 
Qib  dem  Frankreich  einen  Erben, 

Unserm  König  Ludwig  fromm ! 

(Die  Strophenform  ist  also  dieselbe  wie  bei    «Gott  erhalte  Franz  den  Kaiser» 
oder  auch  wie  die  des  studentischen  Landesvalers.) 

(S.  37.)  Von  der  H.  Ottilia. 

I. 

Dein  keusches  Jungfräuliches  Leben,      0  St.  Ottilia! 
Ist  uns  zu  einem  Spiegel  geben,      Jungfrau  Ottilia! 
Bitt  Gott  für  uns,  Ottilia,      o  heilige  Ottilia! 

(Im  Druck  sind  die  Verszeilen  nicht  abgesetzt  ) 

II  (S.  38.)  Etwelche  SlnnbUdery  welche  Ihro  Maje/stät  der 
neu -vermählten  Königin  in  /  Frankreich^  den  J5,  Augusti 
dieses  laiif-ffenden  11^25.  Jahrs,  durch  einige  Gemähldter 
un-/terthänigst  überreicht  worden  von  Francisco  Joseph 
Schmid,  Musicant  im  Münster,  und  Organist  zu  S.  Louis  in 
Strassburg. 

IM  lahr  Christi  Wo  Dieses  gesChehen  War. 

Erstes    Sinn-Bild. 

Ein  Hertz  unter  einer  Gron,  worinrien  beeder  /  Hoch- 
Vermählten  Königliche  Wappen  mit  nach  /  folgenden  Titul  zu 
sehen  wäre ; 

Die  von  GOtt  dem  König  aller  Koni j gen  zusammen 
gefügte    Aller-Christlichste  /  Hertzen ,    zur    Zeit    der   hohen 


-     120    — 

Vermählung  /  Ihro  Aller-Christlichsten  Majestät  in  /  Franck- 
reich  LUDOVICI  XV  mit  der  Kö/niglich- Pohlischen  Prin- 
cessin  MARIA. 

(Hinter  dem '6.  Sinnbild  folgt  tein  Carmen*,  welches  nach  Zahl  der  Buch- 
slaben MARIA  abgeteilt  ist:) 

M 

Die  Lieb  hierinn  den  Sieg  erhalt,  wann  willig  sich  ergeben 
Zwey  Hertzen,  welche  ohn  Zweyspalt  vergnügt  beysammen  leben: 
Gleichwie  der  Liebreich  Lndovic,  Maria  auch  dessgleichen 
Durch  das  von  QOtt  geschickte  Glück  Ihr  Hertz  einander  reichen, 
Beede  als  keusche  Unterthan  der  süssen  Liebes-Frenden 
Das   liebe  Ehe  Band    nehmen  an,  davon  Sie  nichts  wird  scheiden. 
Ganz  Strassbnrg,  Elsass  nnd  Frankreich !  erfreuet  euch  nicht  wenig, 
Glückwünschet  Beeden  allzugleich,  gehorsamst  unterthänig. 

III  (S.  58.)  An  Ihr  Hochfürstliche  Gnaden  Maria 

Sophia^  Äbtissin  und  Fürstin  zu  Andlau^ 

verfertiget  und  übergeben  von  P.  Hug, 

Jesuiten  in  Strassburg  im, 

Jahr  1708. 

I. 

Elsass  erfreue  dich,  ein  schöne  Wahl  zu  sehn; 

So  in  der  Königin  Richardis  Stifft  geschehn  : 
Ein  Fräulein  Fürstin  ist  (zu  hören  ja  ein  Lust), 
Erkiesst  durch  Stimmen  all,  in  ihrer  Jahren  Blust. 

(Am  Schluss  heisst  es  :/ 

Nach  jedem  von  diesen  zwölff  Gesetzlein,  welche  Solo  abge-j 
sungen  werden,  muss  der  ganze  Chorus  also  anstimmen  (  und 

singen  : 

Andlau  ist  Ihr  Stifft  benannt; 

Andlau  ist  Ihr  Vatterland ; 

Andlau  ist  Ihr  Namm  und  Stamm; 

All  diss  wo  findt  man  beysamm  ?  J.  C.  H.  J. 

IV  (S.  62.)   Neue  Ehren-Säule  dem  Frey-Wohlge-/ 
bohrnen  Herrn ^  Herrn  Frantz  Joseph  von  / 

Klingli7tg,    Baron   de    Hattstatt,    Herrn  zu  Höhen-j 
heim  und  Ihrer  Allerchinstlichsten  Majestät  j 

Bath,  Premier  Chevalier  d'honeur  d*epe  au  / 

Conseil  souverain  d'Alsace  etc.  etc.  Als  er  den  j 

53.  Junii  1725,  im  viertzigsten  Jahr  seines  / 

Alters  Königlicher  PRAETOR  wurde  /  aufge-j 

richtet  von  trantz  Joseph  Schmidt,  Musi-/ 

canten  in  der  Hochwürdigen  Cathedra)-/ 

Kirch,  und  Organisten  bey  St.  Louis  / 

in  Strassburg, 


—     121     — 

Thema.  Aus  dem  ersten  Buch  Mose  am  41  Ca/pitul 

und  55.  Vers : 

Gehet  hin  zu  Joseph,   und  was  euch  der 

sagt,  das  thut. 

Ode. 

Nun  sey  gnng  geklagt,  geweinet, 
Weil  die  Sonn  jetz  wieder  scheinet, 

Die  mit  Wolken  gantz  und  gar 

Traurig  überzogen  war, 
Weil  der  Todt  vor  wenig  Tagen, 
(Kans  vor  Weinen  schier  nicht  sagen) 

Den  Herr  Praetor  hat  geranbt 

Dieser  Stadt  gewesstes  Haupt. 

V  (S.  31).    Zufälliges  Gespräch  zwischen  Hippocrate 
und  Galeno  von  der  ahentheurlichen  Erfin-/ 

düng  Maria  Salomea  Erdriechin,  gehür-l 

tig   von    Oberkirch,  welche   hey   39.   Jahren 

einen   dicken  Leib   von   Lumpen   auszgestopf-l 

fet  getragen,  der  am  Gewichte  19^4  Pfund 

gewogen,  und  da  sie  den  24.  Febr.  1728  in 

Strassburg  ohnversehens  gestorben^ 

bey  ihr  gefunden  worden, 

Hippocrates. 

Herr  Bruder  hat  vielleicht  noch  nichts  davon  gehöret? 

6  a  1  e  n  u  8.  Von  was  ?  H  i  p  p  o  c.  Von  jener  Tour,  die  uns  ein  Weib  gespielt 

Die  durch  ein  falschen  Bauch  die  Medicin  bethöret, 

So  sie  schon  viele  Jahr  mit  Nahrung  unterhielt. 

In  Hoffnung  mit  der  Zeit  sie  zu  anatomiren 

Damit  man  sehen  möcht  was  sie  doch  in  sich  trug  .... 

(Am  Schluss  S.  134  :J 

Grabschnft 
der  Maria  Salomea  Erdriechin. 

Ha!  Ha!  Ha! 

Hör. 

Steh  Klügling  steh. 

In  dieser  schmalen  Erd 

Lieg  ich  doch  nur  ein  Weib, 

So  einen  ausserordentlichen  breiten  Leib 

Schon  neun  und  dreyssig  Jahr  zur  Schau  getragen. 

Durch  diesen  Fund,  ob  er  mich  schon  beschweert, 

Durfft  meine  Nothdurft  nicht  nach  einer  Nahrung  fragen. 


—    122    ~ 

Ich  ward  nach  Hertzens-Wansch  eruehrt, 

Obschon  die  Bälckerey  nicht  war  drey  Heller  wehrt. 

Die  Last  hat  doch  darch  diese  List, 

Die  kaum  za  glauben  ist, 
Die  Klügsten  dieser  Welt  verführet 
Und  manches  zart  —  aach  hai-tes  Hertz 
Darch  den  von  mir  verstellt-erfandnen  Schmertz 

Mitleydiglich  gerühret 

Und  trüge  mir 

Das  Lumpen  Spiel 

So  lang  ich  lebt  allhier 

Von  Geld  ein,  mehr  als  viel!  u.  s.  w. 

Nr.  V  befiitdei  j^ich  auch  als  Sonderdruck  mit  etwas  abweicbendem  Titel, 
und  ohne  die  Grabschrift,  aber  mit  Abbildung  in  der  Sammlung  Heitz  Nr  4763 
(jetzt  auf  der  Ka:s.   Universitflts-  und  Landesbibllotbek). 


VII. 


Ans  einer  elsässischen  Familienchronik. 

Bilder  aus  dem  dreissigjährigeri  Kriege. 

Mitgeteilt  von 

Julius  Rathgeber 

Das  Elsass  empfand  die  Schrecken  und  Wehen  des  dreissi^- 
jährigen  Krie^res  in  seltenem  Masse.  Jahre  lang  war  das  heim- 
gesuchte Land  mit  Krieg  und  Kriegsgeschrei  erfilllt.  Die  wilden 
Mansfeldischen  Scharen,  die  gefürchteten  Schweden  und  die 
tapferen  Weimaraner,  die  Kaiserlichen  und  die  Franzosen  zogen 
ahwechseind  plündernd  und  verheerend,  sengend  und  brennend 
durch  das  verarmte  Land.  Viele  Ortschaften  gingen  in  den 
Flammen  auf  und  wurden  nicht  wieder  aufgebaut  ;  die  meisten 
Dörfer  im  flachen  Land  waren  öde  und  verlassen  ;  wilde  Tiere 
hausten  in  den  leerstehenden  Häusern ;  die  Landbewohner 
flüchteten  sich  in  die  Städte  und  Festungen,  auch  in  die  Ritter- 
burgen, wie  z.  B.  auf  Schloss  Lichtenberg,  oder  suchten  Schutz 
und  Sicherheit  in  einsamen  Gebirgsgegenden  und  dichten 
Waldungen,  wohin  aber  oft  der  Feind  sie  verfolgte.  Von  dem 
unsäglichen  Elend  und  Jammer  dieser  trübseligen  Zeit  wissen 
die  alten  Chroniken  viel  zu  berichten  ;  wir  geben  hier  einige 
Auszüge  aus  den  Erlebnissen  des  Pfarrers  Lorenz  Ritter 
aus  Pfafl*enhofen,  der  über  drei  Jahrzehnte  daselbst  als  evange- 
lischer Geistliche  wirkte  und  viele  Drangsale  durchmachen 
musste.    Diese  Auszüge   befinden  sich  in    der  Grüne  wald'schen 


—     124    — 

Familienchronik    von    Pfaffenhofen,    die   dem    Herausgeher  zur 
Verfügung  gestanden.  Der  Chronist  berichtet  Folgendes: 

Im  Jahre  1618  brach  der  unglückselige  und  Alles  verstöreode 
dreissigjährige  Krieg  aus,  während  welchem  das  ganze  Elsass, 
J)esonders  aber  die  Hanauischen  Ortschaften  erschrecklich  mit- 
genommen wurden. 

Schon  im  Jahre  1621  und  1622  verbreiteten  sich  die  Truppen 
des  Grafen  Ernst  von  Mansfeld  über  das  Unter-Elsass.  Ihnen 
;cegenüber  stunden  die  Kaiserlichen  Völker  unter  dem  Erzherzo^r 
Leopold  von  Oesterreich  ;  beide  Teile  raubten,  mordeten  und 
plünderten  wo  sie  beikommen  konnten ;  das  Landvolk  flüchtete 
sich  von  allen  Seiten  in  die  nur  einigermassen  befestigten  Orte 
und  PfafTenhofen  war  von  solchen  Unglücklichen  überfüllt. 

Im  Jahr  1622  sind  vom  1.  Januar  bis  zum  30,  Juni  139 
fremde  Personen  in  PfalTenhofen  gestorben  und  begraben  worden, 
und  32  aus  dem  Städtlein  selbsten.  Die  139  fremden  Personen 
waren  aus  den  umliegenden  Ortschaften  Bitschhofen,  Kindweiier, 
Ueberach,  Mertzweiler,  Dauendorf,  Uhlweiler,  Hüttendorf,  Morsch- 
weiler, Ringendorf  und  Eltendorf. 

Der  evangelische  Pfarrherr  Lorenz  Ritter  musste  während 
fünf  Wochen  sich  von  seinem  Hause  abwesend  halten,  von 
wegen  der  Leopoldischen  Soldaten. 

Den  6.  Juni  des  nämlichen  Jahres  ist  Jakob  Zill  von  Nieder- 
modern bei  Dauendorf  erschossen  worden,  als  er  den  Soldaten 
nachgeritten,  die  ihm  seine  Pferde  genommen  hatten. 

1631.  Gegen  Ende  Dezember  plünderten  und  verbrannten 
die  Lothringischen  Truppen  des  Regiments  Harraucourt  mehren; 
<ler  Stadt  Strassburg  gehörige  Dörfer.  Da  liess  der  Strassburger 
Rat  eine  Compagnie  Reiterei  und  200  Musquetirer  ausziehen, 
befehligt  durch  die  Hauptleute  Weit?  und  Arnold  ;  sie  überfielen 
die  Lothringer  in  Pfaffenhofen,  schlugen  sie  und  tödteten  ihneo 
mehr  als  100  Mann  und  nahmen  ihnen  einen  Teil  ihres  Ge- 
päckes weg.  Die  Strassburger  verloren  dabei  nur  10  Mann  und 
einen  Trompeter. 

Im  Jahre  1632  kam  ein  Teil  der  Schwedischen  Armee^  die 
unter  der  Anführung  ihres  Königs  Gustav  Adolf  nach  Deutsch- 
land gekommen  war,  auch  in's  Elsass. 

Die  Stadt  Strassburg  und  die  Hanauischen  Lande  schlugen 
sich  ebenfalls  auf  die  Seite  der  Schweden.  Dafür  wurden  sowohl 
diese  als  das  Gebiet  der  Sladt  Strassburg,  durch  die  Lothringer,  den 
Markgrafen  von  Baden  und  die  Kaiserlichen  schrecklich  verwaistet. 

Im  Jahre  1633  im  Monat  Juli  liess  der  Herzog  Karl  Tori 
Lothringen  seine  Truppen  vorrücken,  welche  sich  des  Schlosser 
]'>auenberg  bemächtigten,  dem  Grafen  von  Eberstein  gehörig, 
<ien  sie  zum  Gefangenen  machten. 


—    125    — 

Der  Herzog,  der  sich  durch  diese  That  öffentlich  als  Feind 
der  Schweden  und  Alliierten  erklärte,  Hess  nun  alle  seine  Truppen 
aus  den  Verschanzungen  von  Zabern  ausziehen,  wo  sie  einige 
Zeit  gelagert  hatten,  um  die  Kanonen,  Munitionen  und  andere 
Kriegsvorräte  zu  erwarten. 

Die  Lothringische  Armee  bestand  aus  8000  Mann  Fussvolk 
und  2000  Mann  Reiterei.  Der  Graf  von  Salm  führte  den  Ober- 
befehl über  dieselbe  und  marschierte  mit  diesem  ansehnlichen 
Heere  den  31.  Juli  gegen  Pfaffenhofen.  Das  Städtchen,  welches 
von  einem  Schwedischen  OfGzier  mit  24  Mann  und  200  Bürgern 
verteidigt  ward,  wurde  aufgefordert  sich  zu  ergeben,  allein  eines 
schnellen  Entsatzes  versichert,  hielt  die  Besatzung  fest  und  Hess 
die  Lothringische  Armee^  einem  heftigen  Gewitter  ausgesetzt  ^ 
die  ganze  Nacht  vor  dem  Orte  zubringen. 

Des  andern  Morgens  frühe  (1.  August  1633)  verliess  der 
Fürst  von  Birkenfeld,  Schwedischer  Befehlshaber,  das 
Lager  von  Hagenau,  um  die  Lothringer  anzugreifen,  welche 
ohnerachtet  der  Beschwerden,  welche  sie  die  ganze  Nacht  durch 
auszustehen  hatten,  den  Feind  mit  vieler  Tapferkeit  empfingen. 
Die  Lothringische  Reiterei  schlug  die  Schwedische  beim  ersten 
Zusammenstoss  in  die  Flucht;  allein  zu  sehr  dem  Siege  ver- 
trauend, verfolgte  sie  die  Flüchtigen  zu  weit,  welches  der 
General-Major  V  i  t  z  t  h  u  m  und  der  Obrist  R  a  n  z  a  u  ,  welche 
die  Schwedische  Infanterie  befehligten,  benützten,  um  über  die 
Lothringische  Infanterie  herzufallen,  welche  gänzlich  geschlagen 
und  gezwungen  wurde  die  Flucht  zu  ergreifen  in  die  Gegend  von 
Zabern.  Die  Reiterei  Selbsten,  welche  sich  zerstreut  hatte,  um 
zu  plündern,  wurde  bei  ihrer  Rückkehr  von  der  Schwedischen 
Infanterie  sehr  übel  mitgenommen,  welche  Meister  des  Schlacht- 
feldes blieb,  wo  die  Lothringer  fünf  Kanonen  und  alles  ihr 
Gepäck  Hessen.  Die  Kanonen  wurden  in's  Zeughaus  nach  Strass- 
bürg  geführt. 

Der  in  Pfaffenhofen  commandierende  Offizier  machte  während 
des  Treffens  mit  seinen  Soldaten  und  einem  Teile  der  Burger- 
schaft einen  Ausfall  und  brachte  den  Lothringern  sehr  emplind- 
tichen  Schaden  bei. 

Die  Lothringer  verloren  900  Mann  an  Todten  und  Ver- 
wundeten und  200  Gefangene,  unter  welchen  letzteren  der 
Marquis  von  Flarainville  und  noch  etliche  Offiziere  von  X\x^- 
zeichnung  sich  befanden.  Der  Graf  von  Salm  fand  Mittel  za 
entkommen  und  sich  nach  Zabern  zurückzuziehen.  ^ 


1  Es  existiert  heate  noch  in  Pfaffenhofen  ein  alter  Holzschnitt, 
auf  welchem  dieses  Treffen  abgebildet  ist.    Das  Schlachtfeld  befand 


—     1:26    — 

Aber  dieser  Sieg  halte  sehr  traurige  Folgen  für  Pfaflen- 
hofen  und  seine  Bewohner.  Die  Schweden,  obgleich  Sieger, 
sahen  sich  dennoch  genölig-t  die  Belagerung  von  Hagenau  auf- 
zuheben, und  zogen  in  die  Gegend  von  Benfeld.  Pfaffenhofen 
blieb  sich  nun  selbst  überlassen  und  der  Rache  der  Lothringer 
blosgestellt,  welche  auch  gar  nicht  lange  auf  sich  warten  Hess, 
denn  schon  den  10.  August  kamen  die  Lothringer  zurück, 
plünderten  Pfaffenhofen  rein  aus  und  steckten  den  ganzen 
Flecken  in  Brand.  Wer  sich  nicht  schnell  genug  durch  die 
Flucht  retten  konnte,  wurde  niedergemacht. 

Die  Einwohner,  welche  sich  noch  in  der  Zeit  retten  konnten, 
flüchteten  in*s  Gebirge,  meist  in  die  Gegend  von  Lichtenberg, 
wohin  sie  auch  während  dieses  traurigen  Krieges  die  Kirchen- 
bücher, die  heiligen  Geräte  und  ihre  vornehmsten  Habselig- 
keiten brachten,  weil  der  Graf  von  Hanau-Lichtenberg  dort 
immer  eine  kleine  Besatzung  unterhie  t,  zum  Schutze  der  Burg. 

Vom  10.  August  1633  bis  den  10.  März  1634  ist  Pfaffen- 
hofen meist  unbewohnt  gewesen,  weil  nur  etliche  Häuser  vom 
Brande  verschont  geblieben  sind.  Erst  zu  obgemeldeter  Zeit  ist 
Herr  Pfarrer  Lorenz  Ritter  mit  den  noch  übrigen  bis  dabin 
zerstreuten  Einwohnern  zurückgekehrt. 

Er  schrieb  damals  in's  Kirchenbuch  von  Pfaffenhofen  : 

«Wegen  dem  Kriegswesen  musste  ich  mit  meinem  Audi- 
cctorium  —  Pfarrkindern  —  aus  Pfaffenhofen  weichen,  und  kam 
«erst  wieder  heim  den  10.  Mertz  1634.» 

Ferner  berichtete  er  in  seinen  Aufzeichnungen : 

«Zu  Anno  1636  und  1(337  war  das  Kriegswesen  sehr  scharf, 
«dass  wenig  Leut  haben  können  zu  Hause  bleiben,  bevorab 
«ward  ich  der  Pfarrer  von  dem  Götzischen  Regiments-Obersten- 
«Quartiermeister  verfolget,  dass  ich  müssen  aussetzen,  sind  des- 
« wegen  die  Kinder  in  solcher  Zeit  nit  eingeschrieben  worden.» 

Vom  10.  August  1633  bis  den  10.  März  1634  .sind  .42  Bürger 
von  Pfaffenhofen  und  13  von  Niedermodern  gestorben  oder  sonst 
umgekommen ;  in  diesem  Verzeichniss  stehen  weder  Frauen 
noch  Kinder. 

Von  den  Familien,  die  vor  und  während  des  dreissigjährigen 
Krieges  Pfaffenhofen  bewohnt  haben,  sind  heute  nur  noch  wenige 
vorhanden.  Die  Familien  Schmidt,  Seiler,  Ger  st, 
Magnus,  Wagner,  Eberlin,  Schieber,  Rüdinger, 
Stosskopf,  Lux,  Krebs,  und  Helmstetter  sind  die 
bekanntesten  unter  ihnen. 


sich  an  der  Strasse  von  Pfaffenhofen  gegen  Obermodern,  das  Lager 
der  Lothringer  war  über  der  Moder  auf  der  sog.  Hardt  und  dasjenige 
der  Schweden  auf  der  Anhöhe  hinter  Pfaffenhofen. 


—    427    — 

Der  erste  Helmstelter,  welcher'  sich  in  Pfaffenhofen  nieder- 
liess,  war  aus  Petersbach  bei  Lützelstein  gebürtig ;  er  hiess 
Johann  Jakob  und  verheiratete  sich  den  23.  Mai  1631  mit 
Anna  Maria  Duchmann,  einer  Wirlstochter.  Den  23.  September 
i647  verehlichte  sich  dessen  Bruder,  Hans  Ludwig  Helmstetter, 
mit  Katharina,  Adolph  Magnussen,  des  Bürgermeisters  Tochter. 
Diese  beiden  Brüder  sind  die  Stammväter  der  noch  heute  im 
Ünter-Elsass  blühenden  Familien  Helmstetter. 

Den  27.  September  1640  starb  der  vielgeprüfte  aber  gott- 
vertrauende  Pfarrherr  Lorenz  Ritter.  Er  halte  das  geistliche 
Amt  in  Pfaffenhofen  35  Jahre  lang  in  unruhigen  und  bewegten 
Kriegszeiten  versehen.  Er  hatte  sich  oft  flüchten  müssen  und 
litt  mehr  denn  einmal  mit  den  Seinigen  die  grössten  Ent- 
behrungen, ja  den  bitteven  Hunger.  Die  Drangsale  des  Krieges 
hatte  er  alle  durchgemacht,  die  Wohlthaten  des  Friedens  sollte 
er  hienieden  nicht  mehr  geniessen.  Er  ging  im  75.  Lebens- 
jahre ein  zur  Ruhe,  die  dem  Volke  Gottes   droben  bereitet  ist. 


VIII. 


Zwölf 

ungedruckte   Briefe    von    PfefPel. 

Mitgeteilt  von 

Julius  Rathgeber 

Einleitung. 

JL/ie  Literatur   über  Gottlieb  Conrad  Pfeffel,    den  blinden 
Dichter  von  Golmar,   den  «elsässischen  Geliert»,   wie    man  ihn 
auch   genannt   hat,    ist   eine   ziemlich   reichhaltige.    Schon   im 
ersten  Jahrzehnt  nach  seinem  Tode  erschienen  zwei  biographische 
Versuche    über  ihn.     Der   eine    hat    Daniel    Ehrenfried 
Stöber,    den  langjährigen    treuen   Freund   Pfeffels   zum  Ver- 
fasser ;  der  andere  ist  von   Johann   Jakob    Rieder,    den 
nachmaligen  Pfarrer  an  der  Neuen  Kirche,  der  mehrere  Jahre 
Pfeffels  Sekretär  war,  geschrieben.   Auch   August  Stöber, 
Pfeffels    Patenkind,     widmete    dem    von   ihm    hoch    verehrten 
Manne  einen   warmen  Nachruf  in  den  «Elsässischen  Neujahrs- 
blättern» von  1843   und  gab  im   Jahre  1859,  als  hauptsächlich 
auf  seine  (Stöbers)  Anregung  das  Denkmal  des  blinden  Dichters 
in   dessen  Vaterstadt   Golmar  enthüllt  wurde,  Pfeifeis  mit  An- 
merkungen versehene  «Epistel  an  die  Nachwelt»  heraus.  August 
Stöber  veröffentlichte  noch  1878  eine  Schritt  über  den  Golmarer 
Dichter   und    feierte  darin    «Pfeffels  Verdienste   um  Erziehung, 
Schule  und  Kirche:».    Auch  der  Gulturhistoriker  Ludwig  Spach 
hat  Pfeffel  in  seinen  :  Mi^langes  d'histoire  et  de  litt^rature  eine 
biographische   Skizze   gewidmet.    Eine   UrenkeUn   des    blinden 


j 


—    i29    — 

Dichters,  Frau  Lina  Beck -Bernard  aus  Lausanne,  gab 
über  Pfeflel  im  Jahre  1866  einen  Band  :  Souvenirs  historiques 
heraus  und  die  adeligen  Fräulein  von  Berckheim  widmeten 
dem  edlen  Manne  in  ihrem  interessanten  Briefwechsel  und 
Tagebuch  aus  der  Revolutionszeit  eine  iReihe  persönlicher  Er- 
innerungen aus  ihrer  schönen  Jugendzeit.  Der  Strassburger 
Germanist,  Professor  Dr.  Ernst  Martin  hat  dem  Colmarer 
Dichter  und  dessen  älterem  Bruder,  dem  Diplomaten  Christian 
Friedrich  Pfeffel  aus  München,  dessen  Bibliothek  1889  nach 
Ableben  seines  Sohnes  nach  Colmar  gekommen  ist,  in  der 
«r Allgemeinen  deutschen  Biographieji)  einen  längeren  Artikel 
gewidmet.  In  neuester  Zeit  hat  der  verdienstvolle  Bezirks- 
archivar des  Ober-Elsass,  Herr  Archivdirektor  Dr.  Pfannen- 
schmidt, durch  seine  gründlichen  Forschungen  die  Aufmerk- 
samkeit des  gebildeten  PubUkums  wieder  auf  Pfeffel  gerichtet. 
Und  doch  ist  das  letzte  Wort  über  den  blinden  Colmarer  Dichter 
Dicht  gesagt  und  jeder  Beitrag  zur  Würdigung  seines  Wesens 
und  Charakters  ist  um  so  wertvoller,  weil  Pfeffels  litterarischer 
Nachlass  nicht  mehr  vorhanden  ist.  Nach  dem  Tode  des  Dichters 
kamen  dessen  Haaptpapiere  in  den  Besitz  seiner  ältesten  Tochter 
Friederike,  die  man  des  Vaters  Antigene  nennen  kann,  weil 
sie  seine  treue  Stütze  im  Alter  war.  Friederike  Pfeffel  aber 
war  Hauslehrerin  bei  den  Töchtern  ihrer  Jugendfreundin 
Henriette  von  Berckheim,  die  den  Fabrikanten  Augustin  Parier,* 
einen  Bruder  Casimir  Periers,  des  Ministers  von  Ludwig  Philipp, 
geheiratet  hatte.  Die  Familie  Perier  bewohnte  Grenoble,  hatte 
aber  ihre  Fabriken  und  ihren  Sommeraufenthalt  in  Vizille,  einem 
malerischen  Flecken  im  Thale  der  Isere  gelegen.  In  den  zwan- 
ziger Jahren  ging  das  Schloss  von  Vizille  in  den  Flammen  auf 
und  Friederike  Pfeffels  Habseligkeilen,  worunter  der  litterarische 
Nachlass  ihres  Vaters,  wurden  ein  Raub  des  Feuers.  Dieser 
Verlust  ist  ein  unersetzlicher.  Friederike  Pfeffel  kehrte,  nach- 
dem sie  die  Erziehung  der  Töchter  ihrer  Freundin  vollendet 
hatte,  in  das  Elsass  zurück  und  starb  in  den  vierziger  Jahren 
zu  Sirassburg. 

In  Anbetracht  dieser  Umstände  muss  jeder,  wenn  auch 
nur  geringe  Beitrag  zur  Würdigung  und  zur  Charakteristik 
Pfeffels  willkommen  sein  und  daher  veröffentlichen  wir  auch 
folgende  zwölf,  bis  jetzt  ungedruckte  Briefe  des  blinden  Dichters. 
Dieselben  stammen  aus  dem  Nachlass  des  Pfarrers  Luc6  aus 
Munster  im  Ober-Elsass,    dessen  Gattin,    eine  entfernte  Anver- 


*  Aagastin  Perier  war  einige  Jahre  lang  ein  Zögling  des  Pfeffel- 
Instituts  in  Colmar  gewesen. 

9 


—    130    — 

wandte  Pfeffels  war,    in  dessen   Hause  sie    mehrere  Jahre  ge- 
lebt hatte. 

Die  Familie  Lucae,  ^  wie  sie  sich  ursprünglich  schrieb, 
stammte  aus  Ungarn.  Der  älteste  bekannte  Vorfahr  derselben, 
Nikolaus  Lucae  (1595  geb.  f  1672),  war  Pastor  und  Super- 
intendent zu  Csätad,  einem  Marktflecken  in  Ober-Ungarn,  dem 
Geburtsort  des  unglücklichen  Dichters  Nikolaus  Lenau.  Der 
Superintendent  Lucae  musste  infolge  religiöser  Verfolgungen  in 
das  Zipser  Land  auswandern,  wo  ihm  zu  Reichenau  ein  Sohn 
Nikolaus  Lucae  den  22.  November  1651  geboren  wurde.  Der- 
selbe studirte  Theologie  und  wanderte  in  jugendlichem  Aller 
aus.  Er  kam  in  das  Elsass  und  wurde  zuerst  evangelischer 
Pfarrer  zu  Müttersholz,  wo  er  im  Kirchenbuche  als  Nikolaus 
Lucae,  Hungarus,  pastor  Mietersholzensis  vorkommt ;  er  folgte 
dann  einem  Rufe  als  Pfarrer  nach  Mühlbach  im  Grossthal  hinter 
Münster,  wo  er  1717  starb.  Seine  Gattin  war  aus  Münster  im 
Gregorienthai  gebürtig  und  hiess  Anna  Ursula  Leckdeig.  (Sie 
war  eine  Nachkomme  des  ersten  evangelischen  Pfarrers  von 
Münster  in  der  Reformationszeit,  des  bekannten  Prädikanten  Paul 
Leckdeig.)  Aus  dieser  Ehe  entsprangen  zwei  Söhne  :  Christian 
Friedrich  und  Nikolaus  Luc6.  Ein  Enkel  des  ersteren  war 
Pfarrer  Johann  Friedrich  Luc6,  der  zu  Münster  im 
Gregorienthai  am  7  Juni  1752  geboren  wurde.  Er  besuchte  die 
lateinische  Klosterschule  seiner  Vaterstadt,  ging  hierauf  nach 
Mümpelgard  um  Französisch  zu  lernen  und  vollendete  seine 
Schulbildung  auf  dem  Gymnasium  von  Buchsweiler.  Er  begab 
sich  sodann  mit  dem  für  evangelische  Studenten  der  Theologie 
aus  dem  Ober-Elsass  von  dem  Grafen  Georg  von  Württemberg 
(1557)  gestifteten  Stipendium  auf  die  Universität  Tübingen,  um 
Theologie  zu  studiren.  Er  verliess  das  Tübinger  Stift  als  Candidat 
der  Theologie  und  kam  1772  nach  Colmar,  wo  er  in  das  Schul- 
amt eintrat.  1774  wurde  er  Lehrer  am  Pfeffelschen  Institut  und 
Provisor  an  der  lateinischen  Schule  zu  Colmar.  Im  Jahre  1775 
verehlichte  sich  Luc6  mit  der  im  Pfeffelschen  Hause  lebenden 
Wilhelmine  Elisabeth  Wild,  Tochter  des  markgräflich-badischen 
Bürgermeisters   Adam   Wild    zu   Durlach   und    dessen    Ehefrau 


^  Wir  sprechen  an  dieser  Stelle  unsem  verbiDdlichsten  B&nk 
dem  doct.  juris  Herrn  Referendar  Georg  Dietz  yon  Münster 
und  dem  Herrn  Pfarrer  Friedrich  Bresch  voii  Mahlbach  aos, 
welche  dem  Herausgeber  bei  seiner  Arbeit  behülilich  waren,  der 
«rstere  durch  gefällige  Mitteilung  der  intressanten  Pfeffelbriefe,  die 
im  Besitze  seiner  Familie  sind,  der  letztere  durch  die  geschichtlichoi 
Notizen  über  Pfarrer  Lucd  und  dessen  Gattin,  die  er  uns  geliefert 
hat. 


—    131     — 

Maria  Magdalena  Gross.  In  den  achtziger  Jahren  trat  Luc^  in 
das  Geistliche  Ministerium  von  Colmar  als  Diakonus  ein  und 
bekleidete  nebenbei  das  Amt  eines  Rektors  des  evangelischen 
Gymnasiums.  Während  der  Revolutionszeit  musste  er,  da  die 
Kirchen  geschlossen  wurden  und  das  Golmarer  Gymnasium  auf- 
gehoben ward,  seine  Aemter  einstweilen  niederlegen.  Er  wurde 
von  der  Golmarer  Munizipalität  zum  Uebersetzer  (secr^taire- 
interprete)  ernannt  und  in  dieser  Eigenschaft  einmal  nach  Paris 
gesandt,  um  dort  von  dem  Nationalkonvent,  bei  der  Teuerung, 
die  im  Elsass  herrschte,  Frucht  zu  erlangen.  Als  wieder  ruhigere 
Zeiten  eingetreten  waren  und  die  kirchlichen  Verhältnisse  ge- 
ordnet wurden,  berief  ihn  im  Jahre  1796  der  Kirchenrat  seiner 
Vaterstadt  Münster  an  die  dortige  erste  Pfarrstelle  bei  der 
evangelischen  Kirche.  Er  wurde  auch  bald  darauf,  bei  der  Re- 
organisierung der  Kirche  Augsburgischen  Bekenntnisses,  im  Jahre 
1804  zum  Präsidenten  des  Gonsistoriums  von  Münster  ernannt. 
Die  geistliche  Inspektorstelle,  zu  welcher  ihn  sein  väterlicher 
Freund  Pfeffel,  welcher  Mitglied  des  Direktoriums  war,  empfehlen 
wollte,  schlug  Pfarrer  Luc6  in  seiner  Bescheidenheit  ab.  Längere 
Jahre  war  er  auch  brustleidend,  i  doch  versah  er  immer  sein 
Amt.  Der  Tod  seines  Bruders,  des  Rotgerbers  Luc6  in  Münster, 
ging  ihm  sehr  zu  Herzen.  Er  ging  ein  Jahr  nach  demselben, 
den  27.  Juli  1808,  in  seinem  57.  Jahre  heim.  Die  Inschrift 
seines  Grabsteines  auf  dem  alten  Kirchhofe  von  Münster  lautet 
folgendermassen  : 

Mit  stiller  Wehmnth 
stifteten   dies   Dekmal   der   Liebe 

die  trauernden  Hinterlassenen 

des    besten    Gatten   und    Vaters 

Johann   Friedrich   Luc4 

Pres.  d.  Cons.  und  treuen  Seelsorgers 

dieser    Gemeinde.    Er    starb    d.    27.    Juli 

1808,  in  einem  Alter  von  ö6  J.  u.  2  M. 

Pfarrer  Luce  hinterliess  drei  Kinder  :  1.  Friederike, 
Ehefrau  von  Philipp  Kirschleger  zu  Schiltigheim  und  Mutter 
des  bekannten  Professors  der  Botanik  Friedrich  Kirsch- 
leger,  des  Verfassers  des  gediegenen  und  heute  sehr  selten 
gewordenen  botanischen  Werkes  :  La  Flore  d*Alsace. 


^  Dies  war  wohl  auch  ein  Grund  warum  er  schriftstellerisch  nicht 
sehr  thätig  war.  Ausser  der  zierlichen  Erzählung :  «Das  Wunder- 
fässchen  >,  gab  er  nur  noch  eine  Schrift  über  die  Seidenwürmer  her- 
aus, deren  Cultur  er  im  Elsass  empfahl. 


—    132    — 

2.  Marie  Caroline,  Ehefrau  des  Professors  Karl  Bartholdi 
von  Golmar  und  Mutier  des  berühmten  elsassischen  Bildhauers 
Charles  Bartholdi,  der  in  seiner  Vaterstadt  Colmar  die  Bildsäulen 
des  Generals  Rapp  und  des  Admirals  Brüat  verfertigt  hat  und 
dessen  Standbild  der  Freiheit  eine  ^Zierde  der  Stadt  New-York 
bildet, 

und  3.  Friedrich  Luce,  welcher  den  Feldzug  von  1815  im 
Elsass  mitmachte  und  den  17.  Oktober  1815  in  seinem  27.  Le- 
bensjahre schon  starb. 

Pfarrer  Lucös  Gattin  überlebte  ihren  Gatten  um  zwei  Jahr- 
zehnte und  starb  im  Schosse  ihrer  Familie  zu  Münster  den 
1.  Mai  1830  in  ihrem  75.  Lebensjahre. 

Der  Herausgeber. 


I. 

An  Bürger  Pfarrer  Luc6 

in  Münster. 

Colmar  2,  2,  8.  [2.  Februar  1799]. 

0  lieben  Freunde !  Unser  theurer  Schlosser  [Groethes 
Schwager,  denn  Cornelia  Goethe  aus  Fi'ankfurt  war  seine  erste 
Gattin]  ist  todt.  Am  Abend  des  17.  Octobers  entriss  ein 
hitziges  Brustfieber  uns  den  Edeln,  Grossen,  Unvergesslichen. 
Gestern  erhielt  ich,  oder  vielmehr  Carolina  von  ihrer  Freundio 
Müller  die  schrökliche  Nachricht,  die  mein  Herz  zerfleischet. 
Meine  ganze  Familie  trauert  mit  mir  und  auch  Sie,  meine 
Freunde,  werden  mit  mir  trauern.  Da  ich  nicht  weiss  wann 
ich  zu  Ihnen  kommen  kann,  so  schicke  ich  Ihnen  hier  meine 
freye  Uebersetzung  von  des  Delille  Versen.  Ich  habe  die  zweite 
Stanze,  darinn  er  die  Ausgewanderten  anredet,  mit  Fleiss 
generalisiert,  damit  mein  Zusatz  keine  Wiederholung  würde. 
Ausser  Ihrer  Familie  und  Ihren  Collegen  lesen  Sie  dieses 
Fragment  niemanden  vor  und  erlauben  Sie  keinem  Menseben 
eine  Abschrift.  Ich  umarme  Sie  Alle  von  ganzer  Seele. 

Pfeffel. 

n. 

Au  Citoyen  Luc6 

Pasteur  ä  Münster. 

Colmar  den  6.  floreal  11.  [26.  April  1803]. 

Schon  verwichenen  Sonnabend,  lieber  Freund,  wollte 
ich  Ihnen   schreiben    und   wurde  abgehalten.     Hätte  Ihre  gute 


—    133    — 

Friederike  sich  langer  verweilen  können,  so  würden  Sie  diese 
Zeilen  um  24  Stunden  früher  empfangen  haben.  Sie  werden 
gewiss  schon  wissen,  dass  unser  Ehrlicher  Senior  [Christoph 
Georg  Bussmann,  Senior  des  Geistlichen  Ministeriums  in  Colmar 
das  aus  vier  evangelischen  Pfarrern,  nämlich  einem  Senioren 
einem  Archidiakonen  und  zwei  Diakonen  bestand]  zu  Grabe 
gegangen  ist.  Melden  Sie  mir,  lieber  Freund,  so  bald 
Sie  können,  ob  Sie  einige  Lust  hätten,  zu  Ihrer  ehemaligen 
Pfarrgemeinde  zurückzukehren.'  Ohngeachtet  wir  vor  der 
Hand  uns  nicht  geeigen  schattet  (sie)  glauben,  eine  gesetz- 
mässige  Wahl  vorzunehmen,  so  würde  es  ein  Leichtes 
seyn,  die  Sache  so  einzuleiten,  dass  Ihre  Rückkehr  zu  uns 
stattfände. 

Dass  dieses  mein  sehnlicher  Wunsch  wäre,  darf  ich  Ihnen 
Wühl  nicht  sagen.  Wir  schreiben  heut  an  Herrn  Kern^  um 
Yerhaltungsregeln  ;  welchen  Platz  wir  Ihnen  versprechen  könnten, 
weiss  ich  nicht ;  ich  glaube  aber  bei  der  neuen  Organisation 
sollte  Ihnen  das  Inspebtorat  nicht  entgehen. 

Vorgestern  hat  Herr  Günther  [Johann  Jakob  Günther 
war  Diakonus  an  der  evangelischen  Kirche  von  Colmar] 
dem  Consistorium  erklärt,  dass  er  Herrn  Engel  [Matthias  Engel 
aus  Strassburg  gebürtig,  war  gleichfalls  evangelischer  Diakonus 
zu  Colmar]  seinen  Rang  abtreten  wolle.  Zu  einer  allge- 
meinen Bürgerwahl  wird  es  Gottlob  nicht  kommen.  Ueberlegen 
Sie  diese  Sache,  lieber  Freund,  und  melden  Sie  mir  sodann 
das  Resultat,  wenn  Sie  mir's  nicht  mündlich  überbringen, 
welches  immer  das  beste  wäre. 

Ich  glaube,  ich  bin  Ihnen  noch  die  dritte  Lieferung  meiner 
«Versuche»  schuldig,  worin  bei  20 hässliche Druckfehler  prangen. 
Kann  ich  sie  nölhigenfalls  dem  Boten  mitgeben?  Wie  steht  es 
mit  der  Münsterischen  Subsidiensteuer  ?  Ihr  Thal  ist  noch 
allein  zurück  ;  selbst  die  Mümpelgardter  Gemeinden  haben  7 
LouistKor  eingesandt. 

Leben  Sie  wohl,  lieber  Freund,  mit  unserer  Mina  [Lucas 
Gattin  und  den  Kindern.  Wir  alle  umarmen  Sie  von  ganzem 
Herzen. 

Pfeffel. 


^  Pfarrer  Lucä  war  bis  1795  Diakonus  in  Colmar  gewesen. 

2  Philipp  Friedrich  Kern  aus  Bu(;hsweiler,  ein  Schwager  des 
Staatsrechtslehrers  Christoph  Wilhelm  Koch,  wurde  auf  Empfehlung 
des  letzeren  vom  ersten  Consul  zum  Präsidenten  des  General- 
konsistoriums der  Kirche  Augsburgischen  Confession  ernannt. 


—    134    — 

III. 

Colmar  den  5.  frnctidor  XL  [23   Augnst  1803]. 

Hier,  lieber  Freund,  erhalten  Sie  Ihr  «Wunder fassen»  * 
zurück,  das  ich  mit  grösstem  Vergnügen  und  Herr  Buie  li- 
sch ön^  mit  gleichem  Gefühle  zweimal  gelesen. 

Wir  stimmen  alle  darin  überein,  dass  Sie  mit  einer  fran- 
zösischen Uebersetzung  der  Gesellschaft  ein  sehr  angenehmes 
Geschenk  machen  werden ;  aber  auch  das  deutsche  Original 
dem  Druck  überlassen  sollten,  s  Die  Anekdote  von  Kaiser 
Friedrich  II.  in  Paris  [bei  Urbeis,  Orbey]  scheint  mir  sehr 
apogryphisch  (sie).  Auf  seiner  Flucht  kam  er  zuverlässig  nicht 
so  weit. 

So  viel    in  Eile.     Wir  umarmen   Sie  herzlich.     Leben  Sie 

wohl  ! 

Pfeffel. 

IV. 

Colmar  den  19.  Nivos  XII.  [10.  Januar  18Q4]. 

Glück  und  Heil,  meine  Theuersten  Freunde  !  Zur  Gross- 
Elternschaft  !  Gluck  und  Heil  der  Lieben  Wöchnerin  und  dem 
neuen  Ankömmling  ! 

Meine  ganze  Familie  theilt  meine  Freude  und  meine  Wunsche. 
Da  der  Ueberbringer  Ihres  Päckchens  uns  über  der  Mittags- 
suppe antraf,  und  versicherte,  dass  er  morgen  wieder  bei  uns 
einsprechen  würde,  so  wollte  ich  ihm  den  ocBahrdtj»  nicht  ohne 
schriftliche  Begleitung  mitgeben,  sondern  ihn  lieber  noch  z^v'eiea 
Tage  länger  beherbergen. 


1  Pfarrer  Lncä  veröffentlichte  eine  Episode  aas  der  Jngendge- 
schichte  des  kurpfälzischen  Hofrats  und  Direktors  der  Akademie  der 
Wissenschaften  zn  Mannheim,  Hofrath  Andreas  Lamey,  der  ans 
Münster  im  Ober-Elsass  gebürtig  war.  Es  ist  dies  die  anmutige  luid 
reizend  geschriebene  Erzählung:  cDas  Wanderfä8schen>,  Laiaey  war 
ein  Schüler  und  Freund  des  berühmten  Schöpflins,  der  ihn  zu  Mänster 
im  Hause  seines  Schwagers,  Diakonus  Brauer,  kennen  lernte. 

*  Der  aus  Holstein  stammende  Schriftsteller  Friedrich  Bnten- 
schön  kam  1790  nach  Strassburg  und  gab,  in  Verbindung  mit  Eolo- 
gius  Schneider,  das  politische  Blatt:  «Argos  oder  der  Mann  mit 
hundert  Augen >  heraus.  Später  lenkte  er  in  friedlichere  Bahnen  ein 
und  widmete  sich  dem  höheren  Lehrfach.  Er  trieb  daneben  litteraiiscbe 
Studien.  Butenschön  starb  zu  Speyer  in  den  zwanziger  Jahren  als 
königl.  bayrischer  Hofrat  und  Studiendirektor. 

3  Die  Erzählung  des  «Wunderhässchens>  erschien  zum  ersten 
Mal  in  Druck  in  dem  von  Ehrenfried  Stöber  im  Jahre  1807  heraus- 
gegebenen «Alsatischen  Taschenbuch». 


—    135    — 

Mit  Vergnügen  willige  ich  darin,  dass  Herr  Pfarrer 
Heiland  [in  Munster]  den  Genuss,  den  die  (Llnsi>  uns  ver- 
schafTt  (sie)  hat,  mit  uns  theile,  und  werde  ihm  sehr  dankhar 
seyn,  wenn  er  mir  denselben  durch  die  Mittheilung  des  Almanachs 
der  Chroniken  vergelten  will. 

Ich  schreibe  Ihnen  heute,  mein  Theurer  Freund  !  weil 
der  oberrheinische  Bote  mir  morgen  keine  Zeit  dazu  lassen 
würde.  Soeben  erhalte  ich  von  C  o  1 1  a  [aus  Stuttgart]  eine 
Anzeige,  welr.he  die  Flora  in  eine  andere  Quartalschrift 
unter  dem  Titel :  Vierteljährliche  Unterhaltungen 
umschaiTt,  und  ihr  den  braven  Huber  zum  Redakteur  gibt. 
Eine  Einrichtung,  wobei  das  Werk  nothwendig  gewinnen  muss, 
weil  Cotta,  es  sey  nun  aus  Nolh  oder  aus  Uebereilung  in 
seiner  Wahl  oft  äusserst  nachsichtig  war. 

Leben  Sie  wohl,  mein  Theurer  Freund  !  Wir  alle  umarmen 
Sie  Sämtlich  von  ganzem  Herzen. 

Pfeffel. 
V. 

A  Monsieur 

Monsieur  Wild^   Conseiller  du  Serenissime  Prince  d'Ysenbourg 

ä  Mülheim. 

Colmar  den  3.  Januar  1805. 

Die  üeberbringer  dieses  Blatts  werden  Ihnen,  lieber  Freund, 
selbst  sagen,  dass  ich  Ihren  Auftrag  besorgt  habe.  Ich  danke 
Ihnen  recht  herzlich  für  die  Ankündigung  dieses  mir  so  ange- 
nehmen Besuchs  ;  sie  hat  mir  einen  Vorgenuss  der  Freude  ge- 
geben, die  mir  gestern  und  heute  zu  Theil  wurde.  Machen  Sie 
nur,  lieber  Freund,  dass  wir  auch  Sie  bald,  aber  länger  als 
das  letzemal,  zu  geniessen  bekommen.  Bessere  Freunde  als  hier 
und  in  Münster  können  Sie  doch  warlich  nirgends  haben,  und 
da  nun  Ihr  Cabinet  Ihnen  vom  Nacken  ist,  wozu  ich  Ihnen 
herzlich  Glück  wünsche,  so  haben  Sie  nun  ein  Band  weniger, 
das  Sie  an  Mülheim  fesselt.  Unsere  sämmtlichen  Grüsse  werden 
die  Lieben  (sie)  Reisenden  Ihnen  mündlich  ausrichten. 

Leben  Sie  wohl,  mein  Werter  alter  Freund  !  behalten  Sie 
mich  lieb  und  empfangen  Sie  die   herzlichste  Umarmung  Ihres 

Pfeffel. 


•  Der   Fürstlich-  Isenbnrgische    Hofrat  Wild    ans   Müllheim    war 
ein  Bruder  der  Frau  Pfarrerin  Lncä  aus  Münster. 


—     136     — 

VI. 

Au  Citoyen  Luce 

Pasteur  du  Culle  Protestant 

ä  Münster. 

Colmar  28,  6,  6.  (sie)  [28.  Jani  1806]. 

Hier,  lieber  Freund,  ist  ein  klaglicher  Brief  von  B.  Meiss, 
den  ich  gestern  bei  meiner  Rückkunft  vom  hochstinteressanlen 
Mulhauser  Feste  vorfand.  Offenbar  hat  der  gute  Exjunker  statt 
Hornung  März  setzen  wollen  und  über  dieses  haben  nun  die 
Aspecten  sich  zu  seiner  Beruhigung  sehr  verändert  ;  denn  von 
meinem  Carl,  der  auf  vier  und  zwanzig  Stunden  hier  ist,  habe 
ich  erfahren,  dass  unser  Exulant  verwichenen  Dienstag  von 
Brugg  aus  an  Mengaud  geschrieben  hat,  dass  er  nun  wieder 
dort  angekommen  und  vollkommen  ruhig  sey.  Pf.  Spörlin» 
bei  dem  ich  logirte,  M  ä  d  e  r  [ein  reformierter  Pfarrer  aus  Mül- 
hausen]  und  andere  Helvetische  Brüder.  Wenn  ich  auch 
Zeit  hätte,  so  würde  ich  Ihnen  das  Fest  [die  Vereinigung  der 
literarischen  sog.  «Helvetischen  Gesellschaft»,  nur  sehr  un- 
vollkommen beschreiben,  sobald  aber  die  gedruckte  Beschreib- 
ung, an  der  man  arbeitet,  in  meinen  Händen  seyn  wird,  werde 
ich  sie  Ihnen  zuschicken.  Unterdessen  thäten  Sie  wohl,  wenn 
Sie  mir  die  frohe  Gelegenheit  verschaften  Ihnen  diese  Haupt- 
und  Staals-Action  bei  der  Freund  Metzger  2  seine  schöne  Rolle 
sehr  schön  gespielt  hat,  zu  beschreiben.  Das  Wort  «stinken» 
nehme  ich  hier  im  guten  Sinne.  Wir  umaimen  Sie  alle  von 
Herzen.  Leben  Sie  wohl.  Pfeffel. 

vn. 

A  Monsieur 
Monsieur  Luce  President  du  Consistoire 

ä  Münster. 
Colmar  2,  7,  6.  [J.  Juli  1806). 

Hier,  lieber  Freund,  empfangen  Sie  eine  kleine  Waat- 
ländische  Rede,  die  nicht  ohne  W^erth  ist.  Den  Meissschen  Brief 
werden  Sie  hoffentlich  erhalten  haben.  Durch  meinen  Carl  soll 
ich  nun  Possei  ts  Weltkunde  bekommen,  die  ich  Ihnen  statt 


1  PfaiTer  Spörlin  aus  Mülhausen  war  der  Vater  der  bekannten 
Volksschriftstellerin  Margaretha  Spörlin. 

2  Johann  Ulrich  Metzger  aus  Colmar,  der  bekannte  französische 
Volksrepräsentant,  der  die  Einverleibung  der  Stadt  Mülhausen  17S>i 
mit  Frankreich  bewerkstelligte,    war  ein  Freund  des  Dichters  PfeffeL 


—    137    — 

des  Macklots  mittheilen  werde.  Die  Blätter  werden  freilich 
neu,  aber  doch  immer  wichtig  seyn.  Endlich  habe  ichs  versucht 
die  Fabel  des  Luther,  die  ich  Ihnen  verdanke,  in  Reime  zu 
bringen.  Hier  ist  sie.  Aergerlich  war  es  mir,  dass  ich  den  Aus- 
druck Baret  nicht  beibehalten  konnte  ;  ich  hätte  in  den  letzten 
Vei*s  einen  Daktylus  bringen  müssen.  Zwar  ist  unser  Akademischer 
Doktorhut   weiter  nichts  als  ein  Baret.     Hier  ist   übrigens  eine 

Variante : 

Das  Aug'  dem  Esel  zugekekrt 
Und  seinem  blutigen  Genicke, 
Sprach  er:  Ey,  Ihre  Majestät, 
Der  Doktor  hier  im  rothen  Baret. 

Dann  aber  müssle  Luthers  wörtlich  beibehaltene  Moral, 
wegen  der  nämlichen  Reime  wegfallen,  üebrigens  wäre  es  mir 
leicht  auch  in  die  vorhergebenden  Zeilen  einige  Daktylen  oder 
Amphibrachen  zu  bringen.  Leben  Sie  wohl,  lieber  Freund, 
Wir  umarmen  Sie  alle  von  Herzen.  Pfeffel. 

vm. 

A  Ä^dame  Madame  Luce  nee  Wild 

ä  Munster. 

Colmar  den  29.  Julias  1806. 

Es  war  mir  sehr  leid.  Hebe  Mi  na,  dass  der  Besuch,  den 
Sie  und  Madame  ßurckhardt  uns  auf  verwichenen  Sonntag  hatten 
holTen  lassen,  nicht  Statt  fand.  Dafür  ist  auch  die  Wässer- 
linger  (sie)  Caravane,  wenigstens  des  Abends,  mit  schlechtem 
Wetter  bestraft  worden. 

Lassen  Sie  nur  unsere  Schad loshalt ung  nicht  lange  ver- 
schoben bleiben.  Wenn  die  nächste  Post  mir  nicht  das  Gegen- 
theil  verkündet,  so  erwarte  icli  bis  Morgen  Abend  meine  Frau 
von  Strassburg  zurück^  wo  Carolina  [eine  Tochter  Pfeffels  wohnte] 
ungeachtet  sie  wieder  ausgegangen  ist,  noch  etwas  langer 
bleiben  wird.  Ich  wollte  liinen  von  dieser  Heise  nichts  melden 
um  meine  Unruhe  nicht  mit  Ihnen  zu  Iheilen,  und  wusste  über 
dieses,  dass  Sie  den  Zweck  und  den  glücklichen  Erfolg  derselben 
von  Madame  ßurckhardt  erfahren  würden.  Eben  so  habe  ich 
Ihnen  in  der  sichern  Erwartung  Ihres  Besuchs,  eine  andere 
Neuigkeit  verschwiegen,  die  Ihnen  und  unserm  guten  Luce 
nicht  gleichgültig  seyn  wird.  Es  hat  nemlicb  dem  Kaiser 
Napoleon  in  Gnaden  gefallen,  mir,  der  ich  ihm  so  unbekannt 
zu  seyn  glauben  musste  als  ein  Murmel thier  der  Savoyschen 
Feisenk  lüften,  eine  alljährliche  Pension  von  1i*00  Franken  zu 
dekretiren.  Vorgestern  habe  ich  hievon  die  offizielle  Anzeige 
des  Ministers  des  Innern  erhalten.     Mündlich  werde  ich  Ihnen 


—    138    — 

ein  Mehreres  von  diesem  Ereigniss  erzählen,  das  ich  eine  boone 
fortune  nennen  würde,  wenn  ich  nicht  an  eine  allgütige  Vor- 
sehung glaubte. 

Vorgestern  sandte  mir  meine  Frau  den  Lafontainischen 
Roman  zurück,  den  Madame  Heiland  [die  Gattin  des  zweiten 
evangelischen  Pfarrers  von  Münster]  die  Gefälligkeit  hatte 
ihr  zu  borgen.  Da  iich  ihn  ebenfalls  lesen  möchte,  so  bitten 
Sie  Herrn  und  Madame  Heiland  nebst  meinem  freundschaA- 
liebem  Empfehl,  mir  dieses  Buch,  falls  sie  es  nicht  noth wendig 
brauchen,  noch  einige  Zeit  zu  lassen. 

Nun  leben  Sie  wohl,  meine  Theuersten  Freunde.  Ich  um- 
arme Sie  mit  allen  Ihren  Lieben  von  ganzer  Seele. 

Pfeffel. 

IX. 

A  Monsieur 
Monsieur  Luc(^  President  du  Gonsistoire 

ä  Münster. 

Colmar  den  28.  Merz  1807. 

Nur  noch  ein  Wort,  meine  Freunde  !  aber  ein  herzzer- 
reissendes  Wort  für  mich  und  gewiss  auch  für  Euch.  Mit  der 
gestrigen  Post  erhielt  ich  von  Madame  de  G^rando',  im  Namen 
meiner  Schwester,  die  Nachricht  von  dem  plötzlichen  Tode 
meines  guten,  einzigen  Bruders,  meines  ältesten  und  besten 
Freundes. 

Lasst  es  doch,  ich  bitte  Euch,  den  Herrn  Hartmann* 
nebst  meinem  Empfehl  sagen.  Wir  umarmen  euch  nlle  von 
ganzem  Herzen.  Pfeffel. 

X. 

Madame  Luc6  n«^e  Wild 

a  Münster. 

Colmar  den  5.  Jenner  1808. 

An  der  Spitze  meiner  Tischgesellschaft  erscheine  ich  vor 
Ihnen,    liebe  Minna  !    nicht  nur,  um  Ihnen  für  den   uns  zuge- 


1  Frau  Annette  de  Gerando,  die  Qattin  des  berühmten  fran- 
zösischen Philosophen,  war  eine  geborene  Freiin  von  PiAtsamhansea 
und  eine  treue  Freundin  des  Dichters  Pfeffel  und  seiner  Familie. 

*  Der  alte  Herr  Fabrikant  Fritz  Hartmann  von  Münster,  Pair 
von  Frankreich  und  Freund  des  Generals  Foy,  der  ihn  einmal  in 
Münster  besuchte  und  dort  einen  begeisterten  Empfang  bei  der  Be- 
völkerung fand. 


—    139    — 

schickten  stattlichen  Neujahrs-braten  zu  danken,  sondern  Ihnen 
für  jeden  Tag  des  Jahres  aus  des  lieben  Gottes  reicher  Küche 
ein  auserlesenes  Wildprett  ffir  Leib  und  Seele  anzu wünschen. 
Uebrigens  soll  es  unter  uns  und  unsern  Familien  beim  alten 
bleiben.  Das  neue  taugt  ohnehin  selten  was,  wie  die  tägliche 
Erfahrung  lehrt. 

Leben  Sie  wohl,  und  lange  wohl,  meine  Theure  Mina  ! 
und  empfangen  Sie  mit  unserm  Freunde  und  allen  Ihren 
Lieben  den  heiligen  Kuss  der  Freundschaft.  Pfeffel. 

XL 
A  Madame 

Madame  Luc6  n6e  Wild 

ä  Münster. 

Colmar  den  11.  Julias  1808. 

Wenn  Sie,  liebe  Mina,  auch  keinen  Menschen  vor  unsern 
Theuern  Patienten  gelassen  hätten,  so  wäre  ich,  wie  ich  glaube, 
einer  Ausnahme  würdig  gewesen,  die  ich  zuverlässig  nicht  miss- 
braucht haben  würde.  Fünf,  höchstens  zehn  Minuten  würden 
einstweilen  dem  Drange  meines  Herzens  ein  Genüge  gethan, 
und  Sie  würden  sich  die  Unannehmlichkeit  erspart  haben,  bei 
Ihnen  selbst  deswegen  verklagt  zu  werden,  dass  Sie  mich  nicht 
von  Ihrer  Durchfahrt  durch  Colmar  haben  benachrichtigen 
lassen.  Es  hätte  mir  so  wohl  gethan,  mich  mit  Ihnen  über  die 
Besserung  unsers  Freundes  zu  freuen,  und  unsere  Freude 
würde  ihm  gewiss  nicht  geschadet  haben.  Sobald  er  hergestellt 
ist,  komme  ich  zu  Ihnen,  um  Ihre  Gefühle  mit  Ihnen  zu 
theilen,  und  ein  Paar  Stunden  mit  dem  Auferstandenen  zu  kosen. 

Herr  Pfarrer  Heiland  hatte  die  Gefälligkeit,  mich  zu 
seines  Sohnes  Hochzeit  einzuladen,  aber  anderer  dringender 
Ursachen  zu  geschweigen,  wäre  es  mir  jetzt  nicht  möglich,  eine 
andere  Reise  in's  Münsterthal,  als  an  das  Bette  meines  Freundes 
[des  Pfarrers  Lucä]  zu  machen. 

Nun  noch  eine  Commission,  liebe  Mina,  deren  Beantwort- 
ung Sie  unserm  guten  Professor  mündlich  auftragen  können.  Seit 
einigen  Tagen  ist  meine  Schwester  aus  Zweibrücken  bei  uns  ; 
sie  möchte  einen  vorzüglich  guten  Münsterkäs,  womöglich  mit 
Kümmel,  mit  sich  nehmen,  und  da  fragt  sich's,  ob  bei  jetziger 
Zeit  dergleichen  extra  Käse  bei  Ihnen  zu  haben  sind?  Ein  Ja 
oder  Nein  ist  alles,  was  ich  verlange,  und  im  ersten  Falle  käme 
freilich  die  zweite  frage  zum  Vorschein,  ob  Sie  oder  Jemand 
von  den  Ihrigen  in  dieser  Woche  einen  solchen  Käse  an  uns 
spediren  könnten,  wenn  ich  Ihnen  mit  dem  morgenden  Boten 
die  Antwort  meldete. 


—    140    — 

Künftige  Woche  verreist  meine  Schwester  wieder,  die  sich 
mit  uns  Allen  vereinigt,  um  Sie  Samt  und  Sonders  von  ganzer 
Seele  zu  grüssen.  Lebt  wohl,  Theuerste  freunde!  ganz  und 
ewig  Euer  P  f  effel. 

XII. 

A  Madame 

Madame  Luce 

ä  Münster. 

Colmar  den  21.  Julias  1808. 

Ich  will  hören,  Liebe  freundin  !  ob  Sie  sich  mündlich 
besser  als  schriftlich  entschuldigen  können,  dass  Sie  bei  Ihrer 
Durchreise  sich  und  unsern  freund  Luce  meinen  Umarmungen 
entzogen  haben.  Mein  Carl  will  und  muss  seinen  Lehrer  und 
seine  Verpflegerirt  sehen,  und  wir  haben  den  Vorsatz  gefasst, 
mit  [seinem  Reisegefährten,  einem  sehr  intressanten  Holralh 
Jung,  Notabene  nicht  Stilhng,  ehester  Tage  zu  besuchen.  Allein 
wenn  Sie  uns  unsre  freude  nicht  vergiften  wollen,  so  geben 
Sie  uns  dem  strengsten  Buchstaben  nach,  nichts  als  eine 
Schüssel  Zugemüse  und  etliche  Fischlein  von  der  Hand  meiner 
Caroline  zubereitet.  Ein  drittes  Gericht  werden  wir  mitbringen. 
Aber  noch  einmal  ich  breche  mit  Ihnen  im  grösslen  Ernste, 
wenn  Sie  von  meinen  Bedingungen  abweichen.  Vielleiclit  kann 
ich  Ihnen  am  Schlüsse  dieses  Briefes  sagen,  wann  wir  kommen 
können. 

Empfangen  Sie  unterdessen  mit  unserm  lieben  Convales- 
2enlen  unser  Aller  zärtlichste  Umarmung. 

Pfeffel. 

P.  S,  No(;h  kann  ich  nichts  bestimmen.  Wenn  wir  über- 
morgenden Samstag,  früh  um  9  Uhr  nicht  in  Münster  sind, 
so  kommen  wir  erst  künftiije  Woche. 


'n 


TX. 


Elsässische  Sprichwörter 

und    sprichwörtliche   Redensarten 

Mitgeteilt  Ton 

Julius  Rathgeber. 


Elsässische  Volksreime. 


s 


chneck^  Schneck',  streck  d'Ohre-n-erüs 
Oder  i  wirf  di  üwer  alli  Hieser  nüs. 

Storick!  Storick!  (Storch)  Langbein, 

Tra  mi  üf  em  Rücke  heim 

Kannsch  mi  nit  ertraue 

Ze  16y  rai  uf  e  Wauje 

Führ'  mi  in  das  Beckehüs 

ün  such  mer  e  schöne  Wecke-n-erüs  ! 

Heile,  heile,  Seje 
Kätzele  nf  de  St6je 
Miesele  nfm  Mischt 
Weiss  niemes  was  im  liewe 
Puppele  isch. 

Isch's  wohr  ?  git's  Kriej  ? 

Jo,  ze  Betschdorf  git's  Kriej  genüe  nn  au  Häfe  derzü. 

(Wortspiel  mit  den  Worten   Krieg   und  Krug,  die   im  Elsas» 
beide  im  Dialekt  Kriej  ausgesprochen  werden. 


—    142    — 

So  gehn  die  Gang,  het  zeller  Müller  gsait, 

un  doch  het  er  nur  eine  ghet,  im  der  isch  Dit  gange^ 

denn  ^s  isch  der  Hüsgang  gsin. 

Käthrinle,  Käthrinle, 

Wo  hesch  denn  dine  Mann? 

Im  Eämmerle,  im  Eämmerle 
Het  rothi  Hössle  an. 

üf  e  jedes  Häfele 
G'hört  e  Deckele. 

Früejh  in's  Bett  nn  früejh  erüs 

Bringt  G'snndheit,  Geld  nn  Glück  in's  Hüs. 

Zitter  (Seither,  seitdem)  ich  e  Kühjel  (kleine  Knh)  hab* 
Z6jt  mer^s  Eäppel  vor  mer  ab. 

Mit  ganz  kleine  Axestreiche 
Macht  mer  falle  dMickste  Eiche, 
Doch  wenn  d'£iche  falle  solle 
Müess  mer  d^Streich,  oft  wiederhole. 

£  Sprichwort 
e  wohr  Wort. 

Ze  Lanterbach  hawi  min  Strumpf  verlöre 

Von  Lanterbach  geh^  i  nit  heim 

Jetz  geh^  i  wieder  noch  Lanterbach  züe 

Un  kauf  mer  e  Strumpf  un  au  noch  e  Schüeh. 

E  ganzi  Rott  nanjt  am  en  Oos 
Mer  meint  es  isch  der  Deyfel  los! 
Arawisch,  dytsch  nn  schwyzerisch, 
Spaniolisch,  Luxeburjerisch 
Doch  ein  Sprech  nur  mer  gefalle  will 
Die  wo  mer  d'heim  red't  an  der  111. 

(Karl  B  0  e  s  e,  Blidah,  Dez.  1857). 

ABC 

D^Katz  geht  in  de  Schnee, 
Wenn  si  wieder  kommt  erüs 
Ze  thüet  ere  's  Füessel  weh. 

Wenn  d'Tüwe  (die  Tauben)  fürt  sin 

Ze  macht  mer  de  Schlaa  (Taubenschlag)  züe. 

Wenn  's  Schof  (Das  Schaf)  gemetzt  isch 
Ze  kann  mer's  nimm!  scheere. 


i 


—    143    — 

Die  Yoüjel  (Vögel),  wo  früjh  singe 
Lon  bal  noch  mit  pfife. 

Der  Pfeffer  hilft  im  Mann  nfs  Pferd 
ün  bringt  die  Frau  unter  d^Erd. 

Un  we  mer  Ente  nf  m  Wasser  schwimme  het, 
Ze  ka  mer  nix  saaae, 
Sie  könne  an  untergehen. 

Wie  mer  de  Salon  ufmacht,  ze  kosfs  Qeld 
d.  h.  ein  comfoxtables  Leben  ist  kostspielig. 

Nett 
wie  dTischerkäth 

un  schön 

wie  d'Bohnelehn 

ün  het  Wade 

Wie  der  Fischerstade. 

Wenn  de  witt  seli  sterwe 

So  lass  ^s  Vermöje  kumme  uf  de  rechte  Erwe 

Wer  am  Heumache  nit  gawelt 

ün  in  der  Ernt  nit  zawelt 

ün  am  Herbst  nit  frisch  ufsteht 

Der  soll  sehn  wie^s  em  im  Winter  geht. 

Es  isch  Alles  Rumpf  un  Stumpf  drufgange 
Wie  's  Hirte  Hanse  Eierküeche 
Wo  der  Letzt  nix  bekummt. 

Mer  lockt  der  Mus  (Maus)  so  lang, 
Bis  sie  in  der  Fall  isch. 

Ich  un  du 
ün's  Müllers  Kueh 
ün*s  Backe  Stier 
Mache  zamme  vier. 

D^Lit  kenne  isch  schön,  awer  sie  nit  kenne  isch  noch  schöner. 
E  Narr  verspricht  viel,  awer  er  halt  nix. 
Wer  kummediert  exerciert  nit. 
Früejh  gesattelt  un  spot  geritte. 


—     144    — 

Wenn  ich  dich  an  *s  lieb  Brod  nit  hätf 
Ze  müsst  i  d^Sapp  trinke. 

Sinn:  Ohne  dich  and  deine  Hülfe  könnte  ich  nichts  ausrichteo. 

D 'kleine  Lit  het  Gott  erschaffe 

Un  d'grosse  Bengel  wachse-n-im  Wald, 

Awer  d^Schtorze  (die  Krüppel)  aa. 

Die  han  handert  Acker  Newel  am  Rhin 
Un  töasig  Acker  Fahrw^j  (Fahrweg). 

Sinn  :  Die  besitzen  nichts  als  in  ihrer  Einbildang. 

Dis  isch  min  an  dis  isch  nit  din 
Un  dis  isch  aa  min. 

Sinn:  Wenn  ein  Erbe  bei  einer  Erbschaft  Alles  haben  will,  so 
spricht  er  also. 

Wenn  i  haspel  kann  i  nit  spinne. 
Sinn  :  Man  kann  nicht  zwei  Dinge  zagleich  than. 

Mer  müess  zerscht  (znerst)  de  Stall  böaje 
Eh'  mer  d'Küeh  drin  kaaft. 

Sinn:  Man  mass  zaerst  die  Kosten  einer   Sache  überlegen,  ehe 
man  sie  beginnt. 

I  man  (mag)  ken  Küeh  hüte 
Un  man  ken  Qeise  hüte 
Awer  hirothe  thät  i  gern. 

ha  ken  Hüs  an  ha  ken  Hof 
Un  ha  ken  Geld  an  ha  ken  Feld 
Awer  so  e  Maidel  wie  ich  bin 
Git's  kenn's  meh  af  der  Welt. 
I  man  ken  Hänsele 
Un  man  ken  Franzele 
Awer  e  Seppele  hätt*  i  gern. 

I  denk  min  Theil  wie's  Goldechmidts  Janger. 

Was  het  der  gedenkt? 

Wenn  er  Gold  hätt',  ze  thät  er  Löffel  mache. 

Zwei  Koch  versalze  d'Sapp. 

Was  isch? 

Meh  Wasser  als  Fisch. 

Der  Richtam  isch  e  Leiter.  Wenn  d'Lit  af  der  eine  Sit  drove  sin, 
ze  gehn  sie  af  der  andre  wieder  heranter. 


—    145    — 

E  Maikäferjohr 
£  gutes  Johr! 

Wann  e  Wann  (Wortspiel)  e  Rittex  wär^ 
Ze  wär^  min  Vater  e  Millionär. 

Selbst  g'ppanne,  selbst  gemacht 
Dis  isch  die  rechti  Büretracht. 

Anna  Margretel  het^s  Esse  verbrennt 

Isch  mit  dem  Kochlöffel  noch  Molse  gerennt. 

Kühler  Mai 

Füllt  d'Kiste  iin  d^Käste 

Un  git  viel  Heu. 

Märze  Staub, 

Aprile  Laub, 

Maie  Lache, 

Dis  sin  drei  schöni  Sache. 

E-n-erschrokener  Haas  isch  selbst  im  Himmel  nit  sicher. 

Viel  Händ^ 
Machen-e-g'schwind's  End ! 


10 


X. 


Volkstümliches 


von 


A.  Uhlhorn. 


Aberglaube. 


I 


.n  Oberhofen  (Kr.  Hagenau)  wurde  vor  etwa  vierzig  Jahren 
noch  allgemein  an  Hexen  und  Gespenster  geglaubt,  so  z.  B.  an 
das  Dorftier,  welches  sich  nach  Belieben  gross  oder  klein 
machen  konnte.  Es  zeigte  sich  an  drei,  oder  vier  Stellen  im 
Dorfe,  besonders  in  der  sogenannten  Hintergasse.  —  J)ann  zeigten 
sich  feurige  Männer  auf  dem  Felde,  hauptsachlich  in  den 
Erdäpfeläckern,  um  12  oder  2  Uhr  Nachts,  welche  Feuer  sprizlen, 
gleich  wie  wenn  man  eine  Laterne  hin  und  her  schwenken 
würde.  —  Ferner  hörte  man  das  R  o  1 1  s  c  h  e  1 1  e  1  e ,  ein  un- 
sichtbares Wesen,  welches  gleich  wie  ein  kleines  Glöckchen 
läutete.  Endlich  wurden  Leute,  welche  um  zu  «schwengen*, 
d.  h.  eine  Sympathie  mit  Worten  anzuwenden,  gegen 
Mitternacht  sich  ausserhalb  des  Dorfes  befanden  von  einer 
«grösseren»  Sympathie  irregeleitet,  so  dass  sie  bis  zum  Läuten 
der  Tagglocke  auf  einem  Erdäpfelacker  auf-  und  abgehen  mussten. 

In  Bischweiler  (Kr.  Hag.)  nennt  man  eine  schwarze  Katie 
«Oberhofer  Hexe».  Am  Galgenberg  bei  Bisch  weiler  scheuen 
oft  nachts  die  Pferde  und  wollen  nicht  vorbei,  so  dass  die  Fuhr- 
leute sie  ausspannen  müssen. 

In  Schirrhein  (Kr.  Hag.)  gibt  es,  wie  mir  meine  Gewährs- 
frau versicherte,  noch  heutzutag  Hexen,  die  einen  «verbannen» 


—    147    — 

und  sich  am  Sefelsbaume,  einer  alten  astlosen  Eiche  gegen  dem 
Artillerieschiessplatz  zu,  versammeln  und  ihre  [Orgien  feiern. 
Auf  die  Frage  warum  der  Baum  Sefelsbaum  heisst,  wurde  mir 
geantwortet,  der  Name  komme  von  einem  Urwesen  her, 
das  dort  gehaust.  Eine  Hexe  wäre  einmal  fast  gezwungen  ge- 
wesen, nackt  nach  Hause  zurückzukehren,  wenn  ihr  nicht  J,, 
ein  Einwohner  von  Schirrhofen,  begegnet  wäre,  der  ihr  seinen 
Mantel  gab.  —  Auch  jagt  der  wilde  Jäger  in  der  Umgegend, 
doch  darf  man  sich  beileibe  nicht  mucksen,  sonst  wird  man 
von  ihm  in  die  Lüfte  entführt.  Ueberhaupt  ist  es  nicht  geraten, 
Nachts  zu  antworten,  wenn  man  gerufen  wird,  selbst  wenn  es 
der  beste  Bekannte  wäre,  der  riefe. 

Oberhofen    (Kr.  Hagenau):    Als   der   schwarze  Tod  das 
Elsass  heimsuchte,  rief  eine  Stimme  vom  Himmel : 

Esse  Borätsch  nn  Bimbernel: 
No  sterwe-n-er  nett  so  schnell. 

und  die  Befolgung  dieser  Regel  rettete  viele  Leute  vom  Tode. 
'^  (Dieselbe  Sage,  nur  mit  variiertem  Spruch  findet  sich  auch 
in  Tyrol.) 

Sprüche  zum  Necken,  Anzählen  etc. 

Neckrnf. 

Bischweiler    (Kr.  Hagenau.) 

Peter, 

Stupf  de-n-Essel,  no  geht  er. 
Stupf  de-n-Essel  am  Henterfüss 
Dass  er  z  Owets  heimgehn  müess. 

Sprüche. 

Eins,  zwei,  drei,  vier,  fenf,  sechs,  sewwe, 
acht,  nyn ;  geh  ens  Gässel  nin, 
em  Gässel  esch  e  Hüss,  am  Hüss  esch  e  Hofft, 
am  Hofft  esch  e  Garte,  em  Garte  esch  e  Baum^ 
em  Baum  esch  e  Nescht,'em  Nescht  esch  e-n-Ei, 
em  Ei  esch  e  Dotter,  em  Dotter  esch  e  Haas, 
der  schprengt  dier  grad  off  dini  Drecknas. 

Zerle,  merle,  Hüssbamberle 

HÖi,  Höi,  Rädelstiel 

Peter  lehn  mer  dine  grumme,  grade  Stiel 

dass  i  Holz  drowe  heim  fahre  kann 

Durch  Hüss,  durch  Hofft 

Ens  Abraham  sin  alt  Schloss. 

Do  wohnt  e-n-alti  Bettelfrau  dien,  , 

De  zehlt  nex  als:  Kippes,  Kappes, 

schwarzi  Rappes,  bebbele,  bebbele  Brief, 

dii  müesch  nüss  gehn  diene. 


—     148     — 

A,  b,  c,  d'  Katz  leit  em  Schnee, 
Dr  Schnee  geht  eweck 
D^E9>tz  leit  em  Dreck. 

Ridde,  ridde.  Boss, 

Ze  Basel  esch  e  Schloss, 

Ze  Basel  esch  e  Herrehüss, 

Do  löie  drei  scheni  Jongfre  russ : 

D^eint  spinnt  Syd,  d'ander  spinnt  Wyd, 

d^drett  spinnt  Hawerstroh, 

d' viert  machts  grad  eso. 

Alliterierende  Sprüche. 

Der  drekid  Daniel  drikt  dene  drekide  Drikkarch  durch  dis  drekid 
Dorf  Draesenem  (Druisenheim). 

Wann  Wasser  Win   war,  wo  wotte   d'Wirscher  (Weyersheim)  Wi- 
wer  Windle  wasche? 

Rosheim  (Kr.  Schlettstadt). 

Wann   Wasser  Wy  war,  wie   wotte    d*Winzemer  Wiwer  WindJi 
wasche  ? 

Liedchen. 

Öigel,  g-'gel,  ratze, 
Morje  komme  d^Spatze, 
Ewwermorje  d'Finke, 
Alli  Jade  schtinke. 

Es  rajelt,  es  schnejelt,  es  geht  e  kiehler  Wind, 
Die  arme  Saldätle  maschiere  mit  der  Flint. 

Piöireplöi,  Grammbeeresnpp, 
Moije  gehn  d^Saldate  fnrt. 

Neckrufe. 

Bit  seh  (Kr.  Saargemünd.) 

Peter  von  Saarbrecke 

Hat  e  Sack  voll  Mecke. 

Schtellt  ne  an  de  Poste. 

Foste  kracht!  Peter  fallt  en  Ohnmacht 

Peter!  Wo  steht  er? 

Em  Stall.  Was  thnt  er?  Schtosst  Fader. 

Was  noch?  Patzt  dr  Kah  s  Loch. 

Sprüche. 

Niederrödern    (Kr.  Weissenbarg.) 

Ane,  dane,  Wassergraf 
Ane,  dane,  wäck. 


—    149    — 

Dettweiler  (Kr.  Zabern). 

Ans,  zwäi,  drei, 

Du  besch  am  allererschte  frei. 

Diemeringen  (Kr.  Zabern). 

Äne,  däne,  do.  Kappemalle  no, 
Isefalle,  Pumpernalle,  Ane,  däne,  wäck. 

Salzbach  (Kr.  Kolmar). 

An  den  Ende  Taffetband 
Esch  noch  witt  von  Engelland. 
Engelland  esch  zügschlosse 
Un  dr  Schlüssel  esch  abgebroche. 
Eins,  zwei,  drei,  du  besch  frei. 

Münster  (Kr.  Kolmar). 

Zicke,  Zacke,  Bohnestacke, 
Kersekarne,  Knopf, 
Wann  de  mers  net  gloiwe  wett 
Ze  schlaa  i  dr  eins  an  de  Kopf. 

Heilsprüche. 

Bischweiler  (Kr.  Hagenau). 

Heile,  heile,  Seje, 

8  Kätzele-n-nff  de  Steje, 

fl  Misele-n-nff  em  Mist. 

Weiss  niemes,  was  em  kleine  Kindele  esch. 

Heile,  heile.  Hörn, 

Oehts  hitt  nit,  ze  gehts  mom, 

Heile,  heile  Katzedreck  (od.  Katzeschleck), 

EwweiTnoije  esch  alles  eweck. 

Zaberu  (Kr.  Zabern). 

Heile,  heile,  Seje, 
Morje  getts  Reje 
Ewwermorje  Schnee 
Un  eweck  isch  s  Weh. 

Diemeringen  (Kr.  Zabern). 

Haie,  häle,  Seje, 

Haie,  häle,  Kälwelsdreck. 

Bes  morje  esch  alles  eweck. 

Niederrödern  (Kr.  Weissenburg). 

Heile,  Heile,  Seje 
s  Kätzele-n-uff  dr  Steje, 
8  Misele-n-uff  em  Mischt 
Hett  alles  zamme  gewischt 


XL 


Elsässische  Kinderlieder 

in    Rappoltsweiler    Mundart. 

Mitgeteilt   von 

Fritz  Mathis. 


A.  Sprüche  zum  Abzählen. > 


Bei  2  Kindern 


1. 

Ix  ün  ty  wfeta,  (wetten) 
um  tröi  koltiki  kh^ta,  (goldene  Ketten) 
um  a  tsain  (Korb  mit  2  Handgriffen)  fol  sn^; 
ty  myas  s6.  (du  mussl  sein) 

2. 

Bei  3  Kindern :  Ains,  tswai,  träi, 

t  myatar  khoyJL  priaei,  (Brühe) 

tar  fätar  kho/t  §pak,    . 

ün  ty  pes  awak.  (und  du  bist  weg) 


1  Die  Kinder  stellen  sich  im  Kreise  auf  und  eines  derselben  liWt 
ab,  indem  es  bei  jedem  Worte  auf  ein  anderes  Kind  zeigt.  Je  Mck 
den  Bedingungen  muss  das  Kind,  auf  welches  das  letzte  Wort  einer 
dieser  Sprüche  fällt,  die  übrigen  fangen,  suchen  etc.,  oder,  was  häufiger 
Yorkommt,  es  ist  «frei»,  d.  h.  es  darf  wegtreten,  während  weit«  al^ 
gezählt  wird.  In  diesem  Falle  muss  das  zuletzt  üebrigbleibendc  suchen. 


—    151     — 

3. 

Anderer  Spruch  Ains,  Iswai,  trfei, 
bei 3 Kindern:  pika  päka  p6i^ 

pika  päka  hdwarmyas,  (Hafermus) 
t  kans  (die  Gänse)  k^n  plütfyas.  (barfuss) 
plütfyas  k6n  si, 
hentram  öfa  §ten  si, 

si  laja  rüti  r^kala  ä  (sie  legen  rote  Röckchen  an) 
ün  spreY]a  en  tdr  prüna  na. 
si  fenta  a  klains  khenlala  (dim.  von  Kind) 
en    trakika    wentla ;    (dreckig  =   schmutzigen 
wiae  sols  haisa?  [Windeln) 

t  melix  fo  ta  kaisa.  (Gaisen  =  Ziegen) 
war  wel  pfetar  s^  ?  (Taufpathe  sein  ?) 
tar  snitar  khä  net  krät  st^. 
war  wel  wentla  wasa? 

t  pyawa  myan  trak  frasa.^  (Die  Buben  müssen 
Variante:  [Dreck  fressen) 

hentram  öfa  stön  si, 

foram  öfa  pata  si. 

s  khalwala  har^t  am  risema, 

en  lar  owarstät  wünt  nisema, 

en  tar  üntarstät  wönt  a  ältar  man, 

ältar  man,  würüm  Jap§  (lebst)  ty  sü  lärj? 

sol  i  tan  net  läwa? 

mini  myatar  es  en  i^  räwa,  (Reben) 

mi  fätar  es  tut, 

ün  ty  pe§  a  swup. 


4. 


4  Kinder:  Ains,Mswai,  tr^i,  fuer, 
lar  knä/t  hült  piier, 
t  mäkt  hült  the, 
ty  mya§  so. 

5. 

5  Kinder:  Ains,  tswai,  tr^i,  fiaer,  femf, 
Strek  mar  a  pär  ätremf, 
net  tsya  klain  ün  net  tsya  krüs,  (zu  gross) 
sünst  pe§  ty  a  päpisplüs.  (Tolpatsch.) 

Variante  : 
ty  pes  tsälar^rst  trüs. 


i  Dies  sagen  die  Mädchen;  bei  den  Knaben  hingegen  lautet  die 
Zeile  :  t  maitla  sen  lümpotasa. 


—     452    — 
6. 

6  Kinder :  Ains,  Iswai  .  .  .  (etc.  bis)  söks, 

wani  § . . .  sü  äm^ks,  (schmecken) 

wamar  päy^a  hamar  prüt,  (haben  wir  Brot) 

wamar  ätarwa  semar  tut. 

Ains,  tswai,  tr^i, 

ty  pes  fr^i. 

7. 

7  Kinder :  Ains,  tswai  .  .  .  (etc.  bis)  sewa, 
a  pyrafräi  khoy^t  ryawa,  (Rüben) 
aini  kho^t  §pak^  (Speck) 
ün  ty  pes  awak  (weg) 

8. 

8  Kinder :  Ains,  tswai  .  .  .  (etc.  bis)  äyt, 

t  sältäta  k^n  üf  t  wäyt,  (Wache), 

tar  säntArm  (Gendarm)  hült  ti  tiaep,  (Diebe) 

ün  ty  pes  liaep.  (lieb) 

9. 

9  Kinder:  Ains,  tswai,  .  .  .  (etc.  bis)  nin, 

s  k6t  a  pisewala  (Bübchen)  ewar  tar  rin,  (Rhein) 

8  hat  käli  hesala  a,  (Höschen) 

met  rüta  snalala  (Schnallen)  trä.  (daran) 

s  khümt  en  a  kasala.  (Gässchen) 

en  tam  kasala  es  a  karta,  (Garten) 

en  tam  karta  stet  a  päim, 

üf  tam  päim  es  a  na§t,  (Nest) 

en  tam  nast  es  a  ai, 

en  tam  ai  e§  a  tütar,  (Dotter) 

en  tam  tütar  e^  a  häs, 

tar  sprer^tar  (vulg.  sistar)  p^r  üf  tsepfalnäs. 

(Der  springl  dir  genau  auf  die  Zipfelnase.) 

10. 

10  Kinder  :  Ains,  tswai  .  .  .  (etc.  bis)  ts6n, 

t  mäkt  myas  üf  t  peu,  (Bühne  =  Speicher) 
tar  pya  hült  wi, 
tar  knäyt  sairjt  i, 
tar  her  trer^t  ys, 
ün  ty  myas  nys. 


.J 


-     153    — 

41. 

(Bei  mehr  als  10  Kindern.) 

Ains,  tswai  .  .  .  tswansik, 

t  sältäla  k6n  üf  nänsik,  (Nanzig) 

nänsik  fäYjt  ä  prana, 

t  siiltata  fäY;a  ä  rana ; 

Ains,  tswai,  trei, 

ly  pes  am  ersta  frei. 

12. 

Ains,  tswti  —  s  pist  (beisst)  mi  a  flu  ; 

trfei,  fiaer,  —  i  häwa  siaer  ; 

femf,  s6ks  —  i  häwa  kh^tst;  (gehetzt) 

sewa,  äx.t  —  er  läift  üf  t  wäyrt ;  (Wache) 

nin,  ts^n  —  i  häwa  kl^nt;  (gelehnt) 

älf,  tswelf  —  i  häwa  känsa  säk  fol  jÜTji,  jür/i  wölf.i  (Wölfe) 

B.   Schaukellieder. 

(Ein  Erwachsener  lässt  das  Kind  auf  seinem  Knie  reiten.) 

1. 

Rita  rita  rösla,  (Rösschen) 

ts  fiksa  (Egisheim)  stön  trei  slesla,  (Schlösser) 

ts  Kholmer  eis  a  klokahys,  (Glockenhaus) 

s  lyaja  trei  jümfra  arys.  (Jungfrauen) 

aini  spent  (spinn!)  sita,  (Seide) 

t  äntar  Üäyi  (flechtet)  wita,  (Weiden) 

ti  tret  pent  (bindet)  häwarsträi :  (Haferstroh) 

half  tar  (helfe  dir)  kot  mini  liajwi  fräi. 

(Beim  letzten  Wort  lässt  man  das  Kind  langsam  hinfallen.) 

2. 

Ros,  ros,  irela, 

tar  pyr  bot  a  fela,  (Füllen) 

s  fela  wel  net  läifa, 

tar  pyr  weis  farkhäifa. 

s  fela  spreT;t  awak, 

ün  tar  pyr  leit  em  trak. 

(Wie  oben ) 


^  Bei  dem  Wort  «welf>  laufen  alle  Kinder  fort,  und  das  be- 
treffende Kind,  auf  welches  dieses  Wort  fiel,  muss  die  andern  Kinder 
fangen. 


—    154    — 

3. 

Sü  rita  tise  klaina  h^rakhentar,  (Herrenkioder) 

wan  si  no^,  klain  wensik  (winzig)  sen. 

wan  si  kresar  wära, 

sü  rita  si  üf  ta  pära;  (Bären) 

wan  si  kr^sar  wäksa, 

sü  rita  si  üf  säksa,  (Sachsen) 

wü  t  s^na  rnaitla  wäksa, 

hopati  hopsasa.  (Galopp !) 

4. 
Ri  rä  ryts, 

mar  fära  en  tar  kyts.  (Kutsche) 
en  ta  kytsa  fära  mar,  (wir) 
üf  am  ösal  rita  mar ; 
ri  rä  ryts, 
mar  fära  en  tar  kytä, 

C.  Trostsprüche. 

Wenn  das  Kind  sich  eine   kleine  Verletziing   zugezogen  hat,  so 
wird  die  betreffende  Stelle  gestreichelt  mit  folgenden  Worten: 

1. 

Hajala  hajala  säja,  (Segen) 

möm  kets  raja,  (morgen  giebt  es  Regen) 

ewarmörn  kets  sne  — 

s  tyat  tar  nem  (nicht  mehr)  we. 

Hajala  hajala  säja, 

s  khatsal  (Kätzchen)  hokt  üf  tar  stäja,  (Stiege) 
s  hental  (Hündchen)  [Var. :  tar  kylar  (Hahn)]  üf  am  mest:  (Mist) 
mar  wais  nem  wü  em  khent  si  popo  es.  (popo  =  in  der  Kinder- 

sprache  Schmeraen.) 

3. 

Hajala  hajala  hörn, 
hailts  het  net  sü  hailts  mörn. 
hajala  hajala  arpsa  ün  spak, 
pis  ewarmörn  es  älas  awak. 

D.  Wiegenlieder. 

1. 

Ni  nä,  püpala  (Wickelkind)  slüf, 

üf  ta  mäta  (Malten)  sen  tswai  süf ;  (Schafe) 

s  wis  es  ti,  ün  s  swärts  es  mi, 

wan  ta  slüfs  sen  paiti  (beide)  ti. 


—    155    — 

Slüf,  püpala,  §lüf, 

tar  fätar  hiaet  ti  söf, 

ti  myatdr  hiset  ti  hamdla,  (dim.  von  Hammel) 

slüf  i  (ein)  mi  hartsik  lamala,  (Lämmchen) 

(Var.  slüf  i  mi  koltiks  arjala,) 

§lüf,  püpala,  slüf. 

3. 

V 

Slüf,  khentala^  sluf, 

trüsa  (draussen)  k6t  a  süf, 

täs  hM  sü  wisi  fiaes,  (Füsse) 

ti  melix  e§  sü  siaes,   (süss) 

sisesdr  äs  hünik  (Honig)  ün  fika,  (Feigen) 

jfets  myaS  ty  stel  swika.  (schweigen) 

4. 

Slüf,  püpala,  slüf, 

ti  wälf  sen  em  höf, 

t  swärtsa  wisD  ti  wisa, 

tiae  w^la  s  kheotala  pisa,  (heissen) 

trüm  (darum)  slüf,  püpala,  §lüf. 

5. 

Maitala,  soi  soi,  (schaue) 

ihn  khümt  tar  woi  woi,  (Wolf,  Kindersprache) 

ar  hM  a  sens  hisetala  (Hütchen)  üf 

ün  a  rüts  pantala  (Band)  trüf. 

maitala,  §oi  soi, 

tfert  khümt  tar  woi  w(»i. 

6. 

Aia  päpaia^  ti  papla  (Kinderbrei)  sen  kyat, 

wamar  (wenn  man)  präf  pütar  ün  tsükar  t'rä  tyat. 

aia,  päpaia,  ti  khentar  sen  liaep. 

wan  sis  net  mä/a  wise  ti  tiaep. 

aia,  päpaia,  jäts  Slüf  s^n  i, 

ta  pakhüms  tarnü  (hernach)  fil  tsükar  tri.  (darein) 

7. 

Aia  päpaia,  was  wüsalt  (bewegt  sich)  em  strü?* 

t  myatar  es  k§torwa,  ün  tar  fätar  e§  frü. 

tar  fätar  nemt  a  äntar  wip, 

ün  t  khentar  khüma  äli  tsya  tar  hü^tsit. 


1  Stroh,  heisBt  in  Rappoltsweiler  gewöhnlich  «§träi>. 


—     156    — 

8. 

Aia  päpaia,  was  räpalt  em  §lrü?  — 

sen  t  klaina  kansawyli  (Gänschen),  tiae  mäyjSi  a  sü. 

aia  päpaia,  §löf  liacwar  äs  ty, 

want  mars  net  kläiwa  (glauben)  wet,  ääi  mar  nur  tsya. 

£.  Kinderr eigen. 

1. 

Raja,  raja,  rüsakräins,  (Rosenkranz), 
äet  mar  a  pesala  (bischen)  wäsar  en  t  pfan, 
klaini  we§,  krusi  wös,  (Wäsche) 
kikariki.  (i  sehr  lang  anhalten). 

(Beim   letzten    <ki>   <hüren>    alle   Kinder,   d.  h.  sie  beugen  die 
Kniee.) 

2. 
Raja,  raja  rüsa, 

ti  khiaeyla  (dim.  von  Kuchen)  sen  kaplüsa,  (geblasen,  aufgebl.) 
si  l^ja  en  ta  pfäna,  (Pfanne), 
s  krä/a  äii  tsäma  (zusammen).  [Wie  vorhin.] 

3. 

Raja,  raja,  rüsa, 

s  kheja  (fallen)  krüsi  slüsa ;  (Schlössen,  Hagel), 

s  kalt  (Geld)  leit  em  khästa,  (Kasten), 

mörn  mia?mar  (müssen  wir)  fäsla, 

ewarmörn  mi^emar  s  khalwala  (Kälbchen)  mötsja, 

s  khalwala  täs  inkyi  pliv. 

4. 

Läy;i  läifji  ketsa,  (kets  :=  Kelte), 

fer  trei  sy  (Sous)  khäifa  mar  k^sta,  (Kastanien) 

trei  .sy  arys  (heraus) 

fer  ens  khäfehys.  (Kaffeehaus) 

5. 

S  stöt  a  manala  (Männchen)  [Var. :  ar^ala]  an  tar  winl, 

s  het  a  käkala  (Ei,  Kdspr.)  en  tar  hänt, 

s  mejrts  (möchte  es)  kärn  sia?ta,  (sieden) 

s  het  kh6  kliseta,  (Gluten) 

s  käts  (würde  es)  kärn  prüla,  (braten) 

s  wel  am  net  karüla, 


^    457    — 

s  möyts  kam  asa,  (essen) 

s  h^t  kh^  maser ; 

s  kheit  (fallt)  a  masar  fom  hemal  aräp 

ün  §nit  em  manala  s  hantal  äp. 

s  manala  k^t  tsyam  foktsr^ 

tar  toktar  e§  net  thaim, 

9r  hat  kär  krümi  pain, 

ti  mäkt  fäit  t  khärriar, 

tar  knä)(t  h^t  a  jämar. 

s  seist  a  tiwala  (Taube)  üf  9m  tä^, 

lAs  het  si/  fä§t  püklik  (bucklicht)  kalä/t. 

6. 

Ana  tana  tentafäs,  (Tintenglas) 

k6  en  t  §yal  ün  I6r  mar  was. 

khüms  mar  haim  ün  khäs  (können)  mar  niks, 

nem  i  t  ryat  (Rute)  ün  fels  ti  nys.  (prügle  dich  hinaus) 

7. 

S  khüma  trfei  sältätala,  (dim.  von  Soldaten), 

si  klopfa  an  täs  latala,  (dim.  v.  Fensterladen), 

si  fröja  wü  tar  päpa  es.  — 

tar  päpa  e§  em  werlshys  (Wirtshaus) 

ün  syft  äli  klösar  ys. 

ts  nä^t  khümt  ar  haim, 

met  .)ma  (einem)  krüma  pain. 

s  st^t  a  §esala  (dim.  von  Schüssel)  üf  am  te§, 

ar  fröit  was  trena  e§. 

t  myatar  sait  niks. 

tu  nemt  tar  fätar  s  khyayaprat  (Kuchenbrett) 

ün  §l^t  tar  myatar  t  näs  awak. 

Variante. 

ts  näyt  khümt  ar  haim 

ün  hat  a  §ola  (Grundscholle)  am  pain. 

ar  werft  a  hentar  t6r, 

jäts  khä  nar  nem  a  f6r  (hervor). 

8. 

A  §^ns  khümplamant, 
tar  khäf^  es  farprant, 
ti  meliy  es  ens  fir  kalofa, 
i  pfif  tar  üf  ti  khäf^khoya. 


—    458    — 

9. 
Märianala,  tsyslnala^  (dixn.  von  Susanna) 
^te  üf  ün  mäy  a  liaeyt;  (Licht) 
s  trepalt  epar  (Jemand)  em  hys  (Haus)  srüm, 
i  main  s  es  a  lia}p.  — 
o  näi,  myatar,  (Mutter)  o  näi, 
s  es  tar  tsemarmän.  (Zimmermann) 
tar  poit  (baut)  mar  jü  a  hisala,  (Häuschen) 
henta  trä  a  sirala,  (dim.  von  Scheune) 
forna  trä  a  p^rapaimal,  (dim.  von  Birnbaum) 
wan  t  p6ra  tsitik  sen,  (reif  sind) 
sa  kho}(t  t  myatar  snets.  (Bimschnitz) 
kyk  iy  en  täs  häfala,  (dim.  TopO 
sa  .^l^t  si  mar  ains  üfs  näsala. 
pit{5,  pats,  plets, 
jäts  es  i  tslait  (zum  trotz)  kh^  snets. 

10. 
(Reigen  die  bei  Regenwetter  gesungen  weiden.) 
Die  Knaben  singen  : 
S  räit  krüsi  tropfa, 
t  pyawa  myas  mar  klopfa, 

t  maitla  myas  mar  fetsa,  (fitzen  =  mit  der  Ruthestreichen 
as  si  t  stai  (Stiege)  nä  pletsa.    (springen) 

Die  Mädchen  dagegen  singen : 
S  rait  krüsi  tropfa, 
t  pyawa  myas  mar  klopfa, 
t  maitla  Idrfa  kit^ala  (dim.  v.  Kutsche)  fära, 
ün  t  pyawa  myan  s  kalt  (Geld)  spära. 
t  maitla  pakhüma  rüta  wi 
ün  a  stekal  tsükar  tri. 
t  pyawa  pakhüma  wisa  wi 
ün  a  hünstsüla  tii. 

t  maitla  lait  mar  en  a  sitap^t  (Seidenbett) 
ün  t  pyawa  khöit  mar  (wirft  man)  en  a  lornhek. 

11. 

S  räit,  tar  äkarsmän  sAit, 

t  khernala  sprer^a,  t  f&jala  seiQa : 

jyhö,  kikariki. 

12. 

S  risalt  (Staubregen)  ün  s  rdjalt 

ün  t  stitla  (dim.  von  Stauden  =  Pflanzen)  wara  näs, 

ün  was  a  räytar  khia^far  (Küfer)  e§, 

sa  slüpft  en  a  fäs. 


—    159    — 

13. 

S  räit,  s  §n^it, 

s  k6l  a  khiaela  went,  (kühler  Wind) 

t  ärma  saltäta, 

aksetsiaera  (exerzieren)  met  tar  flent. 

s  pentala  (dim.  von  Bündel)  üf  am  pükal,i 

tar  slaka  en  tar  hänt, 

atie  lisewar  fätar 

jfets  würi  mysikhänt. 

F.  Lied  zu  dem  Spiel :  «Der  Plumpsack  geht  um  I» 

1. 

Tar  fiiks  k6t  arüm, 

ar  trepalt  (trippelt)  en  tar  stüp  arüm, 

ar  trepalt  en  tar  khalar,  (Keller) 

syft  äla  müskatalar,  (Muskateller) 

ar  trepalt  en  tar  päy, 

pis  täs  tar  nüspäim  (Nussbaum)  kräyt. 

(Erst  bei  dem  Worte  «kracht»  darf  geschlagen  werden.) 
2.     Worte    zu    dem    Spiel:    «Holderstock». 

(Ein  Knabe  legt  den  Kopf  in  den  Schoss  eines  andern  Knaben, 
nnd  die  übrigen  «trommeln»  ihm  mit  den  Fäusten  auf  den  Rücken 
herum  mit  den  Worten)  : 

Rümalti  rümalti  holtarstok 

vfUQ  fil  b^rnar  slrekt  tar  pok?  — 

(Ein  Knabe  streckt  etliche  Finger  in  die  Höhe,  und  der  «Holder- 
stock» muss  raten  ;  rät  er  richtig,  so  muss  der  Knabe,  der  die  Finger 
in  die  Höhe  streckte,  Holderstock  sein.  Rät  er  falsch,  so  wird  weiter 
getrommelt  mit  den  Worten) : 

Hats  ty  (die  Anzahl  der  gestr.  Finger)  karüta,  (geraten), 
sa  war  täs  khiaeyal  (dim.  v.  Kuchen)  kaprüta.  — 
flais  üf  tar  teis !  (Fleisch  auf  den  Tisch) 

(Der  Holderstock  legt  die  Hand  auf  seinen  Rücken  und  die 
übrigen  Knaben  «pfatsa»,  d.  h.  kneifen  dieselbe.) 

War  es  s  kse?  (Wer  ist  es  gewesen?) 

(Rät  er  richtig,  so  muss  der  Kneifer  an  seine  Stelle;  wenn  nicht, 
so  beginnt  das  Spiel  von  neuem.) 


1  (ü  und  ä  von  «püksl»  und  «fätar»  sind  in  der  Melodie  des  Liedes 
sehr  lang;  gewöhnlich  spricht  man  «pükal»  und  «fätdr».) 


—    160    — 

Q.  Kiederlieder  ^welche  auf  Tiere  Bezug  haben. 

1. 

V 

Storik,  storik,  la  h^§  läY)i  pain, 

irä  mi  üf  am  pükal  (Rücken)  haim. 

wan  t  mi  net  khäs  träja, 

sa  sMs  mi  üf  a  wäja ;  (Wagen) 

wan  t  mi  net  khä§  tsiaeja,  (ziehen) 

S9  lü  wi  ti  wetar  fliaeja.  (so  lass  ich  dich  wieder  fliegen) 

Variat i  o  n. 
sa  lü  mi  metar  fliseja.  (so  lass  mich  mit  dir  fliegen) 

Andere   Variation, 
sa  lü  mi  thaima  l^ja.  (so  lass  mich  zu  Hause  liegen) 

2. 

Storik,  §torik,  Sniwal  snäwal, 

met  tira  läiQa  öfakäwal  (Ofengabel) 

trä  mar  a  fiaertal  (Mass  =  Sack  voll)  waisa  (Weizen)  haim. 

trä  mar  s  kli}(  en  t  m^l,  (Mühle) 

met  tim  lär^a  st^l,  (Stiel) 

trä  mars  kli/  ens  päkahys  (Bäckerhaus)^ 

pä^  mar  kyati  w^ka  (Brötchen)  trys; 

wan  sol  i  si  hüla?  — 

mörn  am  üwa.  (Morgen  Abend) 

met  was  sol  i  si  asa?  — 

met  krisena,  kriaena  krasa.  (grünen  Kressen) 

3. 

Snak,  snak  (Schnecke)  str^k  t  härnar  arys, 
otar  i   khäi    ti   tsyam    iirika,   firika   lätala    nys.  (zum  feurigen 

Fensterladen  hinaus) 

(Wird  80  lange  wiederholt,  bis  die  Schnecke  die  Fühler  ansstrecki} 

4. 

Maikhäfarla  fliaei  1 1  (fliege) 
iar  fätar  es  em  krisei,  (Krieg) 
t  myatar  e§  em  pümarlänt, 
s  pümarlänt  e§  äpkaprant, 
Maikhäfarla  fliaei ! 


1  Hier  herrscht  noch  die  Unsitte,  die  nicht  aaszurotten  ist,  dist 
die  Kinder  die  Maikäfer  an  einem  HinterfnsB  anbinden  nnd  sie  znm 
fliegen  nötigen. 


—     161    — 

5. 

Maikhdfarla  fli, 

ens  hetala  ni,  (ins  Hüttchen  hinein) 

ti  häita  khüma, 

si  pfifa  im  trüma,  (troxnmeln) 

si  w61a  ti  sepala  frasa.  (dim.  von  Suppe) 

6. 

Maikhäfar,  maikhafar  fli  üf! 

ün  mä)(  tar  myatar  t  sir  (Scheune)  üf ! 

ti  jüta  khüma, 

ti  hdita  trüma, 

si  wfela  met  ta  raya,  (Rechen) 

ti5(  ün  tini  lisewa  khentar  tut  staya. 

7. 

Wolf,  wolf,  pijS  mi  net, 

hüntart  tälar  kewi  tar  net.  (gebe  ich  dir  nicht) 

hüntart  tälar  kewi  tar  net, 

wolf,  wolf,  pis  mi  net. 

8. 
Liaep  lisep  khatsala, 

mäy  a  ^n  fratsala,  (dim.  Fratze  =  freundlich  Gesicht), 
preY]  mar  a  pär  khiseyala, 
tarnü  pes  a  präf  tiaerala. 
wet  ty  äwar  kräja,  (kratzen) 
met  tina  klöja,  (Klauen) 
sa  würs  kSläja, 
las  wel-  i  tar  ss^a. 
trüni  liaep  khatsala, 
mäy  a  ^n  fratsala. 

9. 

A,  pe,  tse,  (a,  b,  c), 
t  khäts  leit  em  sn^. 
tar  sn^  k^t  awak, 
ün  t  khäts  leit  em  trak. 

10.1 

Kykyk  I  —  wü  pes  ?  (wo  bist  du  ?)  —  em  wält,  ses  khält  I 
was  hö§  ?  —  a  frfeS.  (Frosch)  —  ke  mar  öi !  (gib  mir  auch) 
nai,  nai  I  —  kitsik  (geizig),  kitsik,  kitsik  I 


1  Ein  Kind  rnft  «kykyk»,  die  übrigen  antworten  «wft  pes?»  etc. 

11 


—    162    — 

11. 

Kikeriki  I  —  pantala  trä !  (dim.  Band  daran) 
wan  t  mi  h^§,  sa  niyaä  mi  hä. 
wan  tar  kyiar  (Hahn)  üf  t  ärwdt  (Arbeil)  k^t, 
sa  fäT]a  t  hiaenar  ä  tänsa. 

12. 
flsala  i  ä, 

ta  k4§  tar  pari  (Berg)  nä,  (hinab) 
würüm  tan  net  nüf?  —  (hinauf) 
ta  läts  mar  (ladest  mir)  tsya  fil  uf. 

13. 
£sala  i  a, 

war  hat  ti  kSlä?  —  (geschlagen) 
em  mai§tar  si  pya.  —  (Bube  =  Knabe) 
ar  es  a  ^petspya. 

14. 

Felslis  ün  wantala,  (dim.  von  Wanzen) 

räplis  (Rebläuse)  ün  fl6,  (Flöhe) 

tiae  kan  anäntar  s  hantala,  (dim.  von  Hand) 

las  hyarakhaiwa  f6.  — 

üf  tira  rd/ta  äksal,  (Schulter) 

märSiaBra  (marschieren)  l  lis  ün  l  fT^^ 

ün  henta  (hinten)  üf  am  pükal,  (Buckel) 

märäiaert  li  käns  arm^. 

H.  Fingersprüche. 

Der  Reikenfolge  nach  wird  auf  einen  Finger  gedentet  und  dabei  eine 

der  folgenden  Zeilen  gesprochen. 

1. 

Täs  e§  tar  tyma,  (Daumen) 

tä  detail  pflyma,  (Pflaumen) 

tä  h^pl  si  üf, 

tä  trait  si  haim, 

ün  tar  klain  stümpanekal  est  si  käns  alain. 

2. 

Tar  e§  ens  wäsar  kfäla, 

tä  hat  a  arys  kalsoja,  (herausgezogen) 

tä  h^t  a  haimkatrait, 

tä  hM  a  ens  p^t  kalait; 

ün  tar  klain  §lümpa  häts  em  päpa  ksait 


f 


—    163    — 

3. 

Tar  es  en  tsr  wält  käirja,  (gegangen) 

tä  hat  a  basal  kt'äiga, 

\ä  h^ts  haimkdtraity 

tä  b^ts  kaprüta,  (gebraten) 

ün  tar  klain  spetspya  hets  farüta. 

4. 

Täs  e§  tar  tyma, 

tä  frest  kärn  pfiyma, 

tä  sait  wü  nama 

tä  sait  em  h^rakärta, 

iin  tar  klain  §tümpa  farüts  §nal  em  päpa. 

I.  Scherzsprüche  auf  Namen. 

i. 
Antüni,  (Anton) 
prütmüni,  (Brolfresser) 
lümpikar  p^kapya,  (Backerjunge) 
kemar  a  ätekal  prüt  lartsya.  (dazu) 

2. 

V 

Sämpatis,  (Job.  Baptist) 
kritawis,  (kreideweiss) 
kbölapranar,  (Koblenbrenner) 
Stätnäranar.  (Stadt  binab  Renner) 

3. 

Kbämifajar, 
Stakalaträjar, 
kbewalapütsar, 
§tätnärüt§ar. 


Sälar  nätsi, 

ärmar  tropf, 

bä§  bür  am  pärt 

un  kh^n  üf  am  kbopf. 

5. 

Tar  häns  ys  am  rnükalo^ 
h^t  älas  was  ar  wel. 
im  ^äs  ar  bot,  täs  wel  ar  net, 
ün  was  ar  wel,  täs  b^t  ar  net; 
tar  bans  ys  am  mükalo^ 
h^t  älas  was  ar  wel. 


—     t(>4    — 

6. 

Tor  khalar  frans  es  t  stäi  nä  kheit,  (die  Siie^^e  hinab  gefallen) 

i  Mwa  h^ra  rümpla ; 

i  hä  kamaint  s  es  a  krüsa  man, 

ün  s  e§  nur  a  kiaina  ^tümpa. 

7. 

Tar  projar  lyi  es  kär  tsya  kS^it, 
ar  werft  awak  was  ar  farheit,  (zerbricht) 
ar  khöit  ti  §arwa  (Scherben)  en  tar  pä)r, 
trüm  würt  ar  o  sü  yskaläyt. 

8. 

Tar  herlsawert  fo  parika,  (Bergheim) 

ta  het  a  seni  fräi ; 

si  es  net  krüm,  si  es  net  krät 

ün  h6t  a  näs  wiae  a  wäjarät.  (Wagenrad) 

tar  hertsawert  fo  parika, 

ta  h^t  a  §^ni  fräi. 

9. 

Tar  khäparäl  (Korporal)  lans, 

h^t  t  hösa  farslanst,  (zerrissen) 

hat  s  hamp  aryshaYjka,  (heraushängen) 

äs  am  t  kans  (Gänse)  nurana.  (nachrennen) 

10. 

Mätis, 

prey  s  is,  (brich  das  Eis) 

h6§  khains 

sa  mäy  tar  ains. 

11. 

Itsik,  §petsik,  (spitzig)  nylalfrasar, 

k6  en  t  syla  (isral.  Schule,  Synagoge)  ün  §lif  täs  masar. 

12. 

Tar  itsik  khümt  ke  rita, 
uf  ara  tera  (dürren)  kais. 
tar  itsik  k6t  äplsita,  (zur  Seite) 
ti  kais  lüt  a  s . .  . 

13. 

Tar  hänsal  ün  tar  s^pal,  (Joseph) 
treT;ka  met  näntar  a  s^pai.  (Schöppchen) 
tar  häns  ta  khäit  ens  püigkalfäs, 
tüntarwatar  wiae  kläpart  täs. 


—    165    — 

14. 

Hopsa  lesdla,  (Elisabeth) 

täns  a  pesala,  (ein  Bischen) 

lepf  tini  krüma  pain  en  t  h6  I  — 

s  tänsa  es  mar  farkäTja, 

t  wentia  (Windeln)  haY;ka  an  ta  ätätja. 

15. 

Mari,  lü  (lasse)  t  hiaenar  ni, 

lü  tar  kylar  läifa, 

äs  mar  a  kh^na  farkhäifa. 

16. 
HeMnala, 

am  prenala,  (dim.  von  Brunnen) 
am  tsükarp^rapäim ;  (Zuckerbirnbaum) 
ün  wan  tiae  p6ra  tsitik  sen,  (reif  sind) 
sa  khiaeyall  (Kuchen  backen)  ünsri  fräi. 

17. 

Uj^ra,  fräi  mera,  (Bürgermeister) 

wia3  §iät  tar  man  ti  fräi. 

er  §lät  si  met  am  lürtsa,  (alter  Schuh) 

äs  si  nem  khä  f 

üj^ra,  fräi  m^ra, 

wise  §lät  tar  man  ti  fräi. 

18. 

Uj^ra,  fräi  mera, 

s6  snüpfl  sü  karn  tywäk.  (Tabak) 

ly  hä   ti  peks  (Büchse)  farlöra, 

jets  pfiü  ni  (pfeit  ich  euch)  en  tar  säk.  (Tasche.) 

19. 

Tar  hänsal  ün  s  kr^tal 
sen  paitas  präQ  lait;  (Leute;  gew.  Hl.) 
tar  hänsal  es  näraytik  (verrückt) 
uns  kr^tal  es  net  kseit. 

20. 

Smet,  §mel,  smet,  (Schmied) 

nem  ti  haniarla  met.  (dim.  von  Hammer) 

wan  ty  wet  a  r^sal  psläja,   (Koss  beschlagen) 

myas  ty  1i  hamarla  pitar  (bei  dir)  träja. 

Smet,  smet,  smet, 

nem  ti  hamarla  met. 


^ 


—    460    ^ 

21. 

S  khümt  a  fräi  fo  kh^Stdhols,  (Kestenholz) 

tiae  haist  märi  trürikapols. 

Si  hat  a  tsain  fol  khenfar, 

tiae  priaela  (brüllen  =  schreien)  wiae  tar  senter.  (Schinder) 

K.  Scherzsprüclie  zu  Festtagen. 

i. 

I  >vens  tar  a  klekliks  n^ijür^ 
a  paYjala  (Stück  Holz)  üfs  ür,  (Ohr) 
a  hewal  (Prügel)  üf  tar  khopf, 
pis  äs  s  plyat  (Blut)  nä  tropft. 

2. 

I  wen§  ni  a  klekliks  n^ijur^ 
ün  wanar  mar  a  weka  kan  es  s  wür. 
kanar  mar  khenar,  sa  es  a  kürtsi  lür^ 
was  i  ni  wens,  ün  a  lävji  tsür^. 

,3. 

I  wen§  tar  fil  kiek,  (Glück) 

a  paiQal  (Knüppel)  en  s  knek,  (Genick) 

ün  a  häwal  (Knüppel)  üf  s  ür,  (Ohr) 

pis  üf  s  äntar  jür.  (bis  zum  andern  Jahr.) 

4. 

Fäsanä^tsnär,  h^s  kalt  eni  säk  ?  (Geld  in  der  Tasche) 
kemar  a  sy  (Sous  =  4  Pfg.)  fer  snüpftywäk  I 

5. 

Maria  liöe/tmas, 

s  spena  farkas, 

s  rätal  (Spinnrädchen)  hentar  t^r, 

ün  s  ramasar  (Rebmesser)  a  f6r. 

6. 

Sänti  nekti  naki,  (St.  Nikolaus  necke  ich) 

hentram  6fa  staki. 

ke§  mar  fepfal  ün  p^ra,  (Birnen) 

sa  khümi  wetar  a  föra.  (hervor) 

7. 

Träi  khenik,  tr^i  khenik  met  feiram  Starna, 
ar  krä/a  ti  nüsa  ün  asa  ti  kharna, 
ar  khäja  (werfen)  ti  säla  hentar  t6r,  (Thure) 
t  mis  (Mäuse)  ün  t  rata  hüla  si  a  f(^r. 


—     107     — 

8. 

Tr^i  khenik,  tr^i  khenik  met  ^rdm  starn^ 

si  asa  üa  treiQka  ün  tsäla  net  kam. 

si  patia  äli  bisar  ys,  (sie  betteln  alle  Häuser  aus) 

trüm  kh^ja  mar  si  tsya  tar  t^r  nys.  (zur  Tbüre  hinaus). 

9. 

(Spruch  der   Mar  wensa  ta  bera  a  koltika  te§,  (Tisch) 
3  Könige:)    iif  äla  fiser  äka  a  plät  fol  fes, 

en  tar  metla  tren  a  kryai  (Krug)  fol  wi,  (Wein) 
äs  äli  kh^na  (können)  lüstik  a^. 
un  en  tar  mätam  a  koltika  wäja, 
äs  si  hhä  (kann)  en  tar  bemal  fära. 

L.  Sprüche  vermisohten  Inhalts. 

1. 

Tfert  trowa,  t^rt  trünta,  (dort  oben,  dort  unten) 

wüs  wäsar  äpläift, 

tfert  §t6t  a  wällpryatar,  (Waldbruder) 

wü  khütla  (Kaidaunen)  farkhäift. 

ar  hfet  s  pata  (beten)  f'arkasa, 

ar  bot  s  nästar  (Rosenkranz,  von  Paternoster)  farprant, 

ar  h^t  t  slürwa  (alte  Haussebuhe)  yskatsoja  (ausgezogen) 

ün  es  ta  maitla  (Mädchen)  nükarant. 

2. 

Wan  tar  snitar  (Schneider)  ^ps  kstöla  bot, 
sa  wais  ar  kli*/  (gleich)  wü  nüf.  (wo  'nauf) 
ar  slüpft  snal  en  a  nütalpeks  (Nadelbüchse) 
ün  mäyt  tar  t^kal  trüf. 

3. 

Tar  snitar  es  a  fatatijpp,  (Fadendieb) 

täs  wais  mar  em  känsa  länt. 

ün  t  maitla  han  t  sältäta  lieep, 

täs  es  0  stätpakhänt. 

ün  war  mar  täs  net  kläiwa  wel, 

tam  mast  tar  ;^nitar  ä  ti  el.  (Elle) 

4. 

Khferwalkryt  (Anthriscus  cerefolium)  ün  rawasaldt  (Valerianella) 

wäksa  en  ünsram  kärtala ;  (dim.  von  Garlen) 

tu  (da)  a  ^titala  ün  t^rt  a  stitala,  (dim.  von  Staude) 

ket  a  kyats  (gutes)  sälätala.  (dim.  von  Salat.) 


—    168    — 


5. 


Het  e§  khelp,  ün  mörn  es  khelp,  (Kilbe,  Kirchweihfest) 

pis  km  tsiStik  tsüwa,  (Dienstag  Abend) 

wan  ty  tsyam  mim  satsala  khüms, 

88  säwam  (sage  ihm)  koidnüwa.  (guten  Abend) 

kotanüwa  Isysänkret,  (Susan ne-Grethe) 

tsai  mar  wü  ti  petiät  (Bettstelle)  §l6t?  — 

hentn^m  öfa  an  tar  wänt, 

wü  ti  tsysän  t  fl^  \äT,\. 

6. 

Saisala  e  ty  fäse,  (fach^  =  zornig) 

säkartiae  (sacre  dieu)  würüm?  — 

lak  ty  mi^  am  ^lapoja,  (Ellenbogen) 

ti  khelp  (Kilbe)  es  arüm. 

trüm  trüts  nel  sü,  ün  trüts  net  sü,  (trotze  nicht  so  sehr) 

s  khümt  a  tsit  (Zeit),  ta  pei^  wetrüm  frü  ;  (du  bist  wiederum  froh) 

trüts  net  sü,  trüts  ijet  sü, 

ta  würs  jü  wetar  frü. 

7. 

T  kheriy  eis  ys,  (die  Kirche  ist  aus)  t  süp  läift  ys, 

t  ar^ala  asa  tsüwa,  (zu  Abend  =;  vespern) 

wan  tar  fetar  meyal  (Michel)  khümt, 

sa  sait  ar  kolanüwa.  (Guten  Abend) 

ar  preY;t  trei  khoilopf  (Kugelhopf)  en  tar  hänt, 

khia-yla  (dim.  von  Kuchen)  päya  es  khe  sänt, 

t^r  ains,  mer  ains 

ün  em  lianva  herkot  (lieben  Hergott)  ains. 

8. 

Räits  am  pärnapäs,  (Barnabas) 
Nemt  lar  wi  (Wein)  äp  pis  ens  fäs. 
äwar  mertsastäip,  (Märzenstaub) 
äwrelaläip  (Aprillaub) 
ün  majaläya,  (Lache  =  Pfütze) 
sen  trei  s^ni,  kyati  säya. 

9. 

Unsri  mäkt  ün  ^iri  mäkt, 

(Var.  :  Mini  fräi  ün  tini  fräi) 

sen  tswai  s6ni  waiwar,  (gew.  wiwar) 

aini  e§  khanünafol,  (kanonenvoll) 

ün  t  äntar  hfet  a  staiwar.  (Rausch) 


—    1(50    — 

10. 

Kikal  kikal  (Geige)  rälsa, 
mörn  kbuma  t  ^pätsa, 
ewarmörn  ti  fer^ka,  (Finken) 
äli  jüta  sler^ka. 

11. 
Kemer  (gieb  mir)  prüt !  (Brot) 
tar  p^k  es  tut. 
ter  melar  (Müller)  es  krärjk, 
s  ket  khe  prüt  em  känsa  länt. 

12. 
Tar  melar  höt  wela  mala, 
ti  rötar  wela  nel  ke, 
ün  äli  parikmar  (Bergheimer)  pyawa, 
sen  krüsi  stekla  fö. 

13. 

Kikariki  em  kriaena  wält, 

i  hdwa  h6ra  (hören)  rysa ;  (rauschen) 

piaBwala  nem  khe  rüti  fräi, 

ta  khäs  si  nem  fartysa.  (vertauschen) 

14. 

War  wel  kyati  khiaeya  (plur.  von  Kuchen)  päp, 

tä  myas  ha  sewa  (7)  säya.  (Sachen) 

pütar  ün  smäls, 

aiar  ün  säls, 

meliy  ün  mal, 

säfra\Safran)  mäyt  tar  khyaya  käl.  (gelb) 

15. 

Tert  trowa,  tert  trünta, 

tert  st6t  a  khäpal,  (Kapelle) 

tert  tänsa  tswai  swüwa 

metra  (mit  einer)  lära  potal.  (Bouteille  =  Flasche) 

metra  klaina  pim  pim, 

metra  krüsa  püm  püm, 

ün  t  hikal  märiän 

höt  a  krüsi  trüm.  (Trommel) 

16. 

Tört  trowa,  tM  trünta, 
tert  k^t  a  ältar  jüt ; 
forna  es  ar  ksöra,  (geschoren) 
ün  henta  es  ar  plüt.  (kahl). 


~     17ü    — 

17. 

T^rt  trowa,  ihri  trünta, 
wös  wäsar  nä  rolt, 
tfert  \kyai  li  jüta, 
si  maina  s  es  kolt. 

48. 

Trfei  pliaemla  (Blümchen)  am  fanStdr, 
tröi  lelia  (Lilien)  em  wält ; 
em  sümar  (Sommer)  es  s  liseplik, 
em  wentar  es  s  khält. 

19. 

Unsri  mäkt  khoyt  nytla,  (Nudeln) 

si  §prytst  a  pesal  trä  ; 

s  e§  krät  nänel  (noch  nicht)  smiits  (Fett)  kanya,  (genug) 

si  prana  äwar  loy  net  ä.  (sie  brennen  aber  doch  nicht  an) 

20. 

« 

Unsri  mäkt  es  en  tar  khü^,  (Küche) 
si  wast  em  fätar  s  kser;  ((jeschirr) 
forna  es  si  mäjar,  (mager) 
ün  henta  es  si  ter.  (dürr) 

21. 

Horiya  (höret)  was  i;^  eiy  (euch)  wel  saja, 
t  klok  hei  ein  ksläja. 
i^sa  t  liseytar  ün  t  ämpla,  (Ampeln) 
ün  leja  ens  pet  ün  strämfla.  (strampelt) 

22. 

Mi  sats  es  kritawis,  (kreide weis) 
h^t  rüti  päka.  (Backen) 
ün  fl6  wiae  flätarmis  (Fledermäuse) 
ün  lis  wia3  rata.  (Ratten) 

23. 

Almyasa,  (Almosen) 

stain  em  pyasa,  (Busen) 

lis  ün  krent,  (Grind) 

i  pen  a  arm  patalkhent.  (Bettelkind) 

24. 

Nut  (Not)  preyt  isa,  (Eisen) 
täs  khäwiy  (kann  ich)  tar  pawisa ; 
war  mar  tar  knöpf  net  lüskaresa, 
sa  hat  i^  en  ti  hösa  ks .  . .  . 


—    171     — 

25. 

S  kbümt  a  jüt  ke  rita, 

üfra  (auf  einer)  tera  khyai ;  (dürren  Kuh) 

a  ^ätal  (Schwanz)  h^i  si  kh^nar 

ün  ket  to^  melix  kanya.  (genug) 

26. 

Fräi,  khäifa  nar  (kauft  ihr)  päsa?  —  (Besen) 

jü,  khüma  eri.  (kommet  herein) 

han  ar  §ü  tsmorja  kasa?  (zu  morgen  gegessen) 

jü,  forer  a  wil.  (vor  einer  Weile) 

ünsri  khäfs  h^t  jür|i  kamäyt, 

femfatswänsik  (25)  en  ainara  nä^t, 

en  a  älti  tsain,  (Korb  mit  2  Handgriffen) 

äwar  si  sen  no)r  klain. 

27. 

Jür)ar  pürät  (Bursche),  les  li  türät, 

ta  wais  net  äp  ta  alt  würs. 

jÜTjar  pya  (Bube),  Spar  ti  kyat,  (Gut) 

äsas  tar  (damit  es  dir)  em  ältar  wül  tyat. 

28. 

Hiruta  (heirathen)  es  a  hiaenarhys,  (Huhnerhaus) 
war  tren  e§,  ta  m^yt  arys,  (der  möchte  heraus) 
war  trüs  e§,  ta  wel  tri  :  (der  will  hinein) 
häns,  iy  rütar  (ich  rate  dir)  l^tik  ts  pli.  (zu  bleiben) 

29. 
Tar  äpak  ün  t  Swärt, 
sen  fo  ainara  ärt.  — 
war  s  kläipt,  würt  sälik,  (selig) 
ün  war  en  a  mälsäk  (Mehlsack)  slüpft,  würt  malik.  (mehlichl) 

30. 

Säja  h^r,  met  Wram  fräk, 

khäifa  mar  toy  a  kholantar  äp.  (Kalender) 

wan  si  sün  päpirik  (aus  Papier)  sen, 

sen  toy  §^ni  kseytla  (Geschichten,  Erzählungen)  tren. 

31. 

Arpar,  empar,  krampar  (Erd-,  Hirn-  und  Heidelbeeren) 

t  sw^Stra  han  §^ni  hampar,  (Hemden) 

t  priaetar  (Schulbrüder)  lär^i  khüta,  (Kutten) 

ün  iy  es  (esse)  kärn  pfluta.  (Klösen) 


—    172    — 

32. 

MenStart^lar  maitala,  (Münsterthäler  Mädchen) 
-wiae  mä)rS  tan  ty  ti  khäs?  —  (Käse) 
i  prüns  a  pesal  ens  khewala  (dim.  von  Kübel) 
iin  trük  a  (drücke  ihn)  met  am  f^tala, 
Irüm  es  rni  khäs  sü  ras  (scharf). 

33. 

Ts  pÄwla  (Bebeinheim)  näwa  tar  post, 
t6rt  treY;t  mar  kyala  (guten)  most. 
1s  tsalaparik  (Zellenberg)  üf  tar  M  (Höhe), 
tert  färja  t  wiwar  (Weiber)  lis  ün  fl6. 

34. 

Jüt,  jüt  (Jude)  kapöra,  (geboren) 

hö§  s  lo)f  farlöra, 

h6§  s  wetar  kfünta,  (gefunden) 

he§  s  äna  ekstain  (Eckstein)  kapünta. 

la  ät^s  üntrama  (stehst  unier  einem)  rüsa^tok  (Rosenstock) 

im  SteT;ks  toy  wiae  a  kaispok.  (Ziegenbock) 

35. 

S  k^t  a  manala  ewars  prekal,  (über  das  Brückchen) 

s  hat  a  sakala  (dim.  von  Sack)  üf  am  pükal,  (Bücken) 

«  stüst  (stöst)  an  a  pfosta.  (Pfosten) 

lar  pfo§ta  kräyt, 

?»  manala  lä/t : 

was  würt  täs  wetar  khosta? 

36. 

Hürik,  (haarig)  hurik,  hürik  es  nel  plüt.  (kahl) 

ün  wan  ta  jüt  nel  hürik  war, 

sa  kh^nt  mar  a  pryya  fer  a  lijfytpütssar ;  (Lichtputz.<chere) 

hürik,  hürik,  hürik  es  ta  jüt. 

37. 

Ts  näyt  wan  tar  münt  (Mond)  sint, 

tröpalls  üf  am  prekal  ;  (dim.  von  Brücke) 

tu  fia^rt  (führt)  tar  hänsal  s  kretal  haim 

ün  ser,t  (singt)  am  a  nats  stekal.  (dim.  von  Stück =Lied) 

tu  pfift  ti  khyai,  (Kuh) 

ün  tänst  tar  pär,  (Bar) 

t  ösal  ali  trüma.  (trommeln) 

<ili  mis  wü  wätal  (Schwänze)  han, 

lerfa   tsya  tar  hüytsit  (Hochzeit)  khüma. 


—     173     - 

38. 

TreTjki,  (trinke  ich) 

sa  heYjki;  (so  hinke  ich) 

freyjki  net,  (nicht) 

S9  heT)ki  to^. 

liaewar  tret)ka  (lieber  trinken) 

ün  heYjka, 

äs  net  trer^ka 

ün  ioy^  heiTjka. 

39. 

Tsepfel,  tsapfal,  sitaknola,  (Seidenknäuel) 

mi  ßilar  e§  a  änetslar  (Holzschneider)  wora.  (geworden) 

ar  §Detsalt  mar  a  häs,  (Hase) 

ta  k^t  ens  kriaena  (grüne)  kräs  ; 

terl  §t6t  a  wisar  semal,  (weisser  Schimmel) 

ta  fiaert  (führt)  mi  en  tar  hemal.  (Himmel) 

wü  i  en  tar  hemal  kyk,  (gucke  =  schaue) 

sewi  (sehe  ich)  a  piät  fol  syrkryt.  (Sauerkraut) 

tu  khümt  ti  päs  (Base)  khatri,  (Katharine) 

ün  Stfekt  a  §tek  (Stück)  spak  (Spek)  tri ; 

khümt  tar  fötar  frets,  (Fritz) 

metra  (mit  einer)  piät  fol  snets;  (Apfel-  oder  Birnschnitz) 

khümt  tar  ütjkal  märta,  (Martin) 

haist  äli  tsäma  (alle  zusammen)  wärta ;  (warten) 

khümt  tar  pryatar  stafa,  (Stephan) 

haist  äli  tsäma  asa  ;  (essen) 

tarnü  (darnach)  khümt  äwar  tar  alt  sämpatis  (Johann-Baptist) 

ün  jäit  (jagt)  äli  tsäma  tsyam  hemal  nys.  (hinaus) 


M.  Scherzfragen. 

1. 

H6§  tür§t?  — 

slüpf  en  a  wür^t. 

h^§  hürjar?  — 

slüpf  en  a  kükümar  (Gurke). 

häs  är^st?  —  (Angst) 

klopf  üf  tar  wäyjst.  (Bauch) 

hä5  hais?  — 

slüpf  en  a  kais.  (Gais  =  Ziege) 

hfeS  khält?  — 

slüpf  en  tar  wält. 


—    474    — 

2. 

Wet  a  p6r?  —  (Birne) 

älüpf  hent9r  t6r,  (Thüre) 

wet  prül?  —  Brot 

tar  p^k  e§  tut. 

"wet  a  khöst?  —  (Kastanie) 

Stök  t9r  feTjar  ens  myi  (Maul=Mund)  ün  böp  tar  tyma  fö§t. 

(und  halte  den  Daumen  fest) 
3. 

WisB  hais?  —  (Wie  heisst  du) 
häns  kais. 
wiae  noy  ?  — 
häns  ploy. 

wiaß  me?  —  (wie  mehr) 
a  sakala  fol  fi^.  (Flöhe) 
wiae  wfenidr?  —  (weniger) 
a  khorp  fol  hernar. 

N.   Rätsel. 

Hüy  (hoch)  wiae  a  hys  (Haus)^ 

klain  wiae  a  mys, 

kriaen  wiae  kräs, 

w4s  es  täs?  — 

rüt  wiae  plyat,  (Blut) 

nänet  kyat;  (noch  nicht  gut) 

§wärt8  wiae  a  hyat,  (Hut) 

jäts  es  s  kyat. 

(Auflösung :  Schwarzkirschen,) 

O.  Sprechübungen. 

i. 
Wan  wäsar  wi  (Wein)  war, 
wü  wota  walSi  wiwar  wentla  wasa. 
<wo  wollten  welsche  Weiber  Windeln  waschen.) 

2. 

Hentars  hikals  häkals  hys,  (Haus) 
baiQka  hüntart  hdsa  arys.  (heraus) 
hüntart  häsa  har^ka  arys, 
hentars  hikals  häkals  hys. 

3. 

S  t^ktap^t  (Bettde<:ke)  h^t  fiaer  ^k,  (4  Ecken) 
fiaer  kk  h^t  s  t^ktap^t  etc. 


XII. 

Tar  Th^welt  ün  s  Törtal. 

Gedicht  in  Völlerdinger  Mundart 

von 

i.  Dahlet. 

Nach  des  YeHassers  Diktat  phonetisch  geschrieben  ^  von  J.  SPIESER. 

±9  Th^wslt  hän  i/,  älawil  küt  khend  hän. 

9r  e§  fil  en  unser  hys  khüm,  9  tyssr  man. 

äün  äs  pü  e§  ar  net  so  kayklix  kawän, 

khän  mätaSmäkar,  khän  tsepal,  s  nä^ts  til  fahäm. 

ar  wärt  wöl  ä  als  amöl  üf  ta  fräiaräi  sen  käv]  5 

ün  katäT)kt  hän  yri  tar  säl :  «so  pesal  ^  mens*  müs  mar  hän». 


1  Vgl.  Jahrgang  IV,  S.  73  Anm.  und  V,  S.  134.  Eine  Haapt- 
schwierigkeit  habe  ich  diesmal  nmgangen,  nämlich  die  Unterscheidung 
der  verschiedenen  r,  anf  die  ich  schon  bei  den  Zillinger  Sprach- 
proben, Jahigang  V,  S.  134,  aufmerksam  machte.  Vor  einem  andern 
Konsonanten  klingt  das  r  nämlich  fast  wie  ein  ganz  kurzes  a 
(z.  B.  Törtal  =  Tö^tal);  sonst,  besonders  deutlich  zwischen  zwei 
Tollen  Vokalen  (z.  B.  höiräta),  klingt  es  in  Völlerdingen  guttural, 
doch  nicht  so  deutlich,  wie  z.  B.  in  Mackweiler  oder  in  Adamsweiler. 
In  Dörfern,  wo  das  gutturale  r  nicht  üblich  ist,  nennt  man  die  gut- 
turale Aussprache  des  r  «knerren>  und  sagt  dann  z.  B.,  «die  Völler- 
dinger  «knexren«  auch,  aber  nicht  so  hart  wie  die  von  Mackweiler.» 

<  In  Völlerdingen  unterscheidet  man  durch  die  Aussprache  mens 
Geliebte(r)   von  mäns  Mensch,  Person. 


—     176    — 

nü  ä\t,  min  Thewdit  sint  nim^  känts  jüi;, 

trüm  sä  ix  am  a-n-öwat  :  «ältarla,  s  war  A  päl  j^ts  tsit, 

äs  t9  fäa  tar  käs  khäms  en  9  äiani  hysälteri ; 
10  ty  pe§  j^is  khän  fiis  md,  ün,  fartsern  ti^,  net, 

neks  patr^ptsr  üf  tar  wält,  äs  so  a-n-ältar  pü ; 

em  käntsa  torf  müs  jo  khän  khü  so  alt  sen  wi  ty.» 

min  fötar  Thöwalt  mä^l  a  prets  trei  öla  lär)  ts^rSt, 

smiintsalt  äwar  päl  ün  sät :  «käl,  wän  ta  ä  no/  l^tix  wär§ ! 
15  nü,  späs  äpärt,  wa§  mar  äni  ?  mar  müs  sa  tswait  sen  für  en  ta  ^, 

tar  phära,  wü  äna  aiän  khopl^rt,  tär  läpt  sün  lär^  nim^. 

ta  hä§   wärlix  rä^t,  jets  wärt*  tsaneirja  ä  fr^ia  käij; 

war  wärt  mi^  äwar  wela  ?  ix  sen  tar  Thöwalt  sün  kär  läirj.>  -« 

9  9  9 

«wää  ta,  wi,  khümpär,  was  a  fray  für  tix  war  ? 
20  s  Törtal  taheYia,  ja  täs  es  a  mäns,  wi  six  s  hört, 

hislix  ün  farsäfa,  ä  tsitix,  kläw  ix, 

a  pesal  hör  üf  ta  tsän,  äwar  a  fray  für  tix- 

les   köt  älawil  so   tsemparlix  töbär, 

so  §6n,  klät,  öwa,  äs  wän  s  en  trdt  kahäv^kt  war.» 
25  ta  änra-n-dwat  §tMt  six  ^^^  Thöwalt  en  ta  weks, 

pütst,  w6§t,  ätrält  six,  tärjkt :  «s  fröwa  kho§t  neks» ; 

9 

nemt  s  härts  en  ta  hänt,  läfl  ans  käTjs  tsüm  Törtal  hön, 

ün,  mör  neks,  tör  neks,  sät :  (cwela  mar  mensara  sen  ?» 

min  Törtal  wärt  fir  röt,  s  pfeialt  krät  ä'  ma  töx^!; 
»0  wi  s  täs  hört,  köt  s  üf  wi  a  fäsanäxtskhöxal, 

pät§t  en ;  ty  khäns  s  jö,  s  röt  krät  fän  tar  läwar. 

low,  wi  sa  jöts  läxa,  met  um  käntsa  ksext  wi  a  mäikhäwar! 

an  ta  ärwat  köt  jöts  min  hoxtsitar  met  lüSt, 

phift,  serjt  met  hälar  Stem,  ys  folar  prüst; 
85  wü  ar  köt  ün  §töt,  hat  ar  s  Törtal  em  sen  ; 

9 

1e  hän  anänar  kär,  sen  krät  wi  tswäi  khen. 

smets  ket  s  kanük,  e§  täs  öpa  släxt? 

ün  spetsa  s  myl  tatsü  wi  a  khü,  wü    nöx  9ra  ärpör  räxt. 

9 

sa  sen  mar  nüma  tsü  törtix»  ix  was  wöl,  jör  khen,^ 
40  äs  ta  hoxtsitara  nin  tä  läv]  plen  mesa  sen. 

äwar  so  änfalti/,  nä,  hän  ix  niin  tätasläwas  neks   kasin. 
wän  8  nüma  net  Släxt  ysfält !  ix  kwel  mix  känts  trüm, 


1  Dieses  unpersönliche  Passivam  ist  in  Völlerdingen  und  Dm- 
gegend  besonders  beliebt,  am  einen  Entachluss  auszudrücken,  z.  B. 
i^ts  wärt  häm  kkr^^  cjetzt  gehe  ich  (gehen  wir)  heim» ;  hyt  wiit  en 
t9  wUt  kfär  «heute  fahren  wir  (fahre  ich)  in  den  Wald.» 

2  j6r  («ihr»)  khen  («Kinder»),  Art  Interjektion,  die  auf  den  AIIg^ 
redeten  nicht  mehr  Bezug  nimmt 


—    177    — 

\'/^  hän  sun  kär  t^k  kasin,  t^  phär  törti^^a  wü/a  sen  päl  arüm. 
95  ferkM  älas,  sniets  ün  ho/tsit ;  s  wärt  a  küti  wil, 
traf  ijr  amöl  mina  Th6walt  met  üma  sepastil  ;  40 

ar  löyt  myksix  tren,  härjkt  s  myl  wi  a-n-61afänt  ta  resal, 

ff 

nä,  iy^  wel  net  leia,  ar  mkyi  a  kse)rt  wi  a-n-ölfsy§esal. 
mer  wärt  s  häis  ün  khält,  snäl  fröw  iy^:  «wi  k^t  s  tim  w^iwal?»i 
«so,»  snürt  tar  Th^walt,  ccänri  hän  jäts  küt  h^iräta^  i^  h  ä  n  ta 

t^iwal.» 


Übersetzung. 
Der  Theobald  und  die  Dorothea. 

Den  Theobald  konnte  ich  immer  gut  leiden.  Er  kam  viel 
in  unser  Haus,  ein  stiller  Mann.  Schon  als  Knabe  und  Jüng- 
ling zeigte  er  ein  gesetztes  Wesen,  lief  nicht  den  Mädchen  nach, 
war  kein  Hochmutspinsel,  des  Nachts  viel  zu  Hause.  Er  wird  wohl 
auch  zuweilen  auf  die  Freierschaft  ausgegangen  sein  und  gedacht  5 
haben  wie  Jener :  «So  ein  wenig  ein  Liebchen  muss  man 
haben.  1»  Nun  gut,  mein  Theobald  scheint  nicht  mehr  ganz  jung, 
drum  sage  ich  eines  Abends  :  «Alter  Freund,  es  wäre  jetzt  auch 
bald  Zeit,  dass  du  von  der  Gasse  kämst  in  eine  eigene  Haus- 
haltung ;  du  bist  jetzt  kein  Füllen  mehr,  und,  erzürne  dich  10 
nicht,  es  giebt  nichts  Betrübteres  auf  der  Welt,  als  so  einen  Hage- 
stolz ;  im  ganzen  Dorf  muss  ja  keine  Kuh  so  alt  sein  wie  du.:» 
Mein  «Vetter  Theobald»  verzieht  den  Mund  drei  Ellen  lang 
zuerst,  schmunzelt  aber  bald  und  sagt :  «Nicht  wahr,  wenn 
du  auch  noch  ledig  wärest !  Nun,  Spass  beiseite,  weisst  du  15 
mir  Eine?  man  muss  zu  Zweien  sein,  um  in  die  Ehe  zu  treten, 
der  Pfarrer,  der  Einen  allein  traut,  lebl  schon  lange  nicht  mehr. 
Du  hast  wahrlich  recht,  jetzt  gehe  ich  eigens  auch  freien ; 
wer  wird  mich  aber  wollen  ?  ich  bin  «der  Theobald»  schon  gar 
lange. 9  —  «Weisst  du  wie,  Freund,  was  eine  Frau  für  dich  20 
wäre?  Die  Dorthel  dahinten,  ja  das  ist  eine  Person,  wie  sichs 
gehört,  sparsam  und  fleissig,  auch  reif,  glaube  ich,  ein  wenig 
Haar  auf  den  Zähnen,  aber  eine  Frau  für  dich.  Die  geht  immer 
so  zierlich  einher,  so  schön,  glatt,  eben,  als  ob  sie  in  Draht 
gehängt  wäre.»  Den  andern  Abend  stellt  sich  mein  Theobald  25 
in  den  Wichs,  putzt,  wascht,  kämmt  sich,  denkt :  «Das  Fragen 


^  «wMw9l>  hier  für  das  gewöhnliche  «wiw^l». 


•  •> 

1  .Ä 


—    178    — 

kostet  nichts» ;  nimmt  das  Herz  in  die  Hand,  läuft  stracks 
zur  Dorthel  hin  und  sagt  ohne  weiteres :  «Wollen  wir  ein 
Pärchen  sein?»  Meine  Dorthel  wird  feuerrot,  sie  bügelt  gerade 

80  an  einem  Tüchelchen ;  wie  sie  das  hört,  geht  sie  auf  wie  ein 
Fastnachtskrapfen,  schlägt  ein  ;  du  kennst  sie  ja,  sie  spricht 
gerade  von  der  Leber.  Schau,  wie  sie  jetzt  lachen,  mit  dem 
ganzen  Gesicht,  wie  ein  Maikäfer !  An  die  Arbeit  geht  jetzt 
mein  Bräutigam  mit  Lust,  pfeift,  singt  mit  heller  Stimme,'  aus 

35  voller  Brust ;  wo  er  geht  und  steht,  hat  er  die  Dorthel  im 
Sinn;  die  lieben  einander,  sind  gerade  wie  zwei  Kinder.  Küsse 
giebts  genug  —  ist  das  etwa  schlecht?  und  spitzen  den  Mund 
dazu  wie  eine  Kuh,  die  nach  einer  Erdbeere   reicht.     Sie  sind 

40  mir  nur  zu  vernarrt.  Ich  weiss  zwar  wohl,  dass  die  Hoch- 
zeiter neun  Tage  lang  blind  sein  müssen.  Aber  so  einfaltig, 
nein!  habe  ich  mein  Lebtag  nichts  gesehen.  Wenn's  nur  nicht 
schlecht  ausfällt !  ich  quäle  mich  ganz  darum,  ich  habe  schon 
oft  gesehen,  die  paar  Liebeswocheri  sind  bald  herum.  Es  ver- 
geht Alles,  Küsse  und  Hochzeit ;  es  währt  eine  gute  Weile,  da 

45  treffe  ich  einmal  meinen  Theobald  mit  einem  Schaufelstiel  ;  er 
schaut  mürrisch  drein,  hängt  den  Mund,  wie  ein  Elefant  den 
Rüssel,  nein,  ich  will  keine  Unwahrheit  sageU;  er  macht  ein 
Gesicht  wie  eine  Elfsouschussel.  Mir  wird's  heiss  und  kalt, 
schnell  frage  ich  :  «Wie  geht  es  deinem  Weibchen?»  —  «So,» 
schnauzt  der  Theobald,  «Andere  haben  jetzt  gut  heiraten,  ich 
habe   den   Teufel.» 


XIII. 


Mundartliche  Dichtung, 


'Wie  guet  mer's  in  der  Heimet  het. 

Strassbarger  ^  Mundart. 


*s  isch  doch  in  der  wite  Welt 
Niene,'  niene  besser  bstellt 
Für  min  Herz  unn  mine  Fridde, 
Als  in  miner  Heimet  Midde 
*8  Fremdland  het  kein  Maetterherz, 
Wät^s  an  rieh  an  Gold  unn  Erz, 
Tbät  au  drinn  Champagner  fliesse. 
Süess  wie  Nektar  ze  geniesse. 
Prosit!  doch  zell-  Kriedeland 
Isch  nit  schön  wie's  Heimetland. 
Unn  min  Elsass  pflanzt  au  Rewe. 
Die  ganz  edli  Triewel^  gewe; 
Muschketeller  unn  Traminer, 
Wo  ze  Land  sinn  d'Sorte  finer? 
Zwische  Wasgau,  111  unn  Bhin 
Wachst  für  uns  en  Extrawin. 


^  nirgends. 

2  zell-jenes. 

3  Trauben. 


—    180    — 

Der  gibt  Kraft,  an  frisch  ze  wandre 
Von  eim  Wasgaathal  zaem  andre. 
Unn  wenn  um  de  Mittda  heisB 
Von  der  Stirn  i  wisch  de  Schweiss, 
Schöpf  i  mit  der  hohle  Hand 
Mier  e  Trank  am  Qaellerand. 
Wie  e  Kind  thüet's  mi  gelüste, 
*s  isch  wie  Milch  von  Maetterbrüste. 
Macht  mer  frische  Wandermaet, 
ünn  i  grif  zue  Stock  nnn  Huet, 
Unsri  Berri  ze  durchstreife, 
Statt  in  dVit  wit  Welt  ze  schweife. 
Geht  e  Frind,  e  Landsmann  mit 
Arm  in  Arm  unn  Schritt  für  Schritt^ 
Sinn  mer  doppelt  gueter  Dinge, 
Dass  mer  hell  e  Duo  singe 
Unserm  schone  Land  zen  Ehre 
ünn  ze  Wett  mit  Vöjelchöre. 

Ach  im  Fremdland,  wills  mer  schiene. 

Sehn  mi  dXit  mit  schiefe  Miene, 

Sieht  mi  mancher  Diebskumpan 

Gar  mit  falschen  Auen  an. 

Hie  ze  Land  ufF  alle  Weje 

Kumme  Landslit  eim  ergeje;^ 

Wo  i  geh  mit  flinke  Füesse, 

Thuen  sie  mi  gar  frindli  grüesse 

In  der  liewe  Muettersprooch. 

«Grüess  euch  Gott!  rueft  Mancher  nooch^ 

Fröjt  mi:  Gehn  er  au  spaziere? 

Tapfer  können  ihr  marschiere; 

Bhüet  üch  Gott!  heisst^s  noch  emol, 

Lewewohl  unn  schlofe  wohl  !> 

Solch  Gemüet  henn  unsri  Lit, 

Biete  gern  enander  d^Zit.* 

s'isch,  als  war  mer  bi  Verwandte, 

Unter  lüter  Altbekannte. 

So  isch^s  wie  am  Wasgau  hüwwe. 

Au  bim  Noochber  Schwarzwald  drüwwe. 

Kehr'  i  von  der  Wandrung  widder, 
Lai  i  mine  Reisstock  nidder, 
Süech  i  uff  der  Heimeterd 
Rüej  an  minem  eijne  Heerd, 


^  entgegen. 

2  d.  h.  grüssen  je  nach  der  Tageszeit:  «guten  Morgen»  bis  «gvte 


Nacht  I 


—    181     — 

O  wie  wohl  thüets,  wenn  mit  warme 
Willkamsgrüesse  mich  umarme 
Treni  Seele,  Frau  ann  Kind, 
Oschwister,  Nochbre,  gaeti  Frind! 
O  wie  ich^s  eim  wohl  ze  Mneth 
In  der  Heimet  sichrer  Huet ! 
Yivat,  Vivat  unser  Ländel ! 
Jo,  mer  hewwe's  fest  am  Bändel 
Unn  mer  lon's  nit  —  Gott  bewahre! 
Lon^s  bis  in  de  Tod  nit  fahre. 
Winkt  am  End  der  Tod  zaem  Grab, 
Nimmt  er  uns  de  Wanderstab, 
0  wie  tröstet  noch  de  Kranke 
Bi^m  Verscheide  der  Gedanke: 
In  der  Heimet  Muetterschooss 
Rüejt^s  Gebein  —  o  seli's  Loos  — 
Newe  Brüedre  wohl  geborje 
Bis  am  Uferstehungsmorje, 
Wo  mer  alli  —  Gott  mög's  gewe  — 
In  der  ewige  Heimet  lewe! 

Adolf    Stöber. 


Urwes. 

Erinnerung. 

Wie  schön,  wie  wunderschön  isch's  gsi! 
Wie  vielmol  denk  ich  zruck  derthi, 
Jctz,  an  die  Orte-n-alle! 
Job  bi  dr  ganze  Tag  im  Thal 
Un  uf  de  Berge,  iweral 
Wo^s  mir  so  güet  hat  g'falle! 

0  d*  «Krone>  die  steht  vor  mim  Sinn, 
Wo^s  so  güet  zVohne  gsi  isch  drin! 
W^er  kännfs  vergesse  numme! 
£-n-Amslechor,  im  Wald  versteckt, 
Hat  mich  am  Morje  frieih  verweckt, 
Wenn  als  dr  Tag  isch  kumme 


'S  Läufbrinnle  das  hat  plätschert  dus; 
Un  was  e  Lewe,  was  e  Gnuss 
Die  frische  Bergluft  z'gniesse, 
Un  z'säh  wie  d'Sunne,  warm  un  güet, 
Mit  ihre  goldene  Strahle  thüet 
'S  Thal  wieder  froh  begriesse. 


—     182    — 

Ich  sieh  dr  Hirt,  derno,  wo  knniit, 
So,  in  dr  frieihe  Morgestnnd, 
Ku  z^drüdle  voller  Freide, 
Sieh  d^Heerde  mit  de  Glocke-n-a 
Dr  Weg  züem  steile  Berg  ischla 
Wo  sie  dmf  sin  geh  weide. 

^S  Herz  hat  mir  gUacht  als  in  dr  Brut» 
Vor  lüter  Freid,  vor  lüter  Lust, 
An  so  me  schöne  Morje, 
Wenn  ich  dar  Berg  nn  Thal  demo 
Als  nmmegstreift  bi,  dert,  so  froh 
Un  frei  vo  alle  Sjrge 

Ün  bi-n-ich  mied  nn  matt  als  gsi 
So  ha-n-ich  mich  nur  blos  derthi 
Ins  weiche  Miesch  lo  sinke; 
Un  wo  ne  Waldbach  g^flosse-n-isch 
Im  tiefe  Schatte,  klar  nn  frisch 
Dert  bi-n-ich  als  geh  trinke. 

Frei  wie  dr  Vogel  nf  em  Feld, 
Was  ha-n-ich  in  dar  Wunderwelt 
Verlebt  fir  schöne  Stunde ! 
Un  alles  das  isch  jetz  scho  wit., 
Se-n-isch,  fir  mich,  die  schöne  Zit, 
As  wie  ne  Träum  ve  Schwunde. 

A.  Lustig. 


—    183    — 

Der  Pankraiz-Da 

oder 

e  Thee-Owen  am  Wasserzoll. 
Schwank  in  einem  Akt 
von 
Ezml  Oberthür. 

Aufgeführt  1887  zum  Besten  der  Ueberschwemmten  an  der  Ostsee. 

Sceoe  stellt  eine  Stube  vor,    in    der  Mitte    nach  links  ein  Tisch,  nach 
rechts  StQhle,  Hintergrund  ein  Kamin,   Fiscberei-Gerftte. 

PERSONEN: 

Fankratz  Bottelmeier ,  Rentner,  ehemal.  Fischer. 

Käthd,  seine  Frau. 

Augustinelf  Cousine  von  Rottelmeier. 

Schängd,  Schusterlehrling,  Nefife  von  Rottelmeier. 

1.  Scene. 

Schängel  (eintretend) :  Gute  Da  bisame ;  ah !  sUsch  Niemand  in  der 
Stnb,  d'  Dande  isch  allewei  e  Bissei  in's  Nochbers  gang  e 
für  ze  retsche.  Es  isch  hit  mim  Unkel  Pankratz  sin 
Namesda  un  do  hawi  em  für  e  Sürpris,  zwei  neui  Riester 
un  Flek  uf  sini  Schue  gemacht  mit  denen  Er  so  manchi 
Jährle  uf  eni  Fischmärik  gestanden  isch. 

D^  Ar  weit  isch  so  schön,  e  wohrs  Meisterstück,  so 
dass  der  Meister  gsat  het :  Wenn  i  in  minere  Kunst  so 
Progrds  fürt  mach,  ze  losst  er  mi  bal  für  d'Bradik  riestere 
un  versohle. 

Jetzt  mues  i  awer  mache  dass  i  s*  Pech  kauf  für  zwei 
Su,  sunst  macht  mer  d'  Meistere  e  riemlichen  Empfang 
(Geste). 

Die  Bottinele  mues  i  halt  ines  verstecke  bis  am 
Firowe  —  awer  wohin  (sucht)  —  aha !  do  in  die  Marmit, 
die  wurd  hit  doch  nim  gebrücht,  do  stehn  sie  sicher. 
(Stellt  die  Schuhe  in  den  Topf  und  geht  ab.) 

IL  Scene. 

Käthel  (mit  einem  Korb  am  Arm  eintretend) :  I  sa  jo,  s'isch  e  wohrer 
Malefitz  mit  dem  Retsche,  mer  kriit  so  Litt  nimmi  los, 
do  Ion  sie  eine  nit  emol  zum  Wort  kumme.  Awer  wenn 
ich  emol  angfange  hab,  soll  sich  au  keine  unterstehn 
mer  nin  babble  ze  welle. 


-     184    — 

Wo  isch  denn  der  Pankraiz  ?  a  ja,  der  isch  jo  schon 
zitier  Mitta  fart  far  ebs  ze  hole  far  in  de  Thee  wo  i 
hit  gewe  will  für  sine  Namesda,  er  blibt  lang,  d'  Bake 
wohne  doch  nitt  so  witt. 

Er  ward  halt  wider  e  Basleda  g^fonde  han. 

Fruier  bin  i  als  froh  g'sinn,  wenn  min  Alter  e  gute 
Fischmärk  het  g'het  un  or  mer  e  Fränkel  extra  g'stupft 
für  e  gute  Kaffe  ze  bruttle  un  Wecke  derzu  ze  serwire. 
Zitter  dass  mer  awer  den  Unkel  üs  Afrika  g'erbt  han, 
min  mer  au  mache  wie  d^  vornehme  Litt  nn  Thee  drinke, 
au  wenn  mer  nit  krank  isch    (Es  klopft.)  Entrez. 


III.  S  c  e  n  e. 

Augustind:  Outen  Owe,  kumm  i  noch  recht? 

Käthel  (für  sich)  :  Die  hetts  nitt  erwarte  kenne,  (laut)  Ah  dis  isch 
schön  vun  dir,  Cusin,  dass  de  doch  in  der  Zitt  kummst, 
um  so  meh,  da£s  i  doch  dine  G'schmak  im  Theeki  eben 
consultire  mögt,  lei  nur  ab,  mach  ders  bequem,  derwilst 
will  ich  de  Thee  uf stelle. 

Augustinel:   Wo    isch   denn  der  Pankratz,   dass   i    em  de  Namesda 
wünsche  kann. 

Käthel:  Er  mues  jeden  Auesblick  kumme.  (Macht  Feuer  unter  den 
Topt  uud  ihut  verdchiedeue  Taten  hinein  leeren.) 

Augustinel  (die  Stube  musternd,  für  sich):  Ja  do  isch  alles  im  Floribus; 
natürli  wenn  mer  halt  so  en  Unkel  erbt,    wo  der  Mann 
nit  kenne  het  brüche,   na,  na  Prankratz :    Was    mer  nit 
weis,  gibt  eim  nit  heiss. 
I  mein  mer  riecht  ebs. 

Käthel:  Gelt  mer  riecht  ne  scbun,  i  hab  Tun  der  erste  Gewalifät 
genumme ;  I  mein  mer  könnte  ne  versueche.  (Stellt  d» 
Topt  auf  den  Tisch,  sie  versuchen.) 

Augustinel:  Gut,  fin,  extra!   awer  i  mein  fast,  es  fehlt  doch  noch  e 
Kleinigkeit:  isch  er  denn  au  genu  g^salze? 

Käthel:  Do  hesch  du  recht,  er  schient  mir  au  e  Bissei  lies,  dem 
kann  mer  abhelfe  (holt  Salz). 

Wenn   du   als  Thee   kochst,   machst   du   au   Pfeffer 
dran? 

Augustinel:  (pathetisch)  Awer  Cüsin. 

Mer  sieht  dass  du  nitt  üsere  vornehme  Famili  stammst; 

^  merk  der  diss  :  dass  in  der  Pankratzische  Rottelmeierische 

Famili,  Niemols  Thee  gekocht   isch  worren  ohne  Pfeffer. 

Käthel  (holt  Pfeiler    und    tbut     die   ganze    Schachtel    in    den   Theej  • 

So  isch   au   Pfeffer  dran   und  genue.    Wie   schmekt  er 

jetzt  ? 

Augustinel:  Pikant  isch  er  genue,  exellent  schmekt  er.  awer,  i  weiss 

nit,  e  Bissei  meh  Arom  dät  em  nix  schade. 


—  \m  — 

KätM:  Do  heach  dii  recht,  (lacht]  uatarli  was  em  de  liebliche 
angenehme  Gschmack  soll  gewe,  d'Hanptsach  am  e  Thee  : 
d^Ziwle  and  de  Knowli  haw  i  vergesse,  (thut  Zwiebeln  und 
Knoblauch  dazu]  so,  alles  isch  jetzt  dran : 

Rosinen,  Erdmandeln,  Essi^  Bäredrek,  Nestelmehl 
Malsextrakt,  Zacherlpalver  an  Lawendelkrat,  mer  Ion 
ne  jetzt  noch  e  Wiel  anzeie,  en  asez-voas?  [hält  die  Dose 
hin  und  diese  läilt  m  den  Toptj 

Zitier  kämmt  der  Pankratz  heim,  i  mein  i  hör  ne 
d^Stei  eraf  holdere. 

IV.    S  c  e  n  e. 

JPankratz  (trägt  ein  Garosack  mit  Flaschen,  ist  angeduselt) :  Ah,  schöne 
gaten  Owe!  s  macht  mer  Fread  s  Augüstinel  bi  es  ze 
sehn,  wie  geht^s  denn,  liewi  Alti  ? 

Augüstinel  (scbuippischj  :  Alti,  dis  find  i  aw^er  nit  galant  Wenn  mer 
so  wie  ich  in  de  beste  Johre  steht  und  d^  Ehr  het  ghet 
bim  Guteberifest  anno  1840  als  Engel  Amor  ze  figürire. 
(Holt  einen  Strauss]  :  Nixdestowenicr  wünsch  i  mim  liewe 
Vetter  viel  Glück  uf  sine  Namesda  an  hab  em  zen  Ehre 
e  kleins  Gedichtel  von  82  Versle  gemacht,  diss  i  em  jetzt 
af  hochditsch  hersaue   will    (entwickelt  ein  langes    Papier). 

(Pathetisch)  : 

Heute  ist  dein  Tag  erschienen, 
Heiliger  Pankratias : 
Nimm  von  Jungfrau  Augustine 
Diesen  Strauss  und  einen  Kuss. 

Pankratz :  Na,  na,  nur  nit  so  zärtli,  s'  Guteberifest  isch  schun  lang 
erum,  un  der  Jungfrekuss  isch  schun  lang  abgerisse. 

Käthel:  Zei,  Alter,  mach  dem  Gespräch  jetz  en  End  un  loss  sehn 
was  de  gebrocht  für  in  de  Thee,  Köielhopf,  Tart,  Wecke 
oder  Brettstelle. 

No  gibscht  awer  au  d^Münz  vura  Zwanzigmarkstückel 
wo  i  der  gewe  hab,  ze  wechsle. 

Pankratz :  I  hab  eietli  selber  nit  gewisst,  was  mer  in  so  e  Thee 
nin  macht,  no  bin  i  zu  mim  gute  Frind  gange,  der  Fritz 
wo  als  Trumpeter  bi  de  Cürassier  isch  g^sin  un  hab  dem 
mini  Noth  geklaut;  der  het  mer  glich  g^holfe,  s'  schint 
dass  sie  bi  dem  sin  Rejement  viel  Thee  gedrunke  han, 
der  het  gewisst  was  derzu  g'hört.  ^o  sin  mer  uf  den 
Achat  üsgange,  mer  han  awer  viel  prowire  un  versuche 
min,  um  nit  d'  Katz  im  Sack  ze  kaufe  (pakt  die  Flaschen 
aus).  Do  han  mer  e  mol  e  Budel  Rhum  de  la  Jamai'que 
US  der  Langstross  un  do  eini  üs  em  Bungewehr,  do  isch 
e  Cognäkel  -^  e  Kirschewasser,  en  echts,  wie  si^s  vun 
Berlin  us  in  de  Schwarzw^ald  schicke,  e  Quetschelwässerle. 
s'  Wasser  isch  ganz  rein  dran,  un  e  Büreträwerle  — 
un  noch   für  d^  Madame   e    Gläsel  süsses,  e  M61e-Cassis. 


—    i86    — 

Käthel :  Awer  dis  isch  jo    nix   als   Schnaps,    mer   sieht  halt  in 
weller e  Gsellschaft  du  gewese  bisch. 

PankraU  (aufgebracbt)  :  Scharrnibeldecoton !  Sa  mer  nix  awer  mini 
Gsellschaft  Wenn  die  an  gern  de  Thee  e  Bissei  krSftig 
drinken  nn  ihri  Kumplemente  als  schiffisch  üsfalle,  weje 
dem  sin's  doch  brayi  Litt  nn  schlat  nen  e  ehrlis  gnts  Herz 
im  Lieb  nn  sin  allewil  bereit  im  Unglück  bizestehn  mit 
Roth  nn  That.  Wie  mancher  Pfntscher  het  schon  sin 
eies  Lewe  reskirt  fnr  dis  ynn  sim  Newemensche  zn  rette^ 
frön  emol  mine  Kolege  den  alte  Stanffert  Jakob. 

Augustind :  A  propos  vnn  Unglück.  Ich  hab  g'hört,  dass  wit,  wit 
von  hie,  widersch  noch  als  Wanzenan.  isch  e  grossi 
Uewerschwemmnng  g^sin,  wo  viel  Litt  ertmnke  sin  nn 
Vieh  ze  ürnnd  isch  gange,  nn  viel  armi  Litt  ihr  Bissei 
Hab  nn  Fahrt  Terlore  han  —  nn  wenn  denne  nitt  g^holfe 
dät  wäre,  wäre  sie  im  allergrösste  Misär  nsgsetzt;  nm 
dis  ze  vermeide  wnrd  jetzt  allethalbe  g^stirt  —  doch  do 
nit  jeder  sini  Paar  Nikel  direkt  hinschicke  kann,  han 
sich  hochi  mlldthätige  Persone  d*mm  angennmme  nn  han 
Sammelstelle  ingericht,  an  wellen  an  d'kleinst  Gab  dankbar 
angennmme  wnrd. 

Wie  wärs,  wenn  mer  nnseri  Namesdafihr  dnrch  e 
Wohlthat  däte  verherrliche  nn  jeder  an  ebs  bistire  dät  ? 
(Pankratz  kommt  in  Verlegenheit.) 

Käthel:  Ja,  dis  welle  mer  dnn,  no  knmmt  an  noch   nnser  Name 
in  d'  Zitnng,   dis  isch  schön.  (Fflr  sich]  :    I  hab  so  mine 
Name  no  nie  gedmkt  gelese. 
Pankratz  (für  sich]  :  Ja  wenn  i  dis  gewisst  hätt,  hätte  mer  dis  letzt 
Schöppel  nimm  gepakt. 

(Laut]  :  Angnstin  kannst  du  mer  e  Zehnmarkstnckel 
wechsle. 
Augustinel:  Wer  wnrd  denn  so  viel  Geld  bi  sich  han  in  dene  gefährliche 
Zitte. 
Käthel:  Alo,   Alo,   lei    ebs    derzn,   dnmmel   di,    do  isch  schon  e 
halbs  Märkel. 
Augustinel:  Un  ich  gib  20  Pfenni. 

(Endlich  findet  Pankratz  einige  Pfennige  in  verschiedenen  Tascheol 
PankratB  (grossartig) :    Wenn's   für   ne   Wohlthat   isch,    do    gib  ich 
ungezählt. 
Augustinel:  Ach  wie  viel !  mer  wellen   e   mol  zähle :  50  —  70  —  1, 
2,  3,  4  ... ;  total  77  Pfenni. 

Dis  ungezählt  vom  grossartige,  nfgeblosene  Herr 
Pankratz  isch  werzina  nit  viel  g^sin.  7  Pfenni. 
Pankratz:  Na,   besser    e   Mü6  im  Krnt  als  gar   ken  Fleisch,  nn  les 
petits  rnisseanx  fönt  les  grandes  rivieres. 
Käthel:  Do  hawi  e  Tässel  ingschenkt    fnr   extra,  no  schitte  mer 
e  Schupf  voll  Wasser  noch,  no  rufe  mer  erst  nnseri  in* 
geladene  Gast  vum  zweite  un  dritte  Stock  an  derzn« 
(Sie  trinken,  husten,  halten  sich  den  Bauch  u.   s.  w.) 


—     187    — 

V.  S  c  e  n  e. 

Schängel  (tritt  schnell  ein,  springt  Pankratz  an  den  Hals) :  Liewer  Unkel. 
i  kämm  für  der  dine  Namesda  anzewüasche.  —  Na,  was 
isch  denn,  wnram  grinen  er  All!  r—  isch  ebbe  d^  Meiss 
fort  g'flöue,  oder  s'  Dissele  verreckt  ? 

Panhratz:  Los  mi  gehn  mit  dim  Namesda,  lang  dn  nns  Oejegift! 
[Der  Schängel  langt  eine  Schnapsflasche,  sie  trinken  und  be- 
ruhigen sich.) 

Schängel:  Tante,  hesch  da   min  Present  an  g^fnnde   wo  ich  in  der 
Marmit  versteck elt  bab  g^het. 
Käihel  (lauft  an  den  Topf  und  zieht  die  Schuhe  und  die  Dose  heraus) : 
Jetzt  nimmt^s  mi  niYnm  Wunder,    dass  unser  Thee    e  so 
e  Gü  het  ghet 

Schängel :  Was  Thee,  a  ja  so,  Tante,  wie  i  durch  d^  Langstross  bin 
gange,  het  mer  der  ^picier  gerufe  und  het  gsaid:  do 
Schängel,  bring  dinere  Dande  dene  Thee,  wo  sie  hit 
kauft  het  un  iwerm  Retsche  uf  em  Kuntwar  leie  het  Ion. 
do  isch  er. 

(Käthel  steht  traurig  still.) 

Pankratz:  Na  Alti,  kumm,  bruchsch  hit,  an  mim  Namesda  nit  trüri 
ze  sin,  mer  wellen  es  doch  noch  amüsire,  mer  gehn  in^s 
Kasino  in  d^  Kinderspielgass,  dort  gibt  der  Nautisch 
Verein,  wo  ich  membre  associ^  bin,  und  d'  Müsikgsellschaft 
Einigkeit  e  lustigs  Fest  au  profit  vun  den  Uewerschw  emmte, 
do  traue  mer  unseri  77  Pfenni  au  hin,  un  ich  autorisier 
dich^  noch  e  Märkel  derzu  ze  leie. 
Käthel:  Jo,  do  gehn  mer  hin,  no  regalir  ich  dort  e  Thee,  un 
wenn  er  nit  besser  usfallt  als  miner,  zen  isch  dismol  min 
Geretsch  nit  schnldi  dran. 

Alli  —  in's  Kasino. 


XIV. 


AlliUeration,  Assonanz  nnd  YergleichungeB 

in  der  Zornthaler  Mundart 


von 


Dr.  Hans  Lienhart. 


Uie  Allilteration ,  d.  h.  der  gleiche  Anlaut  der  Haupt- 
begriffe innerhalb  einer  syntaktisch  oder  metrisch  zusammen- 
gehörigen Gedankenreihe,  ist  der  Träger  des  Verses  in  der 
altgermanischen  Poesie;  allein  mit  der  Einführung  des  Rei- 
mes in  die  Dichtkunst  im  Ausgang  des  9.  Jahrhunderts  unserer 
Zeitrechnung  hat  dieselbe  rasch  an  Bedeutung  verloren.  Im 
mittelhochdeutschen  Zeitraum  hatte  man  freilich  noch  Gefallen 
^n  allitterierenden  Versen,  auch  mochte  man  damals  noch  den 
Reiz  derselben  empfunden  haben  —  hat  doch  Gottfried  von 
Strassburg,  der  bedeutendste  elsässische  Dichter  aller  Zeiten, 
floch  zu  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  in  seiner  berühmten 
Epopöe  «Tristan  und  Isolde»  in  ausgedehntem  Masse  Gebrauch 
davon  gemacht.  In  neueren  Dichtungen  bedient  man  sich  der 
Allitteration  in  der  Regel  nur  noch  dann,  wenn  eine  gewisse 
Lautmalerei  beabsichtigt  v^ird. 

Auch  die  altgermanische  Rechtssprache  weist  eine 
ungemein  grosse  Zahl  von  stehenden  Formeln  in  allitteriei^ndem 
Gewände  auf;  sie  sind  meist  zweigliederig  und  gehören  be- 
grifflich entweder  derselben  oder  der  entgegengesetzten  Sphäre 
an,  und    in    svntaktischer   Hinsicht  stehen   sie  zu  einander  in 


—    189    — 

dem  Verhältnis  der  Koordination.  Jakob  Grimm  hat  dieselbei^ 
aus  alten  Gesetzen  und  Urkunden  gesammelt  und  in  seinen 
cDeutschen  RechtsalterthümernD  nach  bestimmten  Gesichts- 
punkten zusammengestellt. 

Auf  dem  elsässischen  Sprachgebiet  sind  mehrere  dieser 
alten  Formeln  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  lebendigem  Gebrauch 
erhalten,  und  manche  andere  hat  die  schöpferische  Volksphan- 
tasie in  Anknüpfung  an  irgend  einen  Vorgang  im  täglichen 
Leben  neu  geschaffen.  Im  folgenden  sollen  einige  AUitterationea 
mitgeteilt  werden,  die  mir  häufiger  im  mittleren  Zornthal  be- 
gegnet sind. 

a)  Substantivische  Allitteration. 

1.  sem  himal  ün  häl  f6rs*tfel9.    einem  Himmel   und  Hölle  vor- 

stellen, eindringliche  Vorstel- 
lungen machen. 

2.  hys  ün  höft  farli^ra.  Haus  und  Hof  verlieren. 

3.  {fen9   fön  hyt  ün   hür  niks    einen    von    Haut   und    Haaren, 
önkän.  nichts    angehn,   in    keinerlei 

Vervvandtschafts Verhältnis  zu 
ihm  stehn. 

4.  lÜTQ-a-law9r  rüfkhötsa.  Lunge  und  Leber  heraufkotzen,. 

sich    sehr   heftig   erbrechen 
müssen. 

5.  9r  hfet  khfen  ryoBy  ün  khfen    er  hat  keine   Ruhe  und    keine 


ras  t.  Rast. 

b.  s'änt-a-s*pöt  metcibm  9rlaw9.  Schande  und  Spott  mit  einem 

erleben. 

7.  «m   t9  höft  f9rsViw9    met  einem    den    Hof   verschreiben^ 
s*ef  ün  ks'er.  testamentarisch  zustellen,  mit 

Schiff  und  Geschirr. 

8.  s  es*  setj  ün  s  ot  t9fer.  es  ist  Sünde  und  schade  daför. 

9.  s'läk  f9r  s'läk.  Schlag  für  Schlag. 

10.  tu  es*  khän  sHüpf9l  ün  khön  da  ist  keine   Stoppel   und  kein 

s't^l  m6  tS9  sän.  Stiel  mehr  zu  sehn. 

4 1 .  pi  äl9m  went  ün  wat9r  ny-  bei    allem  Wind    und    Welter 

sek9.  hinausschicken. 

12.  tes  es*  9   k9wes*p9ls   ün  9  das   ist  ein  Gewispei    und   eii> 

k9was*p9ls !  Gewespel  ! 

b)  Adjektivische  Allitteration. 

1.  feks-9-fferti.  fix  und  fertig. 

2.  frei-9-fräY)k.  frei  und  frank. 

3.  fres*  ün  fräsi.  frisch  und  gefrässig. 


—    190    — 

4.  ha^itar  hal  tcfe.  heiterhell  Tag. 

5.  krien-a-käl  s'ldfeyja.  ^rün  und  gelb  schlagen. 
i).  leti  ün  lüs.  ledig  und  los. 

7.  niks  tsa    li^p    ün   niks  tsa    nichts    zu   lieb   und  nichts    zu 
Iseit.  leid. 

8.  plüt  ün  pler^.  bloss,    unbeGedert,     unbehaart 

und  blind. 

9.  plüt  ün  pl^sli  s't^n.  bloss   und  blösslich   stehn,  auf 

der  Kippe,  in  labilem  Gleich- 
gewicht stehn. 

10  s'tif  ün  sHräk.  steif  und  strack  vor  Kälte  oder 

Erstarrung. 

11.  s  es'  mar  wela-n-a  wo.         es  ist  mir  sterbensweh. 


c)  Adverbiale  Allitteration. 

1.  ^wa-n-ün  öwa.  eben  und  eben,   soeben. 

2.  pants  e7)a,  pants  öwa.  Bentz  unten,  Bentz  oben. 

3.  hen-at-här.  hin  und  her. 

4.  üm-at-üm,  ümastüms.  um  und  um,  überall. 

5.  üf-a-n-ö.  auf  und  ab. 

6.  ys-a-n-er^.  aus  und  ein. 

7.  h^n  es*  h^n.  hin  ist  hin. 

8.  känts-a-kör  nit.  ganz  und  gar  nicht. 


d)  Verbale  Allitteration. 

1.  ar  bot  s  farröt  ün  farhseisa.   er   hat   es    verredet    und    ver- 

heissen ,     auf    das    allerbe- 
stimmteste  erklärt,  dass  .  . 

2.  tu  es'    mar   farkhceyft   ün   da    ist   man  verkauft  und  ver- 
farlöra.  loren. 

3.  met  ta  fremta  Uta  es*  mar   mit  den  fremden  Leuten,  Dienst - 
ps'esa  ün  pairdeyja.  boten,     ist    man    beschissen 

und  betrogen. 

4.  tu  lipt  ün  lapt  älas.  da  leibt  und  lebt  alles. 

e)  Zasammenaetznngen. ' 


1.  khätsakrdey.  kalzengrau. 

2.  kolkäl.  goldgelb. 

3.  khelakäl.  quittengelb. 

4.  krdskrien.  grasgrün. 


—    191     — 

5.  pletsplcey,  wy  t  kar^s  en  t    blitzblau,  w\e  die  Gänse  in  die 
pax  s*is9.  Bach  scheissen. 

6.  rüsarüt.  rosenrot. 

7.  wd^yjawit  öfa  s*t6n.  wagenweit  offen  stehn,  so  weit 

da  SS  ein  Wagen  durchfahren 
könnte. 

8.  wüntarswäja.  Wunders  wegen. 

2.  Asuonanz. 

Die  Assonanz  ist  die  Vorstufe  des  ausgebildeten  Reims; 
sie  beruht  auf  dem  Gleichklang  des  betonten  Vokals  derjenigen 
Wörter,  die  mit  einander  gebunden  werden  sollen;  die  nach- 
folgenden Konsonanten  kommen  dabei  nicht  in  Betracht.  In 
der  älteren  Prosa  sind  die  Beispiele  seltener  als  bei  der  Allit- 
teration^  und  das  gilt  auch  für  die  Folgezeit :  die  Assonanz  ist 
überhaupt  nicht  so  volkstümlich  geworden  wie  die  Alliteration. 
Immerhin  aber  sind  in  unserer  Mundart  einige  Fälle  vorhanden  : 

1.  föl,  äwar  nit  töl.  voll,  aber  nicht  toll. 

2.  tu    es*  äles   awak,    hür-a-    da   ist  alles   weg,    Haare   und 
pütsa.  Butzen,    d.  i.     Gehäuse  des 

Kernobstes. 

3.  kalt  rarjiert  t  wall  ün  ter  Geld  regiert  die  Welt  und  der 
täeifal  t  lit.  Teufel  die  Leute. 

4.  BT  khän  nem  k^n  ün  nem  er  kann  nicht  mehr  gehn  und 
s'ten.  nicht  mehr  stehn. 

5.  je  kremar,  je  s'lemar.  je  krümmer,  je  schlimmer. 

6.  niksältsa  üniks'mältsa  nicht    gesalzen    und    nicht  ge- 

schmalzen,  ohne  Fett. 

7.  se  hän  älas  rümpf-a-s'tümpf    sie    haben    alles,     Rumpf   und 
üfkfrasa.  Stumpf,  aufj^efressen. 

8.  ryt-la-pytik.  frz.    toute    la    boutique,     alles 

insgesammt. 

9.  üf  s'tai-a-wäi  nüyken.  auf  Steg   und  Weg  nachgehn. 
10.  hent  kfrirt  s'tabn-a-pain  tsä-    heute    nacht  friert    Stein    und 

ma,  sü  khält  es'  s.  Bein   zusammen,    so  kalt  ist 

es. 
1i.  tu    khent    mar   s'tarwa-n-    da     könnte   man    sterben   und 
ün   fartarwa,    s    tat   khen       verderben,  es  thät'  kein  Hahn 
hön  tarnüx  kräja.  danach  krähen. 

3.  Vergleichnng. 

Ein  Veigleich  in  prägnanter  Kürze  ist  oft  trefl'ender  und 
wirkungsvoller   als    eine   ausführliche  Beschreibung  oder   eine 


—    192     — 

genaue  Schilderung  des  Gegenstandes,  über  den  man  etwas 
mitzuteilen  hat.  Dem  einen  sagt  diese,  einem  anderen  jene 
Art  mehr  zu  :  das  hängt  neben  stilistischen  Neigungen  und 
Liebhabereien  wesentlich  ab  von  der  Fülle  sprachlicher  Mittel> 
über  weiche  der  Sprechende  oder  Schreibende  verfügt.  Wer 
auf  einer  hohen  Stufe  geistiger  Entwickelung  steht,  wird  gern 
erschöpfend  über  seinen  Gegenstand  sprechen  und  ihn  von 
allen  Seiten  zu  beleuchten  suchen ;  der  gewöhnliche  Mann 
aber  mit  seinem  Dialekt  ist  ausgeschlossen  von  dem  höheren 
geistigen  Leben  seiner  Nation,  der  Kreis  seiner  Anschauungen 
ist  em  enger  und  beschränkter,  seine  Bregrifle  reichen  kaum 
über  die  Grenze  seiner  alltäglichen  Lebens-  und  Beschäflig^ungs- 
weise  hinaus,  und  daher  spielt  auch  der  kurze  Vergleich  in 
seiner  Unterhaltung  eine  so  hervorragende  Rolle:  in  eineai  ab- 
gerundeten Bildchen  kann  er  vergleichsweise  mit  wenigen 
Worten  sein  Urteil  abgeben  in  einer  Form,  die  er  vom  Vater 
ererbt  hat,  und  die  wieder  ebenso  stereotyp  auf  seine  Kinder 
übergeht. 

Das  Bild  verleugnet  in  der  Regel  den  Boden  nicht,  auf 
dem  es  entsprungen ;  oft  ist  demselben  in  gar  zu  anschaulicher 
Weise  der  Stempel  des  Derben  und  Naturwüchsigen,  gelegent- 
lich sogar  das  Niedrigen  und  Gemeinen  aufgeprägt;  aber,  so 
viel  ist  sicher,  eine  absichtliche  Kränkung  ist  bei  dem  meist 
harmlosen  Charakter  der  Bewohner  unseres  Thaies  dabei  nicht 
vorauszusetzen.  Vielen  der  Vergleichungen  liegt  ein  ge-wisser 
satirischer  Zug  zu  Grunde,  das  gilt  namentlich  von  der  grossen 
Menge  derjenigen,  welche  sich  auf  den  Menschen,  seine  körper- 
liche Gestalt,  seine  Thätigkeit  und  seme  inneren  Eigenschaften 
beziehen. 


Der  menschliche  Körper. 

1.  d  khöpf  wy  8  sesHar.  ein    Kopf  wie   ein  Sester,    ein 

dicker  Kopf. 
"2.  9  khöpf  wy  a  khitar  sü  rüt.   ein    Kopf    wie    ein   Täuber  so 

rot. 

3.  9  satal  wy  a  kykalhön.         ein  Schädel  wie  ein  Göckelhahn. 

4.  9  khepfal  wy  a  s*patsal.        ein  Köpflein  wie  ein  Spatzlein. 

5.  ta  pys'a  sHfela  wy  eps  pös.   den  Buschen  (die  Haare)  stellen 

wie  etwas  Böses. 

6.  k^kla    wy   saltspeksla,    wy  Guckein,  Augen,  wie  Salzbüchs- 
pflyarätla.  lein,  wie  Pflugrädlein. 

7.  ter  mäj(.t  a  phör  cpyja    wy  der  macht  ein  Paar  Augen  wie 
eps  p6s.  etwas  Böses. 


—    193    — 

8.  lyceyja  wy  eps  p^s,   wy  a  lugen    wie   etwas    Böses^    wie 
rnörtar.  ein  Marder. 

9.  9  nös  wy  9  khümpf.  eine  Nase  wie  ein  KuAipf,  Wetz- 

steinbehälter. 
dO.  9  s'nütalnös  wy  9  wals'hön.   eine  Rotznase  wie  ein  Welsch- 
hahn. 

11.  9  myl  wy  9  hdls*y9x.  ein  Maul  wie  ein  Holz^huh. 

12.  päk9  wy  melix  ün  plydet.     Wangen  wie  Milch  und  Blut. 

13.  9  phor  pakl9  wy  9  pfif9r.     ein  Paar  Bäcklein  wie  ein  Pfei- 

fer, dicke  runde  Backen. 

14.  tfer  hH  äwer  rüti  päka !  —  der  hat  aber  rote  Backen  I  — 
ja,  wy  s  khatS9l  et)9-n-äm  Ja,  wie  das  Kälzlein  unten 
pyy.  am  Bauch. 

15.  yssän  wy  tar  tut.  aussehn  wie  der  Tod. 

16.  pliej9  wy  9  rfis.  blühen  wie  eine  Rose. 

17.  9  hals*  wy  9  s'fifer.  ein    Hals    wie    ein    Stier,    ein 

dicker  Hals. 

18.  9  hals9l  wy  9  s'palS9l.  ein  Hälslein  wie  ein  Spätzlein- 

19.  9  pük9l  wy  9  s'ülts.  ein   Buckel,    Rücken,   wie   eir> 

Schulze. 

20.  9  knyp9  wy  9  fys't,  wy  9  eine  Anschwellung  wie  eine 
hifenOTsbi,  wy  9  karjsaei.  Faust,  wie  ein  Hühnerei,  wie 

ein  Gansei. 

21.  9  pyx  wy  9  trüm,  wy  9  ein  Bauch  wie  eine  Trommel, 
tsäpf9pet9l.  wie  ein  Zapfenbottich. 

22.  9  phör  arm  sü  tek  wy  min  ein  Paar  Arme  so  dick  wie 
s*aT}k9l.  meine  Schenkel. 

23.  arm  wy  wespabm.  Arme  wie  Wiesbäume,  Winde- 

bäume. 

24.  narf9  wy  soBywat9l.  Nerven  wie  Sauschwänze. 

25.  pär9tüp9.  Bärentatzen. 

26.  \är  hH  9  phör  pres't  wy  9  ^er  hat  ein  Paar  Brüste  wie 
wipsmens*.  ein  Weibsmensch,    wie  eine 

Frau. 

27.  9-n-örs'  wy  9  wän.  ein   Arsch    wie    eine    Wanne, 

Getreideschwinge. 

28.  fat  wy  9  soey,  wy  9-n-öl,  fett  wie  eine  Sau,  wie  ein  Aal, 
wy  9-n-öks.  wie  ein  Ochse. 

29.  t^r  es*  sü  fat  was  em  en  der  ist  so  fett,  was  ihm  in  die 
t  hyt  netj  M,  Haut  hinein  geht. 

30.  tfer  es*  sü  fat,  9r  s^t  fäs*t  der  ist  so  fett,  er  sieht  fast 
nem  tsy9  t9-n-deyJ9  rys.  nicht   mehr    zu    den  Augen 

heraus. 

31.  tek  wy  9  s*tüwöf9.  dick  wie  ein  Stubenofen,  hoch- 

schwanger. 

13 


—     i94     — 

3^2.  ter  wy  9  s*it.  dürr  wie  ein  Scheit,  Holzscheit. 

33.  i^r  es'  sü  ter,  mar  khänt  der  ist  so  durr^  mager,  mau 
na  fös*t  6ntseiQa.  könote  ihn  fast  anzünden. 

34.  ksünt  y/y  B-n-^iyißl.  gesund  wie  eine  Eichel. 

35.  töm  es*  sü  wöl  wy  ema  fes*  deip  ist  so  wohl  wie  einem 
em  wäsar.  im  Wasser. 

36«  s  es*   mar  liätarli  wy  ema  es  ist  mir  liederlich  wie  einem 

hünt.  Hund. 

37.  tes  es'  äwar  a  kharal,  a  das  ist  aber  ein  Kerl,  ein  heller 
halar  äbi^pc^m  !  Eichbaum  ! 

38.  khym  trei  khäs  hü^.  kaum  drei  Käse  hoch. 

39.  w6sa  wy  a  jüniQar  hunt.  wachsen  wie  ein  junger  Hund. 

40.  t^r  wöst  et)ars*i  wy  ta  m^  der  wächst  unter  sich  wie  dei- 
rati.  Meerrettich. 

41.  s*t6rik  wy  a  herkhyl.  stark  wie  ein  Herkules. 

42.  ter  h^t  nil  m^  krefta  äs  der  hat  nicht  mehr  Kräfte  ab 
min  klabnfeiQar.  mein  Kleinfinger. 

43.  ryslyd&yja  wy  a  ks*t6xani  herauslugen  wie  eine  gestochene 
kafeis,  wy  a  s*nitar,  wy  a  Geis,  wie  ein  Schneider,  wie 
mys  ys  ara  wal  s*tru.  eine    Maus   aus   einer  Welle 

Stroh. 

44.  lydeyt  sü  ni^tar  wy  a  fr^s*.   lugt    so   nüchtern,    hat   ein  su 

schmales    Gesicht     wie     ein 
Frosch. 

45.  tör  mä/t  a  pükal  wy  a  khäts  der  macht  einen  Buckel  wie 
wan  s  rümall.  eine  Katze  wenn  es  donnert. 

46.  plydsta  wy  a  soey.  bluten  wie  eine  Sau. 

47.  alt  wy  Metysalam.  alt  wie  Methusalem. 

Innere  Eigenschaften. 

48.  ar  hat   äiQs't  wy  a  jütarös.   er  hat  angst  wie  ein  Judenross. 

49.  a  tsorn  wy  a  hys.  ein  Zorn  wie  ein  Haus. 

50.  a  myl  hän  wy  a-n-äfakhät.   ein     Maul     haben,      plaidiereu 

können  wie  ein  Advokat. 

51.  fäls*  wy  käljaholts.  falsch  wie  Galgenholz. 

52.  s*älli  wy  a  kaeispok,  wy  a  schädlich, Schaden  verursacheo«! 
mörter,  wy  a  khätsamölart.       und     verschlagen     sein     wie 

ein  Geisbock,  Marder,  Kater. 

53.  kröp  wy  soeypünas'trü.  grob  wie  Saubohnenstroh. 

54.  stöli  wy  a-n-öks.  eigensinnig  wie  ein  Ochs. 

55.  tum  wy  a  prat.  dumm  wie  ein  Brett. 

56.  sü  tdeyp  äs  na  t  karjs  em  so  dumm,  dass  ihii  die  Gänsc* 
wäi  pisa.  im    Weg,    auf  der    Strasse, 

beissen. 


—    195    — 

57.  Ideywar  äs  nin  lob  räjawatar.   dummer  als  neun  Tage  Regen- 

wetter. 

58.  tes  es*  am  jets  ^rjar  äs  älas.   das  ist  ihm  jetzt  ärger  als  alles, 

er  bekümmert  sich  sehr  dar- 
über. 

59.  ar  het  si  ks'ämt  wy  a  hünt.   er   hat   sich   geschämt  wie  ein 

Hund. 
öO.  ar  h^t  si  ks'ämt  wy  älas.     er  hat  sich  geschämt  wie  alles. 
öl.  ar  häpt  s  harts  nys  wy  a  er  hält  das  Herz  hinaus,  wirft 
pärnas.  sich  in  die  Brust,   ist  hoch- 

mütig  wie   ein   Barnes,  Ju- 
denmaire,  jüdischer  Bürger- 
meister. 
()2.  tfer   mkyJL  wy  närat,   wy  a  der  macht,   gebärdet  sich  wie 

när.  ein  Verrückter. 

(Ö.  priela    wy  a   s'tiär,    wy  a   brüllen  wie  ein  Stier,   wie  ein 

mfertar.  Mörder. 

64.  flydexa  wy  a  terik.  fluchen  wie  ein  Türke. 

(>5.  lieja  wy  katrükt.  lügen  wie  gedruckt. 


Essen  und  Trinken  und  ihre  Folgen. 

66.  s  es*  mar  häli  wy  em  a  sak.    es   ist  mir  so  hohl  wie  einem 

Sack,  ich  verspüre  sehr  gros- 
sen Hunger. 

67.  asa,  frasa  wy  a  hakar.         essen,    fressen    wie  einer  der 

Reben  umhackt. 

68.  ex  häp  hüijar  wy  a  wölf.     ich  habe  Hunger  wie  ein  Wolf. 

69.  fol  wy  a  trüm.  voll    gefressen    und    dick   wie 

I     eine  Trommel. 

70.  fürtsa  wy  a  püriküntaräsal.   farzen  wie  ein  Burgunderesel. 

71.  a  hyfa  s*isd  wy  a  s*wörtsar  einen    Haufen    scheissen    wie 
khorp.  einen  schwarzen  Korb. 

72.  ex  häp  türs*t  äs  i  s*i^r  far-  ich   habe   so  sehr  Durst,    dass 
la/.  ist  schier  leck  werde. 

73.  syfa  wy  a  rös,  wy  a  pers'ta-  saufen,    trinken  wie  ein  Ross, 
peY]ar.  wie  ein  Bürstenbinder. 

74.  föl  wy  a  scey,  wy  a  khänün,   voll    wie   eine   Sau,    wie  eine 
wy  a  poläk,  wy  tdeysik  man.       Kanone,  wie  ein  Polack,  wie 

tausend  Mann. 

75.  ar  hat  a  khes't  wy  a  hys.   er  hat  eine  Kiste  wie  ein  Haus, 

ist  in  hohem  Grade  besoffen. 

76.  khötsa  wy  a  s'loshünt.  kotzen  wie  ein  Schlosshund,  sich 

sehr  erbrechen. 


—    196    — 

77.  s  es'  am  w^  wy  em  d  hünt.  es    ist    ihm    weh    wie    einem 

Hund. 

78.  tör  frest  ün  syft  was  en  nd  der  frisst  und  säuft  was  in  ihn 
neY)  k^t.  hinein  geht. 

79.  t^r  frest  ün  syft  äs  9r  s*iär  der  frisst  und  säuft,  dass  er 
fars'pretjt.  schier  zerspringt,  platst. 

Schlaf  und  Arbeit. 

80.  s'lüfa  wy  9  rät.  schlafen    wie   eine   Ratte,    fest 

schlafen. 

81.  s*näri^9  wy  a  rät.  schnarchen  wie  eine  Ratte. 

82.  {k)r  khän  s'äfa  wy  a-n-ältar.   der  kann  schaffen  wie  ein  Alter. 

83.  trüf  lüs  s*äfd  wy  9  när.        drauf  los  schaffen  wie  ein  Narr. 

84.  s*äf9  wy  9  pümdpütsar,  wy  schaffen  wie  ein  Brunnenputzer, 
wi^ti.  wie  wütend. 

85.  fyl  wy  mes't.  faul  wie  Mist. 

86.  t^r  es'  sü  fyl  äs  ar  s'tevjkt.   der  ist  so  faul,  dass  er  stinkL 

Rahe  und  Bewegung. 

87.  tu  s't^t  ar  wy  trei  ün  ^)af,  da  steht  er  wie  drei  und  elf, 
wy  tar  pütar   en  tar   sün.  wie  die  Butter  in  der  Sonne. 

88.  te  leija  tu  wy  t  jei^ar  am  die  liegen  da  wie  die  Jünger 
^Ipari.  am  Oelberg. 

89.  hälta  wy  a  myr.  stille    halten    wie    eine   Mauer 

und  gewähren  lassen. 

90.  tes  höpt  wy  pa^.  das  hält  fest  wie  Pech. 

91.  k^n  wy  a  pf(&tar.  gehn,  stolz  gehn,  wie  ein  Pfetter> 

d.  i.  Taufpathe. 

92.  t^r  k^t  wy  a  hösas'isar.         der  geht  wie  ein  Hosenscheisser. 

93.  t^r  ket  tu  rüm  wy  tar  tut,  der  geht  da  herum  wie  der 
wy  t  s'at  an  tar  wänt.  Tod,    wie    der   Schatten   aD 

der  Wand. 

94.  tes  k^t  wy  ks'm^rt.  das  geht  wie  geschmiert. 

95.  tu  k^t  s  tsy  wy  fer  am  da  geht's  zu  wie  vor  dem  Himme) 
himal  tysa.  draussen. 

96.  evjer  am  räja  önak^n  wy  unter  dem  Regen  durch  gdin 
t  Rürar.  wie    die    Rohrer  (Rohr   am  ■ 

Kochersherg). 

97.  tfer  Ideyft  wy  psasa,  wy  wiö-  der  läuft  wie  besessen,  wt 
ti,  wy  a  wiätjar  hünt,  wy  ein  wütender,  toller  Hund, 
a  khoeyjal  ys  am  rür.  wie    eine     Kugel    aus    dem 

Rohr. 


I 


—    197    — 

98.  herß  nüx  khümd  wy  t  k\i  hinten   nach   kommen  wie  die 

fäsndxt.  alte  Fastnacht. 

99.  s'wema  wy  9  fes*.  schwimmen  wie  ein  Fisch. 

iOO.  s'li^d  wy   9   khäts,  wy  a  schleichen  wie  eine  Katze,  wie 

mörtar.  ein  Marder. 

iOl.  9r  h^t   si    katyyalt  wy  9  er  hat  sich  geduckt  und  ist  da- 

hünt.  von  gelaufen   wie  ein  Hund. 

i02.   fdr9  wy  tar  ta^iharjkar,  wy  fahren  wie  der  Teufel,  wie  das 

s  tümtarwatar.  Donnerwetter. 

103.  lotla  wy  a  khies'wänts.  sich    bewegen    wie    ein    Kuh- 
schwanz. 

i04.  ks*went  wy  a  wesala.  geschwind  wie  ein  Wiesel. 

105.  sü  ks'went  äs  a  kseis  tcet.  so  geschwind  als  ein  Geis  tritt ^ 

106.  sü  ks*went  wy  a  halwatar-  so    geschwind    wie    ein    Hell- 
Isei.  wetterleich,  wie  der  Blitz. 

Kälte  und  Wärme. 

107.  khält  wy  is,  iskhält.  kalt  wie  Eis,  eiskalt. 

108.  tu  es*  sü  khält  wy  en  ara  da   ist  es  so  kalt  wie  in  einer 
iskryap.  Eisgrube. 

i09.   fri^ra  wy  a  näsar  hünt.       frieren  wie  ein  nasser  Hund. 

110.  t6r  win  es'  wörm  wy  sii'iy.    der  Wein  ist  warrn  wie  Seich, 

Harn. 

111.  tu  es*  sü  worm  wy  em  a  da  ist  es  so  warm  wie  in  einem 
pöts'tewa!.  Badstübchen. 

112.  sü  hsbis  wy  em  a  pä)rofa.  so  heiss  wie  in  einem  Backofen. 

113.  te  süp  es'  haeis  wy  fir.  die  Suppe  ist  hciss  wie  Feuer. 

114.  s'wetsa  wy  a  par.  schwitzen  wie  ein  Bär. 

115.  tar  fer^ar  prant  mi  wy  fir.  der    Finger   brennt   mich   wie 

Feuer. 

Geld  und  Gat. 

116.  t^r  het  kalt  wy  Ideyp.  der  hat  Geld  wie  Laub. 

117.  ri)r  wy  a  s'ts^n^sal.  reich  wie  ein  Steinesel. 

118.  örm   wy  Lätsar^s,    wy   a  arm    wie    Lazarus,     wie    eine 
kheriymys.  Kirchmaus. 

119.  ar  es'  sü  örm  äs  am  t  üra  er   ist   so   arm,    d,a3s   ihm. die 
hila.  Ohren  heulen. 

120.  ar  het  m6  s'ülta  äs  hür  üf  er  hat  mehr  Schulden  als  Haare 
am  khöpf.  auf  dem  Kopfe. 

Kleidung. 

121.  tes    klabit  haiQt  am  wy  a  dieses  Kleid  hängt  an  ihm  wie 
säk.  ein  Sack. 


—    198    — 

122.  te  h6s9  .sen  wit  wy  9  säk.  diese  Hosen  sind  weit  ¥ne  ein 

Sack. 

123.  9r  h^t  9  phör  sHefol,  hali  er  hat  ein  Paar  Stiefel,  helie^ 
iir^mar.  wahre  Feuereimer. 

124.  tes  sH^t  tar  jöts  amül  s*^n  das  steht  dir  jetzt  einmal  schön 
ön,  wy  em  a  patdlman  9  an,  wie  einem  Bettelmann 
Mk.  ein  Frack. 

Geschmacksinn . 

125.  sü  sies  wy  hüni,  wy  tsükar.   so  süss  wie  Honig,  wie  Zucker. 

126.  petdr  wy  käl.  bitter  wie  Galle. 

127.  syr  wy  keft,  wy  äsi.  sauer  wie  Gift,  wie  Essig. 

128.  s'ärf  wy  6si,  scharf  wie  Essig. 

129.  tes  es*  su  s*ärf  äs  aem  td  das  ist  so  scharf,  dass  es  einem 
räxd  fäsH  üfrist.  den  Rachen  fast  aufreisst. 

Gernehsinn. 

130.  tes  s'ter^kt  wy  phte't,  wy  das  stinkt  wie  Pest,  wie  ein 
9  kaeispok.  Geisbock. 

Farben. 

131.  s'wörts  wy  9  khäminfäjar,  schwarz  wie  ein  Kaminfeger, 
wy  9-n-äräw9r.  wie  ein  Araber. 

132.  wis  wy  9  wänt.  weiss  wie  eine  Wand. 

133.  khölis'wörts.  kohlschwarz. 

134.  kritiwis,  s'lüswis.  kreideweiss,  schlossweiss,  hagel- 

weiss. 

135.  hent  es'  fens'tor  wy  em  9  heute  nacht  ist  es  finster  wie 
sak.  in  einem  Sack. 

136.  hal  wy  am  ick.  hell  wie  am  Tag. 

137.  triäp  wy  mülik9.  trüb  wie  Molken. 

138.  hal  wy  kres'täl.  hell  wie  Kristall. 

139.  firrüt.  feuerrot. 

140.  khäls*ploey.  kölnischblau. 

141.  kölkäl.  goldgelb. 

Sonstige  Eigenschaften  lebloser  Körper. 

142.  hfert  wy  stabn,  wy   hörn,  hart  wie  Stein,  wie  Hom. 

143.  wafei^^  wy  pap,  papwabiy.  weich  wie  Brei,  breiweich. 

144.  was'näs,  w^s'näs.  nass  wie  Wäsche. 

145.  trük9  wy  9  fürts.  trocken  wie  ein  F. 


—     199    — 

146.  ter  wy  kläs.  dörr,  ausgetrocknet  und  daher 

zerbrechlich  wie  Glas. 

147.  tsa  wy  latar.  zähe  wie  Leder,  vom   Fleisch. 

148.  lük  wy  9  s'wäm.  locker  wie  ein  Schwamm,  vom 

Gebäck. 

149.  s'wär  wy  pli.  schwer  wie  Blei. 

150.  Wyi  wy  9  fatar,  wy  9  s'trü-  leicht  wie  eine   Feder,  wie  ein 
wes'.  Strohwisch. 

151.  tes  tya^  es'  sü  s'törik  wy  dieses  Tuch  ist  so  stark,  dauer- 
latar.  haft  wie  Leder. 

152.  ten  wy  flispäpir.  dünn  wie  Fliesspapier. 

153.  tes  harnt  es'  su  s'tif  wy  9  dieses  Hemd  ist  so  steif  gestärkt 
prat.  wie  ein  Brett. 

154.  sü  hüy  wy  s  s'tri\spürJ9r  so   hoch  wie  das  Strassburger 
mens't9r.  Münster. 


XV. 


Volkstümliche 


Feste,  Sitten  und  Gebräuche 

im  Elsass. 
1891. 


Mitgeteilt  Ton 

Bruno   Stehle. 

^uch  in  diesem  Jahre  bin  ich  durch  den  Sammelfleiss 
meiner  Schüler  in  den  Stand  gesetzt,  nachstehende  Beiträge  zu 
veröflentlichen.  Leider  war  der  Raum  im  diesjährigen  Jahrbuch 
so  beschränkt,  dass  nur  ein  kleiner  Teil  veröflFenllicht  werden 
kann.    Der  Rest  ist  dem  folgenden  Bande  vorbehalten. 

Allerheiligen  nnd  AllerBeelen. 

Tagdisheim  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Allerheiligenabend  werden 
in  jedem  Hanse  drei  Rosenkränze  gebetet,  während  in  der  Kirche 
geläutet  wird.  Nachdem  eine  Stunde  geläutet  worden,  gehen  die 
Knaben  von  Haus  zu  Haus  und  singen  : 

cDer  heilige  Geist  fliegt  über's  Haus, 

Qebt  den  Armenseelenläutern  etwas  zum  Fenster  heraus» 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Allerheiligentag  abends  and  am 
Allerseelentag  morgens  wird  hier  überall  mit  allen  Glocken  gelaatet. 
Während  dessen  betet  alles  für  die  armen  Seelen.  Auf  dem  Tiacke 
brennen  Wachskerzen.  Früher  gingen  während  des  Läutens  am  Aller- 


—    201    — 

heiligenabend  arme  Knaben  mit  Schellen  und  Klingeln  umher.  Die- 
selben sammelten  Almosen,  die  ihnen  zum  Tröste  der  Verstorbenen 
gern«  gegeben  wurden. 

Hoppenzweiler  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Allerseelenabend  gehen 
die  Messdiener  im  Dorf  herum.  Einer  hat  ein  Qlöcklein  und  läutet 
Yor  jedem  Haus  zuerst  dreimal.  Dann  beten  die  anderen  ein  Vater- 
unser und  hernach  folgende  Worte: 

cWenn  ihr  den  armen  Seelen  etwas 

geben  wollt,  so  gebt 's  uns, 

denn  wir  läuten  und  beten  für  euch.» 

Weihnachten. 

Orsckvoeier  (Kreis  Gebweiler).  —  Von  den  Winzern  wird  die  Regel 
beobachtet,  dass  der  Wein  an  den  drei  Feiertagen  vor  Weihnachten 
umgerührt  wird. 

In  der  Christnacht  wird  die  Jerichorose  in  ein  Gefäss  mit  Wasser 
gestellt,  damit  sie  sich  entfalte,  was  sie  nur  zur  Weihnachtszeit  thut. 
Die  Zweiglein  der  Rose  erhalten  die  Namen  der  yerschiedenen  Reb- 
gelände des  Bannes.  Entfaltet  sich  ein  Aestchen  schön  und  zeigt, 
Yor  das  Licht  gehalten,  hellrote,  deutliche  Flecken,  so  wird  auch  das 
betreffende  Rebgelände  im  kommenden  Jahre  reichen  Segen  bringen. 

Hattstatt  (Kreis  Gebweiler).  —  In  der  Christnacht  wird  die  Weih- 
nachtsrose oder  Jerichorose  auf  den  Tisch  gestellt.  Blüht  sie  in  die- 
ser Nacht  auf,  so  hoffe  man  auf  ein  fruchtbares  Jahr,  auf  Yiel  und 
guten  Wein.  Bleibt  sie  aber  geschlossen,  so  hat  man  ein  schlechtes 
Jahr  zu  erwarten. 

Katzenthal  (Kreis  Rappoltsweilen.  —  Im  Katzenthal  glaubt  man 
—  besonders  die  alten  Leute  —  dass  die,  welche  am  ersten  Advents- 
Sonntag  geboren  werden,  an  Weihnachten  in  der  Mitternachtsfeier  alle 
diejenigen  sehen,  welche  während  des  kommenden  Jahres  sterben 
w^erden.  Die  Todeskandidaten  gehen  während  der  hl.  Wandlung  weiss- 
gekleidet  um  den  Altar. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Die  Spinnerinnen,  welche  am  Weih- 
nachtsabend zu  lange  spinnen,  kommen  in  die  Gewalt  der  sogenannten 
cSechelganklere.»  Sie  legt  ihnen  nach  12  Uhr  12  Spulen  vor  die 
Fenster,  die  sie  noch  in  dieser  Nacht  zur  Strafe  YoUspinnen  müssen, 
sjnst  werden  sie  unglücklich.  Um  dies  zu  verhüten,  spinnen  sie  auf 
jede  der  12  Spulen  drei  kurze  Fäden  im  Namen  der  drei  höchsten 
Personen,  und  so  hat  die  « Hechelgaukler e>  keine  Gewalt  über  sie. 
(So  war  es  bis  etwa  1850.) 

Tagoisheim  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Tage  vor  Weihnachten  läutet  es 
um  3  Uhr  abends  mit  allen  Glocken  Heiliwoh.^  Während  des  Lautens 
gehen  die  Leute  hinaus  und  binden  um  die  Obstbäume  Strohbänder 
in  der  Hoffnung,  dadurch  eine  reiche  Obsternte  zu  machen. 


1  Vergl.  Jahrgang  1890.  S.  162. 


—    202    — 

Zässingen  (Kreis  Mulhaasen).  —  Am  Weihnacktsabend  weiden 
von  11 — 12  Uhr  alle  Glocken  geläutet;  die  Leute  rufen  einander  sa: 

«Heiliwog,  Qlick  ins  Hüss,  ünglick  dräss.» 

Kommt  jemand  in  dieser   Stunde  in  ein  Haus,    so   sagt   er  diesen 
Spruch  als  Gruss. 

Matzenkeim  (Kreis  Erstein).  —  Hier  war  es  bis  1860  Sitte,  dass 
man  in  der  Christnacht,  während  die  Glocke  12  schlug,  Obstbäume 
mit  einem  Strohseile  umband,  damit  sie  im  nächsten  Jahre  viele 
Früchte  bringen  sollten. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Ist  der  Himmel  am  Weihnachts- 
abend heiter  und  klar,  so  legen  die  Hennen  im  folgenden  Jahre 
wenig  Eier. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  am  Weihnachtsabend  eine  finstere 
Nacht  ist,  so  giebt  es  im  nächsten  Jahre  wenig  Kirschen. 

Boppenetoeüer  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  man  am  Weihnachtsabend 
um  12  Uhr  auf  dem  Kirchhofe  gräbt,  findet  man  Gold. 

Gunstett  (Kreis  Weissenburg).  —  In  der  Christnacht  legen  die 
Leute,  wenn  die  Wandlung  geläutet  wird,  Soda  in  die  Hühnemester, 
damit  die  Eier  nicht  faulen.  In  derselben  Zeit  wird  Asche  in  den 
Garten  gestreut,  damit  derselbe  besonders  fruchtbar  werde. 

Bitterahofen  (Kreis  Weissenburg).  —  In  einen  in  der  Christnacht 
im  Hofe  gezogenen  Kreis  wird  während  der  Christmette  Futter  ge- 
streut. Wenn  die  Hühner  davon  fressen,  verlegen  sie  nicht 

Hattstatt  (Kreis  Gebweiler).  —  Ein  eigentümlicher  Gebrauch 
herrscht  in  der  Christnacht  seit  uralten  Zeiten  in  unserm  Dorfe. 
Gegen  Mitternacht  wird  in  jedem  Hofe  sämtliches  Vieh  gefuttert. 
Derjenige  Bauer,  der  während  des  Jahres  mit  seinen  Pferden  nicht 
gut  vorwärts  kam,  stellt  sich  mit  der  Peitsche  in  den  Hof,  oder 
wenn  dieser  zu  klein  iaf,  auf  die  freie  Strasse  und  knallt  lustig  draaf 
loS;  damit  es  im  künftigen  Jahre  besser  gehen  möge.  In  jedem  Hanse 
wird  nun  kurz  vor  Mitternacht  der  Elaifee  eingenommen  und  Punkt 
zwölf  Uhr  eilt  Jung  und  Alt  der  Kirche  zu.  um  das  Weihnachtsfest 
zu  feiern. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Von  Weihnachten  ab  werden  die  zwölf 
ersten  Tage  die  Loostage  genannt.  Jeder  führt  den  Namen  eines 
Monats.  Wie  nun  die  Witterung  an  diesen  zwölf  Tagen  ist,  so  soll 
sie  auch  an  den  betreffenden  Monaten  sein. 

Sylvester. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  In  der  Sylvesternacht  bringen  die 
ledigen  Burschen  ihren  Geliebten  einen  Ring  oder  ein  Brezel  als 
Nenjahrsgeschenk  Dieses  Brod  muss  das  Mädchen  bis  zum  Feste  der 
hl.  drei  Könige  aufbewahren.  An  diesem  Abend  kommt  der  betreffende 
Bursche,  bringt  eine  Flasche  Wein,  und  Brod  und  Wein  werden  ge- 
meinschaftlich verzehrt. 


—     203    — 

SartmanMweüer  (Kreis  Gebweiler).  —  In  der  SylTestemacht 
▼ersammelten  sich  die  Rekraten,  (Milizen)  d.  h.  diejenigen  Barschen^ 
welche  sich  im  kommenden  Jahre  zum  Militär  stellen  mnssten,  nnd 
sangen  vor  der  Wohnnng  jedes  Rekraten  and  aach  anderer  Leute. 
Am  Sonntag  nach  Neujahr  begaben  sie  sich  zu  den  Leuten,  denen 
sie  das  Neujahr  angesungen  hatten.  Li  jedem  Hause  erhielten  sie 
Wein,  den  sie  in  einem  Hochbottich  auf  das  Gemeindehaus  trugen. 
Hier  wurde  er  gemeinschaftlich  getrunken.  Wurde  am  ersten  Sonn* 
tag  nicht  in  allen  Häusern  Wein  eingesammelt,  so  holten  sie  die 
an  den  folgenden  Sonntagen  nach.    Diese  Sitte  hörte  um  1840  auf. 

Orschweier  (Kreis  Gebweiler).  —  Am  Sylvesterabend  ziehen  Kin- 
der,  läeistens  Knaben,  im  Dorfe  umher,  bleiben  unter  den  Fenstern 
der  Häuser  stehen  und  singen  Lieder,  gewöhnlich  folgendes: 

«Ein  neues  Jahr,  eine  fröhliche  Zeit, 

Wo  Maria  vor  dem  Krippele  kneit; 

Vorm  Elrippele  kneit  ein  alter  Mann 

Und  betet  das  schöne  Jesulein  an. 

St.  Joseph  ziSgt  sein  Hemelein  ab 

und  schneidet  dem  Kind  zwei  Windelein  drab  > 

Hierauf  wird  dem  Hausbewohner  der  Neujahrsglückwunsch   zugeru- 
fen,  wonach  dann  ein  Geschenk  aus  dem  Fenster  niederfällt. 

Neigahr. 

Osthausen  (Kreis  Erstein).  —  In  Osthausen  ist  es  Sitte,  dass  in 
der  Neujahrsnacht  ärmere  Kinder  im  Dorfe  umher  gehen  und  vor 
den  Häusern  Lieder  singen,  wobei  sie  dann  Geld  von  den  Leuten 
erhalten.  Das  gewöhnlichste  Lied,  das  sie  singen,  ist  folgendes  : 

Ein  Kindl  geboren  zu  Bethlehem 

Bei  Ochs  und  Esel  und  Hämelein ! 

Wir  fanden  das  Kind  im  Krippelein, 

Wir  fanden  das  Kind  ganz  nackt  und  bloss. 

Maria  nahm  es  auf  ihren  Schoss, 

Und  Joseph  zog  sein  Hemdelein  aus 

Und  schneidet  dem  Kind  drei  Windelein  draus. 

Und  das  ist  wahr,  und  das  ist  wahr. 

Wir  wünschen  euch  allen  ein  glückseligs,  neues  Jahr. 

Ein  glückseligs,  neues  Jahr  ist  eine  fröhliche  Zeit, 

Die  uns  Gott  der  Vater  vom  Himmel  herab  sait.  ^ 

Zu  Bethlehem  geboren  ist  unser  Kindelein, 

Das  hab  ich  auserkoren,  sein  eigen  will  ich  sein. 

Ache  ja,  Ache  ja,  sein  eigen  will  ich  sein ! 


1  sait  =  sagt. 


—    204    — 

Wörth  a/S    (Kreis  Weissenbarg).   —   Hier   hört  man  folgenden 
Neajahrssprach : 

ProsH  Nejohr ! 

Ä  Brattställ  ^  wie  ä  Schierethor,  ^ 

Ä  Läbbküeche  wie  ä  Zejeldach,' 

Ä  Knackwnrscht  von  do  bis  off  Äwerbach !  * 

Egisheim  (Kreis  Colmar). 

Rieh  un  arm  solla  fröhlich  sein 
An  diesem  heiligen  Tag; 
Es  esch  gewachsa  a  guater  Wein, 
Der  alla  Deng  vermag; 
Dazüa  ar  liawlig  ^  isch, 
Sie  nam  heisst  rot  nn  wiss. 
Von  alla  nnsara  Missetthata 
Am  Rabstock  gewachsa  esch. 

Bitschweüer  (Kreis  Thann)  Die  Kinder   gehen  in  der  Nenjabrs- 
nacht  in  die  Häuser  und  singen  folgende  Worte : 

Wer  komma  dahar 

In  aller  Gefahr 

ün  wenscha  eich  alla 

A  Glekhaftigs-Nenjahr 

Un  a  Bangala  hinterm  Ohr, 

ün  a  Helschüa^  im  Naka 

As  er  blibt  staka. 

Das  Liad  esch  fer  d^Alta 

(In  fer  d7anga, 

As  nfs  Johr  mer  zamma  knmma. 

I.  Was  wenscha  mer  en  dam  Vater? 
Mer  wenscha  nem  a  goldiga  Pfluag, 
Auf  dass  nfs  Johr  ar  brav  ackera  thüat 

IL  Was  wenscha  mer  in  der  Müater? 
Mer  wenscha  ihr  a  goldiga  Wiaga 
Auf  dass  sie  anfs  Johr  a  Sohn  soll  knage. 

III.  Was  wenscha  mer  en  dana  Sohn? 
Mer  wenschana  a  goldana  Tesch 
An  alla  viar  Ecka  gebachana  Fesch 
Un  dazüa  a  güats  Glas  Wein 

Un  se  sela  alli  derbi  fröhlich  sein. 

IV.  Was  wenscha  mer  en  dar  Tochter? 
Mer  wenscha  ehra  a  rota,  rota  Rock, 
An  alla  viar  Ecka  a  Nagalastock.  "^ 
Un  was  i  wensch,  an  das  esch  wohr 
Mer  wenscha  eich  alla  a 
Gleckhaftigs-Neisjohr  I 


i  Brezel.    —   ^  Scheuerthor.    —  »  Ziegeldach.    —   *   Eberbwh. 
—  *  lieblich.  —  *  Holzschuh.  —  ^  Nägelestock. 


—    205    — 


Dreikönigsfest. 


Hipsheim  (Kreis  Erstein.)  —  Ein  Lied  das  am  Dreikönigstage 
gesungen  wird. 

Wir  kommen  daher  aas  aller  Gefahr; 

Wir  wnnschea  einanden  glackselig^s  neu*8  Jahr. 

Glückseligs  neu^s  Jahr  ist  eine  fröhliche  Zeit, 

So  wie  es  Gott  Vater  Tom  Himmel  herab  sait  isagt) 

Herodes  sprach  mit  falschem  Betracht : 

«Warum  ist  der  mittlere  König  so  schwarz  ?» 

Der  Schwarz\  der  Schwarz'  der  ist  wohlbekannt, 

Er  ist  der  König  aus  Mohrenland. 

Der  Stern^  der  Stern  soll  immer  stehen ; 

Wir  müssen  bei  Tag  noch  weiter  geh'n 

Dieses  Lied  wird  von  drei  Knaben  gesnngen.  Sie  haben  ein 
zu  diesem  Zwecke  gemachtes  Hemd  an  und  einen  hohen  aus  Papier 
selbst  angefertigten  und  mit  Bildern  versehenen  Hut  auf.  Sie  gehen 
dann,  das  Lied  singend,  in  die  Häuser  und  erhalten  am  Schlüsse 
einiges  Geld,  welches  h&ufig  zur  Anschaffung  von  Schulgeräten  ver- 
wendet wird. 

Friesen  (Kreis  Altkirch)  -^  Fr&her  gingen,  jetzt  oft  noch,  arme 
Knaben  als  drei  Könige  verkleidet  umher  und  sammelten  Almosen. 
Ihre  Kleidung  bestand  in  einem  weissen  Hemd,  das  durch  eine  rote 
Schleife  zusammengehalten  wurde.  Eine  Papierkrone  vervollständigte 
die  königliche  Tracht.  Einer  der  Knaben  schwärzte  sein  Gesicht  mit 
Russ.  Als  Stern  trug  der  Schwarze  an  einem  Stabe  ein  Rädchen,  das 
er  fortwährend  drehte.  Vor  den  Häusern  sangen  sie  folgendes  Liedchen : 

Es  komme  drei  König  aus  dem  Morgeland: 

Balthasar  aus  Griechenland, 

Melchior  aus  Österreich, 

Kaspar  ans  dem  Hunnenreich. 

Gott  hat  uns  die  Gnade  gegeben, 

Dass  wir  das  Jahr  mit  Freude  erleben, 

Jetzt  und  zu  allen  Zeiten, 

Der  Stern,  der  Stern  muss  weiter  reisen. 

Bei  den  Häusern,  wo  sie  nichts  bekamen,  sagten  sie : 

«Gott  lass  Euch  dies  Johr  nit  reichlich  labe, 

Wir  wotte,  dass  Euch  d'Bänk  und  Stihl  am  Fidle  blibe  kläbe. 

An  manchen  Orten  gingen  die  drei  Könige  in  die  Häuser  hinein, 
liessen  die  Stubenthür  auf,  und  der  erste  sprach  mit  gewöhnlicher 
Stimme : 

«Guten  Abend,    ihr   Leut,    Gott    gebe   Euch    eine  freudenreiche 
Zeit,  die  Euch  Gott  vom  Himmel  verleiht.» 
Darauf  sprach  der  zweite  mit  sehr  hoher  Stimme : 

«Die  Hirten,  die  gingen  insgemein, 
Sie  suchten  das  kleine  Kindelein; 


—    206    — 

Sie  fanden's,  wie  der  Encel  hat  gesagt. 

Bei  Maria  der  reinen  Magd. 

Da  bist  ans  willkommen,  o  Kindelein, 

Da  liegst  zo  zart  in  einem  Krippelein 

Bei  einem  Ochs  and  Eselein.» 
J^xm  sprach  der  Schwarze  mit  tiefer  Bassstimme: 
cDie  Herberge  nahm  zar  Bah, 
Da  konunt  man  and  schliesst  die  Thore  za. 

<Bei  diesen  Worten  giebt  er  der  offen  gelassenen  Thüre  einen  Stoes. 

dass  sie  zaföhrt.) 

Ich  habe  gemeint,  man  führe  mich  überall  hin. 

Wo  man  mich  beherbergen  will, 

Aber  nein. 

Dort  ist  ein  kleines  Ställelein, 

Wenn  da  willst,  kannst  da  hineingehen. 

Und  wenn  da  nicht  willst,  kannst  da  draassen  bleiben  stohen.> 

Haben  dann  die  Leate  die  drei  Könige  mit  einer  Gabe  befriedigt, 
so  singen  sie : 

«Dir  habt  ans  dies  Johr  so  reichlich  gegebe, 
Gott  lass  Each  dasselbe  mit  Freade  erlebe.» 

Fastnacht. 

Hartmannstoeäer  (Kreis  Gebweiler.)  Am  Fastnachtsdienstag  la- 
sammelten  sich  nach  der  hl.  Messe  alle  Bewohner  des  Dorfes  auf 
dem  Gemeindeplatze.  In  der  Mitte  desselben  lag  während  des  ganzen 
Jahres  ein  grosser,  rander  Stein  von  angefahr  100  Centnem  Gewicht 
Dieser  Stein  worde  vor  mehr  als  100  Jahren  Yon  einem  Manne  im 
Walde  Ton  Hartmannsweiler  aufgefunden  and  mit  mühoToIler  Arbeit 
in  das  Dorf  geschafft.  Um  diesen  Stein  herum  tanzten  jetzt  die 
Knaben  und  Mädchen  im  Alter  von  I0~18  Jahren,  während  die 
Dorfmusik  einen  Tanz  aufspielte.  Nach  dem  Tanze  wurde  der  Stein, 
der  im  ganzen  Dorfe  den  Namen  <Lüs»  oder  Laus  führte,  Yon  eini- 
gen Burschen  unter  dem  Jubel  der  Umstehenden  auf  dem  Platze  heram 
gewälzt,  was  natürlich  nicht  geringe  Mühe  erforderte.  Hierauf  bega- 
ben sich  die  Jünglinge  mit  den  Tänzerinnen  in  den  grossen  Tanz- 
saal des  Gemeindehauses.  Euer  wurde  jedem  ein  Glas  Wein  und  ein 
Brötchen  im  Werte  von  einem  Sou  bescheert.  Während  der  Beschee- 
rung  wurden  mehrere  Tänze  aufgespielt.  Damit  war  die  Feier  des 
Morgens  beendigt. 

Am  Nachmittag  begab  sich  die  ältere  Jugend  und  auch  ältere, 
verheiratete  Leute  auf  den  Tanzsaal  des  Gemeindehauses,  wo  bis 
2ur  Nacht  getanzt  wurde.  Ebenso  wurde  an  den  2  vorhergehenden 
Tagen  getanzt.  Diese  Sitte  bestand  bis  zum  Jahre  1836.  In  diesem 
Jahre  wurde  der  Stein  zu  weit  vom  Platze  abgewälzt.  Niem^d 
wollte  ihn  wieder  an  seine  vorige  Stelle  bringen.  Der  Stein  wnide 
hierauf  in  der  Nähe  des  Platzes  vergraben,  und  heute  noch  zeigt  man 
die  Stelle,  wo  die  <Lüs>  begraben  liegt. 


XV. 


Das  Wörterbuch 

der    elsässischen   Mundarten. 


Wie  im  vorigen  Jahrgang  S.  154  berichtet  worden  ist, 
hat  dies  Unternehmen  die  Anerkennung  und  Unterstützung  der 
Landesverwaltung  in  dankenswertester  Weise  erhalten.  Dadurch 
ist  die  Teilnahme  an  der  Sammlung  des  Stoffes  gewaltig  an- 
geregt worden  :  es  liegen  heute,  am  25.  Juni  1891,  wenigstens 
25000  2iettel  bereit,  welche  im  germanistischen  Seminar  der 
Universität,  nach  dem  Muster  des  Schweizerischen  Idiotikons, 
geordnet  und  aufbewahrt  werden.  Zu  dieser  Sammlung,  deren 
Grundlage  durch  die  Vorarbeiten  von  August  Stöber  gebildet 
wird,  haben  bis  jetzt  ausser  den  beiden  unterzeichneten  Heraus- 
gebern, besonders  beigetragen  : 

in  Strassburg:  Archivschreiber  Friedrich,  Frl.  Friedols- 
heim,  ehemaliger  Lehrer  Kutt  (für  Benfeld),  Lehrer  Letz  (füi* 
Ingweiler),  stud.  phil.  Levy  (für  Quatzenheim),  Garderobici- 
Oberthür,  und  die  Seminaristen  Cassel,  Guthapfel,  Heimann, 
Issler,  Klein,  Treiber,  Wüesl,  Ortlieb,  Harter,  Wehrung, 
Wendung  (für  Kothbach,  Neudorf  und  Brumath,  Molsheim, 
Horburg,  Schleithal,  Lobsann,  Müttersholz,  Beblenheim,  Prinz- 
heim,   Büst,  Sierenz) ; 

in  Ruprechlsau  :  Werkmeister  Obrecht  (für  Dürrenenzen 
bei  Colmar) ; 


—    208    - 

Iq  Neudorf:  die  Lehrer  KaufTer  (für  Mutzig),  Kössler  (für 
Saarunion),  Ruff  (für  Geispoizheim) ; 

in  Bisch wei ler :  emer.  Lehrer  Thomas  (für  Wingen); 

in  Alteckendorf:  Pfarrer  Grünberg; 

in  Pfulgriesheim  :  Lehrer  Sandel  (für  Niederrödern) ; 

in  Hochfelden  :  Dr.  med.  Kassel  ; 

in  Aschbach  bei  Niederrödern :  Lehrer  Schneider ; 

in  Oherbronn  :  Notariatsgehilfe  Eber ; 

in  Rappoltsweiler :  Reallehrer  Mathis,  Lehrer  Lamey  (för 
Sulzmatt) ; 

in  Mülhausen  :  Lehrer  Obrist  (für  Hirsingen) ; 

in  Metz:  Lyceallehrer  Gall  (für  Buchsweiler); 

in  Waldliambach :  Pfarrer  Spieser  (für  das  Münsterthal); 

in  Offenburg  :  Oberamtsrichter  Beck ; 

in  Bordeaux  :  Professor  Besson  (Seb.  Braut). 

Dass  unsere  Mitarbeiter  sich  fast  alle  leicht  an  das 
Kräuter'sche  phonetische  Schreibsystem  angeschlossen  haben^ 
heben  wir  dankend  hervor. 

Für  weitere  Mitarbeit  möchten  wir  noch  zwei  Musterbei- 
spiele aus  den  gelieferten  herausgreifen  : 

setzä    [sa3tsa]    setzen. 

Häärdepfel  setzä  Kartoffeln  pflanzen.  I  selz  dr 
nä  Dahler  anä  Süü  ich  wette  mit  dir,  einen  Thaler 
gegen  einen  Sou  ;  i  w  o  1 1  d  r  K  o  p  f  s  e  t  z  ä  ich  hin  fest 
überzeugt  (dass  etwas  so  ist  wie  ich  sage).  Ar  het  sech'se 
dr  Kopf  gsetzt  un  r  los  st  si  snem  nämmä  er  ist 
nicht  mehr  von  dem  Glauben  abzubringen. 

Sulzmatterthal. 

Gowe   [köwa]    Faxen. 

Bloss  im  Plur.  auffallende,  unnatürliche,  oft  auch  dumme, 
lächerliche  Gebärden.  Was  des  Maidel  für  Gowe-n- 
nn  sich  het!  Es  macht  als  Gowe  dass  mer  sich 
krank    lache    mecht. 

Strassburg. 

Genauere  Auskunft  erteilen,  sowie  Anleitung  und  Zettel 
stellen  gern  zur  Verfügung 

E.  Martin,  H.  Lienhart, 

Ruprechtsauer  Allee  41.       GrQnebrachstr&sse  33. 

Strassburg. 


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XVH. 


1 . 


Chronik   des  Jahres   1890. 


12.  Januar.         Totenfeier  für  Ihre  Majestät    Kaiserin  Augusta 

(gest.  7.  Jan.). 

1.  März.  Oberförster    Mang    in    Bischweiler  stirbt  (geb. 

27.  Febr.  1839). 

29.  März.  Adolf  Stöber    feiert   sein   SOjähriges   Jubiläum 

als  Pfarrer  in  Mülhausen. 

16.  April.  Einweihung  der  neuen  Realschule  in  Strassburg. 

24.  25.  April.      Besuch  Kaiser  Wilhelm  IL  in  Hagenau,  Strass- 
burg, Saarburg  und  Metz. 

2.  Mai.  «Die  Rose  von  Strassburg»,  Oper  von  V.  Nessler, 

Text    von    F.  Ehrenberg,  wird   in   München 
zuerst  aufgeführt. 

2.  Mai.  Forstmeister    von    Etzel,    Ehrenpräsident    des 

Vogesenclubs ,    stirbt    in    Strassburg    (geb. 
6.  Okt.  1826). 

28.  Mai.  Victor  Nessler  stirbt  zu  Strassburg   (geb.  1841 

zu  Baldenheim). 

4.  -9.  Juni.         IV.  Wanderversammlung  der  deutschen  Land- 
wirtschaftlichen  GeselKschaft   in    Strassburg. 

29.  Juni-2. Juli.   Buchdruckertag      in     Strassburg:     350jährige 

Feier  der  Erfindung   dei*  Buchdruckerkunst. 

14 


^1 


2.  Juli. 


6.  Juli. 
15.  Juli. 


9.  August. 
22.-24.  Aug. 

3.  September. 

8.  September. 

3.  November. 


—    210    — 

Karl  Grad,  Reichstagsabgeordneter  und  Schrift- 
steller, stirbt  in  Logelbach  (geb.  1842  in 
Turkheim). 

Generalversammlung  des  Vogesenclubs  in 
Rappoltsweiler. 

Emil  Heitz,  Professor  an  der  Univemtät, 
Ehrenpräsident  des  Vogesenclubs,  stirbt  in 
Strassburg  (geb.  13.  Nov.  1825). 

Bischof  Stumpf  stirbt  in  Strassburg. 

X.  deutscher  Kongress  für  erziehliche  Knaben- 
arbeit in  Strassburg. 

Stirbt  Aleicandre  Chatrian  in  Villemomble  (geb. 
18.  Dez.  1826  in  Soldatenthal). 

Feier  des  500jährigen    Bestehens  des  Pfeifer- 
lages  in  Rappoltsweiler. 

Die  Strassenbahn    Golmar-Markolsheim   fertig 
gestellt. 


xvni. 
Sitzun^sprotokoUe . 

Vorstandssitzuo  g. 
16.  November  1890  im  Stadt-Archiv. 

Anwesend :  die  Herren  Barack,  Deecke,  Erichson,  Euting, 
Franke,  Harbordt,  Herin}^,  Marlin,  Mündel,  Sciilum berger, 
Schricker,  Wiegand.  ihr  Ausbleiben  haben  entschuldigt  die 
Herren  Herrenschneider  und  Rathgeber, 

Der  Vorsitzende,  Prot".  Martin,  berichtet  über  verschiedene 
Einladungen,  die  an  den  Zweigverein  ergangen  sind,  so  z.  B. 
vom  Rückert-Gomit^  in  Schweinfurt  zur  Enthüllung  des  Rückert- 
Denkmals  am  18.  Oktober,  und  über  den  inzwischen  aus- 
gegebenen sechsten  Band  des  Jahrbuchs.  Es  wird  beschlossen, 
Herrn  Pfarrer  Horning  30  Exemplare  desselben  zum  Vereins- 
preise von  1  Mark  für  das  Stück  zu  überlassen. 

Von  dem  Bericht  des  Gesammt-Vereins  der  deutschen 
Altertums-  und  Geschieh ts- Vereine  liegen  15  Exemplare  vor, 
welche  die  Vorstandsmitglieder  gegen  Zahlung  von  20  Pfennigen 
für  das  Stück  erheben  können. 

Nach  der  Mitteilung  •  von  Prof.  Barack  sind  weitere  fünf 
Gesellschaften  und  Vereine  in  Schriftenaustausch  mit  dem 
Zweigverein  getreten,  so  dass  die  Zahl  der  Tauschexemplare 
jetzt  auf  100  gestiegen  ist. 

Mitglied  Mündel  berichtet  über  den  Personall)estand  und 
die  Kassenlage  des  Zweigvereins. 


—    212    — 

Zum  Schluss  werden  die  Mi  Heilungen  für  die  General- 
versammlung vorbereitet  sowie  einige  für  das  Jahrbuch  ein- 
gelaufene Arbeiten  zur  ßerichterstattung  verteilt. 

Es  folgt  die 

Allgemeine  Sitzung. 

Prof.  Martin  eröffnet  die  Sitzung  und  erstattet  den  Reichen- 
Schaftsbericht  über  die  Entwickelung  des  Zweigvereins  im  ab- 
gelaufenen Jahre.  Die  Mitgliedei^ahl  betrug  993  und  die 
Kassenrechnung  schloss  ab  mit  einem  Ueberschusse  von  Ul.  2.68« 

Der  Kassenbericht  des  Herrn  Mündel  wird  von  zwei  Mit- 
gliedern der  Versammlung,  den  Herren  Bechstein  und  Lienhart, 
geprüft  und  richtig  befunden. 

Herr  Stadt-Archivar  Dr.  Winckelmann  hält  einen  VoHragf 
über  den  Pfalzgrafen.  Georg  Johann  von  Veldenz-Lützelstein 
1543 — 92  als  Förderer  des  Strassenbaues  und  des  Verkehrs  in 
den  Vogesen. 

Der  bisherige  Vorstand  wird  durch  Acclamation  weder- 
gewählt. 

Zum  Schluss  geleitet  Herr  Stadt-Archivar  Dr.  Winckelmann 
die  Anwesenden  durch  die  neu  hergestellten  Räume  des  Stadt- 
archivs und  nach  der  Sitzung  vereinigten  sich  die  ausiArurtigen 
Mitglieder  mit  mehreren  hiesigen  zum  Mittagessen  io  der 
Bahnhofs-Restauration. 


Vorstandssitzung. 

11.  März  1891  im  Bezirks- Archiv. 

Anwesend  :  die  Herren  Barack,  Erichson,  Herrenschneider, 
Ihme,  Martin  und  Wiegand,  ausserdem  nehmen  Teil  die 
Herren  Dr.  Bechstein  und  Dr.  Winckelmann.  Ihr  Ausbleiboi 
hal)en  entschuldigt  die  Herren  Deecke,  Hering,  Raihgeber  und 

Schricker. 

Eingelaufen  sind  ein  Dankschreiben  Sr.  Durchlaucht  d€9 
Kaiserlichen  Herrn  Statthalters  für  den  ihm  überreichten 
sechsten  Band  des  Jahrbuchs  und  die  Silzungs-Prolokolle  der 
im  September  v.  J.  zu  Schwerin  abgehaltenen  General-Ver- 
Sammlung  des  Gesamt- Vereins  deutscher  Altertums-  und 
Geschichts- Vereine. 

Die  tur  das  Jahrbuch  1891  eingegangenen  Beiträge  werden 
vorgelegt,  besprochen  und  für  Berichterstattung  verteilt. 


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JAHRBUCH 


FÜR  i 


; GESCHICHTE.  SPRACHE  UND  LITTERATUR; 

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HERAUSGEGEBEN 


VON    DEM 


HISTORISCH-LITTERARISCHEN  ZWEIGVEREIN 


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JAHRBUCH 


FÜR 


GESCHICHTE,  SPRACHE  UND  LITTERATUR 


ELSASS-LOTHRINGENS 


HERAUSGEGEBEN 


VON    DEM 


HISTORISCH-LITTERARISCHEN  ZWEIGVEREIN 


DES 


VOGESEN-CLUBS. 


VIII.  JAHRGANG. 


STRASSBURG 

J.   H.   ED.    HEITZ  (HEITZ   &   MÜNDEL) 

1892. 


THE  NEW  YORKJ 

PUBLIC  LIBRARY 

1  rScS:.  l 

ASTCR.  LENOX  AND 
TILDEN  rOUN DATIONS. 

R     1906     L 


Inhalt. 


Seite 
L  An  mein  Elsass  von  Christian  Schmitt.    .    .    .        1 

II.  In  der  Schreckenszeit  von  Bourglibre  (Saint-Lonis)  nach 

Colmar  nnd  zurück 2 

in.  Amnletringe    des    Heiligen   Theobald    von   Thann    von 

W.  Deecke 37 

I V.  Graf  D&rckheim.  Lebensbild  von  K.  Hackenschmidt.      45 

V.  Die  Strassburger  nnd  die  St  Petersburger  Blessigstif- 
tnng.  Geschichtliche  Mitteilungen  von  Julius  Rath- 
geber 57 

VI.  Ueber  Thomas  Murners  Üeber Setzungen  aus  dem  He- 
bräischen von  M.  Spanier  (Heidelbeig) 63 

VII.  Die  Kunkelstube.    Mitgeteilt  von  HansLienhart  76 

Vni.  Volksmundartliches    aus    dem    Elsass.      Mitgeteilt    von 

Julius  Bathgeber ^l 

IX.  Die  Münsterthäler  Ortsnamen  von  F.  6  r  e  s  c  h,  Pfarrer 

in  Mühlbach  (Ober-Elsass) 88 

VorbenierkungeQ 88 

Zusammenstellung  der  .\bkÜrzuugoQ 9& 

X.  Einige  Bemerkungen  zur  schriftstellerischen  Behandlung 
von  Mundarten  durch  Beispiele  aus  dem  Münsterthäler 
Dialekt  erläutert  von  J.  Spieser 138 

XL  Mundartliche  Sprachproben  aus  den  Dörfern  Wiebers- 
Weiler,  Waldhambach  und  Rosteig,  mitgeteilt  von 
J.   Spieser 143 

XII.  Volkstümliche  Feste,  Sitten   und   Gebräache  im  Elsass. 

1892.  Mitgeteilt  von  Bruno  Stehle.  (Fortsetzung).     159 


—       IV      — 

Seit« 

XIII.  Der   Uüsherr !  Lustspiel    in    einem    Act   von    Daniel 

GnstavAdolfHorsch 182 

XIV.  D^Millionedande  üss  Amerika  oder  d^  Verwand«  nf  der 

Prob.  Schwank  in  2  Akten  von  Emil  Oberthür    .  194 

XV.  Eine  elsässische  Mäklerzanft  von  Dr.  A.  Her t zog       .  209 

XVI.  Das  Hildebrandslied.  In  freier  Nachbildang  von  Adolf 

Stöber 226 

Vorerinneniug SM 

Hildebrand  und  Hadubrand til 

Meisenlockerstreich  gegen  den  Franzoseukönig  Anno  lööl           .  S39 

XVII.  Chronik  für  1891 232 

XVIII.  Sitzungsprotokolle 284 


I. 


An  mein  Elsass. 

Von 
Christian  Schmitt. 

Sei  gegrüsst,  dn  mein  blühendes  Heimatiandt 

Wie  liegst  da  so  lachend  am  Rheinesstrand  I 

Wie  schmückst  da  dich  herrlich  im  wonnigen  Mai, 

Als  ob  es  zam  fröhlichen  Reigen  seil 

Wie  spielt  am  die  Stirn  dir  der  Morgenglanz! 

Wie  ziert  dich  so  lieblich  der  Rebenkranz! 

In  flammender  Lieb'  ist  mein  Herz  dir  entbrannt : 

Schirm'  dich  Gott,  du  mein  sonniges  Elsassland! 

Sei  gegrüsst,  da  mein  blühendes  Heimatland ! 
Es  webt  dir  der  Frühling  ein  Prachtgewand: 
Mit  dnftenden  Rosen  darchfiicht  er  dein  Haar 
Und  reicht  dir  die  köstlichsten  Schätze  dar.  — 
Und  mögt  ihr  nan  wandern  von  Reich  zn  Reich, 
Kein  Qan  ist  aaf  Erden  dem  onsem  gleich ! 
In  flammender  Lieb'  ist  mein  Herz  dir  entbrannt: 
Schirm'  dich  Gott,  da  mein  sonniges  Elsassland! 

Sei  gegrüsst,  da  mein  blühendes  Heimatland ! 
Dir  will  ich  mich  weihen  mit  Herz  and  Hand, 
Dich  trag'  ich  als  Kleinod  geheim  in  der  Brnst, 
Dir  bleib'  ich  ergeben  in  Leid  and  Last! 
Da  hast  mich  gesegnet  mit  Glück  and  Ehr', 
Nan  lass  ich  dich  nimmer  and  nimmermehr! 
In  flammender  Lieb'  ist  mein  Herz  dir  entbrannt: 
Schirm'  dich  Gott,  da  mein  sonniges  Elsassland ! 

Strassbnrg-Neadorf. 


II. 
In  der  Schreckenszeit 

von  Bourglibre  (Saint-Louis)  nach  Golmar 

und  zurück. 

^rranz  Xaver  Bronners  Leben,  von  ihm  selbst  beschrie- 
ben»,  3  Bde.y  Zürich,  bei  Orell,  Gessner,  Füssli  u.  Comp. 
1795-— 97,  ist  eine  der  merkwürdigsten  und  anziehendsten  Selbst- 
schilderungen, an  denen  das  vorige  Jahrhundert,  angeregt  durch 
die  Ck)nfessions  von  Jean-Jacques  Rousseau,  so  reich  ist.  1758  in 
einem  Dorf  bei  Höchstädt  an  der  Donau  von  armen  Eltern  gebo- 
ren, trat  er  früh  zu  Donauwörth  ins  Kloster,  ward  aber  durch  die 
Litteratur  der  Aufklärung  und  das  Treiben  der  geheimen  Ge- 
sellschaften ergriffen  und  entfloh  1785  nach  Zürich,  wo  der 
Idyllendichter  Gessner,  das  litterarische  Vorbild  seiner  c Fischer- 
idyllen», sich  des  mannigfach  unterrichteten  und  naivklugen 
Flüchtlings  annahm.  Von  der  französischen  Revolution  be- 
geistert, beschloss  Bronner,  sich  im  Elsass  als  konstitutionneller 
Priester  dem  Kirchendienste  zu  widmen  und  erlangte  vom  Bi- 
schöfe von  Golmar  1  die  gewünschten  Zusicherungen.  Wie  je- 
doch der  im  Dezember  1793  gemachte  Versuch,  jenen  Wunsch 
zur  Ausführung  zu  bringen,  scheiterte,  erzählt  äronner  selbst, 
Bd.  III,  S.  478  ff.<  Einzelne  Stellen,  welche  heute  nicht  gut 
mehr  in  einem  für  weitere  Leserkreise  bestimmten  Buche  ge- 
druckt werden  können,  sind  ausgelassen  worden.  E.  M. 

Eintritt  in  Frankreich. 

Als  ich  hart  an  der  Strasse  die  hölzerne  Baracke  sah,  in 
welcher  die  Grenzwache  lag,  so  nahm  ich  mich  zusammen, 
suchte  meinen  Züricher  Pass  aus  dem  Portefeuille  hei*vor  und 


1  Der  geschworene  Bischof  Martin  ward  in  Paris  geweiht,  int 
am  16.  April  1791  sein  Amt  an  and  starb  im  Juni  1794:  s.  J.  Batk- 
geber,  Colmar  und  die  Schreckenszeit,  Stattgart  1873. 


—    3-    — 

wies  ihn  dem  Gontroleur,  der  mit  einigen  Naiionatgarden  aus 
der  Baracke  mir  entgegenlief.  cCitoyen  I»  sagte  er,  cder  Pass 
taugt  nichts.  Er  muss  vom  Gesandten  unterschrieben  seyn.» 
Ich  hatte  meinen  Hut  abgezogen  und  antwortete:  «Mein  HerrI 
es  hat  mit  mir  eine  ganz  besondere  Bewandtniss. »  Er  fiel  mir 
in  die  Rede,  setzte  mir  den  Hut  auf  und  sagte:  cMan  sieht 
wohl,  dass  sie  ein  Fremder  sind,  der  Titel  cHerr»  ist  bey  uns. 
abgeschafft;  machen  sie  sich  nur  mit  dem  republikanischen 
cCitoyen»  bekannt  und  denken  sie  an  Freyheit  und  Gleich- 
heit 1»  —  Kühner  fuhr  ich  fort:  eich  bewarb  mich  sowohl 
bey  dem  Gesandten  der  Republik  in  Baden,  als  in  der  Kanzley 
zu  Basel  um  einen  Pass  ns^ch  Colmar,  aber  Beidemale  ver- 
gebens, denn  ich  bin  ein  deutscher  Geistlicher  und  musste 
mich  unter  dem  Vorwande  abweisen  lassen,  dass  allen  Deutschen 
der  Eintritt  in  Frankreich  bey  Lebensstrafe  untersagt  sey.  Nun  ^ 
hat  mich  aber  der  geschwome  Bischof  von  Colmar,  der  meine 
patriotischen  Gesinnungen  kennt,  durch  eigenhändige  Schreiben 
berufen,  und  ich  bin  gezwungen,  auch  ohne  Pass  hieher  zu 
kommen  und  es  auf  die  französische  Grossmuth  ankommen 
zu  lassen,  ob  ein  Patriot,  der  von  ganzem  Herzen  der  Repu- 
blik zugethan  ist,  sogleich  an  der  Grenze  abgewiesen  werden 
soll  oder  nicht.»  Der  Controleur  gieng  mit  meinem  Porte«- , 
feuille  in  die  Baracke.  Es  schien;  mir,  man  hielt  mit  einandeup 
Rath,  was  hier  zu  thun  sei.  Er  kam  wieder  und  sagte:  cCi- 
toyen, wenn  sie  den  Nationalgarden,  von  denen  sie  begleitet 
werden  müssen,  ein  Trinkgeld  geben,  so  will  ich  sie  zu^j 
Bürger  Sous-General  nach  Bourglibre  bringen  Ibissen.»  Dess 
war  ich  herzlich  zufrieden.  Die  Garden  nahmen  mich  in  die 
Mitte,  und  wir  giengen  zum  Zollhause  in  Bourglibre;  sie  ver- 
standen kein  deutsches  Wort;  ich  radebrechte  also  mein  Fran- 
zosisches so  gut  ich  konnte  und  erhielt  ihren:  Beifall.  Der 
eine  schien  mir  ein  sehr  artiger  Jüngling ;  er  fror  sehr,  und 
seine  rothblauen  Finger,  mit  denen  er  das  kalte  Gewehr  hielt, 
erregten  mein  Mitleiden.  Ich  schenkte  ihm  meine  Handschuhe. 
Im  Zollhause  musste  ich  einige  Z^it  warten;  denn  der  Bürger 
Sous-General  sass  noch  bei  Tische. 

Das  Stübchen,  wo  ich  harrte,  war  zur  Visitation  derjenigen 
Personen  bestimm!,  welche  über  die  Grenze  gehen  wollten. 
Männer  und  Weiber  sassen  auf  den  Banken  herum  und  war- 
teten« bis  der  Visitator  käme,  odei:  bis  der  Sous-General  .abge- 
speiset  haben  würde.  Der.  Visitator  (man  sagte  mir  nachher 
in  Basel,  er  sei  ein  Jude  gewesen)  kam  und  rief  jede  Person 
einzeln  in  ein  Kämmerchen  bey  Seite,  wenn  sie  ihm  besonders 
verdächtig  war;  andere  aber  durchsuchte  er  in  Gegenwart  der 
übrigen.  Alle  mussten  die  Schuhe  ausziehen,  er  befühlte  ihnen 


—    4    — 

die  Rockknöpfe,  die  Hüftenbänder  und  die  Knieriemen  an  den 
Beinkleidern,  griff  in  alle  ihre  Säcke,  durdiknitterte  ihre  Hals« 
binden,  Hüte,  Rockschösse  u.  s.  w.  so  bedächtlich,  dass  ich 
vor  der  französischen  Grenauigkeit  grossen  Respekt  bekam.  (Man 
erzählte  mir,  des  Visitators  Frau  halte  es  mit  dem  weiblichen 
Geschlechte  noch  strenger;  aber  ich  sah  das  nicht.)  Auch  die 
Weiber  befühlte  der  hagere  Mann  in  jedermanns  Gegenwart 
mit  gleicher  Sorgfalt  und  schien  sich  aus  weiblicher  Scham- 
haftigkeit  und  einer  gewissen  Decenz  gar  wenig  zu  machen. 

Jetzt  holte  man  mich  zum  Sous-General.  An  einer  langen 
Tafel  im  Wirthshause  sassen  Officiere  und  allerlei  Graste,  männ- 
lichen und  weibUchen  Geschlechtes,  bunt  durcheinander.  Man 
forderte  mir  mein  Portefeuille  ab ;  ich  gab  es  hin.  «Sprechen 
sie  fhinzösisch?>  fragte  ein  kleiner  verwachsener  Mann,  mit 
einem  feurigen  Blicke,  und  fasste  mich  scharf  ins  Auge.  Ein 
Diener,  der  mir  zur  Seite  stand,  deutete  auf  ein^n  der  Tisch- 
genossen  und  sagte:  «Diess  ist  der  Bürger  Sous-Generai.»  Ich 
wusste  nicht,  meinte  er  den  kleinen  Mann  oder  einen  andern^ 
und  weiss  es  heutiges  Tages  noch  nicht.  Unbefangen  erklärte 
ich,  dass  ich  das  Französische  nur  sehr  schlecht  sprechen  könne; 
meine  Muttersprache  sei  die  deutsche.  cSo  sagen  sie  nur 
deutsch,  was  Ihr  Begehren  ist  I»  sprach  der  kleine  Mann,  «reden 
sie  kühn  von  der  Brust  weg  1  Republikaner  hassen  Heuchelei 
und  Furchtsamkeit.»  Seine  Zusprüche  hoben  meinen  Math. 
Ich  gerieth  ein  wenig  in  Feuer  und  hielt  eine  Art  Standrede,  in 
der  ich  mit  der  grössten  Offenheit  die  Gründe  darlegte,  welche 
mich  bewogen,  nach  Frankreich  zu  kommen.  So  oft  ich  etwas 
vortrug,  das  eines  Beweises  zu  bedürfen  schien,  griff  ich  unver- 
holen nach  meinem  Portefeuille,  nahm  es  den  Blätternden  aus 
der  Hand,  suchte,  während  ich  sprach,  das  beweisende  Acten- 
stück  hervor,  faltete  es  auseinander  und  legte  es  den  Benren 
vor.  Die  Schriften  giengen  von  Hand  zu  Hand.  Als  ich  glaubte, 
die  Aechtheit  meines  republikanischen  Bürgersinns  genug  er- 
probt, und  die  Ursachen,  warum  ich  ohne  Pass  käme,  deutJidi 
angegeben  zu  haben,  bat  ich  den  Bürger  Sous-€reneral,  einen 
Patrioten,  der  es  ganz  aus  Ueberzeugung  sei,  nicht  abzuweisen, 
sondern  mir  vielmehr  selbst  einen  Pass  zu  erteilen.  Nun  fiengen 
die  Debatten  über  mein  Gresuch  an.  Sie  waren  französisch, 
wurden  schnell  vorgetragen,  und  ich  verstand  das  wenigste 
davon.  Der  kleine  Herr  hielt  meinem  patriotischen  Sinne  und 
zugleich  dem  seinigen  eine  Lobrede,  gab  mir  mein  Portefeuille 
mit  allen  Schriften  zurück  und  fragte,  ob  ichs  zufrieden  sei, 
wenn  ich  zum  General  nach  Blotzheim  geschickt  würde?  Zwar 
müsste  ichs  wagen,  einen  Gang  umsonst  zu  thun  und  abge- 
wiesen zu  werden ;  allein  ich  erhielte  denn  doch  die  Grewissheit, 


—    5    — 

ob  ich  nach  Colmar  reisen  dürfte  oder  nicht.  —  «Ei,  was  liegt 
mir  an  dem  kurzen  Gange  U  rief  ich  aus,  cum  das  Glück,  ein 
französischer   Büi^er  zu  werden,    liefe   ich  Ihnen   nach  Russ- 
land   und   wieder  zurück.*    Man   lachte  laut   auf,  klatschte  in 
die  Hände,  und  ein  dicker  Herr  oben  an  der  Tafel  schrie  mit 
kreischender  Stimme:    cEcoutez,  Gitoyens!    n'est-il  pas  un  en- 
rag^?>  Da  wagte  ichs  im  Aerger,  dem  schlimmen  Tadler  auch 
einen  französischen  Brocken  aus  meiner  Fabrik  zuzuwerfen,  c Heu- 
reuse la  France!»  rief  ich  aus,  «si  ma  rage  aurait  pris  tous  les 
Franpais  U  Man  lachte,  klatschte  noch  einmal  und  entliess  mich. 
Zwei  Nationalgarden    führten    mich    nun   über  ein  Acker- 
feld hin,  einem  Gehölze  zu,  das  beinahe  bis  an  die  Schweizer- 
grenze sich  erstreckt  und  abwärts  weit  ins  Elsass  sich  verläuft. 
Ich   nahm   dessen   Lage  genau   in   Augenschein    und    dachte : 
«Giebt  dir  der  General  eine  abschlägige  Antwort,  so  schleichst 
du   Nachts  über  die   Grenze    in   dies   Grehölze    und    wanderst 
auch  ohne  Pass  nach   Golmar.»     So    eigensinnig   beharrte   ich 
auf  meinem  Vorsätze,   mein   Glück  in   Frankreich    zu   suchen. 
Zu  Blotzheim  fand  ich  den  General  in  einer  glänzenden  Gesell- 
schaft von  Herren   und   Damen  noch   an  der  Tafel  und   trug, 
als  ich    öffentlich    um   die    Ursache   meines   Hierseins   befragt 
ward,  mit  eben  dem  Feuer  und  eben  der  Dreistigkeit,   wie   in 
BourgUbre,  mein  Anliegen  vor,  legte  offenherzig  meine  Gründe 
dar   und   begleitete   sie   mit  schriftlichen   Beweisen.     Auf  den 
General  wirkte   meine   Offenherzigkeit  am  meisten.     cWie  ich 
merke,    Citoyen,»    sagte  der  General,    «so   ist  sein   Sinn   acht 
patriotisch.     Lass  er   nur   die   Briefe   des   Bischofs    hier    und 
geh  er    indess  in  ein  anderes   Zimmer ! »     Man  führte  mich  in 
die  Kanzlei.     Nach  einiger  Zeit  kam  ein  Sekretär,    fragte  mich 
noch  einmal   soi^faltig  aus,   durchstöberte   mein  ganzes  Porte- 
feuille,   forschte   nach,    ob    ich    nicht   noch    andere    Schritten, 
Schreibtafeln   u.  s.  w.    bei  mir  führte,   liess    mich   von   einem 
Diener  aussuchen   und   machte   mir  wegen  der  neuen  Einrich- 
tung, vermöge  welcher  das  geistliche  Wesen  in  Frankreich  ganz 
abgethan  wäre,  allerlei  Einwendungen,  um  mir  die  Lust,  nach 
Golmar  zu   wandern,   allmälig   zu   benehmen.     Er  sprach  von 
der  Noth,  in  die  ich  gerathen  würde,  wenn  ich  keine  Besoldung 
erhielte ;  betheuerte,  dass  er  nicht  begreife,  wie  mir  der  Bischof 
solche  Zusagen  machen  könne,   und  versicherte,    die  Hoffnung, 
als  Geistlicher  mein  Brod  zu  gewinnen,  müsste  bei  der  jetzigen 
Verfassung    des    öffentlichen   Religionsunterrichts    ganz   gewiss 
scheitern.  Allein  ich  berief  mich  auf  die  Berichte  des  Bischofs, 
der  die  Sache  doch   am  besten  wissen    müsste,   und   brach  im 
Feuer  des  Gespräches  in  die  Worte  aus :   cUnd  kann  ich  mein 
Brod  als  Geistlicher  nicht  gewinnen ;  so  will  ich  wilde  Pflanzen 


—    6    — 

essen  und  gern  alles  dulden,  um  ein  französischer  Bürger  zu 
werden.  Dass  es  tnir  mit  diesem  Entschlüsse  ernst  ist,  können 
Sie  aus  dem  Buche  ersehen,  das  ich  hier  bei  mir  trage.»  Ich 
zeigte  den  Bryant ;  i  der  Sekretär  lachte  laut  auf,  rief  aus : 
cNün  in  aller  Welt!  ein  solcher  Enthusiast  ist  mir  noch  nicht 
vorgekommen  !>  riss  mir  das  Buch  aus  der  Hand  und  lief 
damit  zum  Greneral.  Derselbe  kam  jetzt  selbst  herüber,  be- 
fragte mich  über  die  Landkartenteile,  die  im  Bryant  lagen, 
und  war  sehr  zufrieden,  als  ich  ihm  ganz  unverholen  den  Ge- 
brauch davon  angab  und  die  übrigen  Blätter  der  Karte  vorwies. 
«Wohlan  1»  sagte  er,  «weil  er  denn  ein  gar  so  eifriger  Patriot 
ist,  so  will  ich  versuchen,  ob  ich  ihm  zur  Erfüllung  seiner 
Wünsche  behülflich  sein  kann  ;  ein  so  reiner  Bürgersinn  und  so 
viel  Freiheitsliebe  verdienen  diese  Belohnung.  Es  soll  ihm 
ein  Pass  ausgefertigt  werden  ;  aber  lass  er  sich  warnen !  bleibe 
er  genau  auf  der  Strasse  nach  Colmar !  wenn  er  irgendwo 
nach  der  Seite  auslenkt,  so  ist  er  verloren  und  wird  gewiss 
als  ein  Fremder  unter  die  Guillotine  gerathen.  Zu  Colmar 
stellt  er  sich  sogleich  beim  Ausschuss  der  öffentlichen-  Wach- 
samkeit. Merk'  er  sich  das!»  Ich  hüpfte  fast  vor  Freude; 
sie  schaute  mir  leuchtend  aus  den  Augen,  als  ich  diese  Reden 
vernahm ;  die  Sekretärs  lachten  darüber  und  flüsterten  von 
meiner  frohen  Miene  u.  s.  w.  nicht  ohne  Theilnahme.  Ich  ver- 
sprach dem  General  heilig,  seinen  Befehlen  pünktlich  nachzu- 
kommen, und  dankte  ihm  entzückt  für  seine  Güte.  Er  gieng 
zufrieden  lächelnd  weg  und  sagte :  «Gitoyen,  freue  er  sich  nicht 
zu  sehr !  ich  fürchte,  meines  Passes  ungeachtet  wird  er  in 
Colmar  als  Fremder  und  Geistlicher  nicht  geduldet  werden.  Noch 
'begreife  ich  nicht,  wie  der  Bischof  ihm  in  diesen  Ausdrücken 
schreiben  konnte.»    Man  fertigte  mir  nun  folgenden  Pass  ans: 

Liberty.  Egalite.  Fratemit^. 

Laissez  passer  et  repasser  librement  le  Citoyen  Francms 
BronneTy  qui  nous  a  d^clar^  vouloir  aller  k  Colmar  paur  se 
rendre  au  Comite  de  Surveiliancey  qui  jugeray  si  son  z'dt 
pour  la  liherte  lui  meritera  le  titre  de  citoyen  francaisy  au 
Quartier  General  de  Blotzheim  le  6  Nivos.  1793.  Fan  2  de  k 
R^publique  Fran^aise  une  et  indivisible. 

L'Adjudant^Gen^ral,  Leger. 

Vü  par  le  G6neral-Commandanl  en  chef  TArmee  du  Haul- 
Rhin.  Scherer,  m.  p. 


1  Bryanis  Verzeichnis    der  zur  Nahrung  dienenden  Pflanzeii.  Aqb 
dem  Englischen.  Leipzig  1785-86,  U, 


—    7    — 

Was  hier  mit  Gursiv-Schrift  gedruckt  ist,  war  geschrieben, 
das  übrige  gedruckt.  Mit  eigener  Hand  schrieb  der  General 
noch  folgendes  darunter :  Dans  le  cos  contraire  le  Comitä  de 
SurveiUance  le  renverra  au  quartier  gäneral  pour  le  faire 
rep€Lsser  ä  VHranger.  — 

Der  Pass  von  Zürich  ward  mir  abgefordert  und  zurückbe- 
halten, als  man  mir  diesen  übergab.  Ich  fragte,  ob  ich  für 
die  Ausfertigung  etwas  zu  bezahlen  hätte.  cNein  U  sagte  der 
SekretiLr  mit  nicht  unedlem  republikanischen  Selbstgefühl,  «hier 
im  Lande  der  Freiheit  lässt  sich  der  öffentliche  Beamte  nicht 
zweimal  (vom  Staate  nämlich  und  vom  Bürger)  bezahlen.» 
Vergnügt,  wie  nach  einem  errungenen  Siege,  und  stolz,  jetzt 
nur  von  so  uneigennützigen  Obrigkeiten  abzuhängen,  gieng  ich 
aus  dem  Dorfe  nach  Sierenz.  Es  war  ein  Triumph  in  meiner 
Seele,  dass  ich  nun  doch,  allen  Hindernissen  zum  Trotze, 
meinem  Ziele  mich  näherte.  Nationalgarden,  die  auf  der 
Strasse  hin  und  her  marschierten,  einzelne  reitende  Jacobiner 
mit  rothen  Kappen  oder  Mützen,  an  denen  Fuchsschwänze  herab- 
hingen, Bauern,  die  bald  halbleise  und  furchtsam,  bald 
schreiend  und  fluchend  mit  einander  von  den  Grottlosigkeiten 
und  Greueln  sprachen,  die  sich  die  Nation  (so  nannten  sie  die 
Nationalversammlung)  in  Religionssachen  zu  Schulden  kommen 
lasse,  war  alles,  was  ich  auf  diesem  Wege  sah  und  hörte. 
Ruhig  wanderte  ich  fort,  hing  mich  an  niemanden  und  t)e- 
schloss,  um  morgen  recht  frühe  in  Golmar  zu  sein,  ungeachtet 
der  anbrechenden  Nacht,  heute  noch  nach  Habsheim  zu  laufen. 
Die  Entfernung  war  grösser,  als  ich  geglaubt  hatte.  Dicke 
Finsterniss  umgab  mich  bald^  und  es  gelang  mir  nur  mit  Mühe, 
auf  der  Strasse  fortzutappen  und  endlich  nach  manchem  Sturz 
in  den  Graben  das  ersehnte  Dorf  zu  erreichen. 

Nachtherberge  in  Habsheim. 

Wie  mir  Leute  sagten,  die  über  die  Gasse  giengen,  so  be- 
fanden sich  etwa  5  Wirthschaflen  im  Dorfe;  aber  fast  alle 
hatten  ihre  Schilde  eingezogen,  weil  ihnen  weder  Bedienung 
noch  Lebensmittel  um  Assignate  feil  waren.  Als  ich  zum 
besten  Wirthshause  kam,  das  man  mir  gewiesen  hatte,  ging  ich 
hinein  und  bat  um  Nahrung  und  Herberge.  Die  Wirthin  ent- 
schuldigte sich  mit  der  Menge  ihrer  Gäste,  wankte  aber  doch, 
ob  sie  mich  nicht  aufnehmen  wollte;  da  erblickte  mich  der 
Conducteur  des  Basler  Postwagens  und  raunte  ihr  ganz  ver- 
nehmlich zu  :  c Schicken  Sie  den  Kerl  fort,  er  ist  ein  abtrün- 
niger Pfaff  und  ein  rasender  Jakobiner.»  Dieser  Conducteur 
war  eben  bei  dem  Sous-General  zu  Bourglibre  im  Zimmer  ge- 
wesen,   als   ich  meinen    Patriotismus  in  vollem  Glänze  produ- 


—    8    — 

zirte.  Sein  Angeben  wirkte.  Geschwinde  sagte  die  WirÜdnn: 
cCitayen)  ich  habe  weder  Essen  noch  Bett  für  sie,  suchen  sie 
eine  andere  Herberge ! »  Ich  suchte^  aber  überall  ward  ich 
abgewiesen,  überail  hatte  man  der  Gäste  zu  viele.  Wenn  ich 
nicht  unter  freiem  Himmel  übernachten  wollte,  so  musste  ich 
mich  bequemen,  an  einem  elenden  Häuschen,  vor  dem  ein 
Schild  hing,  und  das  ich  um  seiner  Armseligkeit  willen  gleich  an- 
fangs vermieden  hatte,  anzupochen  und  um  Quartier  zu  bitten. 
Ich  konnte  nichts  Gutes  erwarten  ;  aber  Noth  bricht  Eisen.  Der 
Wirth,  ein  ungeschliffener,  handfester  Kerl,  kam  unter  die 
Thür:  «Was  will  er,  guter  Freund?»  —  «Eine  Nachtfaerberge. > 
—  «Hat  er  Brod?  wir  haben  keins.»  —  «Ei  Herr  Wirth,  er  hat 
wohl  noch  so  viel,  als  ich  brauche.»  —  «Keinen  Bissen  weiter, 
als  was  wir  selber  bedürfen.»  —  «Nun  denn,  so  kann  ich 
etwas  anders  essen!  Geb'  er  mir,  was  er  mag!»  —  «Wir 
können  nichts  entbehren,  müssen  selbst  Noth  leiden. »  —  «Seine 
aristokratische  Menschenfreundlichkeit  verdiente  fast,  dass  es 
wahr  würde.»  Hiemit  gieng  ich  aufgebracht  fort.  Er  lief  mir 
nach,  ergriff  mich  beim  Arme  und  sagte:  «Nur  nicht  gleich 
so  hitzig,  Gitoyen  !  Ich  glaube,  er  wäre  wohl  gar  im  Stande, 
mir  Verdruss  zu  machen.  Wir  haben  Mangel ;  aber  wenn  er 
mit  dem  wenigen  vorlieb  nehmen  will,  was  wir  ihm  vorsetzen, 
so  kann  er  hereinkommen.»  Ich  gieng  mit  ihm  in  die  rauchige 
Stube,  in  der  an  allen  Tischen  Soldaten  sassen,  tranken,  assen 
und  schmauchten.  Jetzt  besah  mich  der  Wirth  von  Kopf  bis  zu 
Fusse  und  sagte  sanfter:  «Um  Vergebung,  Gitoyen!  Man 
kann  bei  dieser  Zeit  nicht  wissen,  wen  man  vor  sich  hat! 
Wer  sind  sie  denn?»  —  Ein  Reisender,  der  von  Basel  nach 
Golmar  geht.  —  «Darf  ich  fragen,  was  ist  dort  ihre  Verrich- 
tung?» —  Ich  reise  in  meinen  eigenen  Greschäften.  —  «Sakre- 
bleu!»  rief  jetzt  ein  Soldat,  dem  Ansehen  nach  ein  Sergeant, 
hinterm  Tische  hervor,  «er  ist  der  Aussprache  nach  ein  Deut- 
scher:  Holla  Spion!»  Ich  kümmerte  mich  wenig  um  sein 
Geschrei,  suchte  einen  ledigen  Platz  an  den  Tischen  umher 
und  setzte  mich  ohne  Geremonien  nieder.  Es  war  mir  vom 
Gehen  warm  geworden  und  die  dämpfige  Stube  war  heiss,  wie 
ein  Schweissbad;  ich  legte  also  den  Hut  neben  meinen  Regen- 
schirm und  dem  Bryant  auf  die  Bank.  «Bei  meiner  Seele!» 
schrie  nun  der  Sergeant  wieder,  «das  ist  gar  ein  deutscher 
Pfaffl  Seht  mir  nur  seine  Glatze  an!»  Hastig  stand  er  auf 
und  trat  zu  mir:  «Den  Pass  her,  wenn  er  einen  hat!»  fuhr 
er  trotzig  mich  an,  und  was  ist  das  dort  für  ein  Buch?  Her 
damit!»  —  Ich  legte  die  Hand  auf  meinen  Bryani  und  ant- 
wortete fest  und.  kalt:  «Gitoyen,  das  Buch  ist  mein;  nehmen 
Sie  sich  in  Acht !   Noch  weiss  niemand  hier,  wen  Sie  vor  sidi 


—    9    — 

haben!»  Er  machte  grosse  Augen,  der  Wirth  flüsterte  ihm 
za :  «Ereifern  Sie  sich  nicht,  Gitoyen  !  Man  kann  nicht  wissen  ! 
Neulich  war  auch  so  ein  Reisender  da!  Sie  erinnern  sich 
noch.»  Der  Sergeant  blickte  indess  verächtlich  auf  mich  nieder, 
warf  die  Unterlippe  auf  und  sagte  endlich  mit  rauhem  Tone  : 
cSeht  nur  die  geschorne  Platte  an!»  (er  meinte  meine  Glatze) 
was  kann  wohl  dahinter  stecken?  Und  hab*  ich  nicht  das 
Recht,  ihm  seinen  Pass  abzufordern :  er  muss  mir  ihn  vor- 
weisen und  wenn  er  der  Teufel  selber  wäre.»  —  «Gitoyen,  das 
müssen  Sie!»  sagte  mir  der  Wirth  kleinlaut  und  zuckte  die 
Achseln.  Ich  zog  mein  Portefeuille  hervor,  suchte  den  Pass 
und  legte  ihn  schweigend  auf  den  Tisch.  Der  Sergeant  nahm 
ihn  auf  und  las.  «Respekt!»  sagte  er  ernsthaft,  machte  ein 
langes  Gesicht,  legte  das  Blatt  weg  und  setzte  sich  ruhig  an 
seinen  Ort.  Der  Wirth  nahm  Platz  an  meiner  Seite  und  fing 
an  zu  klagen,  dass  man  jedem  Hausvater  die  Quantität  Ge- 
treide, welche  er  verbrauchen  dürfe,  bestimmt  und  alles  übrige 
aufgezeichnet  habe  ;  dass  man  gezwungen  sei,  um  einen  ge- 
wissen Preis  (Maximum)  und  noch  dazu  für  Assignate  sein 
Eigenthum  hinzugeben;  dass  man  nicht  einmal  Bezahlung  in 
€^ld  ausbedingen  dürfe,  u.  d.  gl.  Ich  erwiederte  :  Zum  Besten 
(les  Ganzen  wäre  es  höchst  nölhig,  dass  mit  dem  vollen  Vor- 
rathe  des  Landes  haushälterisch  gewirthschaftet  wurde,  und 
dass  zur  Verhütung  des  Mangels  die  kornreichen  Provinzen, 
wie  das  Elsass,  ihren  Ueberfluss  an  Früchten  gegen  billige 
Preise  an  die  minder  fruchtbaren  Länder  abträten ;  was  die 
Assignate  beträfe,  hätte  er  bei  mir  nicht  zu  befahren,  seine 
Bezahlung  in  Papiergeld  zu  erhalten ;  denn  ich  besässe  dermals 
noch  keine.  ^Sein  Blick  ward  heiterer,  sobald  er  diess  vernahm ; 
er  gieng  in  die  Küche  und  befahl  geschwinde  Brod,  Suppe, 
Braten,  Salat  und  Obst  hereinzubringen,  sodass  ich  statt  des 
angedrohten  Fasttags  plötzlich  Ueberfluss  vor  mir  erblickte. 

.  Nach  und  nach  verloren  sich  die  Gäste.  Die  einen  giengen 
in  ihr  Quartier  bei  den  Bauern,  die  anderen  verlangten  zu 
Bette«     Nur  wenige   blieben. . 

......  Ich  verlangte  zu  Bette;   er  führte  mich  in  eine  offene 

Kammer,  wo  einige  Bettstellen  voll  Soldaten  lagen.  Sorgtältig 
visitirte  ich  mein  Bett,  fand  zwar  alles  reinlich  und  frisch 
überzogen,  aber  es  ekelte  mir  doch  ein  wenig;  desswegen 
kleidete  ich  mich  nur  zur  Hälfte  aus,  verwahrte  meine  Sachen, 
so  gut  ich  konnte,  zwischen  dem  Strohsack  und  dem  Unter- 
bette und  streckte  mich  in  Gottes  Namen  unter  die  Decke.  Die 
Müdigkeit  machte,  dass  ich  besser  schlief,  als  ich  gehofft  hatte. 


—    10    — 

So  yne  ich  am  Morgen  aus  dem  Hause  trat,  sah  ich  einen 
Haufen  Nationalgarden  bey  der  Kirche  versammelt,  um  ihre 
Brodportionen  abzuholen.  Das  war  ein  Gewimmel,  ein  Scher- 
zen.  Jagen  und  Hüpfen  durch  einander,  dass  ich  froh  war, 
glucklich  an  dem  Haufen  vorüber  gekommen  zu  seyn.  An 
allen  Hüten  prangten  National-Kokarden,  und  fast  an  jedem 
Fensterladen  hiengen  bunte  Schilder  mit  dem  bekannten  Wappen 
der  Republik,  einem  eyfomiigen  Eichenkranze,  der  zusammen- 
gebundene Stäbe  sammt  einem  darin  steckenden  Beile,  um- 
schliesst.  Mit  grossen  Buchstaben  stand  rund  umher  ge- 
schrieben :  Liberty,  ^alit^,  unit^,  fraternitö  ou  la  moK.  Als 
ich  an  dem  äussersten  Wirlhshause  des  Dorfes  vorübeipeng» 
rief  ein  hitziger  Bauer  aus  dem  Fenster :  cSeht  ihr  den  Volks- 
feind dort?  Er  trägt  nicht  einmal  eine  Kokarde.  Willst  dn 
die  National  färben  aufstecken,  aristokratische  Bestie  ?»  Ich 
nahm  keine  Notiz  von  dem,  was  er  mir  zuschrie^  schaute  nicht 
um  und  gieng  meiner  Strasse.  Bald  war  ich  im  Freyen.  Aber 
ich  nahm  mir  vor,  sobald  ich  Gelegenheit  fände,  eine  drey- 
farbige  Kokarde  zu  kaufen. 

Gang  nach  Colmar. 

Ich  kam  zu  dem  Städtchen  Ensisheim.  Nahe  dabey,  wo 
sich  die  Strasse  schwenkt,  war  eine  Feldkapelle  gestanden  mit 
einem  Cruzifixe.  Jetzt  war  sie  eingerissen,  der  Schutt  lag  um- 
her, die  Statuen  der  Heiligen  schauten  darunter  hervor,  der 
Gekreuzigte  lag  darauf.  Ich  konnte  nicht  begreifen,  wie  ein 
religiöses  katholisches  Volk  diesen  Greuel  der  Verwüstung,  ohne 
in  Wuth  zu  geratheh,  ansehen  könnte,  und  fürchtete  wahrlich, 
am  Ende  möchte  die  gute  Sache  der  Vernunft  und  Freyheit 
durch  übertriebenes,  allzuhitziges  Losstürmen  auf  diejenigen 
Vorurtheile  des  Volks,  die  ihm  am  theuersten  sind,  alles  verlieren, 
statt  durch  Mässigung  alles  zu  gewinnen.  Um  einiger  Massen 
urteilen  zu  können,  wie  der  gemeine  Mann  diese  Bilderstürmerey 
aufnehme,  setzte  ich  mich  auf  eine  Bank  unweit  des  Thores, 
wo  ich  die  Rudera  der  Kapelle,  sammt  den  Vorübergehenden  im 
Auge  hatte,  und  beobachtete  deren  Mienen  und  Gebehrden. 
Niemand  kam  die  Strasse,  ohne  zu  seufzen,  die  Augen  zum 
Himmel  zu  erheben  und  mit  Bedauern  wegzublicken.  Sie 
schienen  zu  denken  :  «0  Grott,  kannst  du's  ansehen?  ich  nicht!» 
Aber  niemand  gab  einen  missbilligenden  Laut  von  sich ;  jeder 
schien  sich  zu  furchten,  unter  der  Guillotine  zu  fallen. 

Ich  gieng  in  die  Stadt.    Eine  Wittwe  gab  mir  zu  essen  und 
nähte  mir  eine  Kokarde  auf  den  Hut. 

Ueber  Rexheim  langte  ich,  langsam  dahinschleichend,  nach 
anderthalb   Stunden   zu   Mayenheim   an,    trat  in    ein   sdiones 


—  11  — 

Wirthshaus  an  der  Strasse  und  fand  in  der  Stube  ein  paar 
Kutschen  voll  Reisender,  die  mit  düstern  Mienen  einander  ihr 
Bedürfniss  zu  essen  klagten^  welches  der  Wirth  dun;haus  nicht 
befriedigen  wollte.  Auch  ich  trug  mein  Anliegen  vor ;  denn 
ich  hatte  zwei  starke  Stunden,  '^ohne  ein  Dorf  anzutreffen,  bis 
xum  Städtchen  Heilig-Kreuz  zu  marschieren,  und  zwölf  Uhr 
war  eben  vorüber.  Allein  ich  ward  trotzig  angeschnurrt :  «Hat 
er  Brod,  Gitoyen,  so  kann  ers  überall  essen,  bey  uns  ist  keines 
zu  finden.»  —  cEy,  was  essen  sie  denn?»  —  c Erdäpfel  und 
Salat.»  —  «So  will  ich  mithalten.»  —  «Wir  haben  selbst 
nicht  genug.»  Diese  Antwort,  bitter  und  spottend  vorgetragen, 
machte  mich  böse ;  ich  sagte  auffahrend :  «Nun,  so  wünsche 
ich,  dass  wahr  werde,  was  er  lüge.»  Damit  gieng  ich  zur  Thür. 
Ergrimmend  langte  der  Wirth  nach  seiner  Peitsche  und  rief  mir 
einige  Flüche  und  Drohungen  nach.  Es  war  ein  sehr  heiterer 
Wintertag,  die  Sonne  schien  warm,  die  Luft  wehte  gelinde. 
In  einer  ziemlichen  Entfernung  vom  Hause  setzte  ich  mich  auf 
Bauholz,  das  in  der  Gasse  lag,  und  schrieb,  ausruhend,  obiges 
in  meine  Schreibtafel ;  da  nahte  sich  mir  eine  Frau  und  fragte 
mit  ängstlichem  Tone:  «Ach,  was  schreiben  sie  da?  Wer  sie 
auch  immer  sind,  thun  sie  uns  doch  kein  Leides  !  Mein  Mann, 
der  Wirth  dort,  war  zu  hitzig.  Kommen  sie  mit  mir,  wir 
wollen  das  Geschehene  vergüten.»  —  Sorgen  Sie  nicht,  er- 
wiederte  ich,  dass  ich  Ihnen  schlimme  Streiche  spiele.  Ich  bin 
froh,  wenn  mir  nicht  schlimm  mitgespielt  wird.  —  «Wer 
weiss,  was  ihr  Vorhaben  ist?  Sie  schreiben  da  unter  freyem 
Himmel,  im  Winter,  sind  von  uns  beleidigt  und  schauen  unser 
Haus  von  Zeit  zu  Zeit  so  bedenklich  an.  Wir  wissen  wohl, 
dass-  Beobachter  im  Lande  herumreisen.  Ach,  schonen  sie 
unser?»  --*  Frau,  Sie  können  ruhig  seyn,  ich  bin  gewiss  kein 
Beobachter ;  aber  begegnen  Sie  künftig  jedem  Beisenden  besser 
als  mir,  etwa  so,  als  wenn  er  ein  Beobachter  wäre.  Adieu  ! » 
Sie  wünschte  mir  sehr  höflich  eine  glückliche  Reise,  und  ich 
gieng  durch  das  Dorf  hinab.  Als  ich  ein  zweytes  Wirthshaus 
fand,  trat  ich  hinein  und  bat  um  etwas  zu  essen.  Landvolk 
und  Soldaten  sassen  im  Zimmer.  Die  Wirthin  entschuldigte 
sich,  dass  sie  nur  wenig  Lebensmittel  besässe,  legte  mir  aber 
Brod  vor  und  sagte  leise  :  «Lieber  Herr !  sie  sind  ein  Geist- 
licher, ich  seh's  wohl ;  gedulden  sie  sich  nur  ein  wenig,  bis 
einige  von  jenen  unbändigen  Gästen  weggehen,  die  mir  eben 
mit  Gewalt  andere  Speisen  abgefordert  haben.  Mein  Vorrath 
ist  zwar  klein  ;  aber  sie  sollen  doch  genug  zu  essen  bekommen.» 
So  wurden  die  Unannehmlichkeiten,  die  mir  mein  pfäffisches 
Aussehen  zuzog,  doch  hin  und  wieder  durch  einige  Vortheile 
vergütet. 


—    12    — 

Der  Bischof  in   Colmar. 

So  wie  ich  aus  dem  Walde  trat  und  die  Thürme  Gdmars 
vor  Augen  hatte,  ward  mir  wärmer  ums  Herz  und  ich  glaubte, 
der  Entscheidung  meines  Schicksals  entgegen  zu  gehen.  Die 
Burgerwache  am  Thore  rief  mich  nicht  an.  Ungehindert  trat 
ich  in  die  Stadt.  Ein  Knabe  führte  mich  sur  Wohnung  des 
Bischofs.  Ich  fand  in  einer  ziemlich  engen  Gasse  ein  artiges 
aber  nicht  prächtiges  Haus,  die  Gänge  und  Treppenwände  mit 
Heiligen-Bildern  behangen,  und  alles  sehr  ranlich  gebalten. 
Eine  Haushälterin  trat  mir  entgegen,  der  man  es  ansah,  dass 
sie  weder  Hunger  noch  Mangel  litt.  Sie  war,  wie  ich  nachher 
erfuhr,  die  Verwandte  des  Bischofs.  «Wen  soll  ich  melden?» 
—  Bronner,  den  deutschen  Greistlichen.  —  Sie  gieng.  Ich 
musste  lange  auf  dem  Söller  warten ;  sehr  viele  kleine  Um- 
Ständchen,  der  Rauchdufl,  die  Gemähide  umher,  die  Stille  des 
Hauses  u.  s.  w.  erinnerten  mich  an  mein  oftmaliges  Harren 
im  Vorsaale  des  Herrn  von  Ungelter.  >  <0  Gott !  >  dachte 
ich,  soll  ich  etwa  wieder  unter  solche  Hände  gerathen?»  End- 
lich rief  man  mich  hinein.  Ein  ältlicher  Mann  mit  etwas 
grauen  Haaren,  von  frischem,  aber  eben  nicht  Ehrfurcht  ge- 
bietendem Ansehen  erhob  sich  von  seinem  Sopha  und  kam  mir 
freundlich  entgegen.  cSind  sie  endlich  da,  mein  lieber  Bronner? 
Willkommen  in  Colmar !  Fast  fieng  ich  zu  fürchten  an,  ihr 
Enischluss  habe  sie  gereut;  so.  lange  zögerten  sie.»  Er  zog 
mich  auf  den  Sopha ;  ich  entschuldigte  mein  langes  Ausbleiben 
und  erzählte  ihm,  wie  viele  Schwierigkeiten  besi^  werden 
mussten,  bis  das  Vergnügen,  neben  ihm  zu  sitzen,  von  mir 
errungen  ward.  Einmal  ums  andere  rief  er  aus :  « Was  ?  Man 
wollte  sie  an  der  Grenze  nicht  einlassen?  Der  Gesandte  wollte 
ihnen  keinen  Pass  ertheilen?  Das  ist  eine  Wirthschaft!  Soll 
ich  nicht  die  Freyheit  haben,  mir  einen  Mitgeholfen  zu  wählen, 
welchen  ich  will?»  Ich  zeigte  ihm  meinen  Pass.  Er  schien 
darüber  in  Verlegenheit  zu  gerathen.  «Lassen  sie  das ! »  sprach 
er  mit  hoher  Miene,  und  gab  sich  ein  Ansehen,  «was  wollen 
sie  erst  zum  Comit^  de  Surveillance  laufen?  Sie  sind  einmal 
hier  unter  meinem  Schutze,  das  ist  genug.  Ich  bin  constito- 
tioneller  Bischof  des  Oberrheins  und  will  den  sehen,  der  mirs 
verwehren  wird,  meine  Mitarbeiter  im  Weinberge  des  Herrn 
zu  wählen,  wie  ich  kann.»  —  Unmöglich  war's  mich  des  Ur- 
theils  zu  erwehren:  «Schwacher,  eitler  Mann!»  Aber  ich  lies 
nichts  merken,    machte  nur  meine  Einwendungen  und  Gegen- 


1  Das  des  ehemaligen  Vorgesetzten  Bronners  in  Angsboig. 


—    43    — 

Vorstellungen  und  bewog  ihn  endkch,  dass  er  versprach,  morgen 
ivolle  er  selbst  mich  zum  Präsidenten  des  Gomit^  begleiten. 
Nun  erkundigte  ich  mich  um  den  neuesten  Zustand  des  Re- 
ligions-Wesens in  Frankreich.  Er  behauptete  geradezu,  die 
Verfassung  der  beeidigten  Greistlichkeit  sey  noch  eben  dieselbe,  ' 
wie  beim  Anfange  der  Revolution ;  ihm  werde  seine  Besoldung 
vom  Staate,  jedem  Landpfarrer  aber  von  seiner  Gemeinde  aus- 
bezahlt; die  Kirchen  seyen  zwar  grösstentheils  in  Tempel  der 
Vernunft  umgeändert,  aber  dennoch  habe  man  noch  einige  der- 
selben dem  Grottesdiensle  gewidmet;  er  müsse  eine  grosse  Ge- 
meinde besorgen,  übernehme  selber  alle  bischöflichen  Verrich- 
tungen, weihe  Geistliche,  predige,  sitze  zur  Beichte,  halte  das 
Hochamt,  besuche  die  Kranken  und  unterrichte  die  Kinder 
u.  s.  w.  Es  sey  ihm  sehr  lieb,  nun  an  mir  einen  Gehülfen 
zu  haben ;  ich  dürfe  ihm  nur  in  die  Hand  arbeiten  und  sein 
Vikar  seyn.  Auch  ich  solle  predigen,  zur  Beichte  sitzen,  kate- 
chisiren,  Messe  lesen  und  Kranke  besuchen.  Er  wolle  mir 
dafür  zu  einem  hinlänglichen  Einkommen  verhelfen,  und  würde 
meine  Besoldung  nicht  ergiebig  genug  ausfallen,  so  wisse  er 
einen  Freund  beym  Departements-Archive,  der  mir  gern  etwas 
zu  verdienen  gäbe,  wenn  ich  die  alten  Schriften,  die  man  aus 
allen  aufgehobenen  Klöstern  nach  Colmar  geschafft  habe,  ent- 
ziffem  möge,  wozu  mir  als  ehemaligem  Registrator  weder  Ge- 
schick noch  Lust  mangeln  werde.  Bereits  habe  er  dem  Archi- 
var von  mir  gesagt.»  Ich  war  ganz  willig,  mir  alles  gefallen 
zu  lassen  und  erhielt  das  Versprechen,  er  wolle  mich  morgen 
nach  dem  Frühstuck  zu  dem  Archivar  führen,  theils  um  mir 
vorläufig  einigen  Verdienst  auszumitteln,  theils  um  nähere 
Erkundigung  einzuziehen,  wie  ich  mich  vor  dem  Gomit^  de 
Surveillance  zu  verhalten  habe. 

Indess  war  die  Nacht  angebrochen  und  er  Hess  mich, 
nicht  ohne  einiges  Bedenken,  in  das  lutherische  Wirthshaus  zum 
Bocke  führen.  Allein  es  war  sonst  nirgends  ein  Gasthof  für 
Reisende  geöffnet.  Also  ergriff  er  die  klügste  Partie,  spielte 
den  Toleranten  und  sandte  mich  zum  Bocke.  Nach  langem 
Pochen  und  Bitten  ward  ich  endlich  eingelassen.  Unter  vielen 
Protestationen,  dass  nichts  besseres  in  haben  sei,  setzte  man 
mir  ein  kleines  Abendessen  von  Erbsensuppe,  Ragout  und 
Salat,  mit  einem  Nachtische  von  Wallnüssen  und  Käse  vor. 
Ich  führe  desswegen  hier  an,  damit  es  jedem  klar  werde,  was 
ich  eigentlich  Mittags  und  Abends  für  den  Preis  eines  franzö- 
sischen Laubthalers  zu  essen  erhielt.  Ich  begriff  wohl,  dass 
dieser  Preis  im  Grunde  nur  wegen  des  Papiergeldes  so  hoch 
stand,  und  versuchte  die  Wirthsleute  zu  überzeugen,  dass  ich 
keine  Assignate  besasse,  um  sie  zu  bewegen,  mir  eine  billigere 


—    14    — 

Zeche  zu  machen.  Aber  da  half  nichts ;  der  Wirth  brummte  : 
cEs  ist  bei  Lebensstrafe  verboten^  zweyerley  Preise  zu  machen  ; 
und  der  Teufel  möchte  wirthschaflen,  wenn  man  nicht  an 
andern  Gästen  gewänne,  was  man  an  Soldaten  verliert.»  So 
oft  ich  zu  Bette  gieng,  forderte  man  mir  die  Bezahlung  für  den 
vorigen  Tag  ab,  aus  Besorgniss,  ich  möchte  während  der  Nacht 
verschwinden. 

Als  ich  hier  zum  erstenmaie  übernachtete,  f&hlte  ich  in 
der  Einsamkeit  der  Nacht  recht  lebhaft,  dass  hier,  allem  An- 
scheine nach,  meine  Hoffnung,  unabhängig  leben  zu  dürfen, 
scheitern  würde,  und  dass  ich  wieder  das  elende  Handwerk 
eines  Amanuensis  und  Bischofsknechtes  treiben  müsste.  Schon 
der  Gedanke  an  eine  solche  Sklaverey  erregte  Schauer  und 
Eckel  in  mir.  Dennoch  war  ich  entschlossen,  eine  Weile  aus- 
zuharren und  die  Zeit  abzuwarten  ,  bis  man  mich  kennen 
wurde;  dann  hoffte  ich,  sollte  es  mir  an  Freyheit  und  besserm 
Fortkommen  nicht  fehlen. 


Beobacht  ungen. 

Den  28.  Dec.  (S«  Niv.)  schlenderte  ich,  ehe  ich  den 
Bischof  besuchte,  durch  einige  Gassen  der  Stadt,  lüstern,  etwas 
Interessantes  zu  beobachten.  Am  hohen  buntgeschmückten 
Freyheitsbaum  vorüber  kam  ich  zur  Munsterkirche,  über  d^^en 
Hauptportal  mir  eine  sehr  grosse  schwarze  Tafel  in  die  Augen 
fiel,  auf  der  mit  goldenen  kolossalischen  Buchstaben  die  In- 
schrift glänzte  :  Temple  de  la  raison,  Tempel  der  Vernunft. 
cO  möchtest  du  ihr  im  Ernste  geweiht  seyn,»  dachte  ich, 
c möchte  die  Vernunft  wirklich  irgendwo  einen  Tempel  haben, 
und  Menschen,  die  ihr  gehorchen !  Aber  hier  ist  nicht  alles 
richtig.  Ich  fürchte,  nur  Zwang  oder  Neugierde  führt  zu  diesem 
Gebäude.»  So  gern  ichs  gesehen  hätte,  wenn  das  Volk  die 
Religion  der  Vernunft,  das  Naturgesetz  allein,  so  wie  es  mehrere 
der  besten  Schriftsteller  darstellen  und  die  meisten  denkenden 
Menschen  erkennen,  allgemein  angenommen  hätte,  so  wenig 
konnte  ich  glauben,  dass  es  sich  durch  einen  Machtstreich  seine 
liebsten  Vorurtheile  entreissen  lassen  würde,  und  dass  mit 
diesen  Vorurtheileu,  wenn  sie  auch  sänken  (wegen  des  Mangels 
an  besserm  Unterricht),  nicht  auch  die  Stützen  der  Moralität 
mit  einsinken  würden.  Immer  betrachtete  ich  also  den  Tempel 
der  Vernunft  mit  einer  Art  Scheu. 

Ich  gieng  auf  die  andere  Seite  des  Münsters ;  da  sah  ich 
eine  Heerde  Sans-Cul^tten,  die  si^ch  lustig  um  eine  rothbemahlte 
Bühne  jagten ;    sie  war  mit  einem  eben  so  gefärbten    Geländer 


—    15    — 

eingefasst,  und  eine  breite  Treppe  führte  hinauf.  Eine  gute 
Weile  sserbrach  ich  mir  den  Kopf,  was  das  vorstellen  möchte; 
endlich  fragte  ich  einen  ehrlichen  Taglöhner,  der  mir  zur 
Seite  stand :  cDas  ist  gewiss  ein  Rednersiuhl,  um  darauf 
Haranguen  ans  Volk  2u  halten  ?i  Der  Arbeiter  beguckte  mich 
von  Kopf  bis  zu  Fuss,  schlug  ein  lautes  Gelächter  auf  und 
sagte :  cCitoyen^  er  ist  gewiss  ein  Fremder !  Sieht  er  denn 
nicht?  Das  ist  die  Guillotine;  die  beyden  aufrechtstehenden 
Säulen  mit  dem  Beile  dazwischen  hat  man  vor  ein  paar  Tagen 
nach  Ruffach  gefuhrt,  um  dort  ein  Paar  Aufruhrern  die  Köpfe 
abzureissen.»  —  Ich  schauerte  zusammen,  als  er  so  trocken  und 
kalt  von  der  grausamen  Maschine  sprach,  fasste  aber  doch  den 
Muth  ihn  zu  firagen  :  cHat  man  auch  hier  schon  jemanden 
guillotinirt  ?»  Er  antwortete  barsch  :  cNicht  viele,  etwa  drey, 
ein  Paar  Spitzbuben  und  ein  Weib.»  Nie  gieng  ich  ohne  widrige 
Empfindung  an  der  hässlicben  Maschine  vorüber. 

Ich  trabte  durch  mehrere  Gassen,  ohne  etwas  Auffallendes 
anzutreffen ;  endlich  öffnete  sich  ein  geräumiger  Platz  vor 
einer  Kirche,  auf  welchem  ich,  bunt  durch  einander  in  grossen 
Haufen,  Altäre,  Säulen,  Kirchenbänke,  Statuen,  grosse  Bilder- 
rahmen, Beichtstühle,  Gitter,  u.  s.  w.  u.  s.  w.  alles  zerschlagen 
und  verdorben,  umherliegen  sah;  ein  Paar  Sans- Culotten  hielten 
Wache  dabey ;  der  eine  hatte  sich  gar  bequem  einen  Beichtstuhl 
zum  Schilderhause  gewählt,  und  rief  den  Mädchen  lächerliche 
Einladungen  zur  Beicht  und  Busse  zu;  arme  Juden  klaubten 
im  vergoldeten  Holzwerke;  einige  Karren  wurden  von  Lutheranern 
scherzend  mit  Heiligen-Bildern  beladen ;  ein  Kommissar  handelte 
mit  einigen  Kauflustigen  um  allerley  Geräthe ;  Katholiken  giengen 
vorüber,  knirschten  mit  den  Zahnen  und  bissen  in  die  Lippen, 
mit  grimmigen,  abgewandten  Blicken.  Ich  fragte  einen  Vorüber- 
gehenden, der  eine  ziemlich  ruhige  Miene  machte :  «Citoyen, 
was  hat  denn  dieser  Trödelmarkt  zu  bedeuten?»  —  «Merken 
sie's  denn  nicht?»  antwortete  er  verdriesslich,  aber  nur  halb- 
laut, «hier  wirft  man  das  Heiligthum  unter  die  Schweine.  Es 
ist  die  wahre  Zerstörung  Jerusalems.»  Immer  höher  stieg  meine 
Vervvunderung,  wie  sich  ein  Volk,  ohne  aufrührisch  zu  werden, 
und  so  stillschweigend,  seine  Heiligthümer  nehmen  lassen  könnte, 
und  ich  hielt  es  für  übertriebene  Kühnheit,  für  eine  Art  Grau- 
samkeit, Katholiken  durch  den  öffentlichen  Anblick  einer  solchen 
Verwüstung  täglich  zu  neuem  Missvergnngen  aufzureitzen  und 
hiemit  gleichsam  ihrer  allerheiligsten  Begriffe  zu  spotten.  0,  der 
Schrecken,  wie  mächtig  hemmte  er  den  Ausbruch  selbst  der 
religiösen  Wuth  I 


^    i6    - 

Intoleranz  des  Bischofs,  Coniit^  des  Districts. 

Nun  gieng  ich  zum  Bischöfe  und  frühstückte  mit  ihm.   Um 
mehr  ins  Klare   zu  kommen,   fragte  ich  ihn,  wie  es  denn  am 
Christtage  mit  dem  Gottesdienste  gehalten  wurde?  Da  erzählte 
er  mir,  die  Obrigkeit  habe  nach  langem  Bitten  der  Geistlichen 
die  ehemalige  Jesuitenkirche   an  diesem  Tage  sum  Greforauche 
sowohl  für  Katholiken  als  Protestanten  zu  eröffiien  eriaubt  und 
es  beyden  Theilen  überlassen,  einander  auszuweichen  und  wegen 
Eintheilung  der  Zeit  überein  zu  kommen.  Er  habe  die  Morgen- 
stunden von  4  bis  10  Uhr  gewählt  und   vorgestellt,  die  Katho- 
liken bedürften,    um   ihrer  Beicht   und  Gommunion  ordentlich 
abzuwarten,  wenigstens   dieser  Stunden.    Es  sey  ihm  an  sich 
selbst  zuwider  gewesen,  Lutheranern  den  Zutritt  in  eine  Kirdie 
zu  lassen,  die  immer  ausschliesslich  nur  von  Katholiken  besucht 
worden  wäre,  und  er  habe  gehofft,  man  würde  ihnen  am  Ende 
wohl  eine  andere  leere  Kirche  einräumen.   Alldn  diess  sei  nicht 
geschehen ;    die  Protestanten  hätten,    weil  er  sich   mit   ihnen 
nicht   freywillig  vertragen    wollte,    die   Hälfte  des   Vormittags, 
nämlich  die  Stunden  von  8  bis  12  Uhr  in  Anspruch  genommen, 
und  ihn,  der  sich  an  ihre  Prätensionen  nicht  kehrte,  während  des 
Gottesdienstes  in  der  Kirche  überfallen ;  es  sey  daher  ein  Auf- 
lauf und  ein  lärmender  Streit   entstanden,   so  da<9S  es  beynahe 
zu   Schlägereyen   gekommen  wäre ;   er  habe  aber  die  Vorsicht 
gebraucht,    die  Katholiken    noch  zur  Noth  von   Thätlichkeiten 
abzuhalten;    zwar  hätte  es  ihm   nur  einen  Wink  gekostet,    so 
wäre  das  Volk  über  die  Lutheraner  hergefallen  und  hätten  sie, 
als    die   schwächere    Partey,   tapfer    durchgeklopft.     Zu    einer 
andern  Zeit  wäre  das  wohl  angegangen  ;   aber  in  so  kritischen 
Umständen,  als  die  gegenwärtigen  seyen,  müsste  man  Klugheit 
vor  Recht  gehen  lassen.  Er  vertraute  mir  ferner,  sein  Benehmen 
habe  dennoch  auf  die  Obngkeit   Übeln  Eindruck  gemacht,    er 
fürchte,  in  Paris  angeklagt  und  zur  Verantwortung  gezogen  zu 
werden,   und  habe  eben   eine  Vertheidigungsschrift   abgefasst, 
die  er  mir  vorlas.    Sie  war  sehr  lange  und  zeugte  von   einem 
sehr   beschränkten   Kopfe,    von   viel   Intoleranz   und  von    noch 
mehr  Eigendünkel   Und    bischöflicher  Selbstgenügsam  keil.    Ich 
schüttelte   den   Kopf  und   äusserte   bescheiden,    wenn  ich   am 
Ghristtage  zugegen  gewesen  wäre,   so  hätte  ich  ihm  zur  fried- 
fertigsten Verlragsamkeit   gegen  die  Protestanten  gerathen  ;   es 
müsste  doch   möglich  gewesen  seyn,   die  Beichtenden  am  Vor- 
abend und  am  Feste  Morgens  von  4  bis  6  Uhr  abzuhören  und 
dann  mit  dem  Hochamt,  der  Predigt  und  Gommunion  bis  8  Uhr 
fertig  zu  werden.    Er  wollte  mir  dagegen   begreiflich   machen, 
diess  wäre   gerade  der  Weg  gewesen,   es  mit  den   Katholiken 


-    47    - 

selbst  vollends  zu  verderben ;  denn  sie  hielten  die  beeidigten 
Priester  und  Bischöfe  ohnehin  für  halbe  Lutheraner.  Ich  meynte, 
man  müsste  dergleichen  Beschuldigungen  nicht  achten,  sondern 
recht  thun,  and  die  Leute  belehren.  Allein  der  Bischof  war 
andern  Sinnes,  bezeugte  mir  aber  wegen  meiner  Aeusserungen 
so  wenig  Missfallen,  dass  er  mir  vielmehr  mit  vie  lern  Zutrauen 
von  meinen  künftigen  Verrichtungen  sprach  und  mich  auf  den 
komnoenden  Mittag  zu  Tische  lud.  Meine  Lust,  sein  Vikar  zu 
werden,  hatte  sich  dag^en  völlig  verloren.  Was  wollte  ich  in 
(Gesellschaft  eines  so  eiteln,  intoleranten  Mannes  beginnen? 
Wie  konnte  ich  hoffen,  nach  meiner  Ueberzeugung  lehren  zu 
dürfen?  Meine  Lage  war  bereits  sehr  unangenehm.  cDie  beste 
Partie,  die  du  ergreifen  kannst,»  sagte  ich  mir  selbst,  eist 
die,  dich  so  bald  möglich  von  ihm  los  zu  machen.»  Indessen 
wollte  ich  mich  von  ihm  gängeln  lassen,  bis  sich  ein  Seiten- 
weg &nde,  seiner  bischöflichen  Gewalt  zu  entwischen. 

Nun  führte  .  er  mich  zu  seinem  Freunde,  dem  Archivar. 
Er  war  nicht  mehr  zu  Hause.  Im  ehemaligen  Jesuiten-Colle- 
gium,  wo  wir  ihn  finden  sollten,  hiess  es,  er  habe  sich  eben 
ins  Comit^  du  District  verfügt ;  und  Martin  entschloss  sich,  ihn 
auch  dort  aufzusuchen. 

Als  wir  durch  ein  Bogengewölbe  gegangen  waren,  streckten 
uns  ein  Paar  Kanonen  die  drohenden  Oeffnungen  entgegen. 
Neben  den  Kanonen  waren  rechts  und  links  zwey  Thuren.  Auf 
jener  zur  Rechten  stand  die  Aufschrift :  Comitä  du  District,  aut 
der  andern:  District  de  Golmar.  Mein  Führer  trat  zweifelhaft, 
ob  er  sollte,  zur  ersten  hinein.  Es  wunderte  mich,  dass  er 
nicht  bessern  Bescheid  wusste,  und  ich  folgte  ihm  mit  er- 
schrockenem Herzen.  Der  gesuchte  Archivar  war  da,  kam  dem 
Bischöfe  entgegen  und  trug  alle  Anzeichen  von  Verl^enheit 
auf  dem  Gesichte.  Der  Bischof  sagte  einiges  von  dem,  was  er 
mit  mir  vorhabe,  bat  ihn  leise  um  Rath,  wie  es  einzuleiten 
sey,  um  bey  dem  Comit^  de  Surveillance  keine  Hindernisse  zu 
finden,  und  gerieth  bald  ins  Stocken ;  denn  zwey  Mitglieder  der 
Districts- Verwaltung,  die  im  Gomit^  arbeiteten,  verwandten  kein 
Auge  von  ihm,  und  horchten  genau  auf  seine  Worte.  Der  eine 
war  ein  wohlgebildeter,  schlanker,  ernster,  anstelliger  Arbeiter, 
der  seine  Geschäfte  mit  Leichtigkeit  zu  machen  schien;  der 
andere  ein  starker,  etwas  beleibter,  ungeschlachter,  polternder 
Mann.  Dieser  näherte  sich  mit  einer  höhnischen  Miene  und 
sagte  spottend :  cEh  voila,  Gitoyen  Martin !  wie  gerathen  Sie 
hieher!»  Der  Bischof  erklärte  ihm,  furchtsam  und  betroffen,  die 
Ursache  seines  Hierseyns.  Das  Districts-Mitglied  lachte  lautauf 
und  erwied^rte :  cHaha!  Sie  rekrutiren  in  Deutschland,  wenn 
es   im  Elsass   an  Gehülfen    fehlt!»    Er   wandte   sich  an  mich: 

2 


—    18    — 

c  Citoyen,  sie  kommen  zur  Unzeit ;  bey  uns  hat  die  Pfafferey 
ihr£nde;  hier  werden  sie  ihr  Heil  nicht  Onden.»  Der  Bischof 
sagte,  er  könnte  mich  sehr  wohl  brauchen.  —  c Könnten  Sie 
das?»  antwortete  der  spottende  Mann  mit  schalkhaftem  Tone: 
tSehr  gut  also,  Gitoyen  Martin,  dass  Sie  sich  hieher  verirrten! 
Es  scheint,  Sie  haben  im  Gomit^  de  Surveillance  ihre  Freunde,» 
(mit  einem  stechenden  Seitenblicke  auf  den  Archivar  sprach  er 
das)  cund  möchten  das  Heer  unsrer  geistlichen  Schmarotzer 
gern  auch  noch  mit  einem  Ausländer  vermehren.  Aber  dafür 
soll  gesorgt  werden  ;  verlassen  Sie  sich  darauf!  Gitoyen»,  sprach 
er  zu  mir,  cer  setzt  sein  Gresuch  schriftlich  auf  und  bringt  es 
Nachmittags  in  eigener  Person  hieher!»  —  Martin  nahm  Ab- 
schied ;  der  Archivar  begleitete  uns  und  sagte  mir  leise : 
c  Kommen  sie  frühe  nach  Tische,  so  treffen  sie  mich  allein !» 
und  gieng  schüchtern  wieder  zurück.  Der  Bischof  erzählte  mir 
sogleich,  als  wir  allein  waren,  der  Spötter  sey  ein  GeistUdier 
gewesen,  welcher  vor  einiger  Zeit  wegen  schlechter  Auffahning 
von  ihm  bestraft  ward,  habe  das  Priesterthum  abgeschworen 
und  öffentlich  seine  Formaten  (Zeugniss  der  Weihe)  verbrannt. 
Nun  spiele  er  den  patriotischen  Eiferer  und  suche  sich  für  die 
erlittene  Strafe  zu  rächen.  Ich  sollte  mich  nur  an  den  Archivar 
halten  und  übrigens  keiner  Furcht  Raum  geben.  Er  wollte  es 
gewiss  so  lenken,  dass  ich  bleiben  dürfte. 

Bittschrift.    Delib  erationen  darüber   bey  der 

Districts- Verwaltung. 

Kleinmüthig  begleitete  ich  ihn  nach  Hause,  gieng  in  meine 
Herberge  und  verfasste  die  verlangte  Bittschrift. 

Alle  meine  Angaben  belegte  ich  mit  schriftlichen  Beweisen, 
deren  etwa  8  Stücke  seyn  mochten.  Auch  die  Briefe  des  Bi- 
schofs und  meine  Formaten  befanden  sich  darunter.  Die  ganze 
Bittschrift  füllte  einen  halben  Bogen  in  Folio  und  war  an  das 
Gomit^  de  Surveillance  des  ersten  Kantons  der  Gemeinde  Kolmar 
addressirt. 

Sogleich  nach  Tische  eilte  ich,  das  Gomitö  du  District 
wieder  zu  finden.  Lange  lief  ich  vei^bens  durch  die  Gassen. 
Endlich  gelang  es  mir  doch.  Der  Archivar,  des  Bischofs  Ver- 
trauter, wartete  meiner  schon  lange.  Sogleich  übergab  ich  ihm 
meine  Bittschrift.  «Ach  Schade,»  rief  er  aus,  cdass  sie  der 
Bischof  im  Umgestüm  seines  Eifers  irre  geführt  hat !  Ihr  Pass 
und  ihre  Bittschrift  lauten  ja  an  das  Gomit6  de  Surveillance, 
und  nun  verschlägt  sie  das  Schicksal  hieher,  wo  lauter  Feinde 
des  Bischofs  sitzen !  Alles  wäre  gut  gegangen,  wenn  sich  Martin 
die  Unvorsichtigkeit   nicht  hätte  zu  Schulden  kommen  lassen. 


-    49    — 

sie  zu  mir  zu  bringen  und  sogleich  von  ihrer  Bestimmung  zu 
schwatzen.  Nun  ist  schwerlich  zu  helfen.  Man  ist  einmal  auf- 
merksam auf  sie  und  wird  dem  Gomit^  de  Surveillance  kaum 
gestatten,  unbefangen  über  die  Entscheidung  ihres  Schicksals 
zu  deliberiren.  Machen  sie  sich  nur  gefasst,  wieder  nach 
Deutschland  zurückgeschickt  zu  werden ;  diess  ist  noch  das 
Besfe,  was  ihnen  wiederfahren  kann.»  Indem  der  Archivar 
dei^eichen  Klaglieder  anstimmte,  trat  der  abgeschworene  Geist- 
liche, ein  Mitarbeiter  im  CSomit^,  herein  und  begrüsste  mich 
sogleich  mit  den  Worten :  cHa  I  schon  da,  Citoyen  Bischofs- 
knecht?» Und  zum  Archivar  sprach  er:  tWas  haben  Sie  doch 
mit  dem  Bischof  zu  schaffen,  Citoyen?  Sind  Sie  denn  sein 
Nikodemus,  der  Nachts  zu  ihm  ins  Haus  schleicht?»  Der  Ar- 
chivar stammelte  eine  Art  Entschuldigung,  nahm  nach  einer 
Weile  seinen  Stock  und  Hut  und  schlich  davon.  Der  Ex- 
geistliche blätterte  erst  in  einigen  Schriften,  und  wandte  sich 
dann  wieder  an  mich  :  <Hör'  er,  Citoyen,  kannte  er  das  Gesetz, 
dass  jeder  Deutsche,  der  sich  nach  Frankreich  wagt,  guilloti- 
nirt  werden  soll?»  Unverholen  antwortete  ich:  <Von  dem 
Gesetze  wusste  ich  und  fragte  ausdrücklich  an,  ob  es  auf  mich 
anwendbar  sey.  Man  gab  mir  die  deutlichste  Versicherung,  dass 
ich  nichts  zu  befürchten  hätte;  so  kam  ich.»  Indess  trat  der 
andere  jüngere  und  stillere  Arbeiter  des  Comit6*s  herein.  Der 
Exgeistliche  trug  ihm  meinen  Casus  auf  der  ungünstigsten  Seite 
vor  und  wollte  mich  durchaus  guillotinirt  wissen.  Der  andere 
forderte  mir  ein  gültiges  Zeugniss  ab,  dass  man  mir  die  Ver- 
heissung  gethan  habe,  ich  sey  von  dem  Gesetze  ausgenommen. 
Ich  zog  meine  Bittschrift  aus  der  Tasche  und  wies  die  beyden 
Briefe  des  Bischofs  vor,  die  ich  als  Belege  der  Bittschrift  bey- 
gefügt  hatte.  Sie  lasen  und  brachen  beyde  in  ein  lautes  Ge- 
lächter aus,  als  sie  auf  die  Aeusserungen  desselben  über  die 
Fortdauer  seiner  Besoldung  und  die  wunderthätige  Versorgung 
der  Arbeiter  im  Weinberge  des  Herrn  stiessen.  cEs  zeigt  sich,» 
rief  der  Exgeistliche  aus,  «dass  der  gute  Citoyen  da  ein  Be- 
trogener ist ;  der  Bischof  hat  ihn  hinter's  Licht  geführt ;  dieser 
muss  bestraft  werden.  Citoyen,  wie  viel  kostete  ihn  die  Reise? 
Gebe  er  die  Summe  nur  vollständig  an;  der  Bischof  soll  ihm 
alles  bis  auf  den  letzten  Häller  vergüten.»  —  «Um  Vergebung, 
Citoyen!»  sagte  ich,  «der  Bischof  hat  mir  zwar  die  Wahrheit, 
wie  ich  merke,  nicht  berichtet;  aber  ich  will  den  Schaden, 
der  mir  dadurch  zugieng,  gern  selbst  tragen ;  denn  es  ist  mir 
widerlich,  einen  andern  meinetwegen  in  Verlegenheit  gesetzt  zu 
sehen  !»  Zornig  antwortete  er :  «Ey  nun,  so  gehe  er  ohne  Ver- 
gütung zum  T l  —  doch  lass   er  sehen,  was  hat  er  da 

für  eine  Bittschrift  ?  —  0  pfui,  das  ist  ja  eine  ganze  Predigt  I 


—    20    - 

Wer  wird  das  Zeug  alles  lesen?  Und  die  Belege  hier  —  haha! 
Formaten  I  Will  er  die  öfienilich  verbrennen  lassen  ?>  —  eich 
liebe  den  Lärm  nicht,»  erwiederte  ich,  cden  eine  solche  auf- 
fallende Handlung  macht ;  und  glaube,  sie  fruchte  nichts, 
schade  aber  dem  Geistlichen  bey  allen  Schwachen.  Meine  Sache 
wäre,  still- thätig  durch  Belehrung  an  Verbreitung  der  Auf- 
klärung und  des  wahren  Patriotismus  zu  arbeiten.»  —  Der 
Exgeistliche  lachte  laut  auf  und  rief :  «Da  seht  mir  einmal  den 
ganzen  Kerl  an  !  Er  spricht  von  Aufkläiiing  und  ist  in  sttoer 
Kleidung,  in  seinem  Benehmen  und  allen  seinen  Bfanieren  ein 
Pfafif.  Er  hängt  sich  an  den  närrischen  Bischof  und  will  von 
Belehrung  des  Volks  sprechen ;  das  möchte  mir  eine  hübsche 
Belehrung  seyn  !»  —  Beschämt  stand  ich  da  und  sagte  nichts 
als :  cCitoyen,  Sie  kennen  mich  nicht  und  wollen  mich  nicht 
einmal  kennen  lernen,  sonst  hätten  Sie  wenigstens  meine  Bitt- 
schrift gelesen.»  —  «Die  mag  lesen,  wer  mehr  Müsse  hat,  als 
ich,»  erwiederte  er  spottend,  «man  kennt  den  Vogel  bald  am 
Gesänge  I  Wer  möchte  wohl  leeren  Worten  trauen?  Komm  er 
nur  mit  mir  zum  Präsidenten  des  Districts ;  wir  wollen  sehen, 
ob  der  mehr  Geduld  hat,  als  ichl» 

Er  führte  mich  zur  Thür,  auf  welcher  die  Aufschrift  para- 
dirte:  District  de  Colmar.  Wir  stiegen  eine  Treppe  in  ein 
grosses  Zimmer  hinauf,  wo  an  einer  langen  Tafel  die  Mit- 
glieder der  Districtsverwaltung  sassen,  von  einer  Menge  Bürger 
und  Bauern  umringt.  Wir  drängten  uns  durch  zum  Präsi- 
denten. Mein  Begleiter  legte  ihm  spottend  meine  Bittschrift 
vor  und  belehrte  ihn  kurz  über  meine  Erscheinung.  Der  Prä- 
sident durchblätterte  die  Belege  und  sprach :  cDer  närrische 
Pfaff  thut  sich,  wie  es  scheint,  auf  seine  pfäffischen  Zeugnisse 
etwas  zu  Gute.»  —  «Nichts  minders,»  sagte  ich,  «aber  ich  wollte 
Ihnen  beweisen,  dass  meine  Angaben  richtig  sind,  und  dass 
ich  ein  ehrlicher  Mann  bin.»  —  «Ein  Narr  mag  er  seyn,»  er- 
wiederte der  Jakobiner  mit  seiner  rothen  Mütze,  «dass  er  sich 
von  dem  aberwitzigen  Bischof  so  äffen  lässt.  Der  hat  uns  am 
Christtag  schöne  Streiche  gemacht.  Nun  beruft  er  noch  gar 
Helfershelfer  aus  einem  fei  ndlichen  Lande.  Er  soll  seinen  Lohn 
dafür  erhalten.  Hört  er,  Gitoyen  I  Mit  diesen  beyden  Biachofs- 
briefen  kommt  er  uns  ganz  zur  gelegenen  Zeit;  die  erhält  er 
auf  allen  Fall  nicht  wieder  zurück.  Sein  frommer  seeleneifr^r 
Bischof  soll  erfahren,  welchen  Grebrauch  wir  davon  zu  machen 
wissen.»  Er  reichte  jetzt  die  Bittschrift  sammt  den  Belegen 
einem  Mitgliede  des  Dis  tncts  hin  und  trug  ihm  auf,  sie  durch- 
zulesen. Das  Mitglied  rief  mich  zu  sich  und  fieng  an^  eine 
kleine  Stelle  zu  lesen  ;  aber  plötzlich  warf  er  alles  auf  den 
Tisch   und  rief  aus :  «Wer  hätte  Geduld  genug,  das  lange  Ge- 


—    21     — 

Wäsche  zu  durchlaufen?  Wir  können  die  Zeit  nicht  so  ver- 
derben. Scher'  er  sich  mit  seinem  Quark  zum  Gomit6  de  Sur- 
veillance,  an  das  er  addressirt  ist!»  Hiemit  gab  er  mir  meine 
Schriften  in  die  Hand ;  mein  Begleiter  nahm  mich  wieder  in 
Empfang  und  führte  mich  ins  Gomit^-Zimmer  zurück.  «Hier 
sitz  er  auf  den  Stuhl,»  sprach  er  trotzig,  «bis  eine  Wache 
kommt  und  ihn  zum  National-Agenten  fuhrt,  der  ihn  wohl 
verwahren  wird.»  Das  Verwahren  gefiel  mir  gar  schlecht ;  aber 
was  wollte  ich  machen?  Ich  stand  einmal  in  Feindes  Gewall 
und  musste  mit  mir  anfangen  lassen,  was  man  eben  wollte. 

Der  Na  lional- Agent. 

Lange  sass  ich  da  und  beobachtete,  wie  die  Herren  ihre 
Geschäfte  behandelten.  Endlich,  als  die  Sonne  hinabs  ank,  er- 
schien ein  National-Gardist,  dem  man  befahl,  mich  zum 
National-Agenlen  zu  führen.  Meine  Bittschrift  mit  allen  ihren 
Belegen  wurde  mir  in  einem  versiegelten  Päckchen  zugestellt, 
um  sie  dem  National-Agenten  zu  übergeben.  Auf  dem  Wege 
plauderten  wir  ziemlich  vertraut  über  die  neue  Ordnung  der 
Dinge,  mit  welcher  der  Gardist  gar  nicht  zufrieden  schien.  Ein 
gutes  Trinkgeld  beym  Eintritt  ins  Haus  des  National-Agenten 
machte  den  Mann  so  treuherzig,  dass  er  mir  sagte:  cCitoyen, 
wenn  sie  in  Gefahr  sind,  hier  unglücklich  zu  werden,  so  sagen 
sie  mir's ;  ich  begleite  sie  vors  Thor,  und  sie  sollen  frey  hin- 
gehen, wohin  es  ihnen  beliebt.  Wegen  einer  Ausrede  lassen 
sie  mich  sorgen!»  —  eich  danke  ihm,  lieber  Mann,»  erwiederte 
ich,  «für  seine  Bereitwilligkeit,  mir  los  zu  helfen;  aber  ich 
kann  keinen  Gebrauch  davon  machen;  und  sehe  die  Gefahr, 
in  der  ich  schwebe,  eben  nicht  für  wichtig  an.»  Unter  freund- 
lichem Händedruck  schieden  wir  von  einander. 

Es  war  ein  sehr  unansehnliches  Bürgerhaus  in  der  Vor- 
stadt, wo  der  National-Agent  wohnte.  Als  ich  ins  Wohn- 
zimmer trat,  biess  mich  eine  nicht  unartige  Frau  mit  ein  Paar 
Kindern  willkommen.  Dieser  Umstand  gab  mir  gute  Hoffnung; 
denn  ich  dachte:  «Ein  Mann,  der  Gatte  und  Vater  ist,  kann 
unmöglich  so  grausam  und  gefühllos  seyn,  als  ein  hagestolzer 
Pfaff.»  ^  cHaben  sie  Geduld,  Citoyen  I»  sagte  die  wackere  Frau, 
cbis  mein  Mann  aus  dem  Spital  zurückkommt!  Es  ist  eine 
Menge  V^erwundeter  dort  angelangt,  die  alle  von  neuem  ver- 
bunden werden  müssen.»  Also  ist  der  Mann  ein  Wundarzt, 
schloss  ich,  und  machte  mich  von  seiner  Seite  auf  wenig  Scho- 
nung gefasst.  Bis  er  kam,  las  ich  im  Martial,  den  ich  bey  mir 
führte,  und  beantwortete  die  seltenen  Fragen  der  Hauswirthin, 
die  fleissig   nähend   mir  gegenübersass.    Endlich   langte    Herr 


—    22    — 

Deps,  der  National-Agent  an.  Seine  Frau  gieng  ihm  vor  die 
Thür  entgegen,  sobald  sie  seine  Tritte  auf  der  Treppe  vemahm. 
Ich  hörte  sie  halblaut  sagen :  «Es  erwartet  dich  drinnen  ein 
Frenider ;  er  scheint  mir  ein  stiller  ordentlicher  Mensch.  Schon 
lange  sitzt  er  am  Tische  und  Uest.»  £an  junger  frischer  Mann 
in  Jakobiner-Kleidung  trat  herein  und  begrüsste  mich  sehr 
freundlich.  Sogleich  übergab  ich  ihm  mein  Päckchen,  erzahlte 
mit  Eifer,  wie  sonderbar  ich  bey  der  Districts-Verwaltung  be- 
handelt worden  sey,  setzte  meinen  Patriotismus  ins  gehörige 
Licht  und  bat  ihn  um  Schutz  und  Hülfe.  «Die  Herren  haben 
sich  übereilt,»  sagte  er:  «sobald  sie  den  närrischen  Bischof 
sahen,  so  glaubten  sie,  in  ihnen  nichts  weiter  als  einen  Pfaffen- 
knecht  vor  sich  zu  haben,  und  beurtheilten  sie  sofort  nach 
diesem  Vorurtheile.»  Er  las  meine  Bittschrift  mit  ihren  Be- 
legen ganz  durch,  klopfte  mir  freundlich  auf  die  Schulter  und 
sagte  :  «Gutes  Muthes,  Citoyen,  ich  sehe,  sie  wollten  sich  nur 
vermittelst  des  Bischofes .  hereinschwärzen.  Sie  haben  wahre 
Liebe  für  Freyheit  und  Aufklärung.  Solche  Leute  branchen 
wir !  Geben  sie  keinem  trüben  Gedanken  Raum  1  Das  Comite 
des  Districts  schreibt  mir  zwar,  ich  soll  sie  in  Verwahrung 
nehmen  ;  aber  ich  finde  das  nicht  nöthig.  Geben  sie  mir  Hand- 
schlag und  Wort,  dass  sie  von  hier  nicht  weggehen  wollen, 
ohne  Abschied  bey  mir  genommen  zu  haben,  so  bin  ichs  zu- 
frieden.» (Ich  versprach  mit  Handschlag,  was  er  verlangte.) 
«Ihr  Schicksal^»  fuhr  er  fort,  «soll  bald  eine  ganz  andere  Wen- 
dung erbalten,  verlassen  sie  sich  darauf!  Ich  nehme  sie  in 
meinen  Schutz;  fürchten  sie  nichts I  Ohne  meine  Beystimmung 
kann  ihnen  kein  Haar  gekrümmt  werden.  Ich  sehe,  sie  sind 
ein  erfahrner  Schriftsteller  ;  wir  bedürfen  bey  unsrer  Munici- 
palität  eines  geschickten  Uebersetzers  .  franzosischer  Verord- 
nungen; wer  weiss,  ob  ich  ihnen  diese  Stelle  nicht  zuwenden 
kann?  Morgen  kommen  sie,  frühe  um  8  Uhr,  in  die  Munici- 
pahtät,  wir  wollen  sehen,  ob  sie  dort  nicht  zu  gebrauchen  sind! 
Abends  um  4  Uhr  aber  erscheinen  sie  vor  dem  Comite  de  Sur- 
veillance,  das  im  ehemaligen  Jesuiten-GoUegium  seine  Sitzungen 
hält.  Mein  Vater  präsidirt;  ich  will  iha  im  voraus  zu  ihren 
Gunsten  stimmen.  Sprechen  sie  herzhaft  und  kühn ;  dann  wird 
alles  gut  gehen  !> 

Das   Gomit^   de   Survei  llance. 

Den  9.  Nivose  (29.  Dec.)  erschien  ich  zur  bestimmten  Zeil 
in  der  Municipalität.  Gitoyen  Deps  stand  unter  dem  Thore,  als 
ich  kam.  Ich  zog  meinen  Hut.  «Pfui,»  rief  er,  «lassen  sie  das 
pfaffische  Geremonienwesen !    Im  Lande  der  Freyheit  sind  wir 


—    23    — 

alle  gleich.»  Hiemit  riss  er  mir  den  Hut  aus  der  Hand  und 
drückte  ihn  derb  und  fest  auf  meinen  Kopf.  Die  Beamten  bey 
der  Municipalität  fanden  freyiich,  dass  sie  eines  Cioncipisten  und 
Uebersetzers  bedurften.  cAber^»  sagten  sie,  «der  Citoyen  er- 
hält doch  nicht  so  viel  Besoldung,  als  er  zu  seinem  Lebens- 
unterhalt nöthig  hat^  wie  will  er  sich  denn  fortbringen?  Es 
kann  lange  anstehen,  bis  er  verdient,  was  er  braucht?»  Auf 
diese  Weise  lehnten  sie  es  ganz  gelinde  ab,  mich  anzustellen. 
Aber  Deps  verlor  den  Muth  nicht.  «Bleiben  sie  nur  noch  eine 
Weile  hier,»  sprach  er,  «es  wird  sich  alles  geben!» 

Abends  stellte  ich  mich  vor  dem  CSomitö  de  Surveillance. 
Man  setzte  mich  neben  dem  Präsidenten  an  einen  runden  Tisch, 
um  welchen  die  Mitglieder,  etwa  12  an  der  Zahl,  ihre  Plätze 
einnahmen.  Ich  musste  die  Begegnung,  die  ich  bey  der  Districts- 
Verwaltung  des  bischöflichen  Geleites  wegen  erfahren  hatte, 
ausführlich  erzählen,  meine  Bittschrift  Punkt  für  Punkt  vor- 
lesen, und  mit  denjenigen  Erläuterungen  begleiten,  welche  die 
Mitglieder  bey  jeder  Stelle  mir  abfragten.  Allmählig  gerieth  ich 
in  Feuer  und  liess  meinen  Freyheitssinn  in  vollem  Glänze 
strahlen.  Einige  Mitglieder  riefen  aus :  «Schade,  wenn  wir  solch 
einen  Mann  wieder  ins  Ausland  schickten!  Er  ist  ein  wahrer 
Patriot!»  —  «Citoyen,»  rief  ein  anderer,  «wir  könnten  einen 
Redner  im  Tempel  der  Vernunft  brauchen;  sie  scheinen  mir 
die  ächten  Grundsätze  der  VernunfLreligion  zu  haben ;  möchten 
sie  sich  wohl  dazu  verstehen,  dem  Volke  die  Grundsätze  der 
Moral  zu  erklären?»  —  «Gar  gern,»  antwortete  ich,  «nur  be- 
soi^'  ich,  meine  Vorlesungen  möchten  nicht  immer  ganz  mit 
dem  Sinne  derjenigen  harmoniren,  welchen  gegenwärtig  die 
Belehrung  des  Volkes  anvertraut  ist.»  —  «Lassen  sie  diese 
Sorge!»  erwiederte  der  Mann,  «wir  wollen  ihnen  schon  sagen, 
was  sie  vortragen  sollen  oder  nicht !»  Ich  zuckte  die  Achseln 
und  dachte :  «Hier  wärst  du  also  wieder  auf  dem  Punkte  pre- 
digen zu  müssen,  was  andern  gefiele!  Das  ist  vielleicht  noch 
schlimmer,  als  die  Censur  des  Herrn  Domprobsts !»  — Ein  dritter 
im  Jakobiner-Costume  rief:  «Der  ganze  Vorschlag  ist  ein  toller 
Einfall !  Wie  könnt  ihr  glauben,  dass  ein  Pfafif  in  einem  andern 
als  im  pfaffischen  Tone  öffentliche  Reden  halten  werde?  Seine 
Vorlesungen  würden  Predigten  werden,  Futter  für  Einfaltige, 
wie  man  es  vor  kurzem  noch  von  allen  Kanzeln  den  christ- 
lichen Schafen  vorschüttelte!  Ich  behaupte,  die  Districts-Mit- 
glieder  hatten  Recht,  als  sie  den  eingedrungenen  Bischofsknecht 
wieder  über  die  Grenze  zu  befördern  befahlen.»  Der  Präsident 
erwiederte :  «Der  District  hat  uns  nichts  zu  befehlen ;  wir  selbst 
haben  die  Köpfe  noch  nicht  verloren.»  —  «Wer  sich  von  einem 
Bischof  aufführen  lässt,»  fuhr  der  Jakobiner  fort,  «und  in  all 


^    24    — 

seinem  Wesea  so  ganz  Pfaff  ist,  wie  der  Citoyen  da,  braucht 
nicht  lange  geprüft  zu  werden ;  der  erste  Anblick  verratfa,  was 
man  an  ihm  hat.  Er  soll  wieder  über  die  Grenze !  Das  ist  noch 
Gnade!  Denn  er  wusste  das  Gesetz  gegen  die  feindlichen  Aus- 
länder und  drängte  sich  doch  ins  Land!  Schonung  g«iug, 
wenn  er  noch  mit  dem  Leben  davon  kommt  U  —  «Ich  be- 
haupte,» begann  jetzt  ein  anderer  Mann,  mit  seiner  rothen 
Fuchsruthen-Mütze,  «die  Ursachen,  welche  den  Fremden  hier 
bewogen  haben,  ins  Land  zu  schleichen,  müssen  erst  näher 
geprüft  werden.  Man  nehme  ihn  vorerst  in  engere  Verwahrung 
und  untersuche  genau,  ob  sein  Patriotensinn  nicht  eine  kunst- 
liche Maske,  und  seine  Correspondenz  mit  dem  verdächtigen 
Bischöfe  nicht  eine  List  war,  um  ungescheuter  den  Spionen 
machen  zu  können.»  Noch  ein  anderer  rief:  «Der  Giloyen  dort 
gesteht,  er  habe  das  strenge  Gesetz  gegen  die  Auswärtigen 
gekannt.  Wie  konnte  er  glauben,  dass  ein  einfältiger  Bischitf 
in  Verordnungen,  die  der  National-Konvent  feyerlich  erlassen 
hat,  zu  dispensiren  vermöge?  Unmöglich  konnte  er  einen  so 
einfaltigen  Gedanken  hegen.  Er  hat  sich  also  geradezu  gegen 
das  Gesetz  vergangen  und  verdient,  den  Kopf  unter  der  Guil- 
lotine zu  verlieren.»  —  «Gegen  dieses  Räsonnement  ist  nichts 
einzuwenden  1»  sprachen  ein  Paar  Beysitzer.  —  «Ich  hütte  viel 
dagegen  einzuwenden,»  erwiederte  ich,  «freylich  glaubte  idi 
nie,  dass  mich  der  Bischof  vom  Gesetze  dispensiren  können 
aber  ich  fragte  ihn  schriftlich,  ob  es  auf  mich,  als  aufrichtigen 
Patrioten,  anwendbar  sey  und  er  betheuerle  mir  feyeriic-h^  es 
sey  nicht  anwendbar.  £he  man  jemanden  verdammt,  muss  man 
doch  vorläufig  einen  Blick  auf  sein  Betragen  werfen  und  aeben, 
ob  aus  demselben  eine  böse  Absicht  hervorleuchtet.  Niemals 
kam  in  mein  Herz  nur  der  geringste  schlimme,  der  Republik 
nachtheilige  Gedanke  ;  wäre  ich  ein  Spion,  so  hätte  ich  mich 
nicht  so  treuherzig  und  genau  nach  der  Vorschrift  des  Ciene- 
rals  vor  diesem  Gomit^  gestellt ;  es  wäre  mir  ja  freygestanden, 
erst  nach  Belieben  zu  spioniren  und  meine  Absichten  auszu- 
fuhren und  dann  an  die  Grenze  zu  laufen,  um  dem  General 
zu  sagen,  man  habe  mich  in  Coknar  nicht  aufgenommen ;  so 
wäre  ich  glücklich  entkommen.  Alles  diess  that  ich  nicht  und 
ich  muss  mich  sehr  wundern,  dass  einige  Gitoyens  hier  den 
Ton  der  Wahrheit  vom  Tone  des  Betruges  nicht  besser  zu 
unterscheiden  wissen.»  —  «Bitter,»  polterte  ein  hagerer  langer 
Mann  :  «Vergesse  er  nicht,  dass  er  mit  einer  Obrigkeit  spricht!» 
—  «Citoyen,»  sagte  ich  sanft,  «ich  weiss  nicht,  was  Sie  be- 
leidigen konnte;  aber  ich  habe  ein  gutes  Gewissen!»  —  «Bej 
meiner  Seele!»  rief  Johann  Kühler,  der  ältere,  ein  ehrlicfaer 
Handwerker,  aus  ;  «Per  Citoyen  scheint  mir  ein  i'ecbtscbaffen^ 


-    25    — 

Patriot  und  ein  braver  Mann  zu  seyn.  Ich  habe  drey  Kinder; 
wenn  er  Anfangs  wegen  seines  Unterhaltes  verlegen  wäre  und 
wollte  sich  entschliessen,  meine  Kinder  zu  unterrichten,  so 
gäbe  ich  ihm  gern  Wohnung  und  Kost.>  —  «Das  war  eine 
recht  einfältige  Betheurung,»  sagte  jetzt  Citoyen  Burghard,  ein 
junger  Arzt,  «bey  meiner  Seele!  was  soll  denn  das  heissen? 
Das  klingt  ja  nichts  minder  als  republikanisch  !  Seele !  Seele ! 
der  Mensch  ist  Materie!»  —  «So  hast  du  keine  Seele?»  rief 
wörtlich  ein  dritter,  «Bist  du  also  ein  Hund  !»  Hierüber  fieng 
sich  ein  hitziger  Streit  unter  den  Beysitzern  an ;  der  Präsident 
sagte  mir,  wahrscheinlich  um  die  Pudenda  der  ungezogenen 
Citoyens  so  bald  als  möglich  meinem  Anblicke  zu  entziehen : 
»Treten  sie  nun  ab  ins  Nebenzimmer,  bis  wir  ihretwegen  einen 
Entschluss  gefasst  haben  I»  Ich  gieng  während  der  Debatten 
davon,  setzte  mich  im  Nebenzimmer  ans  Licht,  zog  meinen 
Martial,  der  nebst  andern  Dichtem  wie  ein  Diurnal  (kleines 
Brevier)  gebunden  war,  aus  der  Tasche  und  las  darin,  um 
keinen  Grillen  Raum  zu  geben.  Dennoch  musste  ich  mir  sagen : 
Offenbar  hat  sich  das  Comit^  des  Districts  mit  den  Jakobinern 
im  Comil6  de  Surveillance  verstanden,  um  dich  zu  entfernen. 
Sie  sind  noch  dazu  die  mehrern  ;  wahrscheinlich  wirst  du  wieder 
an  die  Grenze  geschickt.  Doch  das  ist  immer  besser,  als  hier 
gefangen  zu  sitzen  und  dein  Geld  unnütz  zu  verzehren. >  Ein 
Mitglied  des  Comit^  trat  nach  einer  Weile  herein,  schlich  hinter 
mich  und  lauschte  über  die  Schultern  in  mein  Büchlein.  <0 
wehe,»  rief  er  aus,  «sie  beten  das  Brevier !  Ist  das  ihre  Auf- 
klärung?» —  Ehe  ich  zum  Wort  kommen  konnte,  war  er 
wieder  fort.  Bald  rief  man  mich  wieder  hinüber  ins  Comite, 
und  die  erste  Frage  des  Präsidenten  lautete:  «Ist  es  wahr, 
Citoyen?  Haben  sie  eben  das  Brevier  gebetet?»  —  Ich  lächelte: 
c  Sogleich,  Citoyens,  sollen  Sie  mein  Brevier  sehen !»  Ich  zog 
meine  Dichter  aus  der  Tasche  und  legte  sie  auf  den  Tisch. 
Der  Präsident  öffnete  das  Futteral,  man  sah  hinein  und  brach 
in  ein  lautes  Gelächter  aus.  «Beym  Teufel,  Bruder,  was  hast 
du  gesehen?»  rief  Citoyen  Burghard.  —  «Horcht,  horcht !»  rief 
ein  anderer,  «Burghard  glaubt  nicht ,  dass  wir  Seelen  haben ; 
aber  er  glaubt  an  den  Teufel.»  —  Der  Präsident  sprach  ernst- 
haft: «Citoyens,  fangen  Sie  nicht  wieder  davon  an  !»  —  «Ver- 
wünscht!» sagte  derjenige,  der  mich  als  einen  Brevierbeter 
angegeben  hat,  «ich  sah  die  Verse  für  Psalmen verse  an.  Da 
hab'  ich  mich  garstig  betrogen.»  —  «Ach  !»  rief  Johann  Kühler 
aus,  «Bronner  war'  es  werth,  dass  wir  ihn  behielten  !»  —  «Wäre 
der  District  nicht  dagegen,  so  wünschte  ich  es  auch,»  sagte 
Burghard,  «ich  habe  ein  Kind  und  wäre  froh,  wenn  der  Gi- 
toyen  sein  Lehrer  würde.  Kost,  Wohnung  und  ein  Stück  Geld 


1 


—    26    — 

für  Kleidung  wollte  ich  ihm  gern  geben.  Er  versteht  auch  Bo- 
tanik ;  das  wäre  für  mich  eine  angenehme  Gelegenheit,  diese 
Wissenschaft  zu  studieren.»  —  «Ich  sehe^  es  wird  mir  nicht  an 
Unterhalt  fehlen,»  sagte  ich,  «verschaffen  Sie  mir  also  nur  die 
Erlaubniss  hier  zu  bleiben,  so  werde  ich  ein  glücklicher  Mensch 
seyn !» —  «Die  Mehrheit  der  Stimmen  fiel  gegen  sie  aus»,  sprach 
jetzt  der  Präsident,  «aber  noch  ist  nicht  alle  Hoffnung  ver- 
loren; vielleicht  lassen  sich  die  Mitglieder  des  Districts  noch 
umstimmen.  Ohne  das  Widerstreben  derselben  fanden  wir  kein 
Bedenken,  sie  hier  zu  behalten.  Haben  sie  also  noch  ein  Paar 
Tage  Geduld !  Vielleicht  ändert  sich  alles  zu  ihrem  Vortheile ! 
Morgen  Abends  erscheinen  sie  wieder  hier  in  diesem  Zimmer  !• 

Man  gieng  aus  einander.  Johann  Kühler  begleitete  mich 
eine  grosse  Strecke  weit  und  lud  mich  auf  den  folgenden  Tag 
zum  Mittagessen  ein.  Da  ich  seine  Wohnung  nicht  wusste,  so 
versprach  er,  mich  abzuholen. 

Am  Dekadi  den  10.  Nivose  (30.  Dec.)  führte  er  mich  in 
ein  Kaffeehaus,  wo  eine  Menge  Bürger  und  Soldaten  bey  ihren 
Tassen,  französisch  oder  deutsch,  kannegiesserten.  Wir  tranken 
eben  unsere  Schale  Ghokolade;  da  stürzte  plötzUch  Gitoyen 
Burghard  zur  Thür  herein  :  «Wo  ist  der  Fremde  ?  Der  deutsche 
Geistliche?»  Er  erblickte  mich  und  winkte  mir  in  eine  Ecke. 
Johann  Kubier  gieng  nicht  von  meiner  Seite.  «Gitoyen !»  sagte 
Burghard,  «der  District  ist  sehr  aufgebracht,  dass  sie  noch  hier 
sind.  Wenn  ich  ihnen  zu  ihrem  Besten  rathen  darf,  so  nehmen 
sie  ihren  Pass  und  ihre  Schriften  zurück  und  gehen  sogleich 
an  die  Grenze.  Wir  haben  zwar  gestern  die  Expedition  des 
Passes  zurückbehalten,  weil  der  Nationalagent  äusserte,  er  könne 
sie  brauchen ;  aber  der  District  ist  ganz  wider  sie  und  hat 
nun  einmal  fest  beschlossen,  sie  hier  nicht  zu  dulden.  Der 
Bischof  ist  ihr  Unglück ;  sie  sehen,  alle  ihre  Schriften  erhalten 
sie  zurück,  nur  seine  Briefe  nicht.  Folgen  sie  mir,  um  Ver- 
druss  zu  verhüten,  und  gehen  sie^  je  ehender  je  lieber,  über 
die  Grenze  I»  Unter  dem  Pass  des  Generals  stand  geschrieben: 
Renvoy^  au  quartier  g^n^ral  de  Blotzheim  par  le  Gomit^  de 
Surveillance  de  Golmar  ce  nonidi  de  la  I.  decade  de  Nivose  de 
l'an  2.  de  la  R^publique  fran9ai8e. 

Vü  Burghard.  Neukirch  Secret. 

«Wer  wird  auch  so  ängstlich  thun?»  sagte  Kühler,  «Citoyen 
Burghard,  Bronner  bleibt  hier,  bis  es  beym  Gomite  de  Sur- 
veillance völlig  entschieden  ist.  Gestern  blieb  der  Abschiuss 
in  suspensa,  und  was  will  man  dagegen  haben,  wenn  ich  ihn 
zu  meinem  Hauslehrer  anstelle?»  —  «Gitoyen  Brenner,»  er- 
wiederte  Burghard  frostig,  «ich  habe  ihnen  treulich  gesagt,  was 
zu  sagen  war.    Nun  thun  sie  auf  eigene  Gefahr  alles,  was  ihnen 


—    27    — 

beliebt!»  Hiemit  führte  er  sich  eiligst  ab.  Ich  ward  nach- 
denkend. Kubler  ermunterte  mich  und  sagte :  «Kümmern  sie 
sich  nicht !  So  lange  ihnen  der  National-Agent  gut  ist,  haben 
sie  nichts  zu  fürchten;  mag  die  Partey  des  Districts  lärmen, 
so  lange  sie  will.  Wer  kann  ihnen  was  anhaben  ?  Er  allein 
darf  sie  festsetzen.  Nachmittags  wollen  wir  ihn  besuchen. 
Kommen  sie  nun  getrost  mit  mir  in  den  Tempel  der  Vernunft!» 

Der  Tempel  der  Vernunft. 

Ich  folgte  ihm.  Als  ich  in  den  Tempel  trat,  aus  dem  alle 
Kirchenstühle  und  Altäre  weggeräumt  waren,  fiel  mir  sogleich 
an  dem  Platze,  wo  sonst  der  Hochaltar  prangte,  ein  Theater  in 
die  Augen )  auf  dem  sich  ein  hoher  feuerspeyender  Berg  erhob. 
Am  Abhang  des  Berges  standen,  wenn  mein  Führer  mich  recht 
berichtete,  Freyheit  und  Wahrheit,  weiter  unten  Tapferkeit 
und  Industrie  einander  gegenüber.  Es  waren  Figuren  auf 
Bretter  gemahlt  und  ausgeschnitten.  «Als  man  den  Tempel 
zum  erstenmal  öffnete,»  sagte  Kühler,  «hatte  man  oben  ein 
natürliches  Feuer  angebracht.  0  das  war  schön !  Aber  beinahe 
hätte  sich  ein  Unglück  ereignet.  Die  Flamme  ergriff  das  Ge- 
stelle, auf  dem  die  grünen  Tücher  ruhen,  welche  die  Seiten 
des  Bergeis  bilden,  und  man  hatte  nicht  wenig  Mühe,  das  Feuer 
zu  löschen.»  Zu  ebener  Erde  rechts  und  links  standen  gemahlte 
Pyramiden  mit  Aufschriften,  die  ich  verloren  habe,  ebenfalls 
aus  Brettern  geschnitten.  Die  Municipalität  setzte  sich  des 
ephemerischen  Spiel werks  wegen  in  keine  grosse  Kosten.  Das 
Ganze  konnte  mir  unmöglich  gefallen.  «Was  will  man  mit 
dieser  armseligen  Vorstellung?»  dachte  ich,  «wie  einfältig,  dass 
sich  die  Jakobiner-Partey,  der  Berg  selbst  vergöttert!  Meynt 
man  etwa,  diess  elende  Spielwerk  könne  dem  Volke  seine  Al- 
täre ersetzen?  Hier  ist  ja  gar  nichts,  was  auf  den  Verstand 
wirken,  nichts  was  das  Hei*z  befnedigen,  erheben  oder  rühren 
kann,  nicht  einmal  eine  Vorstellung,  die  gefallig  den  Sinnen 
schmeichelt.  Einfältige  Erfindung!  Du  bist  unmöglich  für  die 
Dauer!» 

Ein  lautes  Gerassel  vieler  Trommeln  kündigte  nun  die 
Ankunft  der  Obrigkeiten  an.  Eine  Menge  Tambours,  denen 
eine  zahlreiche  Wache  folgte,  rückten  in  die  Kirche  ein ;  die 
Gewölber  dröhnten  vom  erschütternden  Trommelgelärme.  Die 
Departements  Verwalter  und  die  übrigen  Beamten,  grösstentheils 
in  jakobinischer  Kleidung^  mit  ihren  dreifarbigen  Schärpen  und 
breiten  Bändern  geschmückt,  die  sie  wie  Ordensbänder  quer 
über  die  Brust  trugen,  bestiegen  eine  Bühne  zwischen  zwey 
Kirchenpfeilern  und  winkten  den  Tambours  Stillschweigen.  So- 


—    28    — 

gleich  begann  auf  dem  hohen  Musikchore  feierlicher  Trompeten- 
und  Paukenschally  die  Orgel  fiel  darein,  und  das  ganze  Volk 
sang  unter  Begleitung  vieler  Blas-Instrumente  die  Marseüler- 
Hymne  in  einem  ziemlich  lebhaften  Zeitmasse.  Jede  Strophe 
ward  mit  einem  fröhlichen  ga,  ira  beschlossen.  Dann  begann 
ein  Beamter  seinen  Vortrag,  kündigte  mit  Jubel  die  Eroberung 
von  Toulon  an,  Hess  weitläufige  Berichte  in  französischer  und 
deutscher  Sprache  vorlesen  und  streute  gedruckte  Lieder  von 
der  Buhne  unter  das  Volk.  Einige  Diener  giengen  herum  und 
theilten  ebendieselben  Blätter  unter  die  Anwesenden  aus.  Alle 
Augenblicke  rief  man :  Vive  la  Röpublique !  oder  ga  va  I  und 
klatschte  in  die  Hände.  Dann  sang  man  die  ausgelbeilten 
Lieder  in  ihrer  eigenen  Melodie.  Ich  war  nicht  zudringlich 
genug  und  erhielt  also  kein's.  Kühler  schien  jede  meiner 
Mienen  zu  beobachten  und  fragte  mich  von  Zeit  zu  Zeit :  cWie 
gefallt  es  ihnen?»  Das  Singen  und  die  Nachrichten  von  der 
Einnahme  Toulons  (3.  Dec.  1793-21.  Dec.  1793)  gefielen  mir; 
ich  konnte  also  mit  gutem  Gewissen  antworten,  wie  er  es 
wünschen  mochte.  Ein  B&imter,  dessen  Rednergaben  eben 
nicht  vorzüglich  waren,  hielt  dann  eine  lange  Rede  von  den 
Pflichten  eines  Bürgers,  worauf  man  die  Feyerlichkeilen  mit 
Gesängen  und  Insfrumental-Musik  beschloss.  Die  Tambours, 
die  Wache  und  die  Beamten  in  ihrer  Mitte  zogen  ab,  wie  sie 
gekommen  waren.  Während  der  langen  Rede  hatte  ich  be* 
merkt^  dass  die  Frauenzimmer  gerade  so  unruhig,  wie  bey 
katholischen  Predigten,  durch  den  Tempel  klappten ;  die  meislen 
trugen  nur  hölzerne  Schuhe,  die  sie  aber  gar  zierlich  mit 
Bändern  und  allerley  glänzendem  Ueberzug  vermummt   hatten. 

Charakterzüge.    Entschluss  in  die  Schweiiz 
zurückzukehren.     Jakobiner. 

Vor  und  nach  Tische  mussten  Kühlers  Kinder  nach  guter 
alter  Sitte  beten.  Alles  zeigte  mir,  dass  ich  bei  einem  redlichen 
Christen  und  Handwerker  eingesprochen  hatte.  Nach  dem 
Mittagessen  führte  er  mich  zum  National-Agenten  Deps,  der 
von  neuem  meine  Partey  ergriff.  «Bleiben  sie  hier,  Gitoyenli 
sagte  er,  cund  lassen  sie  sich  nichts  anfechten!  Ich  verp&nde 
mein  Wort  (zugleich  reichte  er  mir  die  Hand),  ces  soll  ihnen 
kein  Leid  widerfahren,  wenn  ich  nicht  positiven  Befehl  erhalte, 
sie  fest  zu  setzen.  Erhalte  ich  den,  so  verlassen  sie  sich  darauf, 
ich  gebe  ihnen  vorläufig  einen  Wink ;  dann  ist  es  aber  höbe 
Zeit,  dass  sie  gehen  I  dann  säumen  sie  keinen  Augenblick  U 

Man   plauderte   von   allerley   Neuigkeiten   des   Tages    und 
unterhielt  sich,    als    mehrere   Gäste   kamen,  auch  mit  lustigen 


—    29    — 

Einfallen  und  —  Spolt  über  Volksreligion.  Ich  will  nur  einen 
Zug  anführen,  damit  man  sich  einen  Begriff  von  dem  damals 
herrschenden  Tone  machen  kann.  Ein  Gast  deutete  auf  ein 
Gemakle  über  die  Zimmerthür,  welches  den  heil.  Joseph  vor- 
stellte, wie  er  den  Esel  führt,  auf  dem  Maria  mit  dem  Kinde 
sitzt;  eine  sogenannte  Flucht  nach  Ägypten,  c Bruder,  wie 
magst  du  das  einfältige  Bild  da  hangen  lassen?»  —  cAergere 
dich  nicht!»  antwortete  der  Wirth,  c meine  Frau  lässt  sich 
nichts  wegwerfen  ;  da  machte  ich  mir  aber  neulich  einen  rechten 
Spass ;  ich  Hess  den  Mahler  ^  kommen  (du  kennst  den  alten 
bigotten  Kerl)  und  fragte  ihn,  ob  er  dem  Joseph  da  oben  nicht 
ein  Paar  hübsche  rothe  Hörner  über  die  Stirne  mahlen  wollte?» 
—  «Neinl»  antwortete  er  sehr  nachdrücklich  und  bestimmt 
und  schaute  mich  betroffen  aus  grossen  Augen  an.  Ich  beharrte 
darauf,  er  sollte  rothe  Farbe  holen;  aber  er  weigerte  sich  stand- 
haft. Ich  spottete  und  fragte,  ob  er  vielleicht  gar  keine  Hörner 
mahlen  könne?  Da  antwortete  der  Schalk  :  Auf  jedes  Porträt,  selbst 
auf  mein  eigenes  wolle  er  Homer  mahlen,  wenn  ichs  verlange, 
nur  auf  keinen  Heiligenkopf.  Was  konnte  ich  machen  ?  Ich 
musste  den  alten  Kerl  ziehen  lassen ;  denn  selbst  die  Drohung, 
dass  ich  ihn  einsperren  lassen  würde,  fruchtete  nichts.  Er 
sagte  dreist:  cEinsperren  können  Sie  mich  wohl,  aber  mahlen 
werde  ich  nioht.»  Der  Narr  wäre  in  der  Laune  gewesen,  sich 
die  Märtyrerkrone  zu  erwerben,  aber  ich  hatte  nicht  Lust  sein 
Nero  zu  seyn  und  Hess  ihn  laufen.» 

Es  kam  mir  vor,  dergleichen  Ausfälle  gehörten  zum  Mode- 
ton der  Jakobiner,  mit  dem  sie  sich  vor  dem  Pöbel  gross 
machten,  und  ich  vermuthe,  sowohl  Deps  als  Burghard,  welche 
am  meisten  die  Atheisten  affectirten,  hatten  im  Herzen  beynahe 
eben  den  Glauben,  den  ihre  gutmüthigen  Weiber  hatten.  Denn 
sie  kramten  ihre  Meynungen  allzugeflissen  aus  und  suchten 
offenbar  mit  ihrer  freyen  Denkungsart  nur  zu  glänzen.  Diess 
ist  die  Art  aller  Neulinge  und  Moderitter ;  und  man  weiss,  wie 
schnell  dergleichen  Philosophen  in  den  Ton  ihrer  Ammen  zu- 
rückfallen, sobald  bey  der  neuen  Lehre  nichts  mehr  zu  ge- 
winnen ist.  Der  wirklich  tiefdenkende  Mann,  der  aus  Ueber- 
zeugung  spricht,  benimmt  sich  ganz  anders,  als  der  Faseler, 
der  kaum  weiss,  was  er  will. 

Wir  giengen  auseinander.  Als  ich  in  mein  Zimmer  zum 
Bocke  zurückkam,  überlegte  ich  ernstlich,  ob  ich  in  die  Schweitz 
zurückkehren  oder  versuchen  sollte,  in  Ck)lmar  zu  bleiben.  Je 
genauer  ich  aber  die  Sache  untersuchte,  desto  ungewisser  ward 
ich.  Ich  seufzete  in  diesen  Tagen  oft  zum  Himmel  um  Erleuch- 
tung. Zuletzt  fiel  mir  ein,  ich  wollte  den  redlichen  PfefTel  auf- 
suchen und  ohne  ferneres  Grübeln    seinen  Rath  befolgen.     So- 


—  so- 
gleich setzte  ich  meinen  Entschluss  ins  Werk.  Als  ich  in  sein 
Haus  trat,  tönten  mir  angenehme  Harmonien  entgegen.  Elin 
Frauenzimmer  spielte  den  Flügel ;  ich  sah  sie  sitzen,  sobald 
ich  die  Zimmerthür  öffnete.  Kaum  hatte  mich  ein  Diener  ge- 
meldet,  so  kam  sie  selbst  heraus  und  führte  mich  zu  Pfeffeln. 
Der  edle  blinde  Mann  bedauerte,  dass  ich  eben  in  diesem  Au- 
genblicke, zu  dieser  Zeit  der  Zerstörung  zu  ihm  käme  und 
meynte,  in  den  heitern  bessern  Tagen  vor  den  Revolutioos- 
Unruhen  hätte  er  mir  gar  leicht  Unterhalt  verschaffen  können. 
Ich  trug  ihm  kurz  und  mit  Feuer  mein  Anliegen  vor  und  bat 
ihn  um  Rath.  Da  sagte  er  ganz  unverholen:  «Lieber  Ktinn^! 
sie  sind  ein  Fremder,  wenn  es  ihnen  auch  gelingen  sollte,  bey 
der  Municipalität  angestellt  zu  werden,  so  erregen  sie  doch  den 
Neid  gegen  sich  und  sind  stets  in  Gefahr,  verfolgt  und  unter- 
druckt zu  werden.  Werfen  sie  nur  einen  Blick  auf  das  Chaos, 
in  das  wir  versunken  sind  I  Wer  ist  seiner  Existenz  mehr 
sicher?  Wissen  sie  in  der  Schwätz  ihr  Brod  irgendwo  zu 
betteln,  so  thun  sie  besser,  dahin  zurückzukehren.»  —  c Weiter 
bedarf  ich  nichts,»  antwortete  ich  mit  festem  Entschlüsse,  «ich 
gehe  nach  Zürich  zurück :  dort  soll  ich  einen  Katalog  über  dn 
Naturalien-Kabinet  verfassen  ;  das  wird  mich  hinlänglieh  vor 
Mangel  sichern.»  —  «Thun  sie  das,  lieber  Bronner,»  sagte  er 
mit  eindringlichem  Tone,  «und  besuchen  sie  mich  einst  in 
bessern  Zeiten!  Jedes  Glück  b^leite  siel»  —  Gerührt  schied 
ich  von  dem  edeln  philosophischen  Dichter  und  gieng  ins  Cou 
mit^  de  Surveillance,  wohin  mich  bereits  die  Stunde  rief. 

Bis  meine  Sache  vorgenommen  wurde,  hiess  mich  Kubier 
zur  Unterhaltung  in  die  Jakobiner-Sitzung  gehen,  die  eben  in 
einem  Neben-Gebäude  eröffnet  war.  Im  Parterre  eines  ziemlich 
grossen  Saales  sassen  die  Amis  r^unis  oder  die  Jakobiner. 
Hinter  ihnen  und  an  den  Wänden  hin  erhoben  sich  amphi- 
theatralisch  Bänke  und  Stühle  für  die  Zuhörer.  Auf  einer 
Bühne  im  Vordergrunde  paradirten  der  Präsident  und  die  Se- 
kretäre an  einem  Tische.  Rechts  an  der  Bühne  war  der  Red- 
nerstuhl angebracht.  Eben  war  die  Nachricht  eingetroffen,  die 
Deutschen  seyen  geschlagen  und  aus  dem  Elsass  vertrieben 
worden;  aber  noch  walteten  einige  Zweifel  ob;  man  debattirte 
darüber  sehr  hitzig,  der  Streit  artete  in  ein  wildes  Getümmel 
aus.  Endlich  forderte  man  Zeugen  auf.  Da  trat  ein  Courier  auf 
die  Bühne  und  recitirte  sehr  schnell  eine  franz.  Rede  her,  von 
der  er  nichts  verstand ;  allein  man  beklatschte  ihn  laut  und 
rief :  «Es  ist  richtig,  die  Deutschen  sind  besiegt  I »  Alles  ju- 
belte: Vive  la  Räpiü}Uque  und  schwang  Hüte  und  Nasentücher. 
Allerley  Debatten  folgten  sich.  Ein  Exgeistlicher  hielt  dann 
eine,  sehr  wässerige  Predigt  vom  Segen,   den  der  Himmel  den 


-    34    - 

Waffen  freyer  Völker  von  jeher  verliehen  habe.  Ein  anderer 
las  eine  Ode  voll  Bombast  auf  die  Einnahme  von  Toulon  vor. 
So  verstrich  die  Zeit.  Ich  wollte  wieder  ins  Comit^  zurück, 
und  aber,  dass  es  bereits  aus  einander  gegangen  sey.  Johannes 
Kühler,  den  ich  auf  dem  Wege  {antraf,  sagte  mir  mit  klein- 
lautem Tone :  «Er  habe  nur  wenig  Hoffnung  mehr,  dass  ich 
hier  bleiben  dürfe ;  die  Sache  sey  einmal  durch  den  Bischof 
verdorben,  und  die  Mitglieder  des  Districts  würden  nicht  ruhen, 
bis  ich  abgereist  wäre.»  Ohne  Betrübniss  horte  ich  seine 
Aeusserungen  an,  dankte  ihm  für  seine  Freundlichkeit  und 
nahm  von  ihm  Abschied. 

Als  ich  auf  den  Platz  beym  Tempel  der  Vernunft  kam,  wo 
die  Guillotine  stand,  sah  ich  ein  grosses  Feuer  flammen,  ein 
Freudenfeuer  wegen  der  Einnahme  Toulons.  Die  Sans-Culotten 
tanzten  in  doppelten  Kreisen  uifn  dasselbe  her.  Sie  ergriffen 
Mädchen  und  Weiber,  die  in  der  Nähe  standen,  rissen  sie  mit 
sich  zum  Feuer,  reihten  sich  in  einem  der  beweglichen  Kreise 
und  hüpften  so  unter  lautem  Freudengeschrey  in  die  Runde. 
Ich  konnte  mich  unmöglich  des  Gedankens  an  die  Canadischen 
Wilden  erwehren.  Die  Bühne  der  Guillotine  stand  gedrängt  voll 
Zuschauer  und  Zuschauerinnen,  die  gar  keinen  Grauen  vor  der 
fatalen  Haschine  hatten.  In  der  Nähe  tönte  Feldmusik,  die  pa  ira 
und  andere  patriotische  Lieder  spielte.  Das  Volk  sang  die  Lieder 
mit.  Der  Exgeistliche  aus  dem  Comit6  des  Districts  traf  mich 
hier  an ;  er  schlich,  wie  ich,  beobachtend  um  den  Haufen  herum. 

cNoch  hier,  Citoyen?»  fragte  er,  wie  staunend,  cdas  ist 
kühn!  Sehen  sie  nicht  die  Maschine  dort?»  Er  deutete  auf  die 
Guillotine.  cDie  ist  hoffentlich  nur  für  Verräther,  nicht  für 
Patrioten  errichtet,»  erwiederte  ich,  c warum  sollt'  ich  sie  also 
fürchten?»  —  «Im  Ernste,»  fuhr  der  Greistliche  fort,  cwenn 
ich  ihnen  wohlmeynend  rathen  darf,  so  reisen  sie  morgen  früh 
von  hier  ab !  Wir  dürfen  sie  nicht  behalten,  weil  sie  ein  Deut- 
scher sindl  Lassen  sie  aber  ihren  Pass  erst  von  irgend  einer 
Obrigkeit  neu  unterschreiben,  weil  sie  schon  am  Nonidi  abge- 
wiesen wurden  und  doch  erst  am  11.  Nivos  abreisen,  damit  sie 
auf  dem  Wege  keine  Unannehmlichkeiten  zu  befahren  haben. 
Nehmen  sie  meinen  Rath  an ;  das  Beste,  was  sie  in  ihrer  Lage 
thun  können,  ist^  dass  sie  so  bald  als  möglich  gehen.» 

c  Verlassen  Sie  Sich  darauf  I»  antwortete  ich,  c  morgen  in 
der  Frühe  reise  ich  ganz  gewiss  ab  !» 

Rückreise  ins  Hauptquartier.     SchuKfHcken. 

Den  letzten  Dec.,  als  der  Tag  anbrach,  nahm  ich  Abschied 
vom  Bischöfe  Martin,   der  mich    ziemlich  kalt  entliess.    Sobald 


-    32    ^ 

ich  hoffen  konnte,  ich  würde  irgend  eine  Obrigkeit  antreffen, 
machte  ich  mich  auf,  um  meinen  Pass  unterschreii)en  zu  lassen. 
Aber  niemand  von  den  Mitgliedern  des  Gomitä  de  Surveillance, 
nicht  einmal  der  Secretar  Neukirch  wagte  es,  seinen  Namen 
und  den  Tag  meiner  Abreise  darauf  zu  setzen ;  jeder  sagte^  er 
besorge,  dadurch  in  Verdruss  zu  gerathen.  Endlich  erbarmte 
sich  meiner  ein  Beamter  der  Municipalität  und  schrieb  folgendes 
auf  den  Pass  des  Generals  :  «Vü  partir  de  Golmar  cejourd'hui 
onze  Nivose,  Tan  second.  —  Aittelmeyer  Secr.  Gref&er.»  Das 
Umherlaufen  und  Warten,  dieser  zwey  Zeilchen  halber,  hielt 
mich  fast  bis  10  Uhr  auf.  Geschwind  verzehrte  ich  beim  Bocke 
ein  kleines  Abschiedsmahl  und  trat  meine  Rückreise  an,  auf 
der  ich  an  diesem  Tage  keine  andere  Widerwärtigkeiten  zu 
befahren  hatte^  als  etwa  in  den  Herbergen,  wo  ich  einsprach, 
das  Anschnurren  eines  argwöhnischen  Unterofßciers,  der  mir 
herrisch  meinen  Pass  abforderte,  oder  die  Weigerung  der 
Wittwe,  mir  irgend  eine  Erfrischung  zu  reichen.  Abends  traf 
ich  in  Habsheim  ein  und  verschwendete  in  jedem  bessern 
Wirlhshause  Bitten,  Vorstellungen,  Versprechen  und  alle  mög- 
lichen guten  Worte,  um  aufgenommen  zu  werden.  Aber  völlig 
vergel)ens !  Ich  sah  mich  gezwungen,  wieder  in  dem  ver- 
wünschten Neste,  wo  ich  das  erstemal  übernachtet  hatte,  eine 
Herberge  zu  suchen.  Mit  Freuden  nahm  mich  diesmal  der 
Wirth  auf  und  setzte  mir  alles  Gute  vor,  was  er  in  seinem 
Vermögen  hatte.  —  Eine  Menge  Sans-Gulotten  waren  eben  ins 
Dorf  einquartiert  worden  ;  sie  hatten  sich  mitten  in  der  Stube 
einen  Herd  aus  Backsteinen  errichtet,  Kohlen  darunter  ge- 
bracht und  einen  Kessel  darüber  gehängt,  um  ihre  Abend- 
mahlzeit zu  kochen  ;  kaum  war  das  Fleisch  gesotten,  so  stach 
jeder  in  den  Kessel,  langte  seine  Portion  heraus,  setzte  sich  auf 
den  Boden  und  verzehrte  sie  aus  freyer  Hand.  Neben  dem 
Herde  stand  eine  hölzerne  Gelte  voll  Wein  und  ein  Glas  da- 
neben ;  wer  nun  trinken  wollte,  füllte  das  Glas  in  der  Gelte 
und  goss  es  herzhaft  durch  die  Kehle.  Diese  drolligte  Haus- 
haltung belustigte    mich.    — — 

Als  mich  der  Wirth  in  die  Schlafkammer  führte, 

hob  ich  in  seiner  Gegenwart  die  Bettdecke  weg  und  sah  so- 
gleich, dass  die  Betten  nicht  reinlich  überzogen  waren.  Bey 
der  Menge  Soldaten,  die  hier  täglich  übernachteten,  und  wovon 
einige  ganz  unverholen  gestanden,  dass  sie  in  ihren  Hemden 
ganz  unangenehme  Einquartierungen  hätten,  ward  mir  hange, 
ich  möchte  hier  eben  dieselbe  Plage  erben.  Die  Bosheit  der 
frechen  Magd  Hess  mich  befürchten,  sie  könnte  mich  absicht- 
lich zum  Nachfolger  eines  so  reichbegabten  Sans-Gulotten  ge- 
macht haben.  Ich  bat  also  den  Wirth :     «Lassen    Sie    mir   das 


—    33    — 

Belt  frisch  überziehen;  ich  gebe  ihnen  gern,  über  die  Zeche 
aus,  noch  einen  halben  Gulden  zum  Besten.»  —  Das  Angebot 
gefiel  ihm,  er  rief  die  Magd  und  befahl  ihr,  das  ganze  Bett 
frisch  zu  überziehen.  Murrend,  spottend  und  zankend  that  sie 
es.  Mich  kümmerte  das  wenig.  Sorgfaltig  verbarg  ich  meine 
Kleider  zwischen  dem  Strohsack  und  dem  Unterbette  und 
schlief  ruhig  die  ganze  Nacht  durch. 

Am  neuen  Jahrstage  1794  eilte  ich  Sierenz  und  Blotzheim 
zu.  Als  ich  den  letzten  Ort  erblickte,  schickte  ich  mich  an, 
meine  Baarschaft  in  Sicherheit  zu  bringen.  Ich  hatte  ja  ge- 
sehen, wie  genau  man  in  Bourglibre  jeden,  der  aus  dem  Lande 
gieng,  durchsuchte,  und  musste  fürchten,  aus  dem  Hauptquar- 
tier mit  einer  Wache  an  die  Grenze  geführt  zu  werden.  Das 
Geld  musste   also  verborgen   werden,    wenn   ich   nicht    Gefahr 

laufen  wollte,  es  zu  verlieren. 

Endlich  glaubte  ich  am  Ziele  zu  seyn  und  trabte  eine  kleine 
Strecke  Weges  dahin.  0  weh!  da  fühlte  ich  sogleich  die  Un- 
möglichkeit, an  dem  vermeyntlichen  Sicherheitsorte  mein  Geld 
zu  verwahren.  Alles  fiel  heraus  und  ich  glich  wahrlich  der 
Henne,  die  goldene  Eyer  legte.  Sorgfaltig  suchte  ich  die  Louis- 
dors  aus  den  Beinkleidern  hervor.  Als  ich  am  besten  an  der 
Arbeit  war,  sprengte  ein  Reiter  daher.  0  wie  erschrack  ich  I 
Aber  er  merkte  nichts,  sondern  rief  mir  zu :  «Lass  er  seine 
Gäste  nur  sitzen  I»  Ach!  mir  war  bange,  wie  ich  nun  meine 
kleine  Habe  den  Augen  und  Händen  der  Grenz-Visitatoren  ohne 
Gefahr  entziehen  könnte.  Ungeachtet  der  vielen  Leute,  die 
hin  und  her  giengen,  gelang  es  mir  doch,  unbemerkt  in  ein 
Wäldchen  zu  schlüpfen,  durchs  Gebüsch  hinter  einen  dicken 
Baum  auf  einer  Anhöhe  zu  kriechen  und  auf  frisch  abgehauenen 
dünnen  Reisern  einen  Platz  zu  finden,  an  dem  ich,  des  Schnees 
uni^eachtet,  trocken  sitzen  konnte.  Ich  wartete  eine  gute  Weile, 
ob  niemand  nachgeschlichen  käme;  aber  keine  Seele  störte 
mich.  Sorgfältig  spähte  ich  in  den  Wipfeln  und  Gesträuchen 
umher^  ob  mich  niemand  beobachtete.  Erst  als  ich  mich  recht 
sicher  wusste,  zog  ich  meine  Louisdors  hervor  und  überlegte, 
wo  ich  sie  denn  eigentlich  am  besten  verbergen  könnte.  Vom 
Kopf  bis  zu  Fuss  durchlief  ich  in  Gedanken  alle  Theile  meiner 
Kleider,  um  die  tauglichste  Stelle  auszufinden.  Aber  in  allen 
biegsamen  und  weichen  Theilen  war  das  Verbergen  unsicher; 
ich  wu.sste  ja,  wie  sorgfaltig  man  jeden  durchgriff.  Die  Schuhe 
allein  boten  mir  feste  Theile  an,  hinter  denen  das  Gefühl  die 
versteckten  Louisdors  nicht  entdecken  konnte.  In  die  Schuhe 
also  musste  mein  Schatz  verborgen  werden.  Ich  zog  sie  ab  und 
beschaute   sie  genau.     Da   es   umgewandte   Schuhe   waren,    so 

3 


—    34    — 

konnte  ich  die  innere  Sohle  herausziehen  und  sehen^  dass  eine 
dicke  Lederzunge  aus  den  Absätzen  in  die  Vorderschuhe  her- 
vorragte. Sogleich  schnitt  ich  dieselbe  mit  dem  Federmesser 
sorgfaltig  aus  und  gestaltete  also  in  beyden  Absätzen  geräumige 
Höhlen,  in  die  mancher  hübsche  Louisd'or  gesteckt  werden 
konnte.  Wirklich  steckte  ich  so  viele  hinein,  als  der  Raum 
fassen  mochte,  und  sah  bald,  dass  der  grösste  Theil  meiner 
Baarschaft  darin  geborgen  werden  konnte.  Aber  es  fiel  mir 
ein  :  «Wie  wäre  es,  wenn  die  Goldstücke  im  Grehen  an  einander 
klappern  würden?  Das  könnte  dich  verrathen.»  Ich  klopfte  mit 
dem  Schuhe  sanft  auf  die  Erde.  0  wehe  I  Sie  klapperten  wirk- 
lich. Also  riss  ich  sie  wieder  heraus,  umwand  jedes  mit  ein 
wenig  Papier  und  presste  sie  wieder  in  ihre  Höhlungen.  Nun 
hatte  aber  nur  die  Hälfte  derselben  Raum  darin.  Die  andere 
Hälfte  wickelte  ich  in  eben  so  kleine  Papierchen  und  nähte 
jedes  Stück  neben  das  andere  mit  ein  Paar  Kreuzstichen  unter 
die  herausgezogene  Brandsohle;  dabey  brauchte  ich  die  Vor- 
sicht, dass  ich  die  Sohle  mit  der  Nadel  nie  durchstach,  sondern 
die  Fäden  nur  leicht  an  die  Oberfläche  des  Leders  heftete. 
Weil  ich  besorgte,  im  Gehen  möchten  sich  die  Louisd'ors  wie 
Ringe  auf  der  sichtbaren  Seite  der  Brandsohle  abdrucken,  nähte 
ich  zwischen  etliche  derselben  Knäuelchen  Papier,  damit  sich 
der  meiste  Druck  an  diesen  brechen  müsste.  Nun  glaubte  ich, 
meine  Sachen  vortrefflich  gemacht  zu  haben.  Aber  als  ich  die 
Brandsohlen  wieder  hineinschob,  sah  ich  sogleich,  dass  sie  an 
den  Seitenrändern  emporstanden,  und  wohl  gar  da  und  dort 
ein  Papierchen  sichtbar  werden  Hessen.  «Ja,  wenn  ich  die 
Sohle  festnähte,  dass  sie  anläge  und  nicht  herausgezogen  werden 
könnte,  dann  wäre  ich  geborgen.»  So  sprach  idi  zu  mir  selbst 
und  sann  nach,  wie  ich  das  machen  wollte.  Jetzt  fiel  mir  zu 
rechter  Zeit  ein,  dass  ich  eine  grosse  Hutnadel  in  meinem 
Zahnstocher-Büchschen  hätte  und  Bindfaden  im  Unterfutter 
meines  Rockes.  Wie  gut  kamen  mir  nun  diese  beyden  £rf<H*- 
dernisse  zu  statten  I  Wahrlich,  ohne  den  kleinen  Umstand, 
dass  ich  sie  bey  meiner  Abreise  aus  dem  Oberhofe  auf  jeden 
Fall  zu  mir  steckte,  hätte  ich,  allem  Anscheine  nach,  meine 
ganze  Baarschaft  verloren  I  Und  wer  weiss,  ob  ich  nicht  als  ein 
Verräther,  der  Gold  aus  dem  Lande  schwärzen  wolle,  behanddt 
und  lange  in  Gefangnissen  herumgezogen  worden  wäre,  ehe 
man  meinen  Beweis,  dass  ich  alles  aus  Zürich  mitbrachte,  hätte 
gelten  lassen?  0  von  welchen  an  sich  unbedeutenden  Um- 
Ständchen  hängt  oft  unser  Glück  ab  I  Zu  guter  Letzt  färbte  ich 
mit  der  Schwärze,  die  ich  in  den  kleinen  Vertiefungen  der 
Schuhe  fand,  die  weisslichen  Bindfaden  so  schwarz,  dass  man 
keinen  einzigen  Stich  bemerkte.     Getrost  gieng  ich  nach  einem 


—    35    — 

Aufenthalte  von  ein  Paar  Stunden  aus  dem  Wäldchen  nach 
Blolzheim  und  sah^  unter  dem  Yorwand,  Steinchen  aus  den 
Schuhen  zu  schütteln^  oft  nach  meinen  Nähten.  Alles  blieh  im 
besten  Stand.  Damit  aber  niemand  meine  List  am  Gewichte 
merken  könnte,  watete  ich  durch  einige  kleine  Lachen  auf  der 
Strasse,  welche  an  der  Mittagssonne  bereits  aufgethauet  waren, 
hütete  mich  jedoch,  diese  Art  Schwerevermehrung  zu  über- 
treiben, damit  nicht  etwa  desshalb  Argwohn  entstände. 

Gang  nach   Basel.     Visitation. 

Dem  General  musste  ich  mein  ganzes  Schicksal  erzählen. 
Er  bedauerte  mich  und  rief  aus :  «Dachte  ichs  doch,  der  eitle 
Bischof  betrüge  sich  und  ihn  I  Fast  ist  es  Schade,  dass  er  die 
ihm  angebotene  Vergütung  ausgeschlagen  habe.  Der  Bischof 
hätte  es  verschuldet,  ihm  das  Reisegeld  bezahlen  zu  müssen  ; 
denn  wahrscheinlich  führt  er  nicht  viel  Geld  bey  sich.  Wie 
viel  hat  er?>  —  Ich  zog  meine  ganze  Baarschaft,  etwa  andert- 
halb Louisdors,  die  ich  nicht  eingenäht  hatte,  aus  der  Tasche, 
und  wies  sie  ihm  hin.  —  «Das  ist  nicht  viel>,  sagte  er,  «man 
wird  ihm  die  Kleinigkeit  an  der  Grenze  wohl  lassen ;  doch 
zeig'  er  sein  Geld  redlich  vor,  damit  er  in  kein  Unglück  ge- 
räth!»  Sein  Sekretär  schrieb  auf  meinen  Pass:  Laissez  passer 
pour  retoumer  en  Suisse  ce  12.  Nivose  de  Tan  2  de  la  R^pu- 
blique  fran^aise.  Vü  par  moi  G^n^ral  de  Brigade,  Commandant 
de  la  Division  du  Haut-Rhin ;  und  der  General  unterzeichnete 
seinen  Namen.  Man  Hess  mich  allein  wandern  ;  und  ich  be- 
schloss,  damit  ich  dem  Durchsuchen  ausweichen  möchte,  gerade 
auf  die  Baracke  an  der  äussersten  Grenze  loszugehen.  Aber  die 
Wache  liess  mich  durchaus  nicht  passiren,  sondern  sandte  mich 
wieder  an  den  Grenz-Zoll  zurück.  Das  war  ein  harter  Gang ! 
Je  näher  ich  dem  fatalen  Visitatoren -Häuschen  kam,  desto 
banger  ward  mir  ums  Herz.  Weil  der  Zollbeamte  noch  nicht 
ganz  abgespeiset  hatte,  musste  ich  eine  Weile  warten.  Der 
Visitator  (wahrscheinlich  ein  Jude)  wartete,  bis  wir  allein  waren, 
machte  sich  an  mich,  und  fragte,  ob  ich  viel  Geld  bey  mir 
hätte?  —  Ich  wies  es  ihm  vor,  wie  dem  General,  und  sagte: 
<Es  ist  ein  weiter  Weg  bis  Zürich ;  machen  Sie  doch,  dass 
mir  das  wenige  Reisegeld  gelassen  vnrd;  ich  will  Ihnen  gern 
ein  hübsches  Trinkgeld  geben.» —  Sorgen  sie  nicht,  Citoyen!» 
sagte  er,  «sie  haben  meinem  Freunde,  dem  Nationalgarden, 
welcher  sie  nach  Blotzheim  führte,  ihre  Handschuhe  gegeben  ; 
nichts  soll  ihnen  genommen  werden!»  Er  führte  mich  zum 
Zollbeamten,  dem  ich  mein  Taschengeld  wieder  vorzeigen  musste. 
Der  Visitator   war   mein   Fürsprecher,    und    man    schrieb   auf 


—    36    — 

meinen  Pass:  Empörte  avec  lui  vingt  un  Livres  num^raire 
(etwas  weniger  als  ich  vorwies:  aber  man  zählte  die  Kleinig- 
keit gar  nicht)  qu'il  a  importö.  Bureau  de  Bourglibre  ce 
12.  Nivose  de  l'an  2  de  la  R^p.  Fr.  —  Rumhueber.  Hierauf 
befahl  er  dem  Visitator,  mich  erst  genau  zu  durdisuchen,  ehe 
er  mich  entliesse.  Dieser  führte  mich  in  sein  Stübchen :  idi 
drückte  ihm  auf  dem  Wege  ein  30-Sous8tück  in  die  Hand,  mit 
dem  er  sehr  zufrieden  schien.  «Nun,  Citoyen,»  sagte  er,  cmutt 
ich  meine  Pflicht  thun.>  Er  suchte  zuerst  alle  meine  Tascfaea 
aus,  dann  durchknitterte  er  den  Hut,  die  Rockschösse,  die 
Halsbinde,  den  Hüftenbund  der  Beinkleider  u.  s.  w«  und  be- 
fahl mir  endlich,  die  Schuhe  auszuziehen.  0  wie  ward  mir  da 
zu  Muthe  I  Aber  ich  hütete  jede  Miene,  lösete  ruhig  die  Riemen 
auf,  und  streifte  die  Schuhe,  wie  gldchgültig,  von  den  Füssen. 
Kaum  wagte  ichs,  hinzublicken,  als  er  mit  Ekel  sie  aufhob, 
hineinsah,  und  sie  nachlässig  wieder  fallen  liess.  «Citoyen, 
sie  können  frey  ihres  Weges  gehen;  leben  sie  wohl!»  Ha,  wie 
lieblich  schallten  diese  Worte  in  meinen  Ohren  I  Geschwind 
zog  ich  meine  Schuhe  wieder  an,  nahm  dankend  Abschied  und 
eilte  über  die  Grenze.  Die  Wache,  sobald  sie  meinen  Pias 
sah,  liess  mich  unangefochten  ziehen.  Ich  hätte,  wie  Ulysses 
bey  seiner  Rückkehr  nach  Ithaka,  mich  zur  Erde  werfen  und 
den  friedlichen  Schweitzerboden  küssen  mögen;  so  froh  war 
ich,  entkommen  zu  seyn. 


III. 


Amuletrin^e 

des  Heiligen  Theobald  von  Thann. 

Von 

W.  Deecke. 

im  Jahre  1852  wurde  bei  Ausgrabung  der  Reste  von 
Alt-Lübeck,  in  dem  Winkel,  den  die  Schwartau  bei  ihrer 
Mündung  in  die  Trave  mit  dieser  bildet,  in  einer  kleinen,  durch 
Brand  zerstörten  Kirche  unter  andern  Leichen  auch  an  der 
Südseile  diejenige  eines  kraftigen  Mannes  gefunden,  das  Gesicht 
dem  nahen  Altare  zugewendet^  ohne  Kleider,  Waffen  oder  Sarg : 
wohl  aber  lag  neben  der  linken  Hand  ein  massiver  goldener, 
zwei  Dukaten  schwerer,  neuneckiger  Fingerring  mit  der 
eingegrabenen  und  mit  Niello  ausgefüllten  Inschrift: 


4-     Th     E     BA     L     CV     T     TA    NI 


vgl.  Zeitschrift  des  Vereins  für  Lübeckische  Geschichte  und 
Altertumskunde,  Bd.  I,  Heft  2,  Lübeck  1858,  S.  238,  Tf.  1, 
ia—c.  Der  Ring  befindet  sich  jetzt  im  Lübecker  Museum, 
Abteilung  für  Lübsche  Altertümer.  Es  liegt  nahe,  diese  In- 
schrift auf  den  Eigennamen  des  Besitzers  zu  deuten 
z.  B.  Th€bal{dus)  CuUani  (filius)  =  «Dietbald,  Sohn  des 
Cuttani,  wie  denn  ein  Vorname  Gutta n,  Gothan  (lat. 
Gniianus^  Gothanus)  bei  mecklenburgischen  und  pommerschen 
Familien  im  Mittelalter  vorkommt  (briefliche  Mitteilung  des 
Herrn  Prof.  Pyl  in  Greifswald).  Oder  man  könnte  CuUani{ensi8) 
ergänzen  =  «von  Gutta  (Cotta)»,  nach  einem  bekannten 
mitteldeutschen  Familiennamen,   oder  =  cvon  Guttanen»; 


—    38    — 


vgl.  den  schweizer  Ort  Guttanen  im  Haslithal.  Diese  uad 
ähnliche  Deutungen  aber  werden  widerlegt  durch  das  Vor- 
kommen dreier  ähnlichen  Ringe,  die  weder  derselben 
Persönlichkeit,  noch  drei  Namensvettern  angehört  haben  können. 
Der  eine  dieser  Ringe  wurde  1828  bei  Snoghöi  in  Jütland 
nahe  am  Meeresufer  gefunden,  ist  ebenfalls  massiv  golden 
und  neuneckig,  und  trägt  folgende,  gleichfalls  eingegrabene 
und  mit  Niello  ausgefüllte  Inschrift  : 


+  |TH 


EB    AL    GV 


TG    VT 


HAI  NI 


Hier  ist,  der  Symmetrie  wegen,  um  alle  8  Felder,  ausser 
dem  mit  dem  Kreuze  geschmückten,  gleichmässig  mit  2  Buch- 
staben zu  füllen,  von  der  Silbe  gut  (statt  des  cul  in  Ring  I) 
das  gu  wiederholt,  und  dem  letzten  l  ein  h  beigegeben  worden; 
auch  ist  das  erste  h  zur  Majuskel  erhoben ;  das  a  zeigt  durdi 
einen  Oberstrich  spätere  Form.  Der  Ring  befindet  sich  im 
Kopenhagener  Museum  für  Altertümer.  Ebenfalls  in  Dänemark 
im  Jahre  1851  ist  der  dritte  Ring  gleicher  Art  gefunden 
worden,  im  Kirchspiel  Torkildstrup  auf  der  Insel  Falster, 
beim  Umgraben  eines  grossen  Steines,  zugleich  mit  einem 
silbernen  Reliquienkranz,  anderen  silbernen  Schmucksachen, 
Bruchstücken  von  Bergkrystall  u.  s.  w.  Von  Silber  ist  auch 
er  selbst,  neuneckig,  und  die  in  gleicher  Art,  wie  bei  den 
andern  Ringen,  hergestellte  Inschrift   lautet: 


4-T  HE   BA 


LG    VT 


GV   TG    TT    AN 


Hier  herrscht  dieselbe  Symmetrie  :  nur  hat,  um  das  gui 
dreimal  setzen  zu  können,  das  erste  I  ins  Kreuzfeld  rücken 
müssen  und  das  schliessende  t  ist  weggefallen  ;  trotzdem  hat  das 
dritte  gut  sein  inneres  u  einbüssen  müssen.  Die  Form  des  e 
zeigt,  dass  dieser  Ring  noch  später  ist,  als  der  zweite.  Auch 
er  ist  im  Kopenhagener  Museum. 

Der  vierte  Ring  endlich  wurde  1846  unter  den  Wurzeln 
eines  vom  Sturm  umgewehten  Eichbaumes  im  Kirchspiel  Calne 
in  Wiltshire  im  südlichen  England  gefunden  und  ist  im 
Archaeological  Journal  1848,  S.  159  beschrieben.  Das  Metall 
finde  ich  nicht  angegeben,  nach  dem  Gewicht  aber  (56  grains) 
wird  es  Grold  sein;  auch  dieser  Ring  ist  neuneckig  und 
seine  Inschrift  lautet  : 


+ ,  e  I  HB  AL  rv   e   rv  sa  ni 


Diese  Inschrift  entspricht  derjenigen  von  Ring  II ;  nur  sind 
einige  griechische  Buchstaben  eingemengt:  6  für  Ih^  aber 
auch  an  zweiter  Stelle  missbräuchlich  für  l,  H  für  e;  F  für  y, 


—    39    — 

die  Verteilung  stimmt  nur  in  der  ersten  Hälfte,  indem  hier  die 
8  Felder,  ausser  dem  Kreuzfelde,  in  2  gleiche  Hälften  —  2  X  '^ 
Zeichen  —  zerfallen.  Dieser  vierte  Ring  ist  jedenfalls  der 
späteste;   wo  er  hingekommen,  ist  mir  unbekannt. 

Erwägen  wir  nun  die  Eigentümlichkeiten  der  vier  Ringe, 
ihre  wesentliche  Uebereinstimmung  neben  unwesentlichen  Ab- 
weichungen, die  Verschiedenheit  der  Fundorte  (Lübeck,  Jütland, 
dänische  Inseln,  England),  die  Neuneckigkeit,  die  symmetrische 
Verteilung  der  Buchstaben  auf  Ring  II — IV  nebst  den  Wieder- 
holungen in  der  Mitte,  die  Einmengung  griechischer  Zeichen 
auf  Ring  IV,  endlich  das  verschiedene  Alter  der  Schrift,  so 
ei^bt  sich,  dass  wir  es  mit  Variationen  eines  Amulet-  oder 
Schutzringes  zu  thun  haben,  und  zwar  eines  christ- 
lichen, denn  auf  keinem  fehlt  im  Anfange  das  Kreuz. 
Dazu  stimmt  ferner  die  Fundstätte  von  Ring  I  in  einer  Kirche, 
die  Beigabe  des  Reliquienkreuzes  zu  Ring  III,  die  heilige  Neun- 
zahl der  Felder  =  3X^9  endlich  die  griechischen  Buchstaben 
auf  Ring  IV  nach  der  heiligen  Schrift  des  Neuen  Testaments. 
Die  früheren  Versuche  aber  (Prof.  Petersen  in  der  Lübecker 
Zeitschrift  S.  2!39),  Götternamen  in  der  Inschrift  zu  finden, 
wie  Thefos),  Bai,  Cull  (=  Gott)  oder  gar  Thebal  (=  Teufel), 
Gutlani  (=  Wodan),  richten  sich  selbst;  dagegen  kam  mir 
infolge  einer  Bemerkung  meines  hiesigen  Kollegen  Dr.  F  a  b  e  r 
über  die  einstige  weitverbreitete  Verehrung  des  Heiligen 
Theo  bald  von  Thann  im  Norden  der  Gedanke  an 
diesen  Heiligen,  also  Thebal  ==  Thebaldus\  vgl.  im  Thanner 
Münster  in  einer  Inschrift  von  1456  Tebaldus,  altfranzösisch 
Tkiebal  (Albrecht  Rappoltsteinisches  Urkundenbuch  I,  Index). 
Dann  ergibt  sich  von  selbst,  dass  im  Schlüsse  der  Inschrift 
Thani,  Tani,  Tan  der  Name  der  Stadt  Thann  steckt.  Was 
aber  bedeuten  die  Mittelbuchstaben?  Wir  haben  dabei  jeden- 
falls von  der  Lübecker  als  der  ältesten  Inschrift  auszugehn, 
und  da  hat  Dr.  Faber  vermutet,  es  sei  CfonfessorJ  V{enerabilisJ 
zu  lesen,  und  ich  habe  dann  weiter  TlutarJ  ergänzt,  so  dass 
die  Inschrift  zu  lesen  wäre  :  Thebalijdus),  Cionfessor),  Vienera- 
bilis)y  T{ul(yr)  Tani  d.i.  cDietbald,  der  Beichtiger,  der 
ehrwürdige  Schutzherr  von  Thann.i»  Nun  habeich 
in  der  That  in  den  zu  Ehren  des  Heiligen  Theobald  geschrie- 
benen Büchern  sowohl  den  Titel  «c  hochheiliger  Bischof  und 
Beichtiger»,  lateinisch  preliosissimus  confessor,  als  auch 
«der  Stadt  Thann  hochzuverehrender  Schutzhei- 
ligeri»  oder  «aller  Thannischen  Einwohner  hochzuver- 
ehrender Patron»  gefunden,  so  dass  jene  Benennungen 
durchaus  passen.  Der  Name  der  Stadt  Thann  endlich  lautet 
in  älteren  Urkunden  Thanne,  Thann,  Tanne,  Tann,  Tan,  welch 


—    40    — 

letzte  Form  die  älteste  ist  =  mittelhochdeutsch  der  oder  daz 
iaM  (Genitiv  Icmnes)  «der  Tannenwald,  das  Tännichii,  wozu  die 
unten  zu  erwähnende  Grundungssage  der  Stadt  stimmt,  sowie 
das  in  einer  Tanne  bestehende  Wappen  derselben,  auch  auf  den 
1418 — 1628  von  ihr  geschlagenen  Münzen  angebracht.  Lateinisch 
heisst  sie,  übersetzt,  Ptne/um,  sonst  bleibt  der  Name  meist  un- 
verändert, z.  B.  de  Than^  in  Thann]  doch  findet  sich  auch 
Thcknnarum  oppidum^  in  Thannis;  eine  dem  mittelhochdeutschen 
daz  tan  und  dem  Pineium  entsprechende  sächliche  Form 
7Vifi«m,  Thanum^  welche  durch  die  Ringinschriften  vorausge- 
setzt wird,  ist  sehr  wahrscheinlich,  wenn  ich  sie  auch,  bei 
meiner  beschränkten  Urkundenkenntnis,  noch  nicht  nach- 
weisen  kann. 

Die  Inschriften  der  Ringe  II — ^IV  sind  dann,  wie  ich  schon 
oben  angedeutet  habe,  mehr  oder  weniger  entartet:  das  C 
konnte  durch  Verschnörkelung  leicht  in  G  übergehn,  das  auch 
dem  Verfertiger  der  halbgriechischen  Inschrift  vorlag ;  der 
Wechsel  von  /  und  th  findet  sich  in  jenen  Zeiten  überall ;  die 
Wiederholungen  sind  den  Zauberformeln  und  Amuletl^enden 
aller  Art  eigentümlich. 

Meine  Vermutung  erhält  nun  aber  zwei  weitere  wichtige 
Bestätigungen.  Erstens  spielt  gerade  ein  Ring  in  der 
Legende  des  U.  Theobald  von  Thann  eine  Hauptrolle.  Dieser 
Heilige  gilt  nämlich  als  identisch  mit  dem  in  Italien  verehrten 
H.  Ubald,  Bischof  von  Eugubium  (jetzt  Gubbio)  in  Umbrien, 
der  am  16.  Mai  1160  (nicht  1161,  wie  mitunter  angegeben  wird) 
starb  und  1192  von  Papst  Cölestin  III.  heilig  gesprochen  und 
kanonisiert  wurde  (nach  der  Lebensbeschreibung  in  des  aquili- 
nischen  Bischofs  Pelri  de  Natalibus  Catal.  Sanciarum  V,  cap.  6); 
vgl.  in  Dante's  Paradies  XI,  43,  wo  die  Lage  von  Assisi, 
gleichfalls  in  Umbrien,  beschrieben  wird  : 

Intra  Tupino  e  Vacqua,  ehe  discende 
Del  colle  elelto  dal  beato  Übaldo  — 

«zwischen  dem  Tupino  (einem  Nebenflüsschen  des  Glituano, 
der  in  den  Tiber  mündet)  und  dem  Bache,  der  vom  erwähl- 
ten Hügel  des  seligen  Ubald  herabfliesst»,  d.  h.  dem 
Chiascio,  gleichfalls  einem  Nebenflüsschen  des  Glitunno,  der  vom 
Monte  Galvo,  an  dessen  Abhang  Gubbio  liegt,  herunterkommt. 
Die  Legende  nun,  welche  Gubbio  und  Thann  verbindet, 
lautet  so:  Als  der  U.  Ubald,  der  all'  sein  Hab  und  Gut  den 
Armen  gegeben  hatte,  den  Tod  herannahen  fühlte^  sagte  er  za 
seinem  treuen  Diener  Maternus,  der  aus  dem  (deutschon) 
Niederland  war :  «Damit  Du  nicht  gar  leer  und  unbelohnt  von 
mir  abweichest,  so  nimm  Dir,   wenn   ich   auf  dem  Totenbette 


—    41    — 

liegen  werde  in  meinem  bischöflichen  Ornate,  den  goldenen 
Ring  von  meinem  rechten  Daumenfinger  hinweg  und 
gehe  in  Gottes  Namen  in  Deine  Heimat ;  Gott  wird  Dein  Ge- 
leitsmann sein  und  Belohner.»  Als  nun  der  Diener  so  verfuhr, 
«hat  er  den  Daumen finger  seines  Bischofs  und  Herrn 
samt  dem  Ringe  zu  sich  gezogen.»  Er  that  nun  das  Hei- 
ligtum in  den  Knopf  eines  Stabes  und  kam  auf  seiner  Heim- 
fahrt am  1.  Juli  1161  im  Sundgau,  am  Rande  der  Vogesen, 
in  einen  Tannenwald  an  der  Thur^  wo  er  ermüdet  ein- 
schlief. Der  mit  dem  Knopf  an  eine  Tanne  gelehnte  Pilgerstab 
aber  wuchs  fest  und  über  dem  Wipfel  des  Baumes  erschienen 
zwei  (oder  drei)  blaue  Flammen,  durch  welche  der  Besitzer  der 
nahen  Engelburg  (Landherr  oder  Graf  Engelhart,  oder  Friede- 
rich der  Jüngere  von  Pfirt)  herbeigelockt  wurde,  der  den  in- 
zwischen erwachten  Pilger  zum  Eingeständnis  seiner  That  he- 
wog  und  reich  beschenkt  in  die  Heimat  entliess,  die  Reliquie 
aber  behielt  und  in  einer  an  der  Stelle  des  Wunders  erbauten 
Kapelle  verwahrte.  Diese  wurde,  da  die  Reliquie  sich  heil- 
und  hilfskraflig  erwies,  besonders  seit  der  Kanonisier ung  des 
Heiligen,  der  hier  St.  Theobald  genannt  wurde,  das  Ziel 
von  Wallfahrten  <aus  allen  Orten  Europa's»,  so  dass  sich  1244 
um  dieselbe  der  Ort  Thann  bildete,  der  allmählich  zu  einer 
blühenden  Stadt  erwuchs,  während  die  Kapelle  selbst  1344  ab- 
gebrochen und  durch  das  von  1269  (1275)  bis  1346  gebaute 
Münster  des  H.  Theobald  ersetzt  wurde,  das  bis  1446  er- 
weitert und  1516  mit  einem  Turme  versehn  wurde;  vgl. 
Fr.  X.  Kraus  «Kunst  und  Altertum  in  Elsass-Lothringen», 
Bd.  n  (Strassbui'g  1884),  S.  630  (f.,  wo  auch  die  übrige  Litte- 
ratur  angegeben  ist;  ferner  Aug.  Stöber  «Die  Sagen  des 
Elsasses»,  St.  Gallen  1852,  S.  37  ff.  (2.  Aufl.  von  Gurt 
Mündel,  Strassburg  1892, 1,  S.  43  ff.),  und  das  schöne,  durch 
eigene  Erfindung  die  Legende  kunstvoll  in  sich  abschliessende 
Gedicht  von  Ad.  Stöber  «Das  Münster  zu  Thann»  in  der 
«Alsa»  (Strassburg  1836),  S.  5. 

Die  kostbare  Reliquie,  der  Daumen  des  Heiligen  mit  dem 
goldenen  Ringe,  wurde  in  einen  Krystall  eingeschlossen,  und 
dieser  in  einer  silbernen,  vergoldeten  Monstranz  in  St.  Theo- 
baid's  Gewölbe  aufbewahrt.  Monstranz  und  Ring  sind  aber 
später  gestohlen,  nach  einer  Nachricht,  1755 ;  jetzt  ist,  nach 
einer  Mitteilung  des  Hrn.  Kreisdirectors  Dr.  Curtius,  nur 
ein  Rest  des  Daumens  in  einem  undurchsichtigen  Glasgefass 
vorhanden,  welches  laut  Protokoll  im  Kirchenbuche  im  Anfange 
der  sechziger  Jahre  vor  einer  Anzahl  von  Personen  geöffnet  und 
mit  dem  bischöflichen  Siegel  wieder  verschlossen  worden  ist. 
Leider  scheint  keine  Beschreibung   des   Ringes  erhalten 


—    42    — 

zu  sein.  Ich  nehme  nun  an,  dass  die  nach  Thann  wallfah- 
renden Pilger  eine  Nachahmung  des  Ringes  des  H.  Theo- 
bai d,  teils  als  Andenken,  teils  zum  Schutze  als  Amulet  von 
dort  mitzunehmen  pQegten ;  die  Inschrift  wurde  vom  Verfer- 
tiger hinzugefügt,  konnte  daher  variiert  werden,  was  z.  T.  in 
uneinsichtiger  Weise  geschah. 

Aber  kamen  denn   auch  wirklich   Pilger    nach  Thann  aus 
den   fernen   Gegenden  des   Nordens  her,  wo  die  Ringe 
gefunden  sind?  Allerdings,  und  das  ist  der  zweite  Punkt,  der 
für  meine  Vermutung  spricht.    Im  Tomus  mir<iculorum  Sancii 
Theobaldi  (Band  der  Wunder  des  H.  Theobald),  herausgegeben 
von  G.  Stoffel  (Golmar  1875),    finden  sich  aus  der  Zeit  vod 
1408 — ^1486  allein  11  Pilger  aus  Lübeck  und  dem  Lübecker 
Bistum,    die   in   Nöten   zu  Lande   und  zur  See  den  Heiligen 
angerufen,  das  Gelübde  einer  Wallfahrt  gethan  und,    von  ihm 
gerettet,  die  Reise   nach   Thann   gemacht    haben.    Noch  zahl- 
reicher  sind   die   Wallfahrten   aus   Dänemark,    aus   Jütland 
z.  B.  aus  Aalborg,  von  den  Inseln  z.  B.  aus  Seeland,    im    be- 
sondern aus  Kopenhagen  und  Roeskilde,  ferner  aus    Birkholm 
und  mehreren  unbekannten  Orten.    Viele   Pilger   kamen    auch 
aus    Schleswig-Holstein,    Mecklenburg,    Pommern,     Preussseo, 
einzelne  aus  Livland,   ja  einer  aus  Reval  in  Estland.     Andrer- 
seits sandten  auch   die   Niederlande    manchen   Gläubigen,    und 
aus   England,    wo    Ring  IV  gefunden   ist,   wird   wenigstens 
ein   Pilger    erwähnt,    im   J.  1482,    der  erber  zschan   persan 
(wohl  John  Person)  aus  der  sladl  Lüny  (London?).  Im  ganzen 
gehn  die  Aufzeichnungen  von  1405-1522,  unregelmässig  geord- 
net ;  ein  vereinzeltes  Wunder  folgt  vom  J.  1636 ;  leider  fehlen 
ältere  Fälle.     Meist  dieselben   Erzählungen  begegnen    in    dem 
«Summarischen   Bericht  des   Lebens  u.  s.  w.>,   des   H.  Him- 
melsfürsten  Ubaldi  u.  s.  w.     Freiburg  i.    B.   1628 ;    2.  Aufl. 
Bruntrut  1723,    sowie   in   »Malachias    Tschamser*s   Grrosser 
Thanner    Chronik»,   Golmar  1864,   und    den   übrigen  Qudien- 
schriften.    Jedenfalls    ist    der    H.   Theobald   an  der  Ost-,   wie 
Nordsee  als  Nothelfer   längere   Zeit    sehr  beliebt    gewesen  und 
viel  angerufen  worden,   und  zahlreiche  Pilgerfahrten    nach  der 
kleinen   entlegenen    Vogesenstadt   wurden    ihm  zu  Ehren  ange- 
treten.    Meinte  auch  ein  Pommerscher  Herzog,   den  sein  Mar- 
schall vergebens  um  Urlaub  bat,    die   Pilgerfahrten   geschähen 
nur  des  guten   Sundgauer  Weines    wegen^   und   der   bewirke 
auch  die  meisten  wunderbaren   Heilungen,    so  wurde   er    doch 
durch   eigenes   Siechtum    bekehrt   und    sandte  selbst  den  Mar- 
schall mit  reichen  Ehrengeschenken  hin.     Für  die  Zuverlässig- 
keit  der  Ueberlieferungen    spricht,   dass    z.    B.   ein    Lübecker 
Pilger  von  1486  einen  echt  lübschen  Namen  führt :  Hans  SchiU 


—    43    — 

Dass  aber  auch  noch  in  späterer  Zeit  die  Erinnerung  an 
die  alten  Pilgerfahrten  aus  dem  Norden  in  Thann  nicht  erloschen 
war,  zeigt  die  lateinische  Elegie  eines  frommen  Theobaldver- 
ehrers aus  der  Zeit  des  Dreissigjährigen  Krieges  in  dem  oben 
erwähnten  «Summarischen  Bericht»,  die  beginnt : 

Vos,  Dani  fortes  et  Ballhice  cum  Pomerano^ 
Omnis  ad  Oceanum  Teutonis  ora  procul : 

Qiufs  magni  ierrenl  victricia  Caesaris  arma 
.  El  Tilli  hello  gloria  parla  ducis  : 

Quaenam  mutavit^  quae  vos  sentenlia  vertit 
Thannensis  Divi  fecil  et  immemores? 

und  die  schliesst : 

Ergo  redite  viam,  patronum  agnosdle  veslrum^ 
Fidite!  cum  Domino  prislina  mira  dabit. 

«Hört,  ihr  tapferen  Dänen,  ihr  Pommern  am  Strande 

der  Ostsee, 
Du,  Teutonisch  Gestad,  fern  an  des  Oceans  Flut : 
Die  ihr  erzittert  jetzt  vor  den  siegenden  Waffen  des 

Kaisers 
Und    vor  dem    Kriegesruhm  Tilly's  des   Helden 

erbebt : 
Welcher  Wahn  denn  hat  euch  verkehrt,  euch  gänzlich 

verwandelt, 
Dass    ihr   des   Heil'gen   von    Thann    nimmer    in 

Ehren  gedenkt? 

Drum   kehrt  um   von  der  Bahn,  erkennt  ihn,  eueren 

Schutzherrn, 
Glaubt  nuri    Wunder,    wie    einst,   thut   er   mit 

göttlicher  Kraft.» 

Um  so  merkwürdiger  ist  es,  dass  ich  auf  meine  Anfrage 
weder  in  Lübeck,  noch  Rostock,  noch  Greifswald  einheimische 
Spuren  der  Verehrung  des  H.  Theobald  habe  entdecken  können. 

Wenn  sonst  Alles  trefflich  stimmt,  scheint  sich  doch  in- 
betreff' des  Lübecker  Ringes  eine  Schwierigkeit  hinsichtlich 
der  Zeit  zu  erheben.  Alt-Lübeck  ist  bereits  H38  durch  den 
Rügen'schen  Seeräuberfürsten  Ratze  (Race)  niedergebrannt  und 
niemals  an  derselben  Stelle  als  Stadt  wieder  aufgebaut  worden  ; 
Graf  Adolf  H.  von  Holstein  gründete  H43  das  jetzige  Lübeck, 
eine  Meile  weiter  abwärts  zwischen  Trave  und  Wackenitz.  Die 
Verehrung  des  H.  Theobald  aber  wird  wohl  erst  nach  seiner 
Heiligsprechung,  frühestens  im  Anfange  des  folgenden  Jahr- 
hunderts an   die  Ostsee  gekommen   sein.     Freilich  wurde  das 


—     44    — 

erste  Minoritenkloster  in  Lübeck  schon  1225  noch  bei  Leb- 
zeiten des  H.  Franziscus  von  Assisi,  des  Landsmannes  des 
H.  Ubaldy  gegründet.  Aber,  ganz  abgesehen  von  der  Frage, 
ob  die  Lage  AK-Lübecks  richtig  angesetzt  worden  ist  —  und 
das  ist  keineswegs  sicher  — :  das  Gnebaude,  in  dem  der  Ring 
gefunden  wurde,  kann  seiner  Kleinheit  wegen  (56  Fuss  Länge 
mit  der  Apsis,  27i/t  Fuss  Breite)  unmöglich  die  Kirche  einer, 
wenn  auch  kleinen,  Stadt  gewesen  sein.  Viel  wahrscheinlicher 
war  es  die  Kapelle  eines  Hofes  (curia),  den  die  Löbschen 
Bischöfe  spater  nachweislich  auf  dem  Gebiete  von  Alt-Lübeck 
errichtet  haben,  über  das  sie  bis  1317  mit  der  Stadt  Neu- 
Lübeck  in  heftigen  Streitigkeiten  standen.  Wann  diese  Curie 
zerstört  worden,  wissen  wir  nicht.  —  Noch  leichter  eried^ 
sich  das  Bedenken,  dass  das  neben  Ring  III  gefundene  Re- 
liquienkreuz «wahrscheinlich  aus  dem  11.  Jahrhundert  stan]me>, 
da  sich  derartiger  Schmuck  Jahrhunderte  lang  forterbte.  IHe 
Schriflform  des  Ringes  deutet  jedenfalls  auf  spatere  Zeit. 

Ist  nun  meine  Vermutung  richtig,  so  könnte  sie  den  Aus- 
gangspunkt für  eine  Reihe  weiterer  Untersuchungen  bilden, 
die  ich  mit  meinen  Mitteln  nicht  führen  kann,  z.  B.  :  Findet 
sich  vielleicht  doch  noch  irgendwo  eine  Beschreibung  des 
Ringes  des  H.  Theobald?  Wie  weit  ist  die  Neuneckigkeit  cha- 
rakteristisch? Sind  inzwischen  ähnliche  Amuletringe  entdeckt 
worden?  Begegnen  im  Norden  wirklich  gar  keine  Spuren 
der  Verehrung  des  Heiligen?  Lassen  sich  Zwischenstat tonen 
derselben  von  Thann  bis  Lübeck  nachweisen  ?  Wie  kam  der 
mitten  im  Binnenlande  heimische  Heilige  dazu,  auch  viel  ange- 
rufener Nothelfer  in  Seegefahr  zu  werden?  Sind  ferner  die 
Amuletringe  in  Thann  selbst  verfertigt  worden,  so  müsste  dort 
die  Juwelierkunst  geblüht  haben,  vielleicht  mit  Rheingold 
und  Markircher  Silber:  finden  sich  darüber  Nachrichtai? 
Da  die  Verehrung  des  Heiligen  in  Thann  selbst  noch  heute  io 
voller  Blüte  steht,  und  besonders  der  1.  Juli,  der  Tag  der 
Translation,  seit  1891  wieder  aufs  feierlichste  mit  Prozeäsion, 
Verbrennung  dreier  Tannenbäume,  Feuerwerk  u.  s.  w.  be- 
gangen wird,  so  wird  die  Lösung  obiger  Fragen  um  so  inter- 
essanter sein. 


IV. 


Graf  Durckheim. 

Lebensbild 
▼on 

K.  Hackenachmidt. 

xLs  war  ein  reiches,  vielhewegtes  Leben,  das  am  29.  Juni 
1891  auf  Schloss  Edia  (bei  Amstetten)  in  Nieder-Oesterreich 
seinen  irdischen  Abscbluss  fand,  und  das  wir  im  folgenden  zu 
schildern  versuchen  wollen. 

Wie  das  Sterbebett  des  Greisen,  so  war  einst  die  Wiege 
des  Kindes  fem  vom  Rhein  und  vom  Wasgau  gestanden. 
Ferdinand  Felix  Karl,  Graf  Eckbrecht  von  Durck- 
heim -  Montmart  in  wurde  am  1.  Juli  18i2  zu  Thüren- 
hofen  bei  Feucht wangen  in  Bayern  geboren.  Und  dennoch 
war  er  durch  seine  Abstammung  ein  Sohn  des  Elsasses.  Seine 
Ahnen  waren  eines  der  ältesten  und  angesehensten  Ritterge- 
schlechter unseres  Landes.  Schon  auf  Urkunden  des  12.  Jahr- 
hunderts werden  Dürckheime  als  Burgmänner  zu  Hagenau  ge- 
nannt. Im  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  trat  Heinrich  von 
Durckheim  durch  seine  Verheiratung  mit  Katharina  von  Win- 
stein  in  Besitz  der  Herrschaft  Schöneck  im  Unterelsass. 

Wenn  der  Wanderer  von  Reichshofen  aus  den  Schwarzbach 
aufwärts  pilgert,  so  kommt  er  hinter  dem  Jägerthal,  dessen 
Eisenhämmer  nun  leider  verstummt  sind,  in  eine  eigentümliche 
G^end.  Es  sind  endlose  Buchen-  und  Föhren wälder,  steil 
ansteigende,  mit  wilden  Felspartien  gekrönte  Hfigel,  dazwischen 
tiefe  Schluchten,  einsame  Thäler.  Man  kann  heute  noch  stun- 
denweit gehen,  ohne  auf  eine  menschliche  Wohnung  zu  stossen, 
ohne  anderen  lebenden  Wesen  zu  begegnen,    als  scheu  davon- 


—    46    — 

eilenden  Rehen.  Von  allen  Höhen  aber  schauen  aus  dem 
grünen  Laub  romantische  Schiosstrümmer  herab,  stumme  und 
doch  beredte  Zeugen  einer  dahingeschwundenen  Cultur.  Das 
architektonisch  so  schöne  Neu -Win  stein  b^rüsst  uns  zu- 
erst. Dann  tritt  das  halb  in  den  Sandstein  gehauene  Alt- 
W  i  n  s  t  e  i  n  hervor.  Gehen  wir  das  Thal  weiter  hinauf,  so 
erblicken  wir  zur  rechten  über  Dambach  den  Hohenfels, 
links  den  Win  eck  und  dahinter  das  rätselhafte  Witt- 
schlösschen.  Biegen  wir  um  den  Berg  herum,  Ober- 
Steinbach  zu,  so  erheben  sich  vor  uns  die  weitausgedehnten 
imposanten  Ruinen  von  Schöneck.  Mit  der  GreschicJite  dieser 
und  vieler  anderer  Burgen,  mit  den  Sagen,  die  sie  umranken, 
ist  der  Name  Dürckheim  aufs  innigste  verknöpft.  Ein  Hart- 
wig  von  Dürckheim,  genannt  der  Schwarze,  war  durch 
kühne  Kriegszuge  der  Schrecken  der  Gegend.  Wolf  Eck- 
brecht stand  mit  Franz  von  Sickingen  in  Burgfrieden  und 
teilte  mit  diesem  Siege  und  Niederlagen.  Cuno  Eckbrechl, 
sein  Sohn,  führte  die  Reformation  in  Fröschweiler  ein.  fjn 
anderer,  Wolf  Eckbrecht,  war  in  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  Oberst  in  kurpfalzischen  Diensten  und  ver- 
teidigte vergeblich  seine  Schlösser  gegen  die  eindringenden 
französischen  Heere.  1676  und  1677  gingen  alle  diese  Bui^n 
in  Flammen  auf.  Obwohl  der  Nimweger  Frieden  der  Familie 
die  entrissenen  Güter  wiedererstattete,  wollte  es  den  edlen 
Herren  unter  französischer  Herrschaft  nicht  femer  im  Elsass 
gefallen.  Christian-Friedrich  wurde  Kammerherr  des 
Kurfürsten  von  Mainz,  Ludwig-Karl,  der  Grossvater  un- 
seres Dürckheim,  war  Württembergischer  Gresandter  in  Wien 
und  Regensburg  und  wurde  1764  durch  Kaiser  Franz  I.  in  den 
Reichsgrafenstand  erhoben.  Er  heiratete  1764  die  Tocht^  des 
württembergischen  Ministers  Grafen  Du  Maz-Montmartin,  auf 
dessen  Wunsch  er  den  Namen  seiner  Gremahlin  dem  seinigen 
beifügte.  Karl-Fri  edrich- Johann,  sein  Sohn«  war 
schwedischer  und  württembergischer  Kammerherr.  Das  Wappea 
der  Dürckheim  ist  ein  sogenanntes  redendes,  eine  schwane 
Thürangel  auf  Silber. 

Als  die  Napoleonische  Herrschaft  ein  Ende  gefunden  hatte, 
zog  es  den  Vater  unsers  Grafen  vrieder  in  die  alte  Heimat 
seines  Geschlechts  zurück.  Er  begehrte  und  erhielt  für  sich 
und  seinen  Jüngstgeborenen  die  französische  Nationalität,  und 
damit  wurden  ihm  auch  ein  Teil  seiner  Güter  im  Unterelsass 
zurückerstattet,  die  während  der  Revolution  Nationalgut  ge* 
worden  waren.  Die  grossen  Waldungen  gaben  in  jenen  unweg- 
samen Gregenden  nur  einen  geringen  Ertrag.  Er  veräussert« 
dieselben  an  die  Dielrich'sche  Familie,  deren  Hüttenwerke  da- 


—    47    — 

mals  einen  grossen  Aufschwung  genommen  hatten.  Die  Frösch- 
weiler Guter  und  das  Schloss  daselbst  waren  im  Besitz  der 
Gebrüder  Strauss  -  Du  rckheim  ,  den  Nachkommen  einer 
Seitenhnie  der  Familie.  Graf  Karl  Friedrich  schlug  zuerst  in 
der  Nähe  seines  Stammsitzes,  in  Hagenau,  dann  in  der  Nähe 
seiner  Schwiegermutter,  der  Freiin  von  Bock,  in  Mutzig  seine 
Wohnung  auf.  Nach  dem  Tode  der  letzteren  (1822)  trat  er  in 
Besitz  des  Schlossgutes  zu  Bläsheim,  wo  er  endlich  für 
seinen  Lehensabend  die  erwünschte  Ruhe  fand. 

Es  war  bereits  still  geworden  um  den  alternden  Herren. 
Seine  vier  älteren  Söhne  waren  erwachsen,  als  die  Uebersiedelung 
nach  Frankreich  erfolgte,  und  blieben  in  Deutschland;  Otto 
und  Gustav  traten  beide  in  österreichische  Militärdienste. 
Der  Jüngste,  Ferdinand,  bezog  neunjährig  das  Institut,  das 
der  ehrwürdige  Pfarrer  Redslob  in  Strassburg  mit  grossem 
Erfolg  leitete,  und  besuchte  von  da  aus  die  Klassen  des  Gym- 
nasiums. 1824  bestand  er  das  übliche  Baccalaureats-Examen 
und  verlegte  sich  sodann  auf  das  Studium  der  Jurisprudenz. 
An  Gaben  fehlte  es  ihm  nicht,  auch  nicht  an  Fleiss,  aber 
freilich  Hessen  Ausflüge  nach  Bläsheim,  Landpartien,  Reit- 
übungen und  Jagdfahrten  manchmal  die  Studien  bedenklich 
zurücktreten.  Oestlich  von  Bläsheim  lag  unweit  vom  Rhein  ein 
herrlich  angelegtes  Landgut,  die  Thumenau.  Schöpfer  und 
Besitzer  desselben  war  der  damalige  Bürgermeister  von  Strass- 
burg, Baron  Friedrich  von  Türckheim,  der  Sohn  jenes 
Bernhard  von  Türckheim,  der  die  einst  von  Göthe  angeschwärmte 
Lili  Schönemann,  die  schöne  Frankfurter  Patriziertochter,  heim- 
geführt hatte.  Drei  liebliche  Töchter  waren  ihm  erblüht,  und 
wenn  der  junge  Graf  einen  Ritt  nach  der  Thumenau  allen 
anderen  Vergnügungen  vorzog,  so  waren  es  bald  nicht  bloss  die 
landwirtschaftlichen  Reize  der  englischen  Parkanlagen,  die  ihn 
anzogen.  Im  Jahre  1832  verlobte  er  sich  mit  Mathilde 
von  Türckheim,  und  trat,  um  seine  Auserkorene  bald 
heimführen  zu  können,  in  die  Landesverwaltung.  Sein  Name, 
seine  Familienbeziehungen  und  mehr  noch  sein  frisches,  fröh- 
liches Wesen  Hessen  ihn  rasch  vorrücken.  Nachdem  er  kurze 
Zeit  Assessor  des  Präfekten  von  Strassburg  gewesen  war,  wurde 
er  1835  zum  Unterpräfekten  von  Espalion,  im  Aveyron- 
Departement,  ernannt.  Die  Reise  nahm  zwölf  Tage  in  Anspruch 
und  wurde  in  einer  Kutsche  zurückgelegt ;  zwischen  dem  jungen 
Beamten  und  seiner  zarten  Frau  lag  in  einer  Hängematte  ihr 
neugeborenes  Knäblein.  Vier  Jahre  verharrte  er  in  jener  rauhen 
Gegend,  inmitten  einer  wenig  freundlichen  Bevölkerung;  dann 
kam  er,  nach  kurzer  Wirksamkeit  in  Nantua^  in  sein  liebes 
Elsass  zurück,    um    die  schöne  Unterpräfektur  von  Weissen- 


-  «  — 

bürg  zu  beziehen.  Leider  sollte  er  nur  kurze  Zeit  in  dieser 
Stellung,  die  seineu  Wünschen  völlig  entsprach,  bleiben.  Er 
hatte  die  Wahl  eines  Abgeordneten  zu  leiten ;  der  regierungs- 
freundliche Kandidat  fiel  durch,  in  Paris  gab  man  ihm  die 
Schuld  dieses  Misserfolgs  und  versetzte  ihn  nach  Pe renne 
an  der  Somme.  Zu  seinem  dortigen  Yerwaltungskreis  gehörte 
das  Schlots  Harn,  in  welchem  damals  Prinz  Napoleon  ab 
Gefangener  weilte.  Der  junge  Unterpräfekt  behandelte  den 
Prinzen,  dem  damals  schon  viele  Herzen  in  Frankreich 
schlugen,  mit  ritterlicher  Freundlichkeit  und  scheint  auch  auf 
den  Prinzen  einen  Eindruck  gemacht  zu  haben.  In  Provins, 
wohin  er  1844  kam,  traf  ihn  ein  harter  Schlag.  Schon  seit 
mehreren  Jahren  gab  die  Gesundheit  seiner  Gremahlin  zu 
ernsten  Befürchtungen  Anlass.  Ein  längerer  Aufenlhalt  im 
Süden  hob  das  Leiden  nicht.  Am  11.  August  1847  wurde  sie 
ihm  in  Pau  durch  den  Tod  entrissen.  Sie  starb  als  gläubige 
Christin  in  seliger  Ergebung  unter  GroUes  Willen.  Wenige 
Monate  darauf  brach  die  Februarrevolution  aus,  der  Graf  legte 
seine  Stellung  nieder  und  zog  nach  Niederehnheim,  in  die  Nähe 
der  befreundeten  Familien.  Seine  Administrations-Carriere  schien 
zu  Ende.     Ein  Graf  hafte  in  einer  Republik  keine  Zukunft. 

Aber  rasch  änderten  sich  die  Verhältnisse.  Der  Gefangene 
zu  Ham  war,  wider  alles  menschliche  Denken,  zum  Präsidenten 
gewählt  worden.  Er  hatte,  das  darf  zu  seinem  Lobe  nicht  ver- 
schwiegen werden,  ein  gutes  Gredächtnis  für  die,  welche  ihm 
in  den  Zeiten  der  Schmach  freundlich  entgegengetreten  waren. 
Der  Graf  wurde  an  die  Unter-Präfektur  zu  Schlettstadt 
und  bald  darauf,  am  12.  Mai  1850,  an  die  Prafektur  von  Cd- 
mar  berufen.  Er  hatte  in  der  Zwischenzeit  in  der  Person 
seiner  Schwägerin,  der  liebenswürdigen  Fanny  von  Törek- 
heim,  an  Stelle  der  heimgegangenen,  eine  überaus  treue  Ge- 
hilfin gefunden. 

Colmar  war  ein  schwieriger  Posten.  Die  Bevölkerung  war 
republikanisch  gesinnt.  In  den  Fabrikstädten  hatte  der  Cora- 
munismus  viele  Anhänger.  In  Mülhausen,  das  bekanntlich  erst 
seit  dem  Anfange  des  Jahrhunderts  zu  Frankreich  gehörte,  regte 
sich  fort  und  fort  das  unruhige  Schweizerblut,  und  die  reichen 
Fabrikherren  dort  waren  von  jeher  für  die  Präfekten  kein 
leichtes  Verwaltungsobjekt.  Der  damalige  Präsident  der  Repu- 
blik erfuhr  es  selber,  als  er  die  östlichen  Departemente  durch- 
reiste, um  Stimmung  für  das  Kaisertum  zu  machen.  In  Mül- 
hausen weigerte  sich  die  Nationalgarde  zu  seinem  Empfang 
auszurücken,  und  in  Colmar  umringle  das  Volk  die  Prafektur 
und  Hess  unablässig  bis  in  die  tiefe  Nacht  hinein  die  Republik 
hoch  leben.    «Qu'est-ce  qu'ils  ont   donc  k  crier?>  so  fragte  ein- 


-    49    — 

mal  übers  andere  während  dem  offiziellen  Essen  der  Prinz-Präsi- 
dent. Er  hatte  an  jenem  Abend  seine  Migräne.  Noch  in  späten 
Jahren  pflegte  man  in  der  Familie  die  Kammerjungfer,  die  gute 
Annette^  damit  zu  necken,  dass  sie  damals  dem  Prinzen  das  ver- 
langte heisse  Fussbad  in  einem  einfachen  hölzernen  Kübel  brachte. 

Der  Präfekt  trat  sehr  energisch  auf.  Die  Entlassung  der 
Mülhauser  Nationalgarde  ernüchterte  die  Gemüter.  Dank  seiner 
Geistesgegenwai*t  rief  der  Staatsstreich  vom  2.  Dezember  1851 
keine  Unruhen  hervor.  Nach  dem  Sieg  des  Kaisertums  sollte 
das  Grericht  über  die  Gegner  desselben  ergehen.  Es  war  be- 
reits i-ine  Proskriptionsliste  aufgestellt,  die  die  Namen  der  an- 
gesehensten Bürger  des  Departements  enthielt.  Hier  bewies 
jedoch  Graf  Dürdcheim,  dass,  wenn  er  der  neuen  Regierung 
ergeben  war,  er  durchaus  nicht  gewillt  war,  ein  Scherge  der- 
selben zu  werden.  Er  reiste  nach  Paris  und  trat  beim  Kaiser 
personlich  för  seine  bedrohten  Untergebenen  ein.  Seinem  ener- 
gischen Einschreiten  hatten  sie  es  zu  verdanken ^  dass  sie  nicht, 
wie  so  viele  andere,  nach  Lambessa  wandern  mussten.  Aber 
freilich  war  dieser  Beweis  der  Unabhängigkeit  nicht  im  Sinne 
der  Herren,  die  damals  das  Ohr  des  Kaisers  besassen.  Man 
verklatschte  den  Grafen  in  Paris  wegen  seinen  freundschaft- 
lichen Beziehungen  zu  einigen  vornehmen  Familien,  die  der 
gestürzten  Regierung  anhingen,  und  1853  hatte  er  eines  Tages 
die  Ueberraschung,  im  cMoniteun  ein  kaiserliches  Dekret  zu 
lesen,  das  ihm  einen  Nachfolger  ernannte.  Er  beschwerte 
sich  sogleich  in  Paris  und  überzeugte  den  Kaiser  von  seiner 
Unschuld.  Aber  was  geschehen  war,  war  geschehen.  Zur 
Entschädigung  erhielt  er  die  gut  dotierte  Stellung  eines  Gene- 
ralinspektors der  Telegraphen. 

Unterdessen  war  ihm  infolge  des  Todes  des  Herrn  Eras- 
mus  von  Strauss-Dürckhei  m,  seines  Vetters,  ein  Teil 
der  Fröschweiler  Güter  und  das  im  Bau  begriffene  dortige 
Schloss  zugefallen,  —  der  andere  Herr  von  Strauss  hinterliess 
bekanntlich  seinen  Anteil  der  Stadt  Strassburg.  Durch  den 
Verkauf  der  Bläsheimer  Güter  wurde  er  in  Stand  gesetzt,  die 
neue  Besitzung  bedeutend  zu  erweitern.  Er  baute  das  Schloss 
aus  und  im  Jahre  1854  siedelte  er  sich  mit  seiner  Gemahlin 
und  den  drei  Söhnen,  die  sie  ihm  geschenkt  hatte,  in  dem  lieb* 
liehen  Dorfe  an,  das  auf  einem  der  letzten  Vorsprünge  der 
Vogesen  so  freundlich  zwischen  seinen  Obstbäumen  heraus  ins 
Land  schaut.  Seine  neue  Stellung  legte  ihm  nur  die  Pflicht 
auf,  jährlich  einige  Departemente  zu  inspizieren.  Im  übrigen 
war  er  frei  und  konnte  residieren,  wo  er  wollte.  Hier  begann 
nun  für  den  Grafen  ein   Leben,  wie  er  es  sich  nicht,   schöner 

4 


—    60    — 

wünschen  konnte.  Er  widmete  sich  mit  Eifer  der  Landwirt- 
schaft und  suchte,  freiUch  nicht  immer  mit  Glück,  bei  den 
Bauern  für  neue  Gulturmethoden  Sinn  zu  wecken«  Die  Abende 
gehörten  der  Litteratur  und  der  Geselligkeit.  Im  Familienkreise, 
der  sich  um  die  traute  Lampe  versammelte,  hatte  die  liebe 
cbonne-maman«,  die  verwitwete  Schwiegermutter,  Frau  von 
Tärkheim,  den  Ehrensitz.  Auch  der  Schwager,  Oberf5rster 
Adolf  von  Türkheim,  wat*  oft  zugegen.  Der  junge  geist- 
reiche Ortspfarrer,  der  jetzige  Konsistorialrat  M.  Reichard, 
gesellte  sich  mit  seiner  Frau  zur  Tafelrunde.*  Dann  wurde 
vorgelesen  und  erzählt.  Die  Inspektionsreisen  waren  für  den 
Grafen  eine  unerschöpfliche  Quelle  anschaulicher  Schilderangen, 
besonders  wenn  sie  ihn,  wie  im  Jahre  1866  nach  Algerien 
und  Tunis  geführt  hatten. 

Ich  darf  hier  wohl  erzählen,  bei  welcher  Gel^^nheit  mir 
die  Ehre  seiner  Bekanntschaft  wurde.  Es  war  am  5.  Juli  1860, 
ein  herrlicher  Sommertag.  Ich  war  Kandidat  und  hatte  mor- 
gens in  Frosch  Weiler  meine  ers^e  Predigt  gehalten.  An  jenem 
Tage  fand  im  Bezirk  eine  Wahl  für  den  Generalrat  statt.  Der 
Graf  hatte  seine  Kandidatur  aufstellen  lassen ;  die  Regierung 
stand  jedoch  gegen  ihn,  so  dass  seine  Wahl  zweifelhaft  vrar. 
Am  Abend  kamen  von  allen  umliegenden  Ortschaften  Abgeord- 
nete mit  den  Ergebnissen  der  Abstimmung.  Ueberall  glanzende 
Majoritäten !  Der  Schlossgarten  füllte  sich  mit  Landleuten,  die 
ihrem  neuen  Vertreter  Glück  wünschten.  Wein  wurde  auf- 
getragen, es  war  ein  fröhliches  Treiben,  dem  ich  gerne  zu- 
schaute. Zuletzt  stand  der  Graf  auf  einen  Stuhl  und  dankte 
mit  warmen  Worten.  Ein  Satz  seiner  Rede  ist  mir  unvergess- 
lich  geblieben :  cMeine  Herren,  wir  müssen,  wenn  wir  fort- 
schreiten wollen^  hinüber  schauen  über  den  Rhein,  und  von 
unseren  Nachbaren,  den  Deutsöhen,  lernen  I> 

Diesem  Friedensbild  aus  dem  Leben  eines  Landedelmannes 
stelle  ich  zwei  andere  gegenüber,  deren  Zeuge  ich  zehn  Jahre 
später  wurde.  Das  Ungeahnte,  Unglaubliche  war  geschehen ; 
zwischen  Frankreich  und  Deutschland  war  Krieg  ausgebrochen. 
Auch  das  verborgene  Jägerthal,  eine  Stunde  hinter  Froschweiler, 
das  ich  damals  bewohnte,  war  von  französischen  Truppen  besetzt. 
Aber  im  Laufe  des  4.  August  war  alles  abgezogen,  und  gegen 
Abend  vernahm  man  im  Thale  nichts  mehr  als  das  rauschende 
Wasser  und  die  Signale  des  Hochofens,  und  aus  weiter  Ferne, 
vom  Nordosten  her  Kanonendonner.  Von  Mund  zu  Mund  gings : 


1  Kontistorialrat  Reichard    hat   in   der  Conservaitiven    MonalB- 
Schrift  seinem  verewigten  Freunde  ein  Denkmal  gesetzt 


—    51    — 

«Heute  sind  sie  über  die  Grenze  I«  Am  folgenden  Tag  ganz 
früh  machte  ich  mich  auf  den  Weg  hinüber  nach  Fröschw^iler, , 
um  dort,  wie  ich  hoffte,  etwas  neues  zu  hören.  Als  hinter 
Neehweiler  das  Dorf  in  Sicht  kam,  da  konnte  man  schon  wahr- 
nehmen, wie  es  von  französischen  Truppen  wimmelte.  Und  im 
Dorie  selbst,  welch  ein  Anblick!  Auf  der  Strasse,  vor  den 
Häusern,  lagen  ganze  Reihen,  die  einen  schlaifend,  die  andern 
fluchend  und  schimpfend,  alle  Waffengattungen  durcheinander, 
alle  mit  den  Zeichen  grösster  Erschöpfung.  Soldaten  drangen 
in  Scharen  in  die  Häuser  und  flehten  um  Lebensmittel.  Andejre 
suchten  sich  zwischen  Pferden  und  Wagen  an  einen  der  wenigen 
Brunnen  des  Ortes  zu  drängen.  Dazwischen  schallten  Kom- 
mandorufe, die  niemand  beachtete,  Scherze,  die  niemand  be- 
lachte. Mühsam  gelangte  ich  ins  obere  Dorf  zur  Kirche.  Am 
Eingang  des  Pfarrhauses  stand  der  damalige  Ortsgeistliche, 
Pfarrer  Klein.  «Was  bedeutet  das  alles?»  fragte  ich  ihn  rasch. 
Cr  nahm  mich  auf  die  Seite  und  flüslerte  mir  zu,  was  vorge- 
fallen war :  die  Franzosen  zu  Weissenburg  geschlagen,  General 
Douai  getötet !  eine  zweite  Schlacht  werde  in  den  nächsten 
Tagen  hier  erwartet,  das  gräfliche  Schloss  sei  französisches 
Hauptquartier!  Ich  schaute  hinüber.  Eben  ritten  einige  Gene- 
rale durch  das  Schlossthor,  in  der  Mitte  Marschall  Mac- 
Mahon  selber!  und  wie  finster  blickte  er  auf  das  wilde 
Treiben  in  der  Dorfgasse  1  Nachdem  ich  in  diese  Züge  ge- 
schaut hatte,  war  ich  über  den  Ausgang  des  Krieges  nicht 
mehr  in  Zweifel. 

Zwei  Tage  nachher  gings  wieder  hach  Frosch  weiter,  aber 
diesmal  um  Nahrungsmittel  und  Hilfe  zu  bringen.  Inzwischen 
war  die  Schlacht  von  Wörth  geschlagen  worden.  Noch  lagen 
in  den  Wiesen  um  das  Dorf  unljestattet  die  Leichen  der  Ge- 
fallenen. Im  Dorfe  rauchten  Trümmer,  schauten  aus  den  Fenstern 
entsetzte  Gesichter  heraus.  Und  überall  Verwundete,  von  denen 
die  meisten  noch  keine  Pflege  erhalten  hatten  1  Und  wie  sah 
es  erst  droben,  neben  der  Kirche,  die  nur  noch  verrauchte 
Mauern  zeigte,  im  Schloss  aus?  Die  Vorderseite  des  stattlichen 
Gebäudes  bot  mehrere  tiefe  Breschen,  die  Blumenbeete  waren 
zerstampft ;  unmittelbar  am  Eingang  streckte  ein  gefallenes 
Pferd  die  Beine  in  die  Höhe,  und  im  Schlosse  selbst,  in 
den  Scheunen  und  Stallungen,  in  den  Höfen  und  Gärten  nichts 
als  Verwundete  und  Verwundete,  und  inmitten  dieses  Grauens, 
und  Jammers  die  Gräfin,  ruhig  und  gefasst  und  nach<  Kräften 
bemüht,  der  grössten  Not  abzuhelfen  und  etwas  Ordnung  zu 
bringen  in  die  Wirrnis. 

Und  der  Schlossherr?   Er  war  beim  Ausbruch  des  Kriegs 
nach    Metz    berufen   worden,    um    das    Telegraphenwesen    im, 


—    52    — 

kaiserlichen  Hauptquartire  zu  leiten.  Die  Depeschen,  welche  die 
ersten  französischen  Niederlagen  und  die  teilweise  Zerstörung 
Fröschweilers  meldeten,  gingen  alle  durch  seine  Hand.  Man 
kann  sich  denken,  wie  schwer  es  ihm  war,  an  diesen  Schreckens- 
tagen  fern  von  den  Seinen  zu  weilen.  Aber  er  musste  an  seinem 
Posten  ausharren^  bis  der  Zusammenbruch  des  Kaisertums  ihn 
seines  Dienstes  enthob.  Nun  eilte  er  durch  die  Pfalz  und  Baden 
in  die  Heimat.  Welch  eine  Ruckkehr  I  Die  Gemahlin  und  die 
zwei  jüngsten  Söhne  fand  er  zwar  wohlbehalten  wieder,  aber 
von  seinem  ältesten  Sohn  Edgar,  der  im  französischen  Heere 
diente,  war  man  ohne  Nachricht,  und  bald  konnte  man  nicht 
mehr  bezweifeln,  dass  er  den  Strapazen  des  Feldzugs  erlegen 
war.  Der  zweite  Sohn  war  als  Mobilgardist  in  Strassburg  ein- 
geschlossen. Noch  klafften  am  Schloss  die  Kugelbreschen. 
Scheunen  und  Stallungen  waren  leer,  der  Park  in  einen  Kirch- 
hof verwandelt.  Wir  Deutschgesinnten  fragen  uns  :  Wie  wird 
sich  Graf  Dürckheim  zu  der  Sachlage  stellen?  Wir  kannten 
seine  Liebe  zu  Deutschland,  aber  wird  dieses  Gefühl  stand- 
halten beim  Anblick  der  tiefen  Wunde,  die  der  Krieg  seinem 
Elsass  und  seinem  eigenen  Familienglück  und  Wohlstand  ge- 
schlagen hatte,  und  angesichts  des  tiefen  Grolls,  mit  dem  der  Ge- 
danken an  eine  Lostrennung  von  Frankreich  allenthalben,  und 
besonders  von  Seiten  der  befreundeten  Adelsfamiiien  in  der 
Nachbarschaft,  aufgenommen  wurde?  Zu  unserm  fineudigen 
Erstaunen  blieb  der  Graf  keinen  Augenblick  unentschieden.  Er 
machte  keinen  Hehl  von  seiner  Ueberzeugung,  dass  trotz  alleni 
Schweren,  das  die  unerwartete  Wendung  seines  Geschickes  für 
das  Elsass  zur  Folge  hatte,  seine  Wiedervereinigung  mit 
Deutschland  als  ein  Glück  zu  betrachten  sei.  In  einem  Schreiben, 
das  der  Niederrheinische  Kourier  veröffentlichte,  forderte  er 
seine  Landsleute  auf,  sich  in  das  Geschehene  zu  fugen  und 
freudig  in  die  Zukunft  zu  schauen.  Freilich  hatte  dasselbe  zu- 
nächst nur  den  Erfolg,  diesseits  und  jenseits  der  Vogesen  einen 
Sturm  des  Zornes  und  eine  Flut  von  Schmähungen  zu  erregen, 
die  der  Graf  ruhig  im  (xefühl  der  vollbrachten  Pflicht  über 
sich  ergehen  Hess. 

Der  Krieg  war  beendigt,  auf  das  Zerstören  sollte  das  Bauen 
folgen.  Mit  seinem  Namen,  seiner  deutschen  Gesinnung  und 
seinem  Verwaltungstalent  schien  der  Graf  dazu  berufen,  in 
erster  Linie  mitzuwirken  an  der  Reorganisation  der  annektierten 
Provinzen.  Im  März  1871  reiste  er  auf  das  Zureden  des  da- 
maligen Gouverneurs  Grafen  Bismarck-Bohlen  mit 
vier  andern  Herren  nach  Berlin,  um  dem  Reichskanzler  die 
Wünsche  und  Bedürfnisse  des  Landes  mündlich  vorzutragen. 
Die    Herren   wurden    freundlich    aufgenommen,    der    Graf  in- 


—    53    — 

Sonderheit,  der  durch  sein  entschiedenes  Wesen  auf  den  Reichs- 
kanzler  einen  vonäglichen  Eindruck  machte  und  auch  am  Hofe 
gefiel.  £r  kam  zurück  voll  Holfpungen  auf  eine  schöne  Wirk- 
samkeit im  Dienst  seines  engern  Vaterlands.  Leider  sollten  sie 
nicht  in  Erfüllung  gehen.  Am  16.  April  fand  in  Strassburg 
jene  berühmte  Notablenversammlung  statt,  die  das  Losungswort 
in  das  Land  warf :  Lasst  uns  unsere  elsassische  Nationalität 
retten!  und  aus  der  die  sog.  autonomistische  Partei  entstand. 
Die  meisten  dieser  Herren  waren  Deutschland  sehr  abgeneigt, 
aber  sie  einigten  sich  in  dem  Grundsatz :  Wir  unterdrücken 
unsere  Gefühle  und  suchen  Einfluss  zu  bekommen  auf  die 
Leitung  der  Geschäfte,  damit  die  elsassische  Eigentümlichkeit 
nicht  von  den  deutschen  Einrichtungen  verschlungen  werde« 
Eine  neue  Deputation  reiste  nach  Berlin,  die  zunächst  den  Er- 
folg hatte,  dass  eine  Anzahl  von  Anordnungen,  welche  die 
deutsche  Verwaltung  getroffen  hatte,  und  welche  den  Herren 
besonders  ein  Dom  im  Auge  waren,  rückgängig  gemacht  wurden. 
Graf  Bismarck- Bohlen  legte  seine  Stellung  nieder  und  wurde 
durch  Herrn  von  Möller  ersetzt. 

Graf  Dürckheim  war  natürlich  mit  der  Wendung,  welche 
jetzt  die  Dinge  nahmen,  sehr  wenig  einverstanden.  Er  miss- 
billigte eine  ganze  Anzahl  Massregeln  und  machte  davon  keinen 
Hehl.  Tief  verletzte  es  ihn,  dass  Männer,  die  im  Privatverkehr 
nicht  genug  Preussen-  und  Deutschenhass  an  den  Tag  legen 
konnten,  bei  der  Regierung  obenan  waren  und  mit  Vorliebe  zu 
Rate  gezogen  wurden;  ebenso  dass  junge  Leute,  die  sich  durch 
Option  dem  deutschen  Militärdienst  entzogen  hatten,  ungehindert 
im  Lande  bleiben  und  die,  welche  ihren  Militärpflichten  genügt 
hatten,  darüber  verhöhnen  durften.  Wir  können  freilich  nicht 
verschweigen,  dass  der  Graf  in  seinem  abfalligen  Urteil  über 
Beamte  und  Massregeln  oft  viel  zu  weit  ging  und  seine  Worte 
nicht  immer  sorgfältig  abwog.  Er  war  trotz  seiner  Jahre 
jugendlich  feurig  in  Hass  und  Liebe  und  jugendlich  rasch  im 
Handeln  und  im  Reden^  und  hat  sich  manchmal  unnötig  er- 
eifert und  manchen  unrecht  beurteilt.  Man  trage  es  ihm  nicht 
mehr  nach  I  Es  war  eine  bewegte  Zeit,  und  auch  weniger 
leidenschaftliche  Naturen  wie  der  Graf  fühlten  es  schmerzlich, 
dass  bei  einer  deutschen  Verwaltung  deutsche  Gesinnung  nun 
auf  einmal  so  wenig  galt. 

Eine  grosse  Ehre  und  Freude  wurde  dem  Grafen  zu  teil ,  als  im 
August  1876  Seine  Majestät  der  Kaiser  zum  ersten  Mal  seit  dem 
grossen  Kriege  den  elsässischen  Boden  betrat  und  die  an  Stelle 
der  abgebrannten  neu  und  herrlich  erstandene  Friedenskirche 
in  Fröschweiler  in  Augenschein  nahm.  Der  Graf  durfte  im  Auf- 
trag der  Gemeinde  den  hohen  Monarchen  am  Eingang  des  Dorfes 


—    54    -^ 

begrüssen.  Er  that  es  in  markigen  Worten,  die  sichtlich  Eindruck 
machten.  Vor  dem  Portal  der  Kirche  standen  Abordnungen  der 
-ländlichen  Bevölkerung  der  Umgegend,  die  dem  Kaiser  begeistert 
huldigten.  Zum  ersten  Mal  bekundete  sich  die  Zaubermacht, 
welche  die  Erscheinung  des  greisen  und  doch  noch  so  wunder- 
bar geistesfrischen  Monarchen  und  dessen  so  ungemein  leut- 
seliges Auftreten  auf  das  elsassische  Gemüt  ausübte.  Nachdem 
Seine  Majestät  die  Kirche  besichtigt  und  .seinen  Namenszug  in 
das  Fremdenbuch  eingetragen  hatte,  betrat  er  mit  dem  Kron- 
prinzen und  den  Herren  seines  Gefolges  das  gräfliche  Schk)S8 
und  nahm  einige  Erfrischungen  an.  Ich  durAe  selber  Zeuge 
sein  von  der  huldvollen  Weise,  in  welcher  der  Kaiser  mit  dem 
•Grafen  und  dessen  Familie  verkehrte.  Zweimal  musste  er  daran 
erinnert  werden,  dass  die  zur  Rückfahrt  bestimmte  Stunde 
geschlagen  hatte. 

Sonst  wusste  der  Graf  die  Müsse,  die  ihm  seine  Pensio- 
-nierung  Hess,  zu  litterarischen  Arbeiten  zu  verwenden.  Er 
übersetzte  seine  französischen  Lieblingsdichter  in  deutsche  Verse. 
Er  versuchte  sich  selber  mit  mehr  oder  weniger  Glück  in  der 
edlen  Dichtkunst  und  gab  für  seine  Freunde  ein  Bändchen 
Gedichte  heraus.  Folgende  Strophe  ist  gewiss  nicht  ohne  poeti- 
schen Schwung. 

0  deatsches  Lied,  da  herrlichstes  tod  allen, 

Wie  hast  dn  mich  durchs  Leben  tren  geführt ! 

Ich  könnt'  noch  kaum  ein  sterblich  Wörtlein  lallen, 

Da  hatte  schon  dein  Zanber  mich  berührt: 

An  meiner  Wiege^  als  ob  Engel  sangen, 

Klangst  da  so  hold  von  süssen  Lippen  mir. 

Der  erste  Schmerz  entwich  vor  deinen  Klängen, 

Mein  erstes  Lächeln  dankt^  die  Matter  dir! 

In  einer  Zeitschrift  fand  er  eine  ungünstige  Aeusserung 
über  das  Benehmen  der  Li  Mi  (Elise  Schönemann)  gegen 
Göthe.  Er  wollte  zuerst  nur  in  einer  Einsendung  das  An- 
denken der  Grossmutter  seiner  Gemahlin  in  Schutz  nehmen. 
Aus  dem  Aufsatz  wurde  aber  ein  ganzes  Buch,  das  1879  unter 
dem  Titel  Lilli's  Bild  erschien,  und  das  einen  wertvollen  Bei- 
trag zur  Göthelitteratur  bildet.  Dem  Werk  ist  ein  herriicfaes 
Porträt  der  Lilli  nach  einem  Familienbild  und  eine  Reihe 
höchst  interessanter  Briefe  von  ihr  und  ihren  Freunden  bei- 
gegeben. 

Mit  seinen  litterarischen  Beschäftigungen  erwarb  sich  der 
Graf  litterarische  Freundschaften.  Geibel  trat  mit  ihm  in 
Brief-  und  Gedichte  Wechsel.  Boden  stedt  besuchte  ihn.  Der 
Pfälzer  Gelehrte  Dr.  Leyser  stand  ihm  ratend  zur  Seite.  Zahl- 


—    56    — 

lose  Besucher  des  Schlachlfeldes  klopften  auch  im  Schlosse  an 
und  ¥^aren  willkommene  Gäste.  Von  einem  steif  zugeknöpften, 
stolz  berabblickenden,  kalt  abgeschlossenen  Adeligen  war  Graf 
Dürckheim  das  contrare  Gegenteil. 

Im  Familienkreise  hatte  sich  inzwischen  manches  geändert. 
Die  gute  Grossmutler  Türkheim  war  vor  dem  Sturm  abge- 
rufen worden.  Onkel  Adolf  hatte  nur  kurze  Zeit  das  Gluck 
gehabt,  einer  deutschen  Verwaltung  zu  dienen.  Der  älteste' der 
Sohne  aus  zweiter  £he,  Gra t  Wolf,  war  in  den  österreichischen 
Militärdienst  getreten.  Der  zweite,  Erasmus,  der  sich  dem 
Forstwesen  widmen  wollte  und  vor  den  letzten  Prüfungen  stand, 
wurde  den  beklagenswerten  Eltern  durch  den  Tod  entrissen. 
Als  der  jüngste  Sohn  sich  ein  eigenes  Heim  gründete,  fasste 
der  Graf  einen  grossen  Entschluss.  Er  uberliess  diesem  und 
seinem  jungen  Eheglück  das  Frosch  weiter  Schlossgut  und  nun 
wohin?  Im  Elsass  geßel  es  ihm  nicht  mehr,  seitdem  die  da- 
nnalige  Regierung  nach  seinem  Dafürhalten  das  System  der 
Nachgiebigkeit  auf  die  Spitze  trieb.  Sein  Herz  zog  ihn  nach 
Oesterreich,  wo  sein  Sohn  Wolf  eine  glänzende  Laufbahn  zu- 
rücklegte, wo  er  Verwandte  und  Freunde  hatte,  wo  der  Adel 
am  meisten  seiner  Art  und  Weise  entsprach.  Er  brachte  das 
Schloss  Edia,  bei  Amsletten,  das  früher,  wenn  ich  recht  be- 
richtet bin,  Eigentum  des  Herzogs  von  Coburg  gewesen  war, 
käuflich  an  sich  (1883),  und  hier  wurde  ihm  und  seiner  Ge- 
mahlin inmitten  einer  herrlichen  Natur  und  in  Gemeinschaft 
mit  seinem  Sohn  und  dessen  Familie  ein  schöner,  ruhiger 
Lebensabend.  Doch  die  Ruhe  war  keine  Unthätigkeit.  Er  hielt 
Rückblick  auf  die  hinter  ihm  liegende  Lebensbahn  und  schrieb 
seine  Erinnerungen,  die  er  in  drei  Bänden  für  seine 
Freunde  drucken  Hess.  Ein  unternehmender  Stuttgarter  Buch- 
händler wurde  auf  das  Werk  aufmerksam  und  nahm  es  in  Verlag. 
Es  erschien  aufs  neue  in  zwei  Bänden  und  fand  in  ganz  Deutsch- 
land einen  so  grossen  Anklang,  dass  eine  zweite  Auflage  binnen 
kurzem  nötig  wurde.  Diese  Memoiren  haben  einen  bleibenden 
Wert  als  Beitrag  zur  Greschichte  des  zweiten  Kaiserreichs  und 
zur  Charakteristik  Napoleon  IIL  Sie  zeigen,  dass  der  Mann, 
der  durch  seine  Fehler  und  Verbrechen  so  viel  Unglück  auf  sein 
Volk  gebracht  hat,  auch  seine  bessere  Seite  hatte  und  nicht 
ganz  verdienstlos  zu  seiner  hohen  Stellung  gelangt  war.  Der 
Erfolg  dieses  Buches  und  die  günstige  Beurteilung,  die  es 
überall  erfuhr,  war  eine  der  letzten  grossen  Freuden,  die  dem 
Grafen  zuteil  wurde.  Er  sah  sich  dadurch  ermutigt,  unter  dem 
Titel  Allerlei  Gereimtes  und  Ungereimtes  eine 
hübsche  Sammlung  von  Gedichten,  Novellen  und  Reiseschilde- 
rungen herauszugeben. 


—    56    — 

Als  er  die  ersten  Exemplare  seinen  Freunden  schickte, 
war  bereits  seine  bisherige  jugendliche  Rüstigkeit  den  €ie- 
brechen  des  Alters  gewichen.  Doch  blieb  der  Geist  bis  ans 
Ende  frisch.  Von  seinem  Schmerzenslager  schrieb  er  an  seine 
Freunde  Briefe  voll  Ergebung  und  fröhKchem  Gottvertrauen. 
Am  29.  Juni  1891  schlug  ihm  die  Stunde  der  Erlösung.  Seine 
irdische  Hülle  ruht  in  Fröschweiler  in  der  Familiengnift  unter 
dunkeln,  rauschenden  Tannen.  In  weitem  Umkreise  schlafen 
dort  viele  Tausende  mit  ihm  denselben  Schlaf.  Die  GeGide  um 
Wörth  und  Fröschweiler  sind  ein  weites  gtorreiches  Toienfekl. 
Graf  Dürckheim  ist  seiner  Genossen  im  Erdenschoss  nicht  un- 
wert: Er  hat,  wie  sie,  für  eine  grosse  Sache  gestritten  und 
gelitten. 


i 


V. 


Die  Strassburger  und  die  St.  Petersburger 

Blessigstiftung. 

Geschichtliche   Mitteilangen 

Ton 

Julius  Rathgeber. 

Ziu  Anfang  des  Jahres  1847,  aus  Anlass  der  bevorstehen- 
den Säcularfeier  des  Strassburger  hochverdienten  Professors  der 
Theologie  und  begabten  Kanzelredners  Dr.  Johann  Lorenz 
Blessig,  der  als  Prediger  und  Seelsorger  35  Jahre  lang  an 
der  Neuen  Kirche  zu  Strassburg  gewirkt  hatte,  regte  der  geist- 
liche Inspektor  Friedrich  Wilhelm  Edel  in  einer  kleinen 
Denkschrift  1  die  Gründung  einer  mildthätigen  Stiftung  zur 
Versorgung  notleidender  Kinder  an.  Er  gab  auch  zu  diesem 
Zwecke  die  sog.  c  Monatblätter  der  Blessig-Stiflung»  heraus, 
welche  vier  Jahrgänge  umfassen  und  von  1847  bis  1850  er- 
schienen und  äusserst  wertvolle,  bisher  ungedruckte  Beiträge 
zu  dem  Leben  und  Wirken  Dr.  Blessigs  enthalten.  Derselbe 
erblickte  das  Licht  der  Welt  zu  Strassburg  den  S^.  März  1747 
und  starb  daselbst  den  17.  Februar  1816.  Die  Blessig-Stiftung 
trat  auch  wirklich  am  15.  April  1847  nach  der  kirchlichen 
Dankesfeier    zum   Gedächtnis   Dr.  Blessig's,  die   in    der  Neuen 


I  Diese  Denkschrift  ist  also  betitelt :  Blessig-Stiftung. 
Dringende  Einladung  und  Bitte  an  alle  Menschenfreunde  am  Bei- 
hilfe zur  Versorgung  nothleidender  Kinder.  cWer  ein  solches  Kind 
aofiiimmt  in  meinem  Namen,  der  nimmt  mich  auf. »  Jesus  Christus 
Ifatth.  18,  ö.  Starassborg,  bei  F.  C.  Heitz. 


—    58    — 

Kirche  zu  Strassburg  abgehalten  wurde,  ins  Leben  und  wirkt 
seitdem  in  segensreicher  Weise  in  Strassburg  fort.  Die  Sta- 
tuten der  Strassburger  Blessig-Stiflung,  die  den  meisten  Lesern 
des  Jahrbuchs  wohl  unbekannt  sein  werden,  haben  tolgenden 
Wortlaut : 

Art.  1.  Die  Blessig-Stiflung  ist  eine  der  evangeliacheo 
Kirche  angehörige  Anstalt,  gegründet  am  15.  April  i847  zum 
dauerhaften  und  gesegneten  Andenken  an  die  vor  hundert 
Jahren  stattgehabte  Geburt  des  edlen  Menschen,  des  bewährten 
Christen,  des  um  Vaterland  und  Kirche  hochverdienten  Christen- 
lehrers  und    Kinderfreundes    Dr.  Johann   Lorenz   Blessig. 

Art.  2.  Ihr  Zweck  ist  Unterbringen  hilfsbedürfliger 
Kinder  jedes  Alters  und  Geschlechts  in  christlichen  Familien, 
also  bestmögliche  Versorgung  und  Ueberwachung  derselben; 
aussei*dem  auch  sonstige  Unterstützung  notleidender  Kinder. 

Art.  3.  Ihre  Wirksamkeit  soll  sich  ausdehnen  aber  die 
beiden  Rheindepartemente  und,  insofern  die  Mittel  es  erlauben, 
über  die  angrenzenden  Gegenden  Frankreichs,  also  über  die 
östlichen  Departemente. 

Art.  4.  Indem  die  Stiftung  keines  Anstalthauses,  keiner 
Gehalte  für  Angestellte,  keiner  Mobilien  noch  anderer  Gegen- 
stände bedarf,  so  wird  sie  alle  ihr  zugewiesenen  Gaben  für  die 
K  i nderversorgung  verwenden . 

Art.  5.  Für  die  Stiftung  werden  jährlich  Beiträge  ein- 
gesammelt ;  mit  Dank  wird  auch  jede  andere  Gabe,  jede 
Schenkung,  jedes  Vermächtnis  angenommen. 

Art.  6.  Wo  mögUch  verölTentlicht  sie  zur  Bekannt* 
machung  und  Förderung  ihres  Zweckes  eine  periodische  Schrift, 
unter  dem  Titel:  «Monatblätter  der  Blessig-Stiflung». 

Jeden  Monat  erscheint  ein  Heft  von  wenigstens  zwei  Bogen. 

Der  reine  Ertrag  dieser  Monatblätter  Üiesst  in  die  Slif- 
tungs-Kasse,  welche  aber,  ihrerseits,  zur  Bestreitung  der  Kosten 
der  Herausgabe  dieser  Schrift  nichts  beiträgt. 

Art.  7.  Die  Stiftung  selbst,  die  Förderung  ihres  Zweckes,, 
sowie  die  Herausgabe  der  Zeitschrift  werden  durch  einen  Ver- 
walter unentgeltlich  besorgt. 

Art.  8.  Ein  Verwaltungsrat,  bestehend  aus  sechs  Per- 
sonen, ist  dem  Verwalter  beigegeben. 

Art.  9.  Die  beitragenden  Freunde  der  Stiftung  bilden  die 
General -Versammlung,  welche  den  Verwalter  und  den  Verwal- 
tungsrat, jenen  für  sechs  Jahre,  diesen  zur  Hälfte  alle  drei 
Jahre,  aus  ihrer  Mitte  erwählt.  Die  Austretenden  sind  wieder 
wählbar. 


—    59    — 

Art.  10.  Die  Rechnung  ober  Einnahme  und  Ausgabe  der 
Stiflungs-Kasse  wird  jährlich  durch  die  Monaibläiier  veröffent- 
licht. 

Art.  11.  Alle  drei  Jahre  findet  eine  General- Versammlung 
zu  Strassburg  statt.  Wenn  die  Umstände  es  erfordern ,  können 
auch  ausserordentliche  General  -Versammlungen  zusammenbe- 
rufen werden. 

Art.  1^2.  Die  General -Versammlung  hat  über  die  Ver- 
waltung und  den  Gang  der  Stiftung,  sowie  über  die  Rech- 
nungen, Berichte  und  Anordnungen  ein  billigendes  und  miss- 
billigendes  Urteil  auszusprechen  und  erforderliche  Massregeln 
über  die  einzelnen  Fälle  vorzuschreiben. 

Dies  sind  die  Statuten  der  Strassburger  Blessig-Stiftung. 
Nach  dem  Jahresberichte  von  1890  beläuft  sich  das  Vermögen 
der  Stiftung,  das  in  den  letzten  Jahren  durch  ansehnliche 
Legale  von  J.  August  £hrmann,  Fritz  und  Fräulein  Rubsamen 
bedeutend  angewachsen  ist,  auf  112895  Mark.  Die  gewöhn- 
lichen Einnahmen  dieses  Jahres  beziffern  sich  auf  6225,47  M., 
die  Ausgaben  auf  G141,72  M.  Die  Blessig-Stiftung  unterstützte 
40  Kinder,  deren  Eltern  in  Strassburg  wohnen  müssen^  und 
zahlte  für  dieselben  durchschnittlich  24  Mark  jedes  Vierteljahr. 
Auch  sorgte  sie  für  Kleidungsstücke  und  Schuhe  für  ihre 
Pfleglinge.  Das  Patronat  jedes  einzelnen  Zöglings  dauert  drei 
Jahre  lang.  Der  Verwaltungsrat  der  Strassburger  Blessig- 
Sliflung  besteht  gegenwärtig  aus  acht  Mitgliedern  und  einem 
£hrenmitgliede,  Herrn  Alphons  Pick^  ehemaliges  Mitglied  des 
Bezirkstages  und  des  Landesausschusses  von  Elsass-Lothringen. 
Der  Präsident  des  Verwaltungsrates  ist  Herr  Ehrennotar  Körttg^, 
Vater.  Neben  der  Verwaltungskommission  besteht  noch  ein 
Damen-Komitee,  an  dessen  Spitze  Frau  C.  F.  Schneegans, 
Witwe  des  Direktors  des  protestantischen  Gymnasiums,  steht. 
Die  Blessig-Stiftung  kann,  da  sie  nur  eine  beschränkte  Zahl 
von  armen  Kindern  aufnimmt,  dieselben  desto  wirksamer  unter- 
stützen und  hat  schon  viel   Gutes   und   Segensreiches  gestiftet. 

Wenden  wir  uns  nun  von  der  Strassburger  zur  St.  Peters- 
burger Blessig-Stiftung.  Am  30.  März  (russischer  Styl; 
li.  April  nach  dem  gregorianischen  Kalender)  des  Jahres  1880 
wurde  in  St.  Petersburg  die  sog.  c  Blessig-Stiftung»  eröffnet. 
Es  ist  dies  eine  Zufluchtsstätte  für  Blinde,  zum  An** 
denken  an  Dr.  Blessig  gegründet.  Dr.  Robert  Blessig,  ein 
Grossneffe  des  Strassburger  Theologen,  dessen  jüngerer  Bruder 
nach  Russland  ausgewandert  war,  wurde  zu  St.  Petersburg 
den  20.  Oktober  1830  geboren.  Er  studierte  an  der  Univer- 
sität Dorpat  von   1848  bis  1855  Medizin  und  widmete  sich  be- 


—    60    — 

sonders  dem  Studium  der  Augenheilkunde  ;  hierauf  machte  er 
eine  längere  Studienreise  ins  Ausland  zum  Behufe  seiner  wis- 
senschaftlichen Ausbildung  und  wurde  nach  seiner  Rückkehr 
1858  am  St.  Petersburger  Augenhospital  angestellt.  Durch 
seine  hervorragenden  Leistungen  wurde  er  bald  so  berühmt, 
dass  die  Verwaltung  des  Spitals  keinen  Augenblick  zögerte, 
dem  noch  jungen  Manne  im  Jahre  1863  die  Stelle  eines  Direk- 
tors der  Augenklinik  anzubieten.  Während  15  Jahren  war 
Dr.  Robert  Blessig  unermüdlich  thätig  in  seinem  ärztlichen 
Berufe  und  erwarb  sich  durch  seine  Geschicklichkeit  und  seine 
menschenfreundliche  Liebe  in  einem  seltenen  Grade  die  An« 
erkennung  seiner  Vorgesetzten  und  das  Vertrauen  der  Leiden- 
den. Auch  seine  ärztlichen  Mitarbeiter  schätzten  den  treuen 
Oberarzt,  der  ihnen  das  edelste  Vorbild  gewissenhafter  Pflicht- 
erfüllung gab^  hoch.  Es  war  eine  Freude,  die  innige  Freund- 
schaft zu  sehen,  die  jeden  Unterschied  in  der  Stellung  der 
Aerzte  ausglich  und  denselben  nur  an  dem  grosseren  Masse 
von  Verantwortung  sichtbar  werden  Hess,  die  dem  Oberarzte 
der  Behörde  gegenüber  zufiel. 

So  sehr  Dr.  Blessig  seinem  Berufe  lebte  und  mit  hoher 
wissenschaftlicher  Begeisterung  seiner  edlen  Kunst  oblag,  ging 
er  doch  nicht  im  Arzte  auf.  Er  war  ein  wahrer  Menschen- 
freund im  besten  Sinne  des  Wortes,  und  der  Kranke  fühlte 
sich  in  dieser  doppelten  Pflege  unendlich  wohl.  Auch  für 
kirchliche  Interessen  bekundete  Dr.  Blessig  einen  warmen 
Eifer;  als  Kirchenältester  der  deutsch-reformierten  Gemeinde 
von  St.  Petersburg  zeigte  er  die  regste  Teilnahme  für  die  An- 
gelegenheiten der  evangelischen  Kirche  Russlands. 

Seit  Jahren  trug  sich  Dr.  Robert  Blessig  mit  dem  Gedanken, 
eine  Zufluchtsstätte  für  Blinde  zu  gründen.  Das  St.  Peters- 
burger Hospital  bildet  in  der  Regel  nur  eine  kurze  Pflegstatte 
für  Augenleidende.  Tausende  erlangen  darin  das  Augenlicht 
wieder ;  Hunderte  aber  verlassen  es,  um  in  bleibender  Dunkel- 
heit zu  den  Ihrigen  zurückzukehren.  Jahrelang  schwebte  daher 
dem  edlen  Menschenfreunde  der  Plan  einer  Anstalt  vor,  in 
welcher  die  unheilbar  Blinden  einen  bleibenden  Aufenthaltsort 
finden  wurden  und  auch  durch  Erlernung  nützlicher  Beschäf- 
tigungen dem  Leben  zurückgegeben  werden  könnten.  Wenige 
Tage  vor  seinem  Tode  — *Dr.  Blessig  starb  infolge  des  Typhus, 
welche  Krankheit  er  sich  durch  seine  Pflichttreue  zugemgen 
halte  —  äusserte  er  diesen  Wunsch  gegen  einen  Freund.  Er 
starb  nach  kurzer  Krankheit  am  13.  März  1878,  allgemein 
geachtet  und  tief  betrauert  von  Allen,  die  das  Glück  hatten, 
ihn  zu  kennen.  Dr.  Robert  Blessigs  Wittwe  lebt  nodi  in 
St.  Petersburg ;    seine   Ehe   wurde   mit  einem   Sohne,   Herrn 


—    M    — 

£duard  Blessig,  gesegnet,    welcher   im  Jahre  i890   der  Strass- 
burger  Blessig-Stiftung  eine  Gabe  von  1000  M.  zuwandte. 

Einige  Freunde  und   Kollegen  des  Verblichenen  traten  im 
Mai  desselben  Jahres  zusammen,  um  eine  Stiftung  zu  Dr.  Blessigs 
Andenken  und  in   seinem  Sinne  zu  gründen.    Bald  darauf  er- 
schien in   der  deutschen  St.  Petersburger  Zeitung  ein  Aufruf 
mit    der   Bitte,    des    Heimgegangenen    Gedächtnis    durch    die 
Gründung   einer  Blindenanstalt  bleibend  zu  ehren.     Die  Gaben 
flössen    so   reichlich,    dass    in    kurzer  Zeit   die    erforderlichen 
Summen    zur   Stiftung  einer   Blindenanstalt   vereinigt   waren. 
Diese  wurde  in  einem    freundlichen  Hause  am    Riga-Prospect 
zu  St.  Petersburg  am  30.  März  1880  eröffnet.  Die  Anstalt  wird 
aus  einem  Komitee,  das  aus  sechs  Personen  besteht,  verwaltet. 
In  derselben  werden    die  Blinden  unentgeltlich  aufgenommen, 
lernen  im  Lauf  von  3  bis  5  Jahren,  die  sie  in  der  Anstalt  zu- 
bringen,  ein  Handwerk  und  werden  sodann  entlassen,    um  zu 
Hause  selbständig   ihr  Brod   zu  verdienen.     Alle  Entlassenen 
bleiben   unter   der  Fürsorge  der  Anstalt.     Es  werden  Zöglinge 
aus  allen  christlichen  Konfessionen   und  auch  bis   in  die  letzte 
Zeit  Juden  aufgenommen ;    auch  alle   Stände  der  Gesellschaft 
sind   vertreten.     Die  Aufnahme  findet  zwischen  dem  16.  und 
dem  36.  Lebensjahre  statt.     Kinder  und   ältere  Leute  werden 
jedoch  nicht  angenommen.    In  diesem  Asyl   sollen   die  Blinden 
—  ähnlich  wie  in   Illzach   bei   Mülhausen   im  Ober-Elsass  — 
nicht  nur  freundliche  Aufnahme  finden,  sondern  auch  in  solchen 
Beschäftigungen   unterwiesen   werden,    die   sie  in   den   Stand 
setzen,   nach  der  Rückkehr  zu  den  Ihrigen,    selbständig  ihren 
Lebensunterhalt  sich  zu  erwerben.    So  besteht  denn  in  St.  Pe- 
tersburg  seit  12  Jahren  eine   Blessig-Stiftung,   die  gleich  der- 
jenigen   von    Strassburg    segensreich    wirkt.     Die    Zahl    der 
Zöglinge  beläuft  sich  auf  40  bis  42.     Die  Unterhalts-  und  Un- 
terrichtskosten   eines    jeden    Blinden    betragen    298  if«    Rubel 
jährlich,    inclus.  Wohnung.     Die   Kosten    der   Beköstigung  der 
einzelnen   Personen    belaufen  sich  pro  Tag  auf  20  Ms  Kopeken. 
Das   Gesamtvermögen   der   Anstalt   betrug   am  1.  Januar  1891 
eine   Summe  von  85,338  Rubel,  15  Kopeken.     Die  jährlichen 
Einnahmen  belaufen  sich  auf  circa  12,000  Rubel.    Der  Verwal- 
tungsrat  der  Anstalt   besteht   aus  sechs  Mitgliedern,   worunter 
die  verwitwete  Frau  Dr.  Blessig. 

Im  Asyl  ist  laut  einem  der  letzten  Rechenschaftsberichte 
folgende  Zeiteinteilung  eingeführt  worden :  Die  Blinden  stehen 
um  7  Uhr  morgens  auf  und  begeben  sich,  nachdem  sie  gebetet 
und  ihren  Thee  getrunken  haben,  um  8  Uhr  an  die  Arbeit, 
welche  bis  12  Uhr  fortdauert,  wo  das  Mittagessen  eingenommen 
wird.     Nach   dem    Essen  wird    bis  2  Uhr  geruht   und    sodann 


—    82    — 

^ederum  bis  7  Uhr  gearbeitet,  doch  wird  in  dieser  Zeit  äne 
halbständige  Pause  für  den  Abendthee  gemacht.  Um  7  Uhr 
nehmen  die  Pfleglinge  ihr  Abendessen  ein  und  begeben  sich 
darauf  zur  Ruhe.  In  den  Freistunden  gehen  die  Blindoi  ent- 
weder ausserhalb  des  Asyls  spazieren,  jedoch  stets  mit  Führem, 
oder  begeben  sich  in  den  beim  Asyl  be6ndlichen  Grarten.  AHe 
zwei  Wochen  besuchen  die  Pfleglinge  die  Badstube.  An  Feier- 
tagen gehen  die  Blinden  des  Morgens  in  die  Kirdie  ihrer  Kon- 
fession und  empfangen  nach  dem  Mittagessen  die  Besuche  ihrer 
Verwandten  und  Bekannten.  Den  Blinden  wird  aus  ihnen  ver- 
ständlichen Büchern  vorgelesen  und  erhalten  dieselben  ausser- 
dem Unterricht  im  Chorgesang,  der  ihnen  von  einer  Lehrerin 
erteilt  wird,  die  sich  aus  Teilnahme  für  ihre  traurige  Lage  zur 
unentgeltlichen  Uebemahme  dieser  Liebespflicht  bereit  erklärte. 
Ferner  ist  den  Blinden  Harmonika-  und  Guitarren-Spiel,  sowie 
auch  das  Spielen  von  Damenbrett  und  Bix  gestattet. 

Dr.  Johann  Lorenz  Blessig,  der  Strassburger  Prediger  und 
Dr.  Robert  Blessig,  der  St.  Petersburger  Arzt,  waren  zwei  edle 
christliche  Persönlichkeiten,  die  nicht  nur  ihrer  Familie,  sondern 
auch  dem  deutschen  Vaterlande,  dem  sie  ihrer  Abstammung 
und  ihrer  Bildung  nach  angehören,  zur  Zierde  und  zum 
bleibenden  Ruhm  gereichen.  Durch  sie  ist  der  Name  Blessig 
vom  Westen  nach  dem  fernen  Osten  Europas  gedrungen  und 
hat  sowohl  an  den  Ufern  des  Rheins  als  an  den  Gestaden  der 
Ostsee  einen  guten  Klang  erlangt.  Dort  wie  hier  lebt  das  An- 
denken dieser  beiden  trefflichen  Männer  und  edlen  Menschen- 
freunde durch  zwei  mildthätige  Stiftungen  fort,  denen  wir  ein 
langQ3  Gedeihen  und  ei  he  segensreiche  Wirksamkeit  wünschen. 


VI. 


Ueber 


Thomas  Murners  Uebersetzun^en 

aus  dem  Hebräischen 


Von 

M.  Spanier  (Heidelberg). 


xjudmg 


Geiger  liat  in  den  Jahrbüchern  für  deutsche 
Theol(^e  XXI,  190  einen  wertvollen  A'ufsatz  «Zur  Geschichte 
des  Studiums  der  hebräischen  Sprache  in  Deutschland»  ver- 
öffentlicht und  bei  dieser  Gelegenheit  auch  Murners  Ueber- 
setzerthätigkeit  gewürdigt.  Aber  der  Zusammenhang,  in  dem 
hier  Murner  behandelt  wurde,  führte  es  wohl  mit  sich,  dass 
einiges,  was  zur  Charakteristik  nicht  bloss  der  Uebersetzungen, 
soodern  auch  der  Persönlichkeit  des  interessanten  streitbaren 
Franziskaners  von  Bedeutung  ist,  übergangen  wurde.  Das 
soll  in  dieser  Arbeit,  die  zugleich  einige  Angaben  Geigers 
zit  berichtigen  hat,  nachgeholt  werden.  Da  die  in  Betracht 
kommenden  Schriften  Murners  sehr  selten  sind,  dürfte  es  auch 
nicht  unwillkommen  sein,  wenn  ich  hier  eine  genaue  Be- 
schreibung derselben  gebe,  um  so  mehr,  da  sich  in  den  bis- 
herigen Verzeichnissen  manches  Unrichtige  darüber  beßndet. 

Der   Titel   der   zuerst   erschienenen   Schrift    lautet :    npPl 

nOOn    (=  nOOn)    Ritus  et  celebratio  phase^  judeorum  cum 


1  'Weder  «in  Schreibfehler  Marners  noch  ein  Druckfehler,  sondern 
di»  ßchreibimg'  der  Valgata,  die  Maroer  noch  einige  Male  in  dem 
Büchlein  anwendet. 


—    64    — 

orationibus  eorum  et  benedictionibas  mense  ad  literam  inter- 
pretatis  cum  omni  observatione  uti  soliti  sunt  suum  pasca  extra 
terram  promiasionis  sine  esu  agni  pascalis  celebrare  Per  egre- 
gium  doctorem  Thomam  mumer  ex  hebreo  in  latinum  traducta 
eloquium.  Darunter  eine  &ichnung,  die  nicht  «in  der  Schrill 
noch  5  Mal  vorkommt» ;  das  Buch  hat  vielmehr  fünf  ver- 
schiedene Bilder,  die  ich  numeriere : 

I.  (Titelbild.)  Um  einen  Tisch,  auf  dem  sich  die  mit  einem 
Tuch  bedeckte  «Szederschüssel»  befindet,  sitzen  drei  auf  Polster 
sich  lehnende  Juden,  von  denen  jeder  4  Becher  vor  sich  stehen 
hat.     An  der  Decke  hängt  eine  sog.  Sabbatlampe. 

Zur  Erklärung  dieses  Bildes  führe  ich  die  darauf  besag- 
liehen  Worte  des  Textes  an.  Nachdem  Murner  von  dem  In- 
halt der  c Schussel»  gesprochen,  fahrt  er  fort :  Et  quatuor  cypfaos 
rubei  vini  singulis  anteponat  (pater  familias)  super  ku.ssino6 
sericos  atque  pretiosos  se  reclinantes  ordiuntur  cenam  pascae. 

Auf  Seite  7  des  Buches :  Bild  II.  An  einem  runden  Tisch 
3  Juden,  der  mittlere  (wohl  der  pater  familias)  den  Becher  an 
den  Lippen,  die  beiden  andern  erheben  den  ihrigen.  Auf  dem 
Tisch  wieder  die  gedeckte  SchQssel  und  vor  jedem  die  drei 
übrigen  Becher.  Text:  pomposissime  ac  lascive  vinura  ingur- 
gigantes  exordiuntur  benedicendo. 

Auf  Seite  8:  Bild  III.  Ein  No.  I  ähnliches  Bild^  der 
mittlere  der  drei  sich  an  Kissen  lehnenden  Juden  zündet  ein  Licht 
an.  Text:  Hie  accendatur  candela.  (Murner  ist  falsch  berichtet, 
am  Passahabend  wird  kein  Licht  zur  «Hawdala»  angezündet.) 

Auf  Seite  10 :  Bild  IV.  Der  mittlere  der  drei  Juden  er- 
hebt ein  Brot.  Unter  dem  Bilde  steht  das  hebräische  710 
(=:  Wie),  das  Wort,  mit  dem  die  Passaherzählung  be^^nnt. 
Dazu  der  charakteristische  Text:  Hie  elevatur  panis  azimus  in 
altum  circumsedentibus  summa  cum  devotione  spectantibus  et 
admirantibus  res  simillima  elevationi  corporis  xpi  si  licita  stt 
haec  comparatio. 

Auf  Seite  21  :  Bild  V.  Die  drei  Juden  waschen  sich  aus 
einer  auf  dem  Tische  stehenden  Schale  die  Hände.  Text :  la- 
vando  manus. 

Auf  Seite  23  kehrt  gelegentlich  einer  Weinbenediktion 
das  Bild  No.  II  wieder. 

Das  den  Vätern  seines  Ordens  gewidmete  Vorwort  schliesst 
mit  den  Worten :  Valete  ex  franckfordia  Anno  1512.  Am 
Schlüsse  des  Buches  Murners  Patientia- Wappen.  16  Bll.  in  4ßJ 


'  Ein  Exemplar  dieses  seltenen  Bnchea  und  der  von  mir  mit  B 
bezeichneten  Ausgabe  des  Benedidte  ward  mir  von  der  K.  K.  Hol- 
bibliothek in  Wien  mit  grosser  Freandlichkeit  übersandt 


—    65    — 


Hinsichtlich  der  Charakteristik  der  überaus  leichtsinnigen 
Uebersetzung  Murners  verweise  ich  auf  Geigers  Ausführungen. 
Doch  mögen  hier  noch  einige  w^tere  eklatante  Beispiele  ihren 
Platz  finden. 

Eine  Stelle,  die  in  deutscher  Uebersetzung  lautet:  (die 
Schüler  sprachen:)  cLehrer,  es  ist  die  Zeit  gekommen ,  wo  man 
das Sch'ma-Gebet  morgens  zu  verrichten  hat,»  giebt  er  so  wieder: 
rabbi  nostri  hanc  in  futuris  temporibus  instructionem  ac  me- 
moriam  exitus  de  egipto. 

Für  c Welch  eine  Menge  Wohlthaten  hat  der  Allgegen- 
wärtige uns  erwiesen!»  heisst  es:  Qui  ascendent  in  locum 
sanctum  eius. 

Die  Methode  im  Unsinn  der  Uebersetzung  lässt  sich  zu- 
-weilen  aufdecken ;  hier  z.  B.  hat  das  mit  ascendent  im  Hebrä- 
ischen korrespondierende  Wort  (TvHvD)  allerdings  ein  Verbum 
mit  der  Bedeutung  ascendere  zum  Stamm,  und  die  Bezeich- 
nung für  cder  Allgegenwärtige»  ist  dieselbe  wie  für  locus;  alles 
übrige  aber  ist  kombiniert. 

Das  fragende  al  schum  ma  (=  weswegen)  übersetzt  Murner 
mit  super  nomen  suum  —  weil  schum  an  schem  =  Name 
anklingt.  Es  ist  natürlich,  dass  sich  bei  dieser  Uebersetzungs- 
methode  oft  die  ergötzlichsten  Sätze  ergeben,  für  deren  Sinn- 
losigkeit Murner  selbstverständlich  den  sonderbaren  hebräischen 
Text  verantwortlich  macht. 

Es  befinden  sich  aber  in  diesem  Texte  —  sehr  viele  Bibel- 
stellen ;  nun  interessiert  uns  die  Frage :  was  leistet  Murner  als 
Bibelübersetzer,  wie  stellt  er  sich  zur  Vulgata  ? 

Gleich  nach  dem  ersten  biblischen  Citat  schreibt  Murner: 
Ne  errorem  credatis  devoti  fratres  si  verba  bybliae  hie  et  in 
sequentibus  ad  verbum  nostrae  translationi  non  respondeant 
mihi  curae  fuit  ad  litteram  interpretari  ad  ora  iudaeorum 
obstruenda  cum  semper  soliti  sint  ementiri  ex  suis  libris  inter- 
pretata  apud  eos  non  sie  haberi  interpretemque  de  ignorantia 
culpare  non  verentur.  Das  klingt  ja  recht  mutig,  nun  aber 
konfrontiere  ich  diese  Uebersetzung  Murners  mit  der  Vulgata. 


Marner. 

Completi  sunt  ego  (wohl  ver- 
druckt für  ergo)  caeli  et  terra 
et  omnis  exercitus  eorum  et 
complevit  deus  in  die  septimo 
opus  suum  quod  fecerat  et 
quievit  in  die  septimo  ab  omni 
opere  eius  quod  fecerat.  Bene- 


Vnlgata. 

Genes.  H,  4.  Igitur  perfecti 
sunt  caeli  et  terra  et  omnis 
ornatus  eorum.  Complevitque 
Deus  die  septimo  opus  suum 
quod  fecerat:  et  requievit  die 
septimo  ab  universo  opere  quod 
patrarat.  Et  benedixit  diei  sep- 

5 


—    66    — 


dixitque    diem    septimum    et  timo  et  santificavit  illum :  quia 

sanctificavit    eum   quia   in   eo  in   ipso   cessaverati   ab  omni 

quievit    ab   omni    opere   quod  opere  suo   quod  creavit  Deus 

creavit  deus  ad  faciendum.  ut  faceret. 

Es  ergiebt  sich,  dass  Murner  die  Vulgata  benutzt^  aber 
um  äusserlich  abzuweichen,  Synonyma  eingesetzt  hat.  In  der- 
selben Weise  verfährt  er  noch  an  mehreren  Stellen,  von  denen 
ich  nur  noch  eine  citiere: 


Mnmer. 

Ad  peregrinandum  in  terram 
tuam  venimus  quod  non  sunt 
pascua  ovibus  servorum  tuorum 
oppressique  sumus  fame  in 
terra  chanaan  et  nunc  quae- 
sumus  habitent  servi  tui  in 
terra  gössen  (I) 


Volgata. 

Grenes.  47, 4.  Ad  peregri« 
nandum  ■  in  terra  tua  venimus 
quoniam  non  est  herba  gre- 
gibus  servorum  tuorum  ingra- 
vescente^  fame  in  terra  cha- 
naan :  petimusque  ut  esse  no» 
iafaeas    servos    tuos    in    terra 


Gressen. 
Ganz  anders  aber  lautet  Mumers  Uebei''setzung,  wenn  die 
betreffenden  Citate  aus  entlegeneren  Teilen  der  Bibel  stammen, 
hier  bietet  seine  Version  eine  gewisse  Selbständigkeit,  die 
sich  allerdings  nur  durch  ihre  Fehler  auszeichnet.  Beispiele 
mögen  dies  erweisen : 


Mnmer. 

Et    dixit    iosue    ad   omnem 
populum 

I  haec  dicas  |  dominus  deus 
israhel  traduxit  nos  per  ior- 
danem  ubi  habitarunt 
patres  nostri  Terah«  pater  ab- 
rahe  et  pater  nochar'  servientes 
diis  alienis. 

Ego  accepi  patrem  vestrum  in 
transitus  fiuvii  duxique  illum 
in  omnem  terram  canaan  multi- 
plicans 


Vulgata« 

Jos.  24,  2.    Et  ad  populum 
sie  locutus  est 

Haec  dicit  Dominus  Deus  Is- 
rael :  Trans  fluvium  habita- 
verunt 

patres  vestri  ab  initio  Thare 
pater  Abraham  et  Nachor: 
servieruntque  diis  alienis. 
Tuli  ergo  patrem  vestrum 
Abrahem  de  Mesopotamiae 
finibus  et  adduxi  eum  in  terram 
Chanaan :  multiplicavique 


^  Diese   üebersetzang  ist  korrekt. 

s  Mamer  wählt  hier  Namensformen,  die  dem  hebräischen  Text 
nahekommen,  oben  hingegen  schrieb  er  statt  Oosen  Oessen  —  mit 
der  Vulgata.  Nachor  lautet  in  der  bei  den  Jaden  üblichen  Aus- 
sprache  n  o  chaar ! 

s  Maruer  verwechselt  ^3y  (jenseits)  mit  ^3 VT  transire,  das  er 
einige  Reihen  vorher  sogar  mit  tradacere  vertauscht. 


—    67    — 


semen  eius  dedique  ei  ysaac  et 
dedi  ysaac  iacob  et  esau  fecique 
esau  heredem  montis  seyr  iacob 
quoque  et  filii  eius  humi- 
liarunt*  egiptum. 

Et  etiam  populo  cui  servie- 
bant  Servitute  ego  post  haec 
«duxi  cum  divitiis  magnis. 

Erami  perdidit  patrem  suum 
faumiliavitque  egiptum  habitans 
ibi  cum  populo  pauco. 


semen  eius  et  dedi  ei  Isaac  : 
Ulique  rursum  dedi  Jacob  et 
Esau.  E  quibus  Esau  dedi 
montem  Seir  ad  possidendum : 
Jacob  vero  et  filii  eius  descen- 
derunt  in  Aegyptum. 

G(i7ies.  45, 14.  Verum  tarnen 
gentem  cui  servituri  sunt  ego 
iudicabo:  et  post  haec  egre- 
dientur  cum  magna  substantia. 

Deuter 0.  26,  5.  Syrus  per- 
sequebatur  patrem  meum,  qui 
descendit  in  Aegyptum  et  ibi 
peregrinatus  est  in  paucissimo 
numero. 

EzechitL  46,  7.  Mullipli- 
catam  quasi  germen  agri  dedi 
te:  et  multiplicata  es,  et 
grandis  effecta  et  ingressa  es 
et  pervenisti  ad  mundum  mu- 
liebrem  ubera  tua  intumuerunt 
et  pilus  tuus  germinavit:  et 
eras  nuda  et  confusione  plena. 

Exod.  II,  25.  Et  respexit 
Dominus  fllios  Israel  et  cogno- 
vit  eos. 

Ich  habe  es  vermieden,  die  zahlreichen  Fehler  Murners 
etwa  durch  Ausrufungszeichen  hervorzuheben;  durch  Ver- 
gieichung  mit  einer  modernen  Uebersetzung  wird  jeder  (auch 
wer  des  Hebräischen  unkundig  ist)  erkennen,  wie  gar  wenig 
Murner  berufen  war,  sich  mit  Aer  Vulgata  in  einen  Wettstreit 
einzulassen. 

Dass  die  oben  citierten  Verse  aus  dem  biblischen  Schrift- 
tum stammen,  musste  Murner  aus  der  Art  der  Anführung  im 
hebräischen  Text  («so  steht  geschrieben»)  wissen;  er  hat  sich 
also  entweder  nicht  die  Mühe  gegeben,  diese  Stellen  aufzu- 
suchen, oder  —  was  mir  in  den  meisten  Fällen  das  Wahr- 
scheinliche  ist  —  nicht  bald  auffinden  können.    Vor  etwaigen 


Germinabant  sicut  ager  fruc- 
tificans  augebantur  quoque 
magnipendentes  circumvene- 
iiint  me  nudi  et  pauperes  pro- 
tegisti  ergo  nuditatem  eorum 
ei  inopiam  eorum. 


Apparuitque    deus   filiis   is- 
rahel  ut  succurreret  illis. 


1  So  übersetzt  Mnrner  stets  T^^  =  descendere.    Vielleicht  hat 

man   ihm  etwas  wie    «nieder  gehen»   vorgesagt,   das  Mumer   dann 
(transitiv  I)  mit  hnmiliare  glaubte  wiedergeben  za  müssen. 


—    68    — 

Einwürfen  hatte  er  sich  ja  durch  seine  (oben  citierte)  Charak- 
teristik der  Uebersetzung  geschützt. 

In  dem  Passahfeierbuch  finden  sich  nun  auch  einige  ganze 
Psalmen  (Ps.  145,  146,  447,  448).  Diese  Stücke  lässl  Murnar 
wörtlich  aus  der  Vulgata  abdrucken,  indem  er  gleich  nach  dem 
ersten  bemerkt :  Psalmum  hunc  et  alios  sequentes  sicut  Ulis 
ordine  suo  utuntur  non  ad  litteram  transtuli  sed  nostra  trans- 
latione  contentus  fui  psalmos  enim  si  ad  litteram  interpretatos 
habere  cupitis  legite  divi  heronimi  psalterium  quem  ad  litteram 
est  interpretatus.  Der  Psalmenübersetzung  der  Vulgata  stellt 
Murner  also  merkwürdiger  Weise  das  Prädikat  einer  wörtlichen 
Uebertragung  aus  und  versucht  deshalb  auf  diesem  Gebiete  seine 
Kunst  nicht.  Aber  eine  Ausnahme  macht  Murner  —  ohne 
sein  Wissen.  Es  folgen  nämlich  in  dem  hebräischem  Buche 
einige  Psalmverse,  auf  deren  Herkunft  nicht  durch  ein  «wie 
es  geschrieben  steht»  aufmerksam  gemacht  wird.  Es  sind 
die  Sätze  Psalm  78,  6.  7,  die  schon  zu  mancherlei  theolo- 
gischen Streitigkeiten  Anlass  gegeben  haben,  wozu  freilich, 
wenn  Murners  milde  Auffassung  dieser  Sätze  die  richtige  wäre, 
kaum  ein  Anlass  vorgelegen  hätte.    Murner  übersetzt  nämlich: 

Mnmer.  Vulgata. 

OI!>liviscere  iram  tuam  super  Effunde  ir^m  tuam  in  Gentes 
gentes  quae  1e  non  noverunt  quae  te  non  noverunt  et  in 
et  super  regna  quae  non  in-  regna  quae  noraen  tuum  non 
vocant  in  nomine  tuo.  invocaverunt  quia  comederunt 

Jacob:   et  locum  eius  desola- 

verunt. 

Mir  scheint,  dass  diese  kühne  Uebertragung  ihren  Grund 
hat  in  einer  Verwechselung  des  deutschen  cvergiess»  mit 
«vergiss»,  mag  diese  auf  einem  Hörfehler  Mumers  beruhen, 
oder,  —  was  bei  dem  Stande  damaliger  Orthographie  nicht 
ausgeschlossen  ist  —  auf  der  falschen  Auffassung  des  gelesenen 
Wortes.  Jedoch  ist  es  auch  nicht  unmöglich,  dass  ein  Jude 
absichtlich  Murner  diese  unverfängliche  Uebersetzung  g^eben, 
denn  auffallender  Weise  übersetzt  er  Vers  7  nicht,  der  doch 
gewiss  auch  in  seiner  Vorlage  gestanden.  Dass  Murner  viel 
mit  Juden  über  diese  Gegenstände  verkehrte,  teilt  er  selbst 
mit:  ego  illos  meis  oculis  saepius  vidi  in  ea  solennitate  taliter 
uti  caerimoniis  multis,  was  ich  freilich  nicht  ganz  wörtlich 
nehmen  möchte,  i  Auf  dem  Titel  des  Passahbuches  hat  Murner 


^  £.  Martin  weist  in  der  Einleitung  zur  «Badenfafart»  (III)  dar- 
auf hin,  dass  Murner  im  Abschnitt  25  dieses  Baches  seine  hebraischea 
Stadien  verwertete.    Ich  hebe  folgende  Stelle  hervor: 


-    69    — 

die  benedictiones  mensae  zu  übersetzen  versprochen  —  das 
ei^nttiche  benedicite  teilt  er  aber  in  seinem  Buche  nicht  mit. 
Wo  dieses  Gebet  seinen  Platz  hätte  finden  müssen,  brin$;t  er, 
wohl  nur,  um  über  die  Lücke  hinwegzutäuschen,  eine  kurze 
Unterhaltung  mit  den  Juden  über  das  Gesetzwidrige  und  Un- 
verstandige ihrer  Passahbräuche.  Das  benedicite  hatte  Murner 
sich  eben  für  eine  besondere  Publikation  vorbehalten,  von  der 
er  sich  mit  Recht  Erfolg  versprechen  durfte.  Ich  beschreibe 
im  folgenden  zunächst  die  Ausgaben  dieser  Schrift. 

A.i  «Der  iuden  benedicite  wie  sy  gott  den  heren  loben 
und  im  umb  die  speiss  dancken  durch  den  hochgelerten  herren 
doctor  Thomas  murner  barfusser  orden  von  hebrayscher  sprach 
in  deutsch  verdalmetschett  und  wie  sy  ieren  dodten  begraben. 
Qui  bien  leur  feroit  rayson.»    Bild  III  (s.  o.). 

Am  Ende:  «Gedrückt  in  der  Loblichen  und  Keyserlichen 
statt  Franckenfurt  durch  Batt  murner  von  Strassburg.  o.  J. 
4  Bll.  in  4o. 

B.  (Bei  Goedeke  nicht  verzeichnet).  Jilpn  PD">3 
l  jynpiTVn  Der  iuden  Benedicite  wie  sy  gott  den  herren  loben 
und  im  umb  die  speiss  dancken.  Durch  den  hochgelerten 
berren  doctor  Thomas  murner  barfusser  orden  von  hebrayscher 
sprach  in  deutsch  verdal Imet sehet t.»     Bild  II.     4  Bll.  in  4o. 

Am  Ende:  «Gedrückt  zu  Franckenfurt  durch  Beatus  murner 
von  Strassburg.»  0.  J. 

C.*  (hebräische  Ueberschrift  wie  oben). 


«Die  andern  alss  die  iüdischheit 
Ein  ander  meinung  hondt  geseit, 

Daz  got  nach  diser  zyt  mit  flyss 
Bewar  uns  im  paradyss 

Da  seind  sie  all  znosamen  gesessen 
Und  werden  geschorren   boren  essen 

Und  aach  von  dem  lein as an.» 

Der  Leinasan  ist  kein  anderer  als  der  Levjathan,  der  nach  einer 
allerdings  nicht  autoritativen,  aber  bekannten  Lehrmeinang  als  Zu- 
kunftaleckerbissen  für  die  Frommen  aufbewahrt  bleibt.  Hinter  den 
«geschorren  boren»  versteckt  sich  wohl  der  schor  habor 
(=  auserlesener  Stier),  der  im  rabbinischen  Schrifttum  mit  dem 
Levjathan  als  Speise  für  die  Gerechten  angeführt  wird.  Siehe 
Hamburger,  Real-Encyklop&die  für  Bibel  und  Talmud,  Artikel: 
Zuknnftsmahl,  Behemoth. 

1  Ich  benutzte  das  Exemplar  auf  der  Wolfenbüttler  Bibliothek. 

s  Ich  benutzte  das  unter  den  Cimelien  der  Strassburger  Bibliothek 
befindliche  mir  gütigst  übersandte  Exemplar.  Goedekes  Angabe: 
(Wien)  dürfte  auf  einem  Irrtum  beruhen,  wenigstens  befindet  sich  die 
obige  Ausgabe  weder  in  der  dortigen  Hof-  noch  Universitätsbibliothek. 


—    70    — 

«Benedicite  iudeorum  uti  soliti  sunt  ante  et  post  cibi 
sumptionem  benedicere  et  gratias  agere  deo  Egregio  doctore 
Thoma  murner  Argen tinensi  ordinis  minorum  interprete.» 
Bild  II.     4  Ell.  in  4o. 

Am  Ende :  «Beatus  Murner  de  argn  Francfordie  Impressit 
Anno  1512.»     Patientia-Wappen. 

Diese  Bücher  enthalten  1)  das  Tischgebet,  2)  ein  «todtoi 
gebett»  in  41/9  Reihen  mit  einer  ganz  kurzen  Notiz  über  jü- 
dische Trauergebräuche  (was  der  Titel  der  Ausgabe  A  hierüber 
verspricht,  wird  mit  keinem  Worte  erfüllt),  dann  folgt  3)  «das 
gebet  des  trouwms»,  worüber  im  weiteren  noch  einiges  zu 
sagen  sein  wird. 

A  ist  jedenfalls  zuerst  ausgegeben.  B  unterscheidet  sich 
inhaltlich  nicht  von  A,  nur  ist  die  Orthographie  zuweilen  ge- 
ändert, Druckfehler  sind  verbessert,  der  Titel  ist  gekürzt 
(s.  0.),  statt  der  französischen  Worte  ist  die  wirkungsvollere 
hebräische  Aufschrift  in  mächtigen  Buchstaben  eingesetzt  und 
das  unpassende  Bild  III  durch  das  geeignetere  Bild  II 
ersetzt. 

C.  gibt  eine  wörtlich  genaue  lateinische  Uebersetzung  des 
deutschen  Textes  samt  dessen  Ungenauigkeiten  und  Fehlem. 
Nur  an  einer  Stelle  ist  eine  Verbesserung  vorgenommen.  Die 
wenigen  erklärenden  Anmerkungen  des  deutschen  Testes,  ^ie : 
«Eyn  ander  gebett  sagen  sy  zu  irer  fassnacht  das  sy  das 
Purum  nennen,»  der  Zusatz  «das  ist  die  bescheydung»  (so  in 
A  und  B!)  zu  der  Stelle  «ouch  das  du  hast  versiglet  deyn 
frintschafit  in  unser  fleisch»  sind  in  C  nicht  übersetzt.  Nur 
bei  der  Oratio  luctus  mortuorum  hat  hingegen  die  lateinische 
Uebersetzung  den  Zusatz:  —  womit  hier  wohl  die  Einfügung 
des  nicht  zur  Sache  gehörigen  Stücks  entschuldigt  werden  soll 
—  Hanc  orationem  inveni  in  orationali  eorum  benedictionibus 
mensae  permixtam. 

Von  den  übersetzten  Stücken  interessiert  uns  hier  haupt- 
sächlich das  Traumgebet.  Dieses  besteht  nämlich  zum  grössten 
Teil  aus  Bibel versen,  die  jedoch  als  solche  im  Text  nicht 
kenntlich  gemacht  sind.  Da  sich  nun  Murners  Uebersetzungs- 
Unfähigkeit  hier  in  ihrer  ganzen  Grösse  offenbart,  so  stelle  ich 
Murner  wieder  mit  der  Vulgata  zusammen.  Diesmal  mag 
zur  Probe  die  deutsche  Uebersetzung  mitgeteilt  werden  : 

Monier.  Vnlgatow 

Du  hast   unser  truren  ver-         Ps.  29, 12.  Convertisti  planc- 
wandlet  in  eyn  freyd  im/  tum  meum  in  gaudium   mihi, 

und  gibst  freid/  conscidisti  saccum  meum 


—    71    — 


und   hast  mich  umgeben  mit 

freiden 

als  eyn  dantzende  iunckfrouw  | 

und   die  ersamen  alten  hastu 

ouch  also  erfreuwet  und  gibst 

in  ir  speyss  ^  in  freüden  | 

also   hastu   mich  getroest  mit 

freiden.  Von  alem  truren 

hastu  balam  erv^elet  | 

das   unser    gott    verkert    hatt 

seyn  verfluchen   in  eyn  segen 

das  dich  liebet  der  her  unser 

gott 

Erlese  in   freyden  meyn  sele 

und  neher  dich  zu  mir  mit  fil 

worheyt. 

Erless  uns  her  unser  schepffer 

und  kum  in  zion  mit 
lieb  und   freid   ewiglich  über 
allen   anfang  der  freuden  er- 
less   uns   von    allem   triebsal 
und  engsten. 
Do    sprach  das  volck  zu  Saul 

sol   Jonathas   sterben  der  das 

gross   heyl   in  israhel    gethon 

hatt  f 

bey   dem  leben   gottes  es  sol 

nit  eyn  har  von  seynem  haupt 

fallen  f 

den  gott  hett  heut  durch  iona- 

thain  das  volck  erleset  | 

und  ionathas  sol  nit  sterben. 

Der  schepffer  | 

der  do  beschafft  die  lefftzen  des 

fridens  frid  den 

ferren  zä  den  nechsten 


et  circumdedisti  me*laetitia. 

Jeremia  31,  13.     Tunc  laeta- 
bitur  virgo   in   choro  iuvenes 
et  senes  simul  et  convertam 
luctum  eorum  in  gaudium 
et  consolabor  eos 
et  laetificabo  a  dolore  suo. 
Deutero  23,  5.     Et  noluit  Do- 
minus Dens  tuus  audire  Balaam 
vertitque    maledictionem    eins 
in  benedictionem  tuam  eo  quod 
diligeret  te. 

Ps.  54^  19.    Redimet  in   pace 
animam  m^am  ab  bis  qui  ap- 
propinquant      mihi     quoniam 
inier  multos  erant  mecum. 
Isaia  35, 10.     Et   redempti    a 
Domino  convertentur 
et  venient  in  Sion  cum 
laude    et    laetitia    sempiterna 
super    Caput   eorum    gaudium 
et  laetitiam  obtinebunt  et  fugiet 
dolor  et  gemitus. 
1.    Regum    14,  45.     Dixitque 
populus  ad  Saul : 
Ergone  Jonathas   morietur  qui 
fecit  salutem  hanc  magnam  in 
Israel? 

hoc  nefas  est:  vivit  Dominus, 
si  ceciderit  capilius  de  capite 
eins  in  terram, 

quia    cum    Deo    operatus    est 
hodie.    Liberavit  ergo  populus 
Jonatham 
ut  non  moreretur. 
Isaia  57, 19.   Creavi  fructum 
labiorum  pacem,  pacem  ei  qui 

longe  est,  et  qui  prope, 


»  Murner  verwechselt   dSsN   (ihre   Traner)  mit  UIQH  (ibre 

T    :       V  T     .     T 

Speise) !    Hier  hätte   er  also  etwas   mehr    «ad  Utteram»  übersetzen 
dürfen. 


—    72    — 

spricht   der  her  und  seyn  er-      dixit  Dominus  et  sanavi 

lesung 

von  seynem  geist  eum.  I.  Paral.  12,18.  Spiritus 

der  kum  üher  unser  haupt  vero   induit  Amasai  principem 

inter  triginta,  et  ait: 
mit  gewalt  zu  dir  dauit  Tui  sumus  o  David,  et  tecum 

eyn  sun  Jesse  fridt  zu  dir  fili  Isai :  pax,  pax  tibi, 

und  unser  nachbürn  dich  be-     et  pax  adiutoribus  tuis.  te  enim 
schirm  der  her  unser  got  adiuvat  Deus  tuus. 

erwelendt     dich     zu     eynem      Suscepit   ergo   eos    David,    et 
fursten  des  heres  gotts  constituit     prineipes     turmae. 

I.  Reg.  25,  6  Et  dicetis: 
und     allen    deynen     brüdren      Sit  fratribus  meis,  et  tibi  pax, 
fiiden    und  dem  gantzen  huss      et  domui  tuae  pax,  et  omnibus^ 
mit   aller  seyner    zügeherden.      quaecunque  habes,  sit  pax. 
Amen. 

Man  vergleiche  einmal  vorstehende  Uebersetzung  des  choch- 
gelerten  Doktor  Theologiae»  mit  derjenigen  Luthers,  es  ynrd 
dann  folgende  Auslassung  Murners  in  der  Schrift  cOb  der 
Känig  uss  engelland  ein  lugner  sey  oder  der  Luther»  in  eigen- 
tümlicher Beleuchtung  erscheinen  :  cDu  bist  eben  ein  iurist  wie 
du  hebreisch  bist,  wa  du  etwa  ein  hebreisch  wort  am  fensterbret 
gelesen  hast,  so  schmetterstu  es  in  deine  biecbly  alsz  ob  man 
solt  wenen  du  bettest  dz  gantz  esrom  vearha  (=:  esrim  wearba 
==  vierundzwanzig,  nämlich  Bucher  der  heiligen  Schrift)  in 
einem  pfeiTer  gessen.  Ich  bin  dreissig  iar  mit  umbgangen, 
und  kann  dennocht  noch  nüt  darin,  aber  du  hast  es  augen- 
blicklich entfangen,  meinstu  wir  sollen  so  ül  uf!  dich  halten 
und  dir  das  glauben?»  (Scheible,  Kloster  IV,  931.) 

Ludwig  Geiger  a.  a.  0.  S.  197  schreibt :  «Thomas  Murner 
griff,  vielleicht  nicht  ohne  Reuchhns  Vorwissen,  den  PfefTer- 
korn  an,  indem  er  dessen  «Osternbuch»  ein  Buch  desselben 
Inhalts  entgegensetzte.» 

Ich  kann  dieser  Meinung  durchaus  nicht  beistimmen.  Murner 
berührt  in  den  hebräischen  Uebersetzungsschriften  mit  keiner 
Silbe  den  Streit,  der  über  die  jüdischen  Bücher  zwischen  PfeflTer- 
korn,  den  Kölnern  und  Reuchlin  entbrannt  war. 

Es  scheint  sogar,  als  ob  er  den  Schein  vermeiden  wollte, 
für  einen  Gegner  Pfefferkorns  gehalten  zu  werden.  In  der  Ein- 
leitung zu  der  Schrift  Ritus  et  celebratio  etc.  kann  er  es  nicht 
genug  betonen,  dass  er,  mit  andern  Arbeiten  beschäftigt,  nur 
durch  die  eindringlichsten  Bitten  der  Väter  seines  Ordens,  die 
ihn  bei  den  Wunden  des  hl.  Franciscus  beschworen,  die 
«24  Traktate»  zu  übersetzen,  dazu  bewogen  worden  sei.  Ich 
vermute,   dass   Murners   Passahschrift   in    einem   ganz    andeni 


—     73    - 

Verhältnis  als  in  dem  des  Gegensatzes  zu  dem  Osternbuch  > 
Pfefferkorns  (v.  1509)  stand,  —  Murner  wird  manches  daraus 
benutzt  haben. 

Wenn  Mumer  bei  der  Besprechung  der  Vorschrift  über 
den  Weingenuss  am  Passahabend  einen  Vergleich  anbringt  mit 
dem  Abendmahl,  und  wenn  er  das  Aufheben  des  ungesäuerten 
Brotes  (s.  o.)  mit  dem  Zeigen  des  corpus  sanctum  zusammen- 
stellt, so  dürfte  er  hier  Pfefferkorn  folgen,  der  ja  in  seinem 
Osiernbuch  zu  beweisen  sucht,  cdass  die  judischen  Ceremonien 
geistlich  gedeutet  nichts  sind,  als  ein  Spiegel  der  christlichen 
Gebiäuche»  (Ludw.  Geiger,  Job.  Reuchlin,  S.  213).  Und  wenn 
nun  Murner  aus  dem  Gesetz  Mosis  den  Nachweis  führt,  dass 
den  Juden  ausserhalb  Jerusalems  gar  nicht  erlaubt  sei^  ein 
solches  Passah  zu  feiern,  und  fortfahrt :  ciudaei  in  dispersionem 
gentium  divisi  suamet  temeritate  contra  praecepta  divina  ausi 
sunt  novum  pascae  ritum  excogitare  ac  stultissime  fingere  quare 
ego  illos  propriae  legis  haerelicos  firmissime  credo, >  so  stimmt 
das  sehr  genau  zu  Pfefferkorn,  der  auf  dem  Titel  seiner  Schrift 
ankündigt:  c Weiter  würdt  aussgetruckt,  dass  die  Juden 
ketzer  seyn  des  alten  und  newenn  testaments,  dess- 
halb  sye  schuldig  seyn  des  gerichts  nach  dem  gesatz  Moysis ;» 
aber  es  stimmt  gar  nicht  mit  Reuchlin,  der  in  seinem  Gut- 
achten sagt :  cDie  iuden  seien  nit  heretici,  dan  sy  sind  nit  ab 
dem  cristen  glauben  gefallen,  die  nie  darinn  gewesen  synd. 
Darumb  sie  auch  nil  mögen,  noch  sollen  ketzer,  noch  ir  bandet 
ketzere^  genent  werden»  (Geiger,  Reuchlin,  *232,  Anm.  8). 
Wenn  Murner  an  einer  andern  Stelle  auf  die  ganz  kuriosen 
Bräuche  des  Passahabends  hinweist  und  dann  fortfahrt:  «Agnum 
vero  pascalem  cum  illis  extra  iherusalem  edere  non  liceat  has 
humanas  inventiones  et  caerimonias  excogitarunt  imitantes 
Christo  dicente  praecepta  hominum  divina  negligentes,  sed  de 
hoc  alias  inlerpres  sum  non  inveclor»^  so  hört  man  hier  doch 
keineswegs  einen  Verteidiger  sprechen. 

Die  letzte  Auslassung  ist  übrigens  recht  charakteristisch 
—  interpres  sum  non  invector.  Murner  ist  immer  sehr  ge- 
neigt für  seine  Uebersetzerthätigkeit  einen  hohen  Grad  von 
Objektivität  und  Neutralität  in  Anspruch  zu  nehmen.  So  ver- 
öffentlichte er  1509  seine  Vorlesungen  de  augustinana  hiero- 
nymianaque  reformatione  poetarum,  worin  die  weltliche  Poesie, 
der  er  selbst  huldigte,  aufs  schärfste  bekämpft  wird  (S.  d. 
Charakteristik  in  dem  trefflichen  Buche  «W.  Kawerau, 
Th.  Murner  und  die  Kirche  des  Mittelalters,  S.  39).»  Hat  er  doch 


I  Leider  konnte  ich  ein  Exemplar  dieses  Baches  nicht  erlangen. 


—    74    — 

gar  «Von  der  Babylonischen  gefengknuss  der  Kirchen ,  doktor 
Mariin  Luthers»  übersetzt!  Einen  ähnlichen  Standpunkt  iiimmt 
er  in  seinen  Dichtungen  ein ;  wenn  er  —  oft  gar  in  der  Ich- 
form —  über  die  ärgsten  Dinge  berichtet^  so  spricht  natürlich 
nicht  Thomas  Murner,  sondern  es  ist  die  <red  der  grobiaDer> 
die  er  cnun  allein  in  m  e  1  d  e  n  s  weyss»  anführt. 

Ich  glaube,  dass  die  Motive  für  die  Veröffentlichung   der 
obigen  Schriften  aus  dem  Charakter   Mumers  zu  erschliessen 
sind.    Er   hatte  eben  ein  gut  Teil  vom  Journalislen,  das  Wort 
nicht  im  besten  Sinne  genommen.   Von  diesem  Gesichtspunkte 
aus  lässt  sich  vieles   bei  ihm  erklären,  —  selbst  seine  Ueber* 
setzungsthätigkeit  auf  juristischem    und   medizinischem  Gebiete 
(Huttens  De  Guaiaci  Medicina  et  morbo  gallico  hat  er  übertragen} 
dürfte  nicht  allein  auf  philanthropische  Beweggründe  zurück- 
zuführen sein.     Er  hatte  einen   gar   feinen   Spürsinn   für  die 
litterarischen  Bedürfhisse  des   Tages,   bei   deren   Befriedigung 
ihn    auch     ein     bisschen     Sensation     nicht    zurückschreckte. 
Das  Interesse  für  die  jüdischen  Schriften  war  nun  durch  den- 
langwierigen   Streit    Beuchlins   mit   den   Kölnern    erregt,    be- 
sonders von  den  Osterbräuchen  und  -gebeten  hatte  Pfefferkorn 
viel  erzählt,  aber  er  hatte  doch  nicht  das  jüdische  Passahbuch 
übersetzt,    Murner  suchte   in   diesem  Punkte  die  Neugier 
zu   befriedigen.    Dabei    war  er  —   das   zeigt    sich    bei    allen 
seinen  Schriften  —  ein  Meister   des  Titels,  wie  es  ein   echter 
und  rechter  Tagesschriflsteller  sein  muss.     Man  denke  nur  an 
das  merkwürdige  Bild,  an  die  grossen  hebräischen  Buchstaben, 
und  dann :    Der  Juden    benedicite   —   die   Tischzuchten    und 
alles,  was  damit  zusammenhing,  stand  in  hohem  Interesse;  — 
das  Gebet  des  Traums,  wie  die  Juden  ihre  Toten  begraben  — 
das    sind  Gegenstände,    die    noch   heute  den  Sinn   der  Menge 
fesseln. 

L.  Geiger  legt  zu  viel  Gewicht  darauf,  dass  Mumer  in 
den  Dunkelmännerbriefen  als  Gegner  der  Kölner  angeführt  wird. 
Die  Kölner  waren  Dominikaner^  und  Thomas  Mumer  hatte 
sich  ihnen  in  der  Schrift  cVon  den  fier  ketzern  Predigerordens» 
(1509)  gewiss  nicht  als  Freund  gezeigt.^  Wenn  es  nun  im 
II.  Buche,  epist.  59,  von  Murner  heisst,  dass  er  ein  cliber  in 
defensionem  Reuchlini»^  verfasst    habe,  so    können    wir   doch 


1  «Das  Bernenae  scelns  blieb  eines  der  Lieblingsthemen  in  den 
Angriffen  der  Hnmanisten  gegen  die  Mönche.»  Geiger,  Renaissance 
und  Homanisrnns,  S.  367. 

2  «Womit  nur  eine  jener  beiden  Schriften  gemeint  sein  kann,»- 
behanptet  Kaweran,  a.  a.  0.  S.  99.  Anm.  108. 


—    75    — 

darunter,  wie  ich  gezeigt  zu  haben  glaube,  keineswegs  die 
hier  gekennzeichneten  Schriften  verstehen.  Für  sehr  be- 
achtenswert aber  halte  ich  die  Charakteristik,  die  im  II.  Buch, 
Epistel  3j  von  Mumer  entworfen  wird  ;  sie  mag  diese  Aus- 
führungen beschliessen  :  noviter  venit  huc  unus  Doctor  Theo- 
logiae,  qui  vocatur  Mumer.  Ipse  est  de  ordine  S.  Francisci  et 
est  Superiorista  et  praesupposuit  ita  multa,  quod  non  creditis. 
Dicunt  quod  fecit  cartas,  et  qui  ludunt  in  illis  cartis  discunt 
Grammaticam  et  Logicam.  Et  composuit  unum  ludum  Scaci, 
in  quo  trahuntur  quantitates  syllabarum.  Et  praetendit  scire 
Hebraicum  et  componit  versus  in  Teutonico.  Et  dicit  mihi 
unus,  quod  talis  Doctor  in  omnibus  seit  aliquid.  Tunc  ego  dixi : 
In  Omnibus  aliquid  in  lolo  nihil. 


VII. 


Die  Kunkelstube. 

Mitgeteilt 
von 

Hans  Lienhart. 

JJie  schöne  alle  Sitte  der  Kunkelstuben  j^eht  den  Weg- 
alles  Irdischen.  Früher  spann  die  geschäftige  Hausfrau  mit 
ihren  Töchtern  während  der  langen  Winterabende  das  Garn 
für  den  Hausbedarf  selber;  und  das  war  ihr  grösster  Stolz^ 
wenn  da  oben  an  der  Decke  cam  HäkeU  die  bretzelarttg  in 
einander  verschlungenen  cSchütten»  allmählich  zu  einem  grossen 
«Kluppen»  anwuchsen.  Mit  kluger  Berechnung  war  das  Hake) 
so  nahe  gegen  das  Strassenfenster  zu  in  die  Decke  eingeschraubt^ 
dass  man  abends  von  der  Strasse  aus  bei  brennendem  Lichte 
den  Kluppen  recht  wohl  bewundern  konnte.  W^enn  dann  im 
Frühjahr  das  Garn  mehrfach  ausgelaugt  und  ausgewaschen 
war,  wurde  es  gespult  und  zum  Weber  gebracht,  der  es  zu 
Leinen  oder  Bombasin  verarbeitete.  Diese  wanderten  darauf  in 
die  cFarb»  (Färberei),  wo  das  Leinen  in  der  Regel  blau  gefärbt 
wurde  für  Hosen  und  Kittel  der  männlichen  Hausbewohner^ 
während  das  Bombasin  schwarz,  grün  oder  rot  herauskam  und 
zu  Frauenröcken  oder  Sonntagshosen  verarbeitet  wurde. 

Die  grossartigen  Umwälzungen  im  Verkehrsleben,  welche 
sich  in  den  neueren  Zeiten  vollzogen  haben,  führten  diese  ganze 
Einrichtung  fast  überall  einem  jähen  Ende  entgegen.  Das 
Spinnrädchen  steht  staubbedeckt  und  vergessen  in  einer  Ecke 
der  hintersten  Kammer  oder  gar  auf  dem  Speicher  unter  dem 
Dache,  und  das  Häkel  an  der  Decke  ist  leer  oder  ganz  ver- 
schwunden. Es  ist  das  sehr  zu  bedauern,  aber  nicht  zu  ändern! 
In  meiner  Heimat,  dem  Zornthal,  fmden  die  Abendzusammen- 


—    77    — 

künfte  der  jungen  Mädchen  zwar  noch  statt,  man  geht  noch  in 
die  Kunkelstuben,  aber  es  sind  meistens  nur  Stricksiuben,  ja, 
hier  und  da  zieht  wohl  auch  schon  die  eine  oder  die  andere 
eine  Häkelarbeit  hervor!  Von  halb  sechs  bis  halb  neun  wird 
dann  gearbeitet,  und  dabei  werden  Geschichten  erzählt  oder 
Lieder  gesungen.  Um  halb  neun,  an  manchen  Orten  auch 
schon  um  acht,  wird  die  Arbeit  unterbrochen,  und  die  ganze 
Gesellschaft  zieht  hinaus  auf  die  Strasse  zu  den  Burschen,  die 
<ler  Schönen  schon  längst  warteten.  Unter  Gesang  und  allerhand 
Scherzen  geht's  dann  strassauf  und  ab,  je  ausgelassener,  desto 
iieber.  Wenn  der  Schnee  grade  cdapp»  ist,  endigt  diese  halb- 
stündige Pause  nicht  selten  mit  einem  gewaltigen  Schneeballen- 
hagel, den  die  Burschen  den  fliehenden  Mädchen  bis  an  die 
Hausthür  nachjagen.  Gearbeitet  wird  jetzt  kaum  mehr.  Kichernd 
stecken  hier  zwei  und  dort  zwei  ihre  Köpfchen  zusammen  und 
erzählen  sich  leise,  was  ihnen  eben  zugestossen  ist^  und  unter- 
dessen hat  die  Hausfrau  das  Neunubrbrot  herbeigebracht ;  sie 
stellt  ein  Fläschchen  Zwetschgen-  oder  Kirschbranntwein  mit 
einigen  Gläsern  und  einem  Laib  Brot  auf  den  Tisch,  giesst  ein 
und  reicht  herum.  Um  zehn  Uhr  wird  die  Kunkelstube  aufge- 
hoben, und  dann  geht's  nach  Hause,  allein,  oder  in  Begleitung 
des  Verehrers. 

So  ist's  Brauch  im^  Zornthal,  so  auch  im  Hanauerland  und 
inn  Kochersberg. 

In  anderen  Gegenden  ist  der  Verlauf  einer  Kunkelstube 
ein  anderer,  so  im  Kreis  Weissenburg,  z.  B.  in  Hunspach,  das 
durch  seine  altertümlichen  Trachten  bekannt  ist.  Nach  der 
Kirwe,  um  den  10.  November,  wird  hier  mit  der  Kunkel- 
stube angefangen.  Die  Mädchen  gehen  zusammen  nach  Klassen, 
d.  h.  so  wie  sie  aus  der  Schule  entlassen  wurden,  jeden  Abend 
aus,  nur  am  Samstag  nicht.  Während  des  ganzen  Winters 
besuchen  sie  nur  ein  einziges  Haus,  mei.st  das  einer  ärmeren 
Frau,  wo  sie  also  eine  um  so  grössere  Freiheit  haben.  Holz 
2um  Heizen  und  Oel  fürs  Licht  bringen  sie  regelmässig  mit, 
meistens  mehr  als  an  dem  Abend  verbraucht  wird.  In  der 
Nacht  des  24.  Dezember  halten  sie  Sperrnacht;  dazu  steuert 
jedes  Mädchen  an  Fleisch  und  Wein  bei,  ja,  reichere  geben 
sogar  den  ärmeren,  dass  auch  diese  nicht  mit  leerer  Hand  zu 
kommen  brauchen.  Die  Buben  derselben  Klasse,  namentlich 
aber  die  Geliebten,  werden  dazu  eingeladen.  Nach  dem  Essen 
wird  zur  Beförderung  der  Verdauung  —  es  wird  nämlich  sehr 
fett  gegessen,  ist  es  doch  gerade  die  Zeit  des  Schlachtens  — 
der  selbst  mitgebrachte  schwarze  Kaffee  obendrauf  gesetzt,  und 
das  ganze  Fest  findet  seinen  Abschluss  in  einem  Tanzvergnügen 
nach   den  Klängen   einer  cHärrmonie»  (Ziehharmonika),  wobei 


—    78    — 

sich  dieses  oder  jenes  Pärchen  auf  Wollsocken  im  Kreise 
schwingt,  zum  allgemeinen  Vergnügen  der  übrigen,  aber  sicher 
ebenso  leicht  wie  der  Stadter  und  die  Städterin  auf  ihren  Ball- 
schuhen. Gegen  Ende  Februar  wird  die  Kunkelstube  ge- 
schlossen. Beim  Abschied  gibt  jede  Spinnerin  der  Frau  des 
Hauses  etwa  zwei  Schütten  Garn,  so  dass  diese  in  der  Regel 
•ein  schönes  Stück  Tuch  davon  herstellen  lassen  kann.- 

In  einem  anderen  Teile  des  Weissenburger  Kreises,  im 
Kanton  Sulz  u.  W.,  haben  diese  Abendzusammen künfle  den 
Namen  cMaistubb»;  so  wird  z.  B.  auch  in  Niederbetschdorf 
«Maistubb  ghalte».  Höchst  selten  aber  wird  ein  Spinnrad  mit 
in  die  Maistube  genommen  ;  die  jungen  Mädchen  unserer  Zeit 
würden  sich  geradezu  schämen,  ein  solch  veraltetes  Werkzeug 
mitzuführen :  Häkel-  und  Strickarbeiten  spielen  die  Hauptrolle. 
Wir  befinden  uns  eben  hier  in  einer  nicht  mehr  rein  ackerbau- 
treibenden Gegend ;  die  Frauen  tragen  weder  ausgesprochen 
städtische,  noch  bäuerische  Kleidung,  und  beim  Kirchgang 
passt  auch  bei  den  Männern  der  hohe  Cylinderhut  durchaus 
nicht  zu  der  übrigen  Tracht.  In  den  Maistuben  ist  nun  das 
Arbeiten  Nebensache;  bis  gegen  neun  Uhr  wird  die  Zeit  ver- 
trödelt; dann  kommen  die  cBuwe»  herein,  und  nun  beginnen 
die  Spiele,  nachdem  der  Tisch  hinter  den  Ofen  gerückt  ist. 
Die  Gesellschaft  verkürzt  sich  den  Abend  besonders  durch  die 
folgenden  Spiele  : 

1.  Brackebö^jes. 

A  steht  an  der  Thür  und  Z  kommt  zu  ihm  und  fragt  ihn: 

Z.  :  Was  duusch  du  doo? 

A. :  E  Brück  böüje  I 

Z.  :  Was  brüchsch  dezüü? 

A. :  E  Schüüfel  I 

Z.  :  Werr  soll  se  sin? 

A. :  D*  Lüwwis  dert,  häre  mit  erre! 

Die  Luise  stellt  sich  dann  dem  A  gegenüber  auf,  sodann 
werden  an  sie  dieselben  Fragen  gerichtet  wie  vorhin  an  A.  Sie 
braucht  irgend  ein  anderes  Werkzeug  oder  einen  Baustoff, 
wofür  der  Bursche  B  herbeigerufen  wird,  der  sich  neben  sie 
stellt.  Jetzt  wiederholen  sich  die  alten  Fragen,  und  schliesslich 
bekommt  er  als  Gegenüber  etwa  die  Sälmel  oder  Leenel,  und 
das  geht  so  weiter,  bis  alle  Paare  einander  gegenüber  aufge- 
stellt sind.  Sie  reichen  sich  dann  paarweise  die  Hände  und 
steilen  so  gewissermassen  die  Brückenbogen  her.  Zum  Schluss 
kommt  dann  der  Baumeister  Z  und  will  nun  prüfen,  ob  die 
Brücke  auch  dauerhaft  ist.  Er  legt  sich  auf  die  Brückenbogen, 


—    79    — 

wobei  es  sich  freilich  manchmal  fügt,  dass  diese  oder  jene 
Hand  los  lässt  und  der  Baumeister  in  die  Tiefe  stürzt  —  wenn 
er  nicht  während  des  Sturzes  noch  aufgegriffen  wird. 

2.  Bmder,  ich  bin  gebatst  I 

Zwei  Buwe,  A  und  B,  setzen  sich  auf  zwei  Stuhle  einander 
gegenüber,  und  es  wird  ein  Betttuch  über  sie  gehängt.  Die 
übrigen  gehn  nun  im  Kreise  um  sie  herum,  uhd  plötzlich  ver- 
netzt einer  dem  A  einen  Schlag  mit  der  Hand  auf  den  Rücken. 
Dieser  sagt  dann  zu  B  :  c  Bruder,  ich  bin  gebutzt!«  worauf  B 
den  A  fragt :  «Wer  hett  dich  gebutzt?»  Nennt  A  den  richtigen 
Namen  des  Schlagenden,  so  muss  der  letztere  den  Platz  mit 
ihm  wechseln,  wenn  nicht,  so  wird  weiter  drauf  los  geschlagen . 

3.  Kupplemättders  oder  Bnschum. 

Der  Spielordner  zählt  eine  gleiche  Anzahl  Mädchen  und 
Buben  ab ;  die  letzteren  müssen  vor  die  Thüre  wandern,  während 
sich  jene  auf  die  Bank  niedersetzen.  Nun  wird  jedem  Mädchen 
ein  Bube  zugewiesen,  und  darauf  macht  der  Ordner  die  Thür 
auf  und  lässt  einen  Buben  eintreten.  Dieser  geht  auf  das 
Mädchen  los,  dem  er  zugewiesen  zu  sein  glaubt  und  fragt  sie 
mit  einer  Verbeugung  :  «Isch's  erlaubt  uf!  dinni  Schuuss  ze 
sitze?»  worauf  er  die  Antwort  erhält:  «Ja,  wann  d'mer  zween 
Schmitz  (Küsse)  gisch!>  Diese  giebt  er  ihr,  und  falls  er  die 
richtige  getroffen  hat,  darf  er  sich  auf  ihren  Schoss  setzen, 
wenn  nicht,  so  dreht  sie  sich  im  Augenblick,  wo  er  sich  setzen 
will,  schnell  um,  kehrt  ihm  den  Rücken  und  macht  so  eine 
Verbeugung.  Be.schämt  muss  er  dann  abziehn,  und  beim 
Hinausgehn  bekommt  er  einen  Plumpsack  auf  den  Rücken.  — 
Hat  aber  schliesslich  jede  den  ihr  Zugewiesenen  auf  dem  Schoss 
sitzen,  so  fängt  das  Spiel  von  vorne  an,  diesmal  aber  so,  dass 
Jetzt  die  Mädchen  vor  die  Thür  müssen,  während  die  Buben 
drin  bleiben. 

4.  Zanderschzewwerscht. 

Die  Mädchen  setzen  sich  im  Kreis  auf  die  Stühle,  während 
die  Buben  zunächst  hinten  auf  der  Bank  sitzen.  Der  Spiel- 
ordner steht  im  Kreis  und  hat  einen  Plumpsack  in  der  Hand; 
er  tritt  an  das  erste  Mädchen  heran  und  fragt  es:  «Alle, 
weller  gfallt  derr  jetzt  am  beschte?»  Sie  nennt  den  A,  der 
darauf  in  den  Kreis  tritt  und  sich  dem  Mädchen  auf  den  Schoos 
setzt.  So  treten  auch  B,  C,  D  u.  s.  w.  herein,  bis  schliesslich 
der  ganze  Kreis  verdoppelt  ist.  Dann  kommt  der  Spielordner 
wieder   zu   dem   ersten  Mädchen   und   fragt:    «Na,  gfallt  derr 


—    80    — 

dinner  noch?»  worauf  sie  entweder  antwortet:  cjä,  ja,  o  der 
gfallt  merr  noch  so  Q^uuti,  oder:  cNee,  derr  B.  dert  gfallt  merr 
besser!»  A  und  B  springen  dann  auf,  um  ihre  Plätze  zu  wech- 
seln; während  sie  laufen,  schlägt  der  Ordner  mil  dem  Plump- 
sack auf  sie  los.  Dies  wird  so  fortgesetzt,  bis  der  ganze  Kreis 
abgefragt  ist.  —  Manchmal  sagt  aber  auch  eine  auf  die  Frage  : 
cNa,  gfallt  derr  dinner  noch?»  —  cXee,  d'r  Herr  sälwer!» 
dann  muss  der- Spielordner  Amt  und  Platz  wechseln  mit  dem, 
der  ihr  bisher  auf  dem  Schoos  gesessen  hat.  —  Später  setzen 
sich  die  Buben  auf  die  Stühle,  und  dann  nehmen  die  Mädch^i 
Platz  auf  ihren  Schössen,  indem  das  Spiel  wiederholt  wird. 

5.  Heirathes. 

Mädchen  und  Buben  stellen  sich  nebeneinander  im  Kreis 
auf,  und  dann  wird  bis  20  abgezählt.  Das  Paar  19 — ^20  tritt 
in  den  Kreis  hinein,  und  während  sie  einander  ansehen,  geheo 
die  übrigen  in  einer  Kreiskette  um  sie  herum  und  singen  fol- 
gendes Liedlein  : 

Einst  gingen  wir  durch  den  finstern  Wald, 
Da  aingen^s  die  Vögelein,  wie's  ihnen  gefallt; 
Sie  setzten  sich  nieder  auf  ihre  Kniee 

(Das  Paar  muss  niederknien.) 
Und  schaaten^s  den  kleinen  Vögelein  zu. 
Ach,  Herr,  wenn  Da  dies  Fräulein  haben  willst, 
So  sprich  nur  zweimal  ja! 

(Er  sagt  zweimal  ja !) 
Dranf  geben  sie's  einander  die  rechte  Hand 

(Sie  reichen  sich  die  rechte  Hand.) 
Und  anch  zwei  Kasse  zum  Liebespfand! 

(Sie  küssen  sich.) 

Dann  stehen  sie  auf  und  tanzen  nach  der  Flöte  —  so  nennt 
man  hier  die  Mundharmonika  —  drei  Tänze:  einen  Schot- 
tisch, einen  Walzer  und  eine  Polka.  Das  Paar  geht  sodann 
auseinander  *,  e  r  ruft  ein  anderes  Mädchen,  s  i  e  einen  anderen 
Burschen  beim  Namen,  und  nun  tritt  dieses  Paar  in  den  Kreis 
und  heiratet  unter  derselben  Feierlichkeit  wie  das  erste  Paar. 
Wenn  die  zehn  Eheschliessungen  stattgefunden  haben,  ist  das 
Spiel  zu  Ende. 

Manches  dieser  Spiele,  namentlich  das  vierte,  wird  recht 
in  die  Länge  gezogen,  so  dass  sich  die  Maistube  in  den  meisten 
Fällen  erst  spät  nach  Mitternacht  auflöst.  Unter  Hinterlassung 
von  grosser  Unordnung  und  einer  stauberfQllten  Stube  zieht 
dann  die  frohe  Gesellschaft  ab  :  am  frohesten  aber  sind  wohl 
die  Hausbewohner,  dass  der  Trubel  ein  Ende  hat. 


VIII. 


Volksmundartliches  aus  dem  Elsass 


Mitgeteilt 
Ton 

Julius  Rathgeber. 


ElsäMiseh«  Sprichwörter  und  spriehwöriliche  Redensarten. 

U  f  e  jed's  Häfele  g'hört  sin  Deckele.  —  Wer's  Glück  het 
führt  d'Brüt  (die  Braut)  heim.  —  E  Schelm  gibt  meh  als  er 
het.  —  Dis  isch  e  Mächer  un  e  Fitzer  I  (Strassburger  Aus- 
druck für  einen  rafGnirten  und  hochmütigen  Menschen.)  — 
Stark  wie  e  firentewinmann  (Branntweinmann),  d.  h.  schwach 
und  kraftlos.  —  Märzeschnee  thüt  alle  Früchte  weh'  (Elsässi- 
scher  Bauernreim).  —  Der  Tod  müss  en  Anfang  han.  —  Uf 
de  Leime  gehen,  d.  h.  sich  bethören  lassen  durch  schöne 
Worte.  —  Im  Handumkehren,  d.  h.  schnell.  —  's  Mül  (das 
Maul)  wässert  mer  democh.  —  Dis  isch  e  Schülbüwestückel, 
d.  h.  ein  Schulbubenstreich.  —  Du  bisch  min  herzgebobbelt 
Rösel  (Rosa).  —  Dis  isch  e  rechti  Bürebrid  (Brid  ist  eine  Ab- 
kürzung von  Brigitte ;  Bürebrid  bedeutet  so  viel  als  ein  tappiges 
befangenes  Bauernmädchen).  —  Bibeleskäs,  weisser  Käs, 
aGlumms»  in  Preussen  genannt.  —  Der  het  sin  Geld  verthort, 
d.  b.  verdummt,  hat  Thorheiten  damit  begangen.  —  Nottle 
heisst  in  Lothnngen  den  berühmten  Bauernhopser  tanzen. 
Der  Dichter  Karl  Candidus,  der  mehrere  Jahre  Pfarrer  in  Alt- 
weiler bei  Saarunion  war,  hörte  wie  ein  Bauernmädchen  aus 
der  dortigen  Gegend  von  einem  Burschen,  der  mit  ihr  auf  dem 

6 


—    82    — 

Tanzboden  gewesen  war,  sagte :  cJo,  er  kann  gut  walze,  nottle 
nwer  kann  er  nit.»  Nottle  heisst  der  Grundbedeutung  des 
Wortes  nach,  so  viel  als  wackeln  oder  schütteln.  —  Der  kann 
£ine-n-in's  G' schirr  nehme,  d.  h.  utzen.  —  Do  ka  mehr  jo  de 
Bettelsack  anhänge.  —  Mir  nix  dir  nix.  —  Isch  dis  e  Meer- 
wunder, d.  h.  etwas  Ausserordentliches.  —  e  wunder !  Dieser 
Ausdruck  kommt  oft  als  Bekräftigung  der  Rede  gesprächsweise 
vor.  —  Er  het  sich  selwer  in's  Au  g'schlaue,  d.  h.  er  hat  sich 
selbst  geschadet.  —  Dis  isch  e  bösi  Kipp,  die  isch  uf  mi  los 
wie  e  böser  Drach.  —  Do  isch  Alles  üsgstudirt  g'sin  bis  dort 
nüs.  —  Wenn  de  als  meinsch  de  hesch  noch  e  gute  (sc.  Freund) 
zen  isch  er  falsch  wie  der  Judas  Ischarioth  (RodewoMe  von 
falschen  guten  Freunden,  sog.  faux  bonhommes).  —  Mach' 
mer.doch  ken  Plan!  — Loss  mi  ung'k^jt!  d.  h.  in  Ruhe.  — 
In  de  m  Hus  isch  der  hell  Kriej  (Krieg),  d.  h.  herrscht  Un- 
frieden und  Uneinigkeit.  —  Dis  isch  e  Kapitalskerl.  —  Der 
isch  nimmi  kapitelfest,  d.  h.  er  hat  keine  gute  Gesundheit 
mehr.  —  Arm  wie  Lazarus.  -^  Arm  wie  e  Kirchemüs.  —  Er 
het  sine  BQ  (Buben)  dumm  un  doüb  (taub)  g'schlaue.  — 
Newe-n-em  Gizhals  isch  immer  e  Verschwender,  d.  h.  jeder 
Geizige  verschwendet  wieder  von  seinem  Gut  oder  hinterlässt 
es  Erben,  die  es  verschwenden  werden.  —  Wem's  nit  will 
(nämlich  das  Glück),  dem  will's  nit,  d.  h.  der  ist  und  bleibt 
ein  Pechvogel.  —  Un  we  mer  Ente  ufm  Wasser  schvnmme 
het,  ze  ka  mer  nix  saue,  sie  könne-n-au  untergehen.  Sinn: 
Wenn  alles  noch  so  günstig  steht,  so  kann  sich  das  Blatt 
wenden.  —  's  isch  arj  (arg)  we  mer  so  viel  Geld  verliert  mit 
truckenem  Mül  (Maul),  d.  h.  wenn  man  ohne  seine  Schuld 
um  sein  Vermögen  kommt.  —  Jo,  i  nimm  di  w^je  dine  paar 
Grosche  (von  einer  Geldheirat).  —  Do  isch's  nit  g'hier  (ge- 
heuer). —  Wie  mer  de  Salon  ufmacht,  ze  koscht's  (kostet  es) 
Geld.  Sinn :  W^er  ein  comfortables  Leben  führen  will,  muss 
die  Ausgaben  dazu  nicht  scheuen.  —  Stern haujel  (hagel)  voll 
sin  (von  einem  total  Betrunkenen).  —  Dene  han  sie  leder weich 
g'schlaue,  d.  h.  durch  und  dui*ch  geschlagen.  —  Zwische  Da 
(Tag)  un  Liecht  (entre  chien  et  loup).  —  Der  isch  üwerni 
Gräwel  (Graben),  d.  h.  dieser  Kranke  ist  auf  dem  Wege  der 
Genesung.  —  Dis  isch  gutes  Basler  Hüstüch;  Basler  Haustuch 
war  in  früherer  Zeit  in  allen  guten  Bürgersfamilien  des  Elsass 
zu  ünden  und  wurde  den  Töchtern  bei  deren  Ausstattung  an- 
geschafft. —  Kanzdi  ist  der  im  Elsass  auf  dem  Lande  gebräuch- 
liche Ausdruck  für  Johanni.  —  Die  sin  ganz  ze  Wasser  wore, 
d.  h.  haben  schlechte  Geschäfte  gemacht  und  sind  bankerott 
geworden.  —  Jo,  dis  isch  e  Narr  in  sine  Sack,  d.  h.  ein  hab- 
und  geldgieriger  Mensch.  —  Isch  dis  e  alt's  Castell!  d.  h.  ein 


'—    83    — 

altes  baufälliges  Haus.  —  Wenn  e  Baum  krumm  ge^achse-n- 
isch,  zen  isch's  bös  ne  wieder  grad  ze  mache.  —  Do  isch  er 
awer  an  de  Letze  (an  den  Unrechten)  kumme.  —  I  könnt' 
hundert  Eid  schwöre  (starke  Betheuerung  der  Wahrheit).  — 
Halt'  din  Gösch  (Trivialer  Volksausdruck  für  :  Halt'  dein  Maul). 

—  Nun  de  Bibbele,  Strassburger,  halb  komischer  Fluch,  der 
dem  französischen:  Nom  de  Dieu  ähnlich  ist.  —  Dis  isch  e 
rechter  Dürmel  (Bezeichnung  für  einen  dummen  tappigen 
Menschen).  —  Die  isch  so  arm  wie's  Hans  Grete  Tochter 
(letztere  wird  in  den  elsässischen  Dörfern  als  das  ärmste  Dorf- 
mädchen bezeichnet,  welches  die  Gänse  hüten  muss).  —  Der 
isch  jetz  grob  wie  Soüjbohnestroh.  —  Der  Dolle  (dieser  dumme 
tolle  Mensch)  der  hei  's  Thor  waujewii  (wagen weit)  ofTe  gelon. 

—  Do  isch's  finster  wie  im  e  Sack.  —  Die  könne  nit  mit 
nander  g'schirre,  d.  h.  sie  können  sich  nicht  mit  einander 
vertragen  (von  einer  bösen  Ehe  gebräuchlich).  -—  Mer  het  halt 
ken  drissig  Johr  meh,  d.  h.  man  ist  nicht  mehr  jung,  man 
fangt  an  die  Altersbeschwerden  zu  spüren.  —  Der  oder  die 
isch  glich  bi  der  Heck,  d.  h.  gleich  bei  der  Hand.  —  Mer 
red't  halt  dis  un  zell,  d.  h.  von  diesem  und  jenem.  cZeller» 
ist  ein  Strassburger  Ausdruck  für  cjener».  —  Zu  gut  isch  e 
Stück  vun  der  Dummheit.  —  Der  het  ewe  e  doppelti  Kryd, 
d.  h.  er  schreibt  eine  höhere  Summe  auf  als  man  ihm  schuldet 
oder  begehrt  eine  Summe  zweimal.  —  Min  Sex !  (Strassburger 
Kraftausdruck ,  entspricht  dem  französischen :  Ma  foi  I)  — 
Herkules  am  Münster !  (Erinnerung  an  das  frühere  Krütz- 
mannsbild  am  Strassburger  Münster,  das  man  für  eine  Statue 
des  Herkules  nahm.)  —  Dis  isch  jo  e  rechter  Bäschler,  d.  h. 
Einer,  der  ohne  es  gelernt  zu  haben,  allerlei  Nippsachen  zu 
verfertigen  (bäschle)  weiss.  —  Wie  geht's  mit  dem  Patiente 
(d.  h.  Kranken)?  Antwort:  's  geht  mit  cm  d'Matt  na  die 
Matte  hinab,  d.  h.  zu  Ende).  —  Dis  isch  e  rechter  Prozess- 
krämer. —  Samuel  hilf!  Mit  diesem  Ausdruck  bezeichnen  noch 
jetzt  die  alten  Strassburger  das  Leihhaus,  weil  in  früherer  Zeit 
der  Direktor  dieser  Anstalt  ein  Israelit  war,  dessen  Vorname 
Samuel  hiess.  —  's  Hirn  isch  em  g'frore.  Variante:  's  Hirn 
isch  em  verbrennt,  d.  h.  er  handelt  kopflos  und  unüberlegt. 
{Französisch:  C'est  un  cerveau  brüI6.)  —  Welle  mer  nit  Kippes, 
d.  h.  Halbpart  mache?  —  We  mer  e  Boöj  ufTühre  will,  ze 
müss  mer  immer  's  doppelt  als  der  Boüjmeister  Eim  ^aat, 
reche  (rechnen)  un  noch  e  Wisch  (eine  Menge  Geld)  derzü. 
Sinn :  Das  Bauen  kostet  immer  viel  mehr  als  man  meint. 
Elsässisches  Sprichwort,  zu  dem  man  beifügen  kann :  £  Sprich- 
wort e  wohr  Wort.  —  Mer  müss  stark  bisse  (beissen)  wenn 
mer  e  Wecke  esse  will  vun  Barr    noch  Heljestein.    Elsässische 


—    84    — 

Redensart,  deren  Sinn  folgender  ist :  Das  Städtchen  Barr  und 
das  Dorf  Heiligenstein  sind  so  nahe  beisammen  gelegen,  dass 
die  Häuser  beider  Orte  beinahe  an  einander  stossen  und  man 
kaum  Zeit  hat  einen  Wecken  zu  verzehren,  wenn  man  von 
einem  Orte  zum  andern  gehen  will.  —  Halt'  sie  ihr  Mal 
(Maul)  un  mach*  sie  Esch'  (Asche)  druf,  d.  h.  schweige  sie  still. 
—  's  isch  ken  Schlacht  so  gross,  dass  nit  ein  Mann  dervon 
kummt.  -—  E  gross  Gretrumms  (Gretrommel)  awer  weni  Sei- 
date,  d.  h.  Viel  Lärm  um  Nichts. 


VolkflmnndttrtlicheB  ans  dem  Blaass. 

Folgende    Reime   singt  das   elsässische  Volk   mit   Vorliebe 
am  Ende  eines  Volksliedes  oder  am  Schlüsse  einer  Erzählung: 

üad  aus  ist  das  Liedel, 

Und  aus  ist  der  Tanz, 

Geh'  Maidel,  boV  Wasser, 

Un  wasch'  mer  de  Hans. 

Und  ans  ist  mit  mir, 

Und  mein  Hans  hat  kein'  Thür', 

Und  mein  Thür'  hat  kein  Schloss, 

Und  mein  Schatz  bin  ich  los: 

Un  weil  ich  ne  los  bin, 

So  freut  mi  das  Ding, 

Un  e  andre  zu  lieben 

Das  hab'  ich  im  Sinn, 

Der  noch  so  schön  ist, 

Und  der  noch  so  schön  bleibt, 

Den  stellt  mir  in  Garten 

Der  die  Vögel  vertreibt, 

Und  die  Spatzen  yeijagt, 

Und  so  wonach*  ich  meim  Schätzele 

Eine  nih'same  Nacht. 


Ein  bekanntes  Lied  von  Kotzebue  (August  Friedrich  von) 
wird  auf  dem  Lande  im  Elsass  nach  einer  eigenen  Melodie  ge- 
sungen. Zwei  Strophen  des  volkstumlichen  Liedes  werden  in 
folgender  VV^eise  umgeschrieben: 

Wir  sitzen  so  fröhlich  beisammen 
Und  haben  einander  so  lieb, 
Erheitern  einander  das  Leben: 
Ach  wenn  es  doch  immer  so  blieb! 


i 


—     So- 
und es  kann  ja  nicht  immer  so  bleiben 
Hier  unter  d^m  wechselnden  Mond, 
Der  Krieg  mnss  den  Frieden  Yertreiben 
Und  da  kriegt  mui  keinen  Pardon. 


Strasabnrger  Dialog. 

Was  hesch  denn  Dännel  (Daniel),  dass  de  eso  grinsch  (weinst)?  — 

Min  Manime  (Mntter)  isch  g'storwe  (gestorben).  — 
Ah  so !  W6je  dem  grinsch  eso.  Ich  ha  gemeint  din  Meis  isch  d'r  hin. 


Der  Hansel  1111*8  Gretel. 

Der  Hansel  nn's  Gretel 

Isch  e  wackeres  Paar  Leut\ 

Der  Hansel  isch  narricht 

Un's  Oretel  nit  g'scheidt.  • 

Der  Hansel  büt't  d'Ochse 

Un's  Gretel  hüt't  d'K^jh, 

Der  Hansel  frisst  d'ßrocke 

ün's  Gretel  süft  d'Brüjh  (die  Brühe). 

Der  Hansel  tanzt 

Un^s  Gretel  singt: 

Hans,  min  Hansel, 

Znckersüsser  Hansel  1 

Du  sollst  jo  min  Hansel  sein, 

Du  ganz  allein ! 


Hüwe-n-am  Rhein,  drüwe-n-am  Rhein 
Da  soll  mein  Schätzele  sein. 

Hüwe-n-am  Rhein,  drüwe-n-am  Rhein 
Da  soll  es  sein. 


Folgende  Reime  schreiben  gewohnlich  die  elsässischen 
Bauernburschen  und  Bauern mädchen  in  ihren  Liebesbriefen  an 
einander,  zum  Schlüsse  ihrer  Epistel : 

Ich  küsse  dich  nnd  drücke  dich, 

Oft,  Yielmal,  in  Gedanken, 

Ich  schane  dich  im  Geiste  an, 

Mein  Herz  soll  von  dir  nicht  wanken. 

Wenn  ich  dich  schon  nicht  sehen  kann. 


—    86    — 

Gott  lft88^  dich  lang  gesund! 
Bis  dass  der  Hase  jagt  den  Hand, 
Bis  dass  der  Mahlenstein, 
Schwimmt  4ber  d«&  Bhän,     - 
b; ollst  da  mein  Anerliebstfr  sein. 

Oder: 
Sollst  da  meine  Allerliebste  sein. 


ElsäeLsischer  VolkBreimsprach  auf  die  Liebe. 

Lieben  and  nicht  haben 
Ist  härter  als  Stein  graben. 


Ein  ungedrucktes  Gedicht 

¥on 
Karl    Boese.  1 


Beim  Ansstocken  in  Algerien. 

Seht  die  rüst'gen  Leate  an, 
Wie  sie  dorten  im  Gebüsche, 
Bei  des  frühen  Morgens  Frische 
Graben,  hacicen  dranf  and  dran. 

Brüder  Yon  der  Alsa  Strand, 
Schweizer.  Welsche,  Baiern,  Schwaben, 
Berbern,  Negros  schwarz  wie  Raben, 
Alle  mit  der  Arbeit  Band! 

Rast  and  Rah*  sie  nimmer  schea^n. 
Unter  ihren  mächtigen  Streichen, 
Selbst  die  zahmsten  Worzeln  weichen. 
Splittern  grinsend  Stock  and  Stein! 

Grabt  and  hackt,  in  Kraft  and  Mat, 
Dass  die  felsenfeste  Erde 
Locker  sei  and  arbar  werde. 
Und  each  spende  reiches  Gat! 


1  Karl  Bosse,  elsässischer  Dialektdichter  and  Jagendfreond  tob 
Daniel  Hirtz  and  Aagast  Stöber,  warde  geboren  za  Strassborg  dei 
24.  Mai  1809.  Nach  dem  Napoleonischen  Staatsstreiche  von  It^l 
warde  er  im  Mai  1852  nach  Algerien  deportiert.  Er  blieb  später 
dort  and  wirkte  seit  1856  als  Yolksschallehrer  in  Blidah.  Er  starb 
daselbst  in  den  achtziger  Jahren  and  blieb  bis  an  sein  Ende  homor 
Yoll  and  witzig. 


—    87    — 

Gottes  Segen  folg'  Euch  nach; 

Er  yerleih'  Euch  Kraft  and  Stärke, 

Zn  dem  schweren  Tagewerke, 

Di  bh  nmk  liagt  ein  Acker  brash ! 

Klein  ist  er,  doch  eine  Welt 
Fasset  er  in  seinen  Enden! 
Auf,  umgürtet  eure  Lenden, 
Denn  dranf  ist  es  schlecht  bestellt 

Molch  und  Nattern  allznmal, 
Dom  and  Disteln  haasen  drinnen; 
Keine  klare  Bächlein  rinnen 
Darch  das  Unkraut  ohne  Zahl! 

Diesem  Acker,  ranh  wie  Erz, 
Traurig,  wild  und  unbegossen 
Da  des  Uebels  Saaten  sprossen 
Rüstige  Leut\  gleichet  euer  Herz. 

Drum  ans  Werk,  nur  unverzagt! 
Kehret  um,  getrost  und  wacker 
Eures  Herzens  Todesacker, 
Weil  es  noch  auf  Erden  tagt ! 

RoUet  aus  den  Eigennutz! 
Ohn'  Ermüden,  durchgedrungen! 
Mit  Qott  ist  es  bald  gelungen 
Und  dem  bösen  Feind  zum  Trutz ! 

In  des  Glaubens  reinen  Grund 
Streut  der  Hoffnung  guten  Samen. 
Der  gedeiht  in  Gottes  Namen 
Freudig  zu  der  rechten  Stund'! 

Sind  die  Herzen  so  bestellt 
Unter  allen  Erdenzonen, 
•Wird  nur   Liebe   drinnen  wohnen, 
Wird  zum   Paradies  .die  Welt ! 

ßlidah,  5.  Juni  1856. 

Karl    Boese. 


Elsässischer  Kinderreim. 

Komm\  Bibele^  komm\ 
Will  d'r  e  Hämpfele  Fresse  gen  (geben) 
Hab'di  gescht  (gest^'rn)  un  hit.nit  g*sebn. 
Komm',  Bibele,  komm\ 


IX. 


Die  Münsterthäler  Ortsnamen 


▼on 


F.  Bresch 

Pfarrer  in  Mühlback  (Ober-Elsass). 

Vorbemerkungen. 

JJer  Ausdruck  «Ortsname»  (abgekürzt :  ON)  wird 
hier  im  weiteren  Sinne  verstanden  :  sowohl  die  Flur-,  Berg-, 
Wald-  und  Fiussnamen,  als  die  Namen  der  «bewohnten  Oerler*, 
sind  im  Folgenden  kurzweg  als  ON  bezeichnet.  Alle  Diejenigen, 
die  sich  mit  Forschungen  dieser  Art  abgeben,  wissen  sehr 
wohl  wie  leicht  es  geschieht  dass  Einem  dabei  Einzelnes  ent- 
p:eht,  oder  doch  zu  spat  in  den  Wurf  kommt.  Trotz  aller 
Mühe,  die  ich  mir  gegeben,  um  der  ON  besonders  des  hinteren 
Munsterthaies  habhaft  zu  werden,  schmeichle  ich  mir  durchaus 
nicht,  alle  aufgefangen  zu  haben.  Aus  den  Gemarkungen  von 
Sonder  nach  (abgekürzt:  S),  Metzeral  (Ml),  Mühlbach 
(M)^  Breitenbach  (B)  und  Günsbach  (Gü)  dürfte  jedoch 
nichts  Wesentliches  fehlen.  In  ziemlicher  Vollständigkeit  sind 
auch  die  ON  von  S u l z e r n  (Su)  und  Stossweier  (Stw), 
mehr  lückenhaft  dagegen  diejenigen  von  Münster  (Mr), 
Luttenbach  (L),  Eschbach  (E),.  Hohro  d  (H),  Gries- 
bach  (Gr)  und  Weier-im -Thal  (W.  i.  Th)  vertreten. 
Ab  und  zu  sind  noch  einzelne  ON  der  Gemarkungen  Sulz- 
bach,   Walbach,    Zimmerbach   und   Türkheim  (T) 


—    89    — 

hinzugefügt.  Durch  G.  Stoffels  Wörterbuch  i  bin  ich  auf  einige 
Namen  aufmerksam  gemacht  worden,  die  mir  ohne  dieses 
Hilfsmittel  vielleicht  entschlupft  wären.  Freilich  ist  besagtes 
Verzeichnis,  was  unser  Thal  betrifft,  ziemlich  lückenhaft,  *  und 
auch  nicht  frei  von  Irrtümern.  Bei  so  grossen  Sammelwerken, 
zumal  wenn  ein  erster  Anlauf  gemacht  wird,  kann  es  eben 
gar  nicht  anders  sein.  Auch  sollen  obige  Konstatierungen  das 
Verdienst  Stoffiels  durchaus  nicht  schmälern.  Es  kann  im  Gegen- 
teil nicht  genug  hervorgehoben  werden,  wie  sehr  dieser  Mann 
sich  um  die  Erforschung  des  elsässischen  Volkstums  verdient 
gemacht  hat.  Es  bedurfte  wahrlich  eines  bewunderungswürdigen 
Fleisses,  um  das  zu  Stande  zu  bringen,  was  er  geleistet.  Wie 
sehr  ^ürde  die  Erforschung  des  deutschen  Sprachschatzes  ge- 
fordert, wenn  jeder  grössere  deutsche  Bezirk  seinen  Stoffel 
fände  ! 

Bei  der  Aufstellung  meines  Verzeichnisses  glaubte  ich  die 
übliche  alphabetische  Reihenfolge  beibehalten  zu 
sollen.  Dieselbe  ermöglicht  immerhin  das  rasche  Aufsuchen  der 
Wörter.  Fruchtbare  Vergleichungen  mit  den  entsprechenden 
oder  anklingenden  Ausdrücken  anderer  deutscher  Mundarten 
können  so  am  schnellsten  erledigt  werden.  Die  übrige  Anord- 
nung ist  sodann  kurz  folgende  : 

i.  Zuerst  sind  die  in  unseren  Gemarkungen  vorkommenden 
ON,  in  möglichst  genauer  Wiedergabe  der  ortsüblichen  Aus- 
sprache, hintereinander  aufgestellt.  Die  Schreibung  ist  i.  G.  die 
von  E.  Martin  und  H.  Lienhart  für  das  geplanle  «Elsässische 
Idiotikon»  vorgeschlagene.*  Sie  war  im  Wesentlichen  schon  im 

a)  Vokale:  a  e  i  o  u  =:  die  entsprechenden  Laute  im  Nen- 
hochdentschen  (genauer :  e  =  französ.  S  [tUy  etc.],  auch  im  Diphthong 
et) ;  der  uLant  ist  übrigens  selten  (er  kommt  nnr  in  der  Breiten- 
bacher  besondem  Aussprache  vor:  Paexwält) ;  y  =  neuhochdeutsch  ö. 
Alle  diese  Vokale  sind  kurz.  Sind  sie  dagegen  gedehnt  auszu- 
sprechen, 80  erscheinen  sie  mit  dem  Zeichen  f  (acut):  d  itöy; 
desgleichen  in  den  Diphthongen  di  und  öi.  Sind  a  e  u  getrübt,  d.  h. 
werden  sie  breit  ausgesprochen,  so  haben  sie  das  Zeichen  ^  (gravis) : 
a  =  der  bekannte  gemein-els&ss.  Laut  in  P&paHält;^  =  der 
Laut  des  ersten  ein  Eltern  (oder  des  französ.  k  ai  e  in  m  ö  t  r  e, 
mais,  sept);  ü  =  der  gemein-elsässische  Laut  in  S u  p.  M ü k, 
fürt;  ebenso  in  den  Diphthongen  äi  H  üi.  Sind  diese  drei  Voka  e 
noch  dazu  lang,  so  erhalten  sie  das  Zeichen  A  (Circumflex):  ä  e  ü. 
Femer:  ä  =  der  kurze,  ä  =  der  lange  bekannte  Laut  zwischen  a 


1  « Topographisches  Wörterbuch  des  Ober-Elsasses,  die  alten  und 
neuen  Ortsnamen  enthaltend.»  2.  Aufl.  Colmax  1876. 

2  Wohl  die  Hälfte  der  hier  gegebenen  ON  dürfte  dort  fehlen. 


—    90    — 

Münsterthäler  läiotikon  von  (Bre^ch-Spieser-)  Mankel 
angewandt  worden.^ 

Die  Mundart  (abgekürzt :  MA)  des  Münsterthals  zerfallt 
eigentlich  in  drei  Gruppen.'  Die  erste  nmfaawt  die  Sprache  der 
vier  hinteren  Grossthaldörfer  Sondemach,  Metzeral,  Mdhlbach, 
Breitenbach;  die  zweite  die  beiden  Dörfer  Sulzeren  und  Stoss- 
weier;  die  dritte  das  Städtchen  Münster  und  die  umliegenden 
Dörfer.  Abgekürzt  ist  die  erste  Gruppe  mit  GMA  (Grosstbal- 
mundart)  und  die  dritte  (welcher  die  zweite  in  einzelnen  Stücken 
sich  ziemlich  nähert)  mit  MMA  (Münsterer  Mundart)  bezeichnet. 

2.  Ist  ein  bei  uns  vorkommender  ON  durch  ältere  EVoku- 
mente  belegt,  so  folgt  der  Beleg  in  der  Regel  unmittelbar  auf 
den  Namen  selbst :  in  einfachen  (eckigen)  Klammern,  wenn 
Stößel  ihn  bringt,  in  doppelten  (eckigen)  Klammern  wenn  ich 
den  oder  die  Belege  anderswo,  d.  h.  zumeist  in  den  Kirchen- 
büchern von  Mühlbach,  antraf. 

3.  Hierauf  folgt  die  von  StofTel  (abgekürzt :  Stofif)  gebrauchte 
Schreibung,  soweit  er  nemlich  den  betreffenden  ON  kennt. 
Stoffiel  selbst  folgt  zumeist  der  Schreibung  des  Katasters. 

Damit  wäre  eigentlich  der  Zweck,  den  ich  mir  vorsetzte, 
ierreicht  :  nemlich  den  auswärtigen  Sprachgelehrten  und 
Forschem,  wie  auch  den  einheimischen  Freunden  der  elsassi- 
schen MA,  ein  mehr  oder  weniger  neues  und  vollständiges 
Material  zu  ihren  vergleichenden  Studien  vorzulegen. 

4.  Indessen  konnte  ich  der  Versuchung  nicht  widerstehen, 
mit  unseren  ON  die  gleichen  oder  auch  nur  anklingenden 
ON  des  Ober-Elsasses  (abgekürzt :  OE)  zusammenzustellen,  und 
zwar,  so  viel  möglich,   in    ihrer   ältesten   Gestalt.     Wird,  doch 

und  e;  9  (umgestürztes  e)  =  der  kurze,  fast  tonlose  Laut  des  nhd. 
e  in  unbetonten  Silben  (Bote,  machen);  in  unserer  ÜA  z.  B.  in 
Pajr^le,  Pfistermkty  Krispe*  —  Die  nasalierten  Vokale  und 
Diphthongen  werden  durch  das  Zeichen  v.  unter  dem  betr.  Vokal 
oder  Diptithong  bezeichnet:  z.  B.  Kh&tsel  (französ.  Laut  an) 
K  l  a  f  a  i  1  (französ.  Laut  ätn,  in)  H  ü  t  s  m  e  s  (franz.  Laut  on). 

Konsonanten :  Für  nhd.  b  und  p,  d  und  t,  g  und  k  (g)  existiert 
nur  je  ein  Laut,  der  mit  p  t  und  k  bezeichnet  ist;  k  kommt  ahei 
noch  aspiriert  vor,  und  wird  dann  kh  geschrieben  (Khopf);  seft 
wird  s,  ch  wird  ^,  z  wird  ts  geaebriebeB;  ng  wird  dimh  q  wMer- 
gegeben. 


^  Der  Verfasser  dieses  Aufsatzes  und  Herr  Pfarrer  Spieser  von 
Mühlbach,  jetzt  in  Waldhambach^  beteiligten  sich  wesenüicfa  an  dem 
Zustandekommen  jenes  ersten  Versuches  einer  lexikalischen  imd 
grammatikalischen  Bearbeitung  einer  els&ssischen  Mundart,  [YgL 
Mankels  eigene  Angabe  in  den  Strassb.  Stud.  2,  115.    E.  Martin.] 


—    91    — 

mehrmals  ein  Name  unseres  speziellen  Gebietes  durch  ander- 
¥rärts  vorkommende  gleichsam  erhärtet,  oder  aber  auch  hübsch 
und  deutlich  illustriert. 

Einmal  so  weit  gekommen,  lag  mir  eine  andere  Versuchung 
allzunahe.  —  Ich  wagte  es,  unsere  ON  selbst  zu  deuten  und 
ihre  Ableitung  zu  bestimmen. 

Alleixlings  ein  gewagtes  Unterfangen !  Welch  eine  heikle 
Sache  es  oft  um  die  Erklärung  der  ON  ist,  und  wie  sehr 
hierin  gesündigt  werden  kann,  davon  hätten  die  Kundigen  viel 
zu  erzählen !  Wenn  ein  gewiegter  Kenner  wie  W.  Arriold 
geradezu  die  Behauptung  aufstellt !  Jede  Erklärung,  die 
von  der  heutigen  Namens  form  ausgeht,  ist  von 
vornherein  verfehlt,  —  so  möchte  ein  bescheidener 
Anfanger  und  Dilettant,  der  sich  der  Unzulänglichkeit  seines 
Wissens  wohl  bewusst  ist,  eben  auch  von  vornherein  versucht 
sein,  die  Flinte  ins  Korn  zu  werfen,  und  den  Meistern  die 
Deutung  der  ihn  interessierenden  ON  zu  überlassen.  Arnold 
weiss  denn  auch  ganz  ergötzliche  Beispiele  von  Fällen  anzu- 
führen, wo  Deutungen  und  Ableitungen,  die  sich  ganz  von 
selbst  darzubieten,  und  klar  und  durchsichtig  wie  das  reinste 
Quell  Wasser  zu  sein  scheinen,  nichtsdestoweniger  durchaus  un- 
richtig sein  würden.  Vielgebrauchte  ON  laufen  eben  immer 
Gefahr,  mit  der  Zeit  bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellt  zu  werden. 
Der  Mund  der  Menschen  schleift  sie  sozusagen  ab,  gerade  wie 
die  Hand  die  viel  umlaufenden  Münzen  abschleift.  Unter  Um- 
ständen büssen  viel  kursierende  Münzen  und  Namen  ihr  ur- 
sprünglich scharfes  und  tadelloses  Gepräge  so  sehr  ein,  dass 
sie  kaum  noch,  oder  auch  gar  nicht  mehr  zu  erkennen  sind. 
Wie  manche  Münze  ist  zuletzt  so  abgegriffen,  dass  nur  noch 
ein  unbestimmter  Umriss  der  darauf  geprägten  Figur,  eine 
Spur  der  Umschrift,  sichtbar  ist ;  und  wie  mancher  ON  würde 
durchaus  unrichtig  gedeutet,  wenn  nicht  seine  ursprüngliche 
Namensform  bekannt  wäre!  Unbedingt  darf  da  die  neuere 
Namensform  (die  oft  nicht  nur  von  der  alten  abgewichen, 
sondern  noch  dazu  eine  Anlehnung  an  Ausdrücke  der  heutigen 
Sprache  ist)  nicht  massgebend  sein  :  nur  die  älteste  Form  hat 
zu  entscheiden.  Jedermann  wäre  z.  B.  versucht,  den  hessischen 
ON  Altenstädt  als  «Alte  Stätte»  zu  erklären;  nun  aber 
lautet  dieser  Name  ursprünglich  A 1  a  h  s  t  a  t  und  ist  vom 
gothischen  alhs,  althochdeutsch  alah  «Tempel,  Gotteshaus» 
abzuleiten,  also  =  «die  Tempelstätte».  Martinhagen  scheint 
von  vornherein  in  «Hag  des  Martin»  zu  zerlegen  zu  sein;  aber 
es  hiess  früher  Meribodonhago  1074,  Merebotenhagen 
1241,   Merbod  enhagen   1464;    daraus  wurde  später  Mer- 


—    92    — 

tenhain  und  Martinhagen.  Elmshagen  bat  nichts  mit 
dem  ahd.  mhd.  elm(boum)  cUlme»  zu  thun,  sondern  war 
ursprünglich  ein  Edel  winsh  agen.  Wiesenfeld  ist  nicht 
etwa  ein  «Mattenfeld»,  sondern  ein  «Feld  des  wisunt»  d.  h. 
«des  Auerochs]».  Hauswurz  hat  nichts  mit  der  bekannten 
gleichnamigen  Pflanze  (Sempervivum  L.)  gemein,  sondern 
ist  Huswartes  (Hai  m),  «die  Wohnung  des  Hauswartes». 
Mitterode  ist  keine  «in  der  Mitte  liegende  Rodung»  sondern 
«die  Rodung  des  Muoto».  Alle  diese  Beispiele  sind  den  hessi- 
schen ON  entnommen.  Aber  auch  unter  den  ON  des  OE  giebt 
es  eine  grosse  Anzahl,  die  man  durchaus  falsch  deuten  würde^ 
wollte  man  von  der  heutigen  Namensform  ausgehen.  So  ist 
z.  B.  Holzweier  (Kanton  Andolsheim)  nicht  etwa  ein  «Weiler 
im  Grehölz»,  sondern  vielmehr  «der  Weiler  des  Helold»,  denn 
es  wird  760  und  761  Heloldowilare  geschrieben,  woraus 
810  Hollalswilre  wurde,  bis  schliesslich  nach  einer  Reihe 
von  Verwandlungen  glücklich  das  heutige  «Holzweier»  (MA 
H  oll  s  wir)  herauskam.  Das  heutige  Hundsbach  (Kanton 
Altkirch)  ist  ganz  und  gar  nicht  als  «Bach  des  Hundes»  zu 
erklären  :  denn  sein  Name  lautete  ursprünglich  U  r  s  b  a  c  h 
823,  dann  Uncebach  1143,  Hunchebach  1179,  Hunze- 
bach  1195.  Im  ON  Helfrantskirch  (Kant.  Landser) 
steckt  durchaus  kein  moderner  «helfender  Franz»,  sondern  der 
gut  alt-  und  mittelhochdeutsche  Personenname  «Helfrath»,  wie 
aus  dem  ältesten  urkundlich  bezeugten  Namen  des  Orts,  Helf- 
ratheskirche  1090,  hervorgeht.  Der  Ort  Michelbach 
(Kant.  Thann)  hat  seinen  Namen  gewiss  nicht  von  irgend  einem 
deutschen  oder  elsässischen  «Michel»  herzuleiten :  vielmehr 
muss  er  als  «Grossbach»  gedeutet  werden,  nach  dem  mhd. 
Eigenschaftswort  michel  =  «gross». 

An  einigen  ON  des  Münsterthals  selbst  kann  man  eben* 
falls  darthun,  wie  verfehlt  unter  Umständen  eine  etymologische 
Ableitung  wäre,  die  ihren  Ausgangspunkt  von  der  heutigen 
Namensform  nehmen  würde.  Da  ist  z.  B.  der  ON  Kheäpari 
Gü  :  die  neuere  Schreibung  (und  zugleich  Deutung)  «Küh- 
berg» scheint  ganz  berechtigt  zu  sein.  Nachdem  wir  aber  er- 
fahren dass  dieser  Name  1252  am  Kinberg,  1318  K ü n- 
b  e  r  g,  1441  K  i  e  n  b  e  r  g  lautete,  so  leuchtet  ims  ein  dass 
obige  Schreibung  und  Deutung  nicht  das  Richtige  trifft.  Weit 
eher  dürfte  man  auf  der  wahren  Fährte  sein,  wenn  man  an 
ahd.  chien  k^n  mhd.  kien  MMA  kheän  =  «Kien, 
Kiefernholz»  denkt  (man  erinnere  sich  des  sprachlich  nodi 
lebenden  nhd.  «Kien  span»)  also  :  «der  Berg  mit  dem  Kiefern- 
wald». Selbst  die  Ableitung  von  dem  Keltischen  (s.  Schluss- 
bemerkungen Nr.  6)  dürfte  noch  eher  erlaubt  sein  als  diejenige 


—    93    — 

Vielehe  von  MMA  khüäi  pl.  kheäi  cKuh,  Kühe)»  ausgehen 
würde.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem  ON  Schweins- 
bach StWy  wo  die  erste  Niederlassung  der  Mönche,  die  633 
oder  634  über  den  Grat  der  Vogesen  ins  Münsterthal  hernieder- 
gestiegen waren,  stattgefunden  haben  soll.  Dieser  Name  ist 
gewiss  nicht  in  «Bach  des  Schweins»  zu  zerlegen,  sondern  er 
geht  wohl  auf  das  ahd.  swain  «Knabe,  Hirte»,  ist  also  Bach 
des  cHirten(knaben)» ;  im  13.  Jahrhundert  schrieb  man  Swe- 
n  i  nsba  ch,  1456  sweinspach. 

Aus  allen  diesen  Beispielen  erhellt  zur  Genüge,  dass  man 
bei  der  Ableitung  und  der  etymologischen  Erklärung  der  ON 
sehr  behutsam  vorgehen  muss.  Man  irrt  gar  sehr  leicht,  und 
das  um  so  eher  wenn,  wie  bei  uns,  alte  Belege  zumeist  gar 
nicht  vorhanden  sind.  Ich  möchte  daher  durchaus  nicht  darauf 
schwören,  dass  die  im  Folgenden  versuchten  Ableitungen  stets 
die  richtigen  seien.  Indessen  —  cEines  schickt  sich  nicht  für 
Alle».  In  Hessen,  wo  man  überaus  alte  ON  vor  sich  hat,  mag 
die  von  Arnold  aufgestellte  Regel  gMW  am  Platze  sein.  S^r 
viele  hessische  ON  sind  jedenfalls  weit  mehr  in  die  Lage  ge- 
kommen, auf  ihrer  Wanderung  von  Mund  zu  Mund  und  durch 
die  Jahrhunderte  hindurch  «ibgeschlifTen  zu  werden,  als  die 
verhältnismässig  viel  jüngeren  Namen  des  Münsterthaies; 
denn  jene  kursierten  sehr  viel  länger  als  diese.  Schon  bei  den 
Zeiten  Caesars  und  des  Tacitus  bewohnten  ja  die  «Chatten» 
das  heute  noch  nach  ihnen  genannte  «Hessen».  Dagegen  wurde 
das  Münsterthal  wohl  erst  etwa  vom  8.  Jahrhundert  ab  von 
Leuten  deutscher  Zunge  eigentlich  besiedelt ;  und  bis  das  Be- 
sitztum der  Abtei  Münster  überall  von  Lehensleuten  und  Hubem 
bewohnt  war,  mögen  mehrere  Jahrhunderte  vergangen  sein. 
So  entstanden  denn  viele  unserer  ON  vielleicht  höchstens  gegen 
das  Ende  der  althochdeutschen  und  im  Anfang  der  mittelhoch- 
deutschen Zeit  (700 — 1200).  Und  da  unsere  MA  seit  dem  Zeit- 
alter des  Mittelhochdeutschen  überhaupt  einen  gewissen  Zustand 
der  Erstarrung  und  Beharrung  beibehalten  hat,  so  dass  sie 
jetzt  noch,  im  19.  Jahrhundert,  mehr  mittelhochdeutsch  spricht 
als  andere  oberdeutsche  MA,  so  folgt  daraus,  dass  auch  die  ihr 
angehörenden  ON  dieses  Schicksal  geteilt  haben.  Sie  erscheinen 
noch  jetzt  teilweise  in  einem  altertümlichen  Gewand  ;  sie  haben 
ihr  erstes  Gepräge  weniger  eingebüsst,  sind  leichter  zu  deuten*^ 


^  Als  Gegenprobe  dient  die  Aassprache  einiger  auswärtigen 
ON.  In  Tseimarpä  klingt  noch,  wenn  auch  auf  dem  Umweg  der  Er- 
satzdiphthongisiemng,  (s.  Schlnssbemerkangen  Nr.  8)  das  b  des  ehe- 

maligen  Zimberbach  (12B4  ff.)  nach;  As  eise  ist  fast  ganz  noch 


—      94      -r 

Wir  laufen  daher  auch  weniger  Gefahr,  bei  ihrer  Ableitung 
2u  irren.  Sind  sie  auch  seltener  durch  alte  Belege  gesichert, 
so  dürfte  doch  hier  das  Axiom,  man  solle  nicht  von  der  heutigen 
Namensform  ausgehen,  nur  eine  bedingte  Geltung  haben. 


Sehr    dienlich    waren    mir    bei    meinen     Untersuchungen 
folgende  Werke  : 

Arn<ftid,  W. :  Ansiedelungen  und  Wanderungen  deaiadier 
Stämme,  zumeist  nach  hessischen  Ortsnamen.  Marburg 
1876. 

Bacmeister,  Ad.:  Allemaunische  Wanderungen .  Stutt- 
gart 1867. 

Birlinger,  Ant.  :  HohenzoUerische  Orts-,  Flur-  und 
Waldnamen  (in  der  Zeitschrift  A 1 1  e  m  a  n  n  i  a,  Bd.  I 
(1875)  und  ff. 

—  Rechtsrheinisches  Alamannien  :  Grenze,  Sprache,  Eigen- 
art. Stuttgart  1890. 

Bück,  M.  R.  :  Oberdeutsches  Flurnamenbuch«  Stuttgart 
1880. 

Förstemann  :  Altdeutsches  Namenbuch.  I.  II.  Nord- 
hausen 1856  und  1859. 

Mone,  F.  J.  :  Celtische  Forschungen  zur  Geschichte  Mittel- 
europas. Freiburg  i.  B.  1857. 

Müllen  ho  ff,  K.  V.:  Deutsche  Altertumskunde.  II. 
Berlin  1887. 

Stehle,  Bruno:  Orts-,  Flur-  und  Waldnamen  des 
Kreises  Thann  im  Ober-Elsass.  2.  Aufl.  Strassburj 
1887. 

S  töber,  A.  :  Alsatia. 


das  Ansolsheim  von  1187,  da  die  Andolsheimer  selbst  doch 
längst  Ä n 1 9  1 8 a  aussprechen.  W o  1  (für  La-Bresse),  Hornepari 
(Comimont),  Körsöi  (Gerardmer),  Wäkat&l  (Vagney),  Horts 
^Le  Valtin),  Wentrurj  (Venti'on)  reichen  mindestens  ins  16.  Jb., 
wohl  aach  noch  weiter  hinauf,  and  bezeugen  in  ihrem  Teil  die  oben 
erwähnte  Erstarrung  and  Beharrung  unserer  MA. 


—    95    — 


Zusammeiistellung  der  Abkürzungen. 


Münsterthäler   Ortschaft«!!. 


S  =  Sondernach. 
Ml  =  Metzeral. 
M  =-  Müblbach. 
B  =  Breitenbach. 
L  =  Lutienbach. 
£  =  Eschbach. 
Mr  =  Münster. 


Su  =  Sulzeren. 

Stw  =  Stossweier. 

H  =  Hohrod. 

Gü  =  Günsbach. 

Gr  =  Griesbach. 

W.  i.Th  =  Weier-im-Thal. 

T  =  Türkheim. 


Stoff  =  Stoffels  Topographisches  Wörterbuch. 

OE  =  Ober-Elsass,  oberelsässisch. 

ON  =  Ortsname,  Ortsnamen. 

FN  =  Familienname. 

PN  =  Personenname. 

GN  =  Gemeinname. 

MA  =  Mundart,  Mundarten«  mundartlich. 

GMA  =  Grossthal  mundart. 

MMA  =  Mundart  von  Münster. 


ahd.  =  althochdeutsch. 

mhd.  =  mittelhochdeutsch. 

nhd.  =  neuhochdeutsch. 

m.  ^  männliches  \ 

f.     =:  weibliches    >  Geschlecht. 

n.    =  sächliches     ) 

MTB  =  Messtischblatt  (Deutsche  Generalstabskarte  ä  Vssooo)* 


A. 


A  f.  A^ir  A^altla  Äwäsa  St^inä  m.  u.  n.  S,  A  f  (ti 
fhriBT,  ti  häQdr)  MetU  [[im  Mütlaw  1580  im  MitÜah 
1583  ein  kolei^  im  MitÜahe  1585  Mitla  1590  der  koler  im 
Mitiah  kolben  1(502  Kirchenbb.  von  M]]  Wo  Im  sä  (Wormsi) 
f,  Stäinä  n.  [SteincLchs  mantag  1339  steynachbrunnen 
1456]  ^  t  Y  t  ä  [ob  dem  Studach  1456]  Ml,  Stokä  m.  [Stockach 
.  .  .  .  storkach  1456]  Witä  n.  [zi  Widach  13.  Jh.  und 
1339  wydach  .  ,  ,  .  ah  dem  wydechelin]  M  und  L,  Torni 
n.  M,  Wiläakar  B,  Tornä  [jm  domac/i  1456J  L,  Awäsa 
Älit   Su,  Ä  f.  Witä   n.  Stw,    Stäinä  E.  «Ah,  Ahwaldele, 

Mittiah,   Stocka,  Steina,    Studach,  Wida,  Doma,   Ahlitt.»    Im 

« 

übrigen  OE  scheint  nur  die  Form  Ai  Oi  vorzukommen,  jetzt 
«tAu»  geschrieben  [uss  der  Auw  1482  Dorf  Aue,  i^i  der  Owe 
1285  Altkirch,  in  der  Owe  1312  Colmar,  Awe  1347  Hirsingen, 
Owa  1210  Sulz]. 

Zwei  Wurzeln  :  a)  das  gemein  germanische  a  h  w  a  [a  p, 
ahv\ra,  affa,  ach  u.  s.  w.]  =  «fliessendes  Wasser, 
Wasserlauf,  bewässeiler  Grund» ;  b)  ahd.  -abi  mhd.  -ehe, 
ein  Collectivum,  auf  massenweis  beisammen  stehende  oder 
liegende  Gegenstände  gehend:  Stytä  «Ort  wo  viele  Stauden, 
Sträucher  stehen.» 

Aftarmes  M.  Aftarisamät  Stoff  hat  15  mit  cAi!ter> 
zusammengesetzte  ON  [amr  Affterberg  1431  Eschenzweiler,  die 
efftermaUe  1453  Hartmannsweiler,  an  dem  aftern  berge  14.  Jh. 
Zimmerbach]. 

ahd.  aftar  mhd.  after,  adj.,  «hinter,  nachfolgend».  Iq 
unserer  MA  kommt  das  Wort  auch,  sonst  noch  vor :  aftarman- 
tik,  aflar^läk,  aftartan. 

Aiarstapä  Su  —  Le  Valtin,  französ.  le  Tanet.  Stoff 
falsch  <  Eggersteinbach» .  Daneben  hat  er  noch  4  cAgersten-» 
[die  Egerstennhurst  1540  Franken]. 

mhd.  egerde,  «unbebautes  Land»;  daher  in  unserer 
MA  das  Adj.  äiorst,  «unbebaut  liegen  bleibend.» 


—    97    — 

Akarla  n.  S  M  B  E  Su,  Älmaijäkar  R^narsakar 
R^isarsäkar  S,  Pärdäkar  Ml  und  B,  Pürnäkar 
Rietdriakar  M,  Pürnäkar  Ndiarsakar  Isäksakar 
Höfäkar  Su,  Paitsakarla  Läimäkar  £käkar 
Prükaäkar  Pr^nakarla  Stw,  Täfsäkar  H,  Hoiäkar 
Su  Gü,  Hoiäkar  Amakar  Litäker  Tsiäilaräkar  E.  — 
«Äckerle,  Bären-  Born-  Benzacker,»  u.  s.  yv.  Im  OE  zieml. 
viel  «Acker-,  -acker.» 

ahd.   acchar   mhd.    acker. 

Alikmyra  pl.  Stw  Stoff  hat  «Elligmur»  und  versetzt 
diese  Stelle  irrtümlich  nach  S.  Anklingend  lauten:  ^Elli>  [im 
Ahlin  ....  Ahelin  1560  Niedermorschweier]  und  [Aligensch" 
weg  1515  Meyenheim.] 

Alma^äkar  S.  Im  OE  eine  stattliche  Anzahl  «Almend-» 
[communis  terre  que  almende  dicitur  1299  Contr.  Unterl. 
Ck)Imar  almende  ....  almeinde  1303  Trouillat  III  47,  of 
den  almendenwey  1312  Heiligkreuz]. 

mhd.  almende  f.  cGemeinweidej»«  —  Der  GN  AlmaQ  f. 
bezeichnet,  in  jeder  unserer  Gemeinden,  die  allen  Bürgern  zur 
Benützung  überlassene  Gemeintrift.  — 

Alt-  in:  Ältakyüt  Xltawäsa  S,  Ältahöf  [in 
loco  qui  dicitur  im  alten  hove  13.  Jh.]  Altaweiar  Ml, 
Altmat  Altmätkhopf  M,  Ältapari  B,  Ältakrä(i) 
Altawäsa  Altmät  Su,  Ältapari  AltapäStw  Alta- 
kärta  Mr,  Ältapä/  Gr  W  i.  Th.  c Altengut  -hof  -weier, 
u.  s.  w.,  Altmatt. j»  Die  Zusammensetzungen  mit  «Alt,  Alten» 
sind  bei  Stoff  äusserst  zahlreich  ;  älteste  Belege  [AUdorff 
Altorff  898  Wettolsheim-Winzenheim,  Altenburg  1298  Berg- 
heim, in  dem  alten  berge  1298  Kienzheim-Sigolsheim,  Alt- 
haim,  villa  728  Beblenheim-Zellenberg,  Altikirch  1102  Alt- 
kirch]. —  ahd.  mhd.  alt. 

Altekrä(i)  s.  Kräiapari. 

Am  f.,  Amapryo/e  S-Ml,  Amarfein  und,  an  einer 
zweiten  Stelle,  üf  ter  Am,  ewarti  Am  Ml,  Amäir 
Amakar  pl.  E.  Stoff  cEmm  (auf  der)  Emmenbrochen,  Em- 
menrain»  und  für  den  2.  Metzeraler  ON  falsch  «Ober-Emm», 
für  den  Eschbacher  ON  (äcEmsacker:!».  Als  älteste  Schreibung 
für  ersteres  A  m  gibt  Stoff  [auf  der  End  1576]  an ;  die 
Kirchenbb.  von  M  1574  ff.  schreiben  [[vff  der  Ernmd,  vff  der 
EmmCy  vff  der  EmhdtCy  Em^,  Sonst  im  OE  nur  noch  «Em- 
menstab  [jn  dem  empenstal  ....  enpenstal  1451  Tagols- 
heim]. 


I 

I 


—    98    — 

Die  Flussnamen  Ems,  E  m  m  e  werden  meistens  für  vor- 
deuisch  angesehen,  Bück  und  Arnold  (zum  Fluss  N.  Ohm) 
denken  dahei  an  irisch  am    amhan    «Wasser.» 

Ueber  die  Sage,  welche  sich  an  die  cEmmkirche»  knüpft, 
s.  J.  Bresch,  VogesenklSnge,  SS.  9  und  136,  und  cErwinia»  11. 

Ämalt&l,  Amaltälpürna  -pä)^l9  -n^s  Ml,  Amal- 
täl  Sulzbach  [Ammentalbach  1209].  Ämal^pa  H  [in  alm- 
richspach  13.  Jh.].  «Ammeithal,  Ammelspach.)» 

Letzterer  ON  geht  unbedingt  auf  den  PN  Amalrich,  die 
beiden  ersten  vielleicht  auf  den  PN  Amalo  zurück. 

Axnsepari  MI,  Ämsakh^pfla  Stw.  Im  OE  noch  6 
Zusammensetzungen  mit  «Ameis». 

ahd.    ameiza  mhd.   ameize   GMA   4ms  cAmeise». 

Anlas  m.    Änlsskhopf  Ml.  «Anlas». 

A^elpari  B  «Engelberg».  Im  OE  noch  einige  gleich- 
namige Orte. 

ahd.   engil,   angil   mhd.   engel.     Oder  PN   Angil-. 

Aijaniösinät  S.  Wahrscheinlich  der  [NyessengarU 
1456],  bei  Stoflf  «Niessengart».  —  PN  «Agnes». 

Äplos  m.  Su  E  Gü,  Äwlds  m.  S  M,  Hösidäwlas 
Ml,  ^toltsäplosm.  Stw.  Bei  Stoff  c Abloss,  Ablas.s,  Stolzen 
Ablass.»  MTB  3660  unrichtig  «Stolzer  Ablass».  Im  OE  noch 
ausserdem  4  mal  vorkommend. 

Unsere  ON  gehen  alle  auf  Stellen  an  Wasserläufen ;    be- 
zeichnet waren  wahrscheinlich  irgendwelche  Vorrichtungen  zum    | 
Laufenlassen  aufgestauten  Wassers. 

Äpferäpä,  Apfarspä,  Ampfar^pä(x)  Stw  [im 
Ampfersbac  ....  von  Amphershach  13.  Jh.  Ampferspack 
1407  und  1456]  ^Ampferspachy  einige  male  Amperspfuh 
Kirchenbb.  von  M  1574  ff;]]  Stoff  hat  das  Wort  «Ampfen 
ausserdem  nur  noch  5  Mal  [an  der  ampfer  Egert  1523  am 
ampferen  weg  1471  Fortschweier-Sundhofen,  im  ußeren 
Ampferstall  1707  Obersteinbrunn]. 

?ampfaro    mhd.   ampfer   «Ampfer».     Bück    ist    der 

Meinung,    dass    die     mehrmals    vorkommenden     Flussnamen 

«Amer,    Amm<?r,   Amper,    Ambrach»    auf   einen    vordeutschea 

Stamm   zurückgehen;    dagegen   sieht   Förstemann    den   Stamm 

Ambr  «Bach»  auch  für  deutsch  an. 

.  »  * 

Apshöf   Apsakdr    Apspari   S,    pi    tar    Ap^ir   B, 

Apswält    L    Stw,    Apstäl    [Aptzteüin    1441]    Wässerig. 

«Abtsberg,  -thal,  -wald».     Kommt  sonst  nur  noch  in  Wettolif- 

heim  vor  [jm  Apizwingarien  1487]. 

ahd.    mhd.    abbat    mhd.    apt,    abbet. 


—    99    — 

Aeltere  Leute  erinnern  sich ,  dass  an  der  Stelle  die 
man  jetzt  noch  pi  tar  Äp^ir  B  nennt,  eine  grosse,  ganz 
zerfallene  Scheune  stand.  —  Alle  diese  ON  gehen  auf  Gelände 
die  der  Abt  von  Münster,  welcher  Lehensherr  des  grössten 
Teils  des  Thals  war,  in  eigener  Bewirtschaftung  hatte.  Vgl. 
Härapari. 

Arpars  f.  Fortararpor^mäta  Ml  [ertprust  1456]. 
«Erbersch».  Daneben  noch  einige  cErdbrust,  Erdbruch,  Erd- 
brunst >  [vnder  dem  erdhrust  1453  Murbach,  hy  dem  erdproat 
1441  Wasserburg,  erlhrustherg  1348  Uffheim]. 

mhd.  brüst  «Bruch»,  vom  Zeitw.  ahd.  brestan  mhd. 
bresten  «brechen,  reissen,  bersten».  Heute  sagt  man  bei 
uns  ärtprüx  =  Erdbruch,  Erdrutsch.  S.  d.  W. 

In  unserer  Ar  per  ^  entstehen  viel  Erdschlipfe  an  den  steilen 
Wänden,  welche  das  Mittlachthal  auf  der  Nordseite  begränzen. 
Im  Winter  1889-1890  sind  deren  drei  niedergegangen. 

Artprüx  ^'}  Ml  Stw.    Stoff  «Erdbruch».   Vgl.  Arpar^. 

Atora  m.  Su.     «Escheren». 

ahd.  a  s  c  mhd.  a  s  c  h  «Esche»  ?  Oder  ahd.  a  s  c  a  mhd. 
asche  esche   «Asche». 

Arslit  n.    E.    Stoff  und    MTB    3660    «Ehrschlitt»,    mit 
falscher  Verlängerung  der   ersten    Silbe.     Hier  dürfte,   umge- 
formt und  abgeschliffen,  der  sehr  alte  ON  Isneida  vorliegen. 
Eine  Schenkungsurkunde  vom  12.  Juni  823,  umschreibt  einen 
vom  kaiserlichen  Staatsgut  (fiscus)  des  Colmarer  (Coium- 
b  a  r  i  u  m )   Gaues   abzutrennenden  und   der  Abtei  Münster  zu 
schenkenden    Wald    also  :     «id     est    per    locum     ubi 
Breidembach    rivolus    in    Fachinam    confluit, 
sursum    usque   ad    locum    ubi    rivolus    surgere 
incipit,    deinde    per    semitam    que    nominatur 
Isneida     usquB     ad     montem     qui     appellatur 
Swarzumberg    etc.    (Alsat.     dipl.    I,    69).      Das    heutige 
Arslit    liegt    bestimmt    auf   oder    an    der    hier    genannten 
semita  Isneida;  da  das  lateinische  per  entweder  «längs 
an»  oder  «über»  bedeutet,  so  war  gedachter  Pfad   (semita) 
die    südliche  Grenzscheide  des  geschenkten  Waldes,  oder   aber 
auch  ein   von  dem  Thale   her  zu   der  jetzigen  «Wasserburger 
Höhe»  hinaufführender  Pfad,  den  die  südliche  Grenze  des   ge- 
schenkten Waldes  etwa  oberhalb  der  jetzt  noch    Arslit    ge- 
nannten  Stelle   durchschnitt.     Somit    wäre    hier    ursprünglich 
eine   Schnaid   Schnait,  wie  man  noch  in    Schwaben   und 
Sayei*n    sagt,   d.  b*    ein    «ausgehauener    Waldweg,    eine    ge- 
reinigte Waldstrecke»    gemeint,   ahd.   mhd.   sneita,   sneite 


—    100    — 

(zum  Zeitwort  ahd.  snidan  mhd.  sniden  «schneiden»). 
Vgl.  A.  Stöber  über  den  ON  Paphinisnaida  «Pfaffen- 
schnaite»  in  der  Rev.  d'Als.  1854,  S.  46. 

Aäpa»  m.  L,  «Aspach».  Stoff  weist  noch  8  « Aspach, 
Aspi»  auf  [Aspach  1307  Dorf  A.,  Arlispach  1305  Arnlispach 
1307  Amolczbach  1316  Mittel-  u.  Niedermuspach]. 

ahd.  aspa  mhd.  espe  «Espe»;  oder  ahd.  asc  mhd. 
asch  «Esche».  Doch  beweisen  die  letzteren  alten  Belege, 
dass  möglicherweise  auch  an  Ableitung  von  einem  PN  Ära-, 
A  r  i  n  -  gedacht  werden  darf. 

ijLtarla,  n.  S,  «Anderle».  Daneben  noch  ein  «Enderle» 
Öderen  und  ein  «Anderl^»  Le  Puix  (bei  Giromagny). 

A'waii  f.  Äwa^jwäi  W  i.  Th.  Stoff  hat  etliche  «An- 
wander». 

ahd.  wenti  mhd.  wende  «Grenze,  Umkehr,  Wendung». 

B  (s.  F). 

»  (s.  T> 

«cDarensee»  existiert  nur  in  der  Schriftsprache  [Daren- 
see  1576,  Darensee  1644J.  Die  MA  des  Münsterthals  kennt  nur 
den  ccSülts9r(ar)sie  oder  -so».  Auffällig  ist,  dass  der  «Stem- 
see3>  im  Massmünsterthal  in  den  alten  Belegen  [Ternensee  1550, 
lac  dit  Ternensee  ou  Tarensee  1731]  genannt  wird,  und  dass 
der  Tegernsee  in  Oberbayern  in  den  Urkunden  des  8.  bis 
10.  Jahrhunderts  als  tegarinseo^  tegaranseoy  tagaranse, 
Degarensee  bezeugt  ist.  Sollte  da  nicht  eine  gemeinsame  (kel- 
tische?) Wurzel  vorliegen?  Die  Bergseen  der  Grafschaften  Cum- 
berland  und  Westmoreland  in  England  sollen  in  der  alten 
dortigen  MA  tarn  genannt  werden. 


E. 


Eimepär  Ei|mapayl9  M  «Immenbachlein».  Es  kommen 
im  OE  noch  etliche  «Inimen-»  vor  [züjmme  gründe  15.  Jahrb. 
Mörnach]. 

?  ahd.  imbi  nhd.  imbe  MA  eima  m.  «Bienensch wannt. 
Oder  mit  am  vei-wandt? 

£inx8rpä  S  [niedere-  obere  eymerbach  .  .  .  von  Seymer- 
back  1456]  i<Eimerspachp« 


j 


—    101    — 

ifeiwal  f.  S  cEibelwald,  Eibelmissi»  MTB  3668  falsch 
cEibenwasen». 

?  ahd.  iwa  mhd.  iwe  aEibei». 

Äix^olts  MI  und  B,  fil^waltlo  M,  Äi/waltla  Su, 
Äi^wält  H,  Äi^holts  Äi^hürst  E.  Stoff  führt  auch  ein 
nicht  mehr  bekanntes  [hi  der  eiche  1476  S]  an.  Er  hat  von 
den  obigen :  «Eichholz,  Eichwald» ;  daneben  im  OE  eine  Unzahl 
von  Zusammensetzungen  mit  cEich»  [alte  Belege  :  eichy  eych], 

ahd.  eih  mhd.  eich  MA  ^i^  äi^  <rEiche». 

£lk,  em  £]k9  m.  und  n.,  Su,  £k  n.  £kwän  flkmät  S, 
Hyonfek  m.  n.  Ml,  £w9r^k  M,  Fäsdäk  Mr  [Hugo  de 
Vesuneca  1161,  Henricus  de  Vesenegga  1222,  Vasenachts- 
montag 1339,  Fesenecke  Uii],  em  fik  Gü,  em  fika  W  i.  Th. 
«Eck,  Eckmatt,  -wann,  Feseneck».  Im  OE  an  die  50  «Eck,  -eckji 
{an  die  egk  1479,  auf  der  Eckh  1725  Leymen,  vf  der  ege 
1337  oh  der  egk  1372  Brunstatt,  im  Eckwaldt  1567  Wolsch- 
weiler,  in  der  eke  1345  Busch weiler]. 

ahd.  ekka  «Spitze,  Schwertschneide»;  mhd.  ecke, 
«Schneide,  spitze  Ecke,  Kante». 

Ekarspari  B  [Eckersperg  1456].  [[Eckersberg  (kjy 
Eckerßberg  Kirchenbb.  von  M.  1574 — 1600]]  «Eckersberg». 
Offenbar  =  «Ekhartsberg».  Der  «Eckersberg»  bei  Alt-Breisach 
(Mercure  fran^ais  XXII,  1639/40)  ist  ebenfalls  ein  «Eckartsberg». 

£klösrüs  m.  M.  Stoff  kennt  eine  «Eglishaul»  [an  der 
Egelesshalden  1489,  an  der  Egelszhaldt  1656  Sulzmatt]  und 
eine  «Eglisgrub»  \by  der  Egellgrueben  1565  Hirzbach]. 

ahd.  egidghsa^  mhd.  egedehse  GMA  ekl^s  f. 
«Eidechse». 

Eliakhopf,  Bergspitze  auf  welcher   die  4  Gemarkungen 
S  MI  M  B  zusammenkommen.  «Liiienkopf  oder  Jelienkopf». 
?  vom  PN  J  i  1  g,  G  i  1  g  (Aegidius). 

Elm  f.  M  Mr.  Stoff  (für  Letzteres)  «Elm».  fllmprük 
Mr.  Im  OE  noch  einige  «Elm,  Elmen»  [in  der  Elm  1575 
Blotiheim,  zu  den  elmen  1441  Henflingen.  —  ?  ahd.  mhd. 
elmboum,  MA  jetzt  ryüs  rüä^  cUlme».  —  Unsere  beiden 
«£lm»  liegen  je  an  einem  Wasserlauf. 

JQlsmötla  B.  Den  Flussnamen  Elz  sieht  man  meist  als 
▼ordeutsch  an. 

Bnsal  f.  Su,  «Insel»,  ahd.  isila  mhd.  insel. 

Erkapä  m.  £rk9päwaltU  M  [[Ergebcmh  1741, 
handschriftl.  Aufzeichnung]]  Stoff  kennt  nur  eine  «Ergeismatt» 


—    102    — 

[ergkers   matte   1441,    erkerszmait  15«  Jahrh.    ErgoUzmaUer 
bann  1682]. 

Erla  n.  S  [Erlach  1456]  Su  [[Matti$  Im  Erlach,  Hansen 
im  Ehrlachs  sehliger  Hinderlassener  söhn  zue  SiUtzrah  1580, 
Kirchenb.  von  M.]]  Erdlmes  £]ralmesrus  (auch  £ r  1  a m e s) 
Ml,  Erlewäsa  M  firJapä  B  [\Erle[n)bach  Ehrlenbach  Erla- 
bach  Kirchenb.  von  M  1574—1600.]]  firlemäts  E  und  W.  i.  Th. 
o:Erlach,  Erle,  Erlenmatten,  -wasen)».  Aus  dem  OE  gibt  Stoff 
einige  (icErlach»  und  2ahlreiche  cErle,  Erlen»  an  [zu  Erlach 
1441  Hunaweier,  jn  den  erlen  1498  Altkirch,  zu  erlebrun 
1358  Ammerschweier]. 

ahd.  erila  elira,  mhd.  erle,  MA  örla  cErle».  Im 
Metzeraler  ON  Eralmes  ist  noch  die  ahd.  Wertform  er- 
halten. 

am  £rp  n.  Ml  .Stoff  hat  etliche  €  Erben»  \im  Erben 
1328  im  Erb  1588  Hunaweier,  zum  erbe  1316  zen  erben  1347 
Wolschweilerj.    —  ahd.  erbi  arbi,  mhd.  Erbe  «das  Erbe». 

Esalrek  MI,  fisalfärt  W.  i.  Th.  [eselwarte  1452]. 
Stoff  hat  eine  Anzahl  «Esel(s)-»  [alte  Belege  :  esci-].  —  ahd. 
esil,  mhd.  esel,    MA  esol. 

£spa  n.,  das  Dorf  Q:Eschbach».  [Oschinsbach  13.  Jh. 
eschenbach  13.  Jh.  Eschispach  1339  Espach  1456]  [[Eschenbach 
1194  (bei  Dom  Calmet  S.  81)  Espach  Eßpach  1574  Kirchenb. 
V.  M]]  Fortar^^pa  He^er^spa,  zwei  Dorfteiie.  Bei  Stoff 
eine  Anzahl  cEsch,  Eschen-»  [afi  der  eschen  1451  in  der 
Esch  1507  Eschbum  1509  Rixheim,  am  Escbühl  .  .  .  Estbühl 
1441  Reichen weier,  zer  eschelin  stude  1347  Leymen].  —  ahd. 
asc,  mhd.  asch,  MA  ^t^in^s  «Esche». 

Estapa  m.  Gr.  —  W.  i.  Th.  [apud  Gruzensbach  Ostern- 
bach  13.  Jh.,  in  Estenbach  1498]  «Östenbach».  S.  Yostar. 

E'wana  f.  Su,  ti  kryos  fiwana  M,  £wah^it  n.  S, 
Püä^hoitsöwand  Gü.  «Ebene,  Ebeneheiden».  Im  OE  eine 
Anzahl  «Ebene»,  \yff  dem  ebnete  1441  Brunstatt,  vff  der  ehnen 
.  ,  .  vf  der  ebne\bdl  Sennheim].  —  ahd.  eban,  mhd.  eben 
MA  ÖW9  (subst.  ^W9n9  f.)  «eben,  flach,  grade». 

^Warök  n.  M,  £wdrd  Preitapä  [Obern  Breitenbadi 
1407  vom  oberen  Br.  1498]  ]\ObeTbrettebach  Oberenbreulen- 
bach  1574—1600.  Kirchenb.  v,  M]].  fiwarmät  Ml  und  B, 
em  ^W9ra  Hof  Su,  ti  6war9  K4rta  Gü  «Ober-Breitenbach, 
Oberhof».  Im  OE  viel  «Ober-»  [Ober- Aspach  1216  Dorf  da. 
Namens,  im  oberen  veldt  1516  Appenweier]. 

ahd.  obaro,  mhd.  obere,  MA  tar  ^war  «der  Obere». 


—    103    — 


F. 


Fall  n.  Ml  Slw,  Letsölfail  Laqdfalt  S  Kläfail 
Kä^alparifail  Ml  Altmätfail  Pürnfail  M  L^rixa- 
fall  B  Faltäkor  Faltmät9  L  Hertofail  Gü.  «Kastel- 
bergfeily  Lützelfeil,  Lerchen-,  Langenfeld,  Feldacker.»  Im  OE 
eine  Anzahl  «Feld-»  [Veltpach  4258  Dorf  Feldbach,  an  den 
velt  stucke  1380  Habsheim,  Felakirche  780,  actum  Felakyrchio 
784  Feldkirch]. 

ahd.  fßlt,  mhd.  velt  «Feld,  Boden,  Fläche,  Ebene». 
Appellativisch  gebraucht,  bezeichnet  fail  n.  die  Hochebenen 
unserer  Gregend.  Gehört  zu  denjenigen  Wörtern  unserer  MA 
bei  welchen,  als  Ersatz  für  ausfallendes  d  t  oder  h  p  vor  i  m  n, 
ein  Diphthong  entsteht:  mhd.  velt  wird  fail,  prant  wird 
präin,  halde  wird  häil,  krumb  wird  krüim,  kumbar 
wird  khüimar  u.  s.  w. 

Fäistarw^ät  f.  Ml  Stoff  hat  «Finsterewand»,  sowie  noch 
einige  Zusammensetzungen  mit  «Finster»  [an  der  finstren 
gössen  1468  Mülhausen;  im  Finsterwaldt  1553  Brunstatt].  — 
ahd.  finstar  mhd.  finster,  GMA  fai^tar. 

Fälkmes  f.  Su  «Falkmiss». 

Färn-weier  Ml  «Farrenweiher.  Im  OE  nur  wenig  «Farn» 
[vff  den  vnderen  vomacker  1370  im  famacker  1440  Watt- 
weiler]. 

MA  färn,  ahd.  mhd.  varn,  varm  «Farnkraut». 

Fäsaök  n.  Mr  [Hugo  de  Vesuneca  1161  Henricus  de 
Vesenegga  1222  Vasenachtsmontag  1339  Fesenecke  1411] 
«Feseneck». 

?  Ob  ein   w  i  s  u  n  t   darin  steckt  ? 

Fa^t  f.,  der  das  Münsterthal  durchfliessende  Hauptbach, 
die  «Fecht»  [in  Fachinam  772,  inter  duas  Pachinas  fiuvium 
747  .  .  .  super  fiuvium  Phachina  865,  in  fluvio  qui  Vaconna 
dicitur  12.  Jh.,  super  rivulum  qui  Waconos  dicitur  13.  Jh. 
.  .  .  vf  die  vechin  1371  vff  der  vechen  1407,  Fächy  fech  1536, 
1552,  vff  die  alt  vächt  1560].  —  Stoff  hat  noch  da  F^chotte« 
[an  der  Fetschatte  1583  Föche-rfiglise]  und  cFechtenmatten» 
Knöringen,  cFecken matten»  Hegenheim  [hi  veckenmoitten  1457]. 

ahd.  fah  fahh,  mhd.  vach,  eigentlich  «Abteilung», 
dann  :  c Mauer,  Damm,  Umzäunung  im  Wasser». 

Föklasmät  Ml.  Ob  mhd.  vögelins  mat?  oder  sollte 
das  von  Stoff  für  B  angegebene,  sonst  aber  verschollene  « Vogts- 
matt»  [vogtes  matt  1456]  hierher  gehören  ? 


—    104    — 

-fölse  m.  in:  Strälf^lsa  Täsf^lsa  S,  Kräpaf^lsa 

KUQk-  Pdra-  Kletsar-  Sata-  Rüni-  Hunts-  Snaka- 
Klüsf^lsd  Ml,  Wisf^lsd   Risf^lsd   Ml— M,  Räpf^lsa  B 

Krüpaf^lsd  Spetsafälsa  Siw,  Khäntsaräinf^lsa 
Rytikfölsa  6ü.  Letzterer  ist  eine  Gruppe  mächtiger  Blöcke 
aus  Vogesensandstein,  der  hier  aus  einem  Conglomerat  von  ab- 
gerundeten Quartz  und  anderen  Steinchen,  verkittet  durch  ein 
sandsteinartiges  Bindemittel,  besteht ;  daher  der  pittoreske  Name 
«räudiger  Fels».  —  Stoff  nur  «Dahfelsen,  Spitz-,  Krappen-». 
ahd.  f^liso,    mhd.    velse   vels,    MA   f^lse. 

tar  Ferprönt  Reka  S,  tar  Farpr^nt  W41t  Mr, 
«Verbranndt»,  «Verbrennten  Rücken». 

Ferstmes  f.  MI  [fursztmusz ,  chaume  1594] ;  in  La 
Bresse,  zu  dessen  Gemarkung  der  Hauptteil  des  «Wasens» 
gehört,  schreibt  man  Ferschmuss.  Helsafer^t  Prdit- 
fer^t  S  [uff  ein  herg,  haist  hraitfürst  1550]  Palferät  Stw 
«Firstmiss,  Hilsenfirst,  Breitfirst».  Im  OE  einige  andere  «First». 

In  unserer  MA  ist  ferst  noch  als  Appellativum  gebraucht, 
und  bezeichnet  die  höchsten  Bergkämme.  Stoff  bemerkt  ebea- 
falls,  dass  virst,  virste,  fürst  allgemein  gebraucht 
wurde,  um  den  Grat  der  Vogesen  zu  bezeichnen,  welcher  Elsass 
und  Lothringen  scheidet :  [frömde  levt  .  .  .  die  über  die  Virste 
kement  1315;  zwischem  dem  Rhyne  und  der  Virst  1400]. 

ahd.  first,  mhd.  virst  «Spitze  des  Daches,  First»; 
MA  fer^tpoim  «Firstbaum». 

Fespdtle  Ml— M.  MTB  3660  falsch  ecFischhädle».  S 
Pöta.  Stoff  richtig  «Fischbödle»;  aber  irrtümlicherweise  ver- 
setzt er  dasselbe  in  die  Gemarkung  von  Sulzeren.  —  Fesarwät 
Ml.  Im  OE  nur  wenig  «Fisch-,  Fischer-»  [vischerbach  1470 
Ensisheim,  vyscherweldelin  1516  Heilig-Kreuz]. 

ahd.  fisk,  mhd.  vi  seh,  MA  fe^  «Fisch». 

Firstäirüs  Ml  «Feuersteinrunz». 


« < 


Fläskriter  pl.  S,  FUslänt  B.  Im  OE  nur  etwa  10 
Zusammensetzungen  von  «Flachs»  [im  fUxxland  .  .  .  flachszland 
1558  Sulzbach,  zu  flazlande  13.  Jh.  Flachslanden  1233  Dorf  Fi.] 

ahd.  flahs,  mhd.  vlahs,  GMA  fläs. 

Flief.  MB,  Flieakar  M,  Pfliela  S,  FlifeäkarStw, 
Höfleä  Gü  [zu  der  hohen  flühe  1456].  «Pflüe,  Pflüegle, 
Hohfiie».  Im  OE  eine  Anzahl  «Flieg,  Flieh,  Flühe,  Flüheien» 
[tu  monte  gut  dicitur  vlüwe  ...  zu  flehen  1250,  an  der  fliihe 
1453,  in  der  flüegen  1540  Gebweiler,  an  die  flühe  1453 
Kaisersberg,  in  der  flüen  1330  Liebenzweiler,  an  der  fidgassen 


—    405    — 

1380  fliegassen  1567  Dürlinsdorf,  vnder  der  fluw  1494  Barten - 
heim,  das  flühelin  1441  RappoUsweiler.] 

ahd.  f)uo(h),  mhd.  vluo  «Felswand».  Als  Appellativum 
in  unserer  MA  verschollen. 

Foilarsmäta  Gü,  Foilsräin  E.  —  Stoff  hat  drei 
«Vogler»  [im  vogler  1501  Hahsheim,  jm  fogeler  1465  zu  dem 
t;ö^6/er  1489Mittelmuespach]  und  einen  «Voglersweyer»  Liebsdorf. 

mhd.  vogelaere  «Vogler»,  ahd.  fogal,  mhd.  vogel 
-«Vogel»,  MA  fokal,  foil. 

Forle weiar  Su;  Stoff  falsch  « Fohren weiher»  und  ebenso 
unrichtig  einen  «Forlen weiher»  für  Ml  (wohl  Verwechselung  mit 
dem  «Fischbödle»).  Sonst  führt  er  aus  dem  OE  noch  einen 
<Forellenweiher>  und  einen  «Forellenrunz»  an. 

ahd.  forhana,  mhd.  förelle  (mit  Betonung  der  ersten 
Silbe)  forle,  forhen,  forhe.  In  der  MMA  sagt  man  zuweilen 
noch  förald  =  «ganz  kleine  Forelle»,  ebenfalls  mit  Betonung 
(Verlängerung)  der  ersten  Silbe.  Die  heutige  MA  Form  für 
Forelle  ist  füral  (-L.).  —  Oder  MA  förla  n.  =  «Kiefer» 
ahd.   forha    mhd.   vor  he. 

ämFlyüsS,  Tsyüflüs  m.  Ml,  Flyäs,  Flyäswält, 
-mäta  L.  Für  den  zweiten  dieser  ON  hat  Stoff  falsch  «Flus», 
mit  den  richtigen  Belegen  [zu  ulthe  13.  Jh.,  zu  Fluß  1576]. 
Die  Kirchenbb.  von  M  haben  [[der  Meyer  im  Zuefluß  1580,  zum 
Zufluß  1591]].  Im  OE  nur  einige  wenige  «Flöss-  Floss-». 

ahd.  fluss,  mhd.  vluss,  MA  flyüs,  flüs  «Flüss,  Guss, 
Strom». 

FränketÄl  n.  Frä^jkatälkhaiar  (eine  Höhle)  Stw. 
«Frankenthal».  Bei  Stoff,  finden  sich  ungefähr  12  ON  vor, 
die  mit  «Franken»  zusammengesetzt  sind  [Frankhon  1144 
terram  de  francon  1194  Dorf  Franken,  jn  frankental  1421 
Heid Weiler,  vor  franken  tMin  1250  Gebweiler,  jt/jpta  Franken- 
wege  1259  Colmar  (Weg  vom  Ladhof  in  das  Münsterthal]. 

Ein  Metzeraler  Bürger  erzählte  mir  :  Hinter  der  R  ä  q  k  - 
myr  (Brustwehr,  Ringmauer)  am  nordwestl.  Abhang  des 
Nächstenbühls  seien  einst  die  Franken  verschanzt  gewesen, 
ihnen  gegenüber,  auf  dem  Hoheneck,  lagen  die  H  u  n  n  e  n  ;  es 
kam  lange  nicht  zu  einer  Entscheidung ;  endlich  stiegen  die 
Franken  (durch  den  Soldatenschlatten)  hinunter  in's  Franken- 
thal, kletterten  an  der  steilen  Ostwand  des  Hoheneck  hinauf^ 
und  warfen  die  Hunnen  aus  deren  Verschanzung  hinaus ;  viele 
derselben  fanden  den  Tod  im  « Blauen wamsschlatten»,  einem 
Abgrund  der  sich  in's  Wormspel  hinunter  zieht  .  .  . 

Yr^kwiv  n.  [fröschwilr  1498]  [[Fröschweier,  Frösch- 
weyher  Kirchenb.    v.   M,   1575]]    L    « Frosch weier».     Im  OE 


—    106    — 

gegen  40  «Frosch-,  Fröschen-  [Froeschhach  1272  Banzenheim 
Fröschengrahen  1451  Kingersheim,  in  der  fresch  1777  Werenz- 
hausen^  zue  froschweiler  1580  Sennheim]. 

ahd.    frosk    mhd.    vrosch   MA    fr  6s   f.      Vgl.    Wir. 

Froiekhopf ,  auch  Froioäkarkhopf  Mr.  « Frauen- 
kopf, Frauenackerk.  >  Sonst  im  OE  mehrere  cFrauen-,  Fräu- 
lin-»  [frowenmatten  1440  Knöringen,  vnser  frowen  sleiffe 
1394  Bühl]. 

ahd.  frouwa  mhd.  vrouwe  <Herrin,  Gehieterin,  Dame, 
Cremahlin,  Weib».     MA.  froi  «Frau». 

Früntsal  Fryontsal  L  [ze  fronezeUe  1339]  [[fron- 
z e  1 1  Kirchenb.  von  M  1574]],  Fryonhof-  [zu  frankoff  1456 
.  .  .  die  recht  des  fron  hofes  im  Münsterthale  15.  Jh.]  jetzt 
nur  noch  unter  dem  Namen  M  ä  i  a  r  h  o  f  bekannt,  M,  F  r  y  o  n- 
(Frün-)matU  B  [fronmettelin  1456]  Fryomes  S.  «Fren- 
zen, Fronmättlein,»  zu  OE  zieml.  viel  «Fron-»  \fronacker  1892 
Ensisheim,  fronherge  1289  Herlisheim-Egisheim,  fronhof 
1359  Dammerkirch] . 

mhd.  vrön  adj.,  «den  Herrn  belreflFend,  herrschaftlich, 
heilig».     MA  fryün  f.  «Frohnarbeit». 

Füespöte  m.  B.  Stoff,  kennt  einen  «Fussgarten»  [/uos- 
garten  1278-1493  Kientzheim]. 

Fürix  f-  Wäsarfürix  Mr-L.  Stoff,  hat  nur  wenig 
«Furch-»  [zer  furch  1361  Bettlach,  furchmettelin  1453  Geb- 
weiler]. 

MA  fürix  ^-  ^^^-  ^uruh  mhd.  vurch  «Furche». 

Fürt  f.  B  [zu  fürt  ....  fürt  siege  1456]  B.  «Furt.» 
Im  OE  noch  einige  andere  einschlägige  ON  [hy  der  furdt  1561 
Brunstatt,  Vörte  1314  Fürth  1567  Dürlinsdorf]. 

ahd.  fürt  mhd.  vurt  cFurt».  Das  Appellativum  ist  bei 
uns  total  unbekannt. 

Fylwäsle  MI.  MTB.  3668  falsch  «Pfulwasen».  —  MA 
fyl  ahd.  fül  mhd.  vül  «faul». 

O  (s.  K.) 


Häi  m.  Mr— Gü,  Häim6l  Gü,  Häimät  E,  Häia- 
puax^wält  B.  ocHag,  Hagmühle,  -matt».  Im  OE  eine  An- 
zahl cHag,  Hag-,  Hagen-»  [ein  felld  nennt  man  den  Hag  1550 
Sulz,  zu  Hagen  14.  Jh.  Egisheim,  zu  dem  Hagene  1489  Haus- 


—    407    — 

gauen,    Hagenach  1292    Reichenweier ,    die  hageten  matten 
1421  Oberspechbach]. 

mhd.  hac  (Gren.  hages)  <c Dorngesträuch,  Grebüsch,  Ein- 
friedigung, umfriedigter  Wald,  Park».   MA  häi   cHagii^. 

HaifleQ  f.  Su  cHempfiing^  der  untere  H.))  Daneben  hat 
Stoff  nur  noch  «Henfling»  und  cHenflingen»  «volkstümhch 
Haiflingeni>  [Henfflingen  1421  Hemflingen  ....  Hänflingen 
1451  Dorf  H.]. 

?  Ob  zu  MA  häpfd)  hämpfdi  m.  f.  cdie  HandvolU, 
von  mhd.  hant  vol.  ?  oder  zu  ahd.  hanaf,  hanof  mhd. 
handf,   hanf  «Hanb  ? 

Häil  f.  M  B  L  Mr  Su  Slw  Gü,  Wajt^rhäii  ti  Hau  9 
pl.  [schißhalden  1456]  S,  Pärthäi'l  Paxlashäil  M, 
Lisameshäil  Turhäii  B,  Klä^häil  Soshäil  Kharp- 
holtshäil  Su,  Häil  Sümarhäil  Stw,  Lä^häil  H. 
Bei  Stoff  lauten  diese  Worte  teils  «Hagel  -hagel  teils  -haul 
Klanghaul  Sommerhaub,  u.  s.  w.  Daneben  aus  dem  0£ 
ziemlich  viel  «cHalden»  [vnnder  der  holden  1494  Barten- 
heim ,  die  halden  1351  Geberschweier ,  an  der  haulden 
1578  Sulzmatt]  cHallen»  [an  der  halden  1421  Berenzweiler, 
vff  den  halden  1364  Obermuespach,  an  der  hallen  1723 
Winkel]  und  cHaulen,  Haub  [hy  der  halden  1340  Liebsdorf 
vff  der  haulen  1671  Tagolsheim]. 

ahd.  halda  mhd.  halde  «: Bergabhang j».  —  In  unserer 
MA  tritt  eine  Diphthongisierung  ein,  als  Ersatz  für  das  aus- 
fallende d;  vgl.  präin,  fail  u.  s.  w.  Aeusserst  selten  wird 
dieses  Wort  noch  appellativisch,  d.  h.  als  GN  gebraucht. 

Häikiesa  pl.  B  Stoff  hat  nur  «Heygiesen»  [hogiesen 
1563,  haggiessen  1608,  heygiesen  1783  Gemar]  und  etliche 
«Heu-9  [heuwenherg  1533  Geispitzen]. 

ahd.  g  i  0  z  o  mhd.  g  i  e  z  e  o: Wasserfall ,  Strudel,  enges 
Rinnsab.  —  S.  Hoi. 

Häitsapöl  Stw  [Hetzenhühel  1456].  «cHeitzenbühb.  Geht 
wohl  auf  den  PN  Hegizo,  Hesso  zurück. 

HakSdpdtla  M  Hak sa käs  Mr  Haksspläts  Gü. 
<HexenplatZ9.  Daneben  aus  dem  OE  noch  eine  Anzahl  «Hexen» 
Ibi  der  hexen  sitl  1523  Sundhofen,  hi  dem  hechshirböme  1290 
Creispitzen]. 

ahd.  hagz  issa,  hagazussa,  hagzus(häzus,  hä- 
zissa)  mhd.  hecse  f,  MA  haks  f. 

HälM  f.  M-Ml,  cauf  der  Halley». 

?  Vom  früher  im  Thal  verbreiteten  PN  «Halley)».  Oder 
mhd.  lei,    leie  <3:Fels,  Stein,  Steinweg». 


—    108    — 

Birlinger  gibt  als  ahd.  mhd.  ein  häli,  hacle  csteil»  an. 
S.  aber  auch  Schlussbemerkungen  Nr.  7. 

H&mar  m.,  früher  Pfänahämar  Mr  (jetzt  Baumwoll- 
spinnerei, früher  Kurzwarenfabrik)  Hämerämeta  f.  Wal- 
bach (jetzt  ebenfalls  Baumwollspinnerei  und  Weberei).  Hämar- 
^tät  Ml.  —  «Hammer».  Im  OE  noch  einige  ähnliche  ON. 

ahd.  hamar  mhd.  hamer. 

Hämalamät  Ml^  Hämlaswäsia  Stw. 
?  Vom  PN  <rAbraham»,    in    der  MA   oft    «Hämla»    ge- 
sprochen. 

Hänapürn  m.,  Quelle  und  Sennerei,  Ml  [Anna  Brunn^ 
der  laufft  eins  tails  jnn  das  Munstertal  anders  tails  jnn  das 
Odertal  1550].  «Hanenhurn». 

Zum  ON  cFrau-Anna- Weiher»  Heimersdorf  bemerkt  Stofl 
dass  das  Volk  auch  «Haneweiheri  spricht. 

Hanikskrit  Stw.  Geht  wohl  auf  den  Familiennamen 
«Hennig»,  der  früher  im  Kleinthal  vorkam,  zurück. 

HäiE^arpel  S,  He^arpari  H.  ^cHinterbühl,  -berg».  Sonst 
im  OE  sehr  viel  cHinter-9  \jni  hinterab  1548  Mülhausen,  in 
dem  hindern  bül  15.  Jh.  Mömach,  hinder  hofen  1328  Huna- 
weier,  hüngers  hofen  1451  Osenbach]. 

ahd.  hintar  mhd.  hinder,  hinter,  MA  hä^ar, 
heQ  ar. 

Häpmötld  S,  e:H[abmättlein». 

Hartsapäl,  Hartsapä  S  (zwei  ganz  verschiedene  und 
auseinander  liegende  Orte). 

?  PN  Herigis,  Hartwig. 

Häsekärte  M,  Häsa^wana  L,  Häsaprüäx  Mr^ 
Häsarensla  6u,  Häsapari  Gr.  cHasengarten,  -ebene, 
-brochj>.  Im  OE  eine  Anzahl  «Hasen-»  [hasenacker  1301  Brü- 
nighofen,  hasenbi/l  1362  Niederhagenthal,  ym  Jiasen  yms  1399 
Dietweiler,  haasen  rein  1515  Pfastatt]. 

ahd.  ha  so  mhd.  hase  MA  häs. 

Häsla  n.  Mr,  Höslaäwlas  Ml,  Häslasäkar  M,  em 
H^sla  Stw  [zu  Hassenlach  1456].  Stoff  cHaslach,  volksth. 
Haslen»  und  «Heslach».  Sonst  noch  andere  «Hasel-»  [Hasel 
Acker  1340  Liebsdorf,  haselsperg  1497  Brinkheim ,  hasü 
brunnen  1311  Hirsingen]. 

ahd.  basal  a,  basal,  mhd.  ha  sei  «Haselstaude».  MA 
h^sla  adj.  «von  Haselholz  gemacht».  S.  auch  Häsa. 

Hdfsl  f.  S  (nicht  zu  verwechseln  mit  der  £iwal)  [Heue- 
lins  montag  . . .  höffelinns  möntag  1339,  öfenlins  Strange  1456, 


—    d09    — 

Effte  Cassini]   «Effelei».     Ebenso  noch   im    OE :    [zu  Hefelins 
1357  Geberschweier]. 
?  PN  Offo. 

Hfeilkäs  f.  S  Häilarl9  n.  W.  i.  Th.  «Heilgasse».  Da- 
neben im  OE  noch  eine  «Hx>  [m  der  helde  gastest  1337,  helde- 
gasse  1456,  hägelgasz  1640  Türkheim]  und  3  o:Hellgassei>  \jn 
der  helgassen  1468,  in  der  heltzgassen  1509,  in  heilendes 
gasz  1308  Bennweier-Sigolsheim] . 

?  ahd.  mhd.  heil,  Gesundheit,  Ghlck,  Heil,  günstiges 
Vorzeichen». 

am  Häita  m.  n.  (tar  6wdr  — ,  tar  äx^or  H^ite) 
üf  9m  £w9h^it,  H^itaäkar,  Pyülhanslas  H^ita  S, 
Ha  i  1 9 rä  p  f  Su,  H ä  i  1 9  pä^  Mr  [die  zelle  ze  Heidenbach  1339, 
Heydenhach  i456\  Häitap^^l  Gu,  Häit9täl  Türkheim  [in 
heidechten  tal  1328]. 

«Heidenbach,  -ranft,  -thab.  Im  OE  ziemlich  grosse  Anzahl 
«Heid-»  [haidackher  1650  Zillisheim,  an  der  heide  15J37  Senn- 
heim, vff  der  heiden  1477  Leimbach,  heideacker  1345  Nieder- 
ranspach,  heidechien  bühel  1278-1439  Niedermorschweier]. 

ahd.  heida  mhd.  heide  MA  hdit9-,  «Haidekrauf,  un- 
bebautes wildbewachsenes  Land». 

Hol  f.  S  M  B  Hol  m.  und  f.  MI,  Hölarüs  S  Stw. 
«Höllenrunz,  Höllrunz».  Daneben  eine  Anzahl  «HöU  Hell»  ein- 
fach oder  in  Zusammensetzungen  [jnn  der  hell  1431,  in  der 
helle  1453  hi  der  hellen  1506  Gebweiler,  die  helle  grübe 
1433  HeiligkreuZf  neben  dem  hallen  weg  1429  Wettolsheim, 
jnn  dem  heUenthaH  1441  ....  stoßt  an  den  hellspach  1458 
Suizbach]. 

Unsere  sämtlichen  ON  gehen  auf  sehr  eingetiefte  Stellen 
oder  Rinnsale,  ahd.  hella  mhd.  helle  «Unterwelt».  Wurzel 
hei    hal  «verbergend  umhüllen». 

Heiseferst  f.  B,  Hels9  (Annexe  von  Linthal).  «Hilsen^ 
Hilsenfirst».  Daneben  noch  ein  «Hülsen»  und  etliche  «Hülsch- 
matten»  im  OE. 

H6lwerlyo     ffertgr-,    häQ9r-    n.    S,    «Helberloh». 
?  Ob  von  GMA  h^lp  «Stiel  einer  Axt». 

H^reätiel  pl.  S  und  Ml  (letzlerer  Ort  =  Felsgebilde  am 
Honeck),  H6r9pari  Ml.  Bei  Stoff.  «Herrenberg»  und,  für 
ersteres  Wort  «Ritterstuhl»,  «Fels».  Daneben  gibt  Stoff,  noch 
zwei  nicht  mehr  bekannte  «Herrenwege»  [am  herwege  1472 
Gü  und  am  herweg  1536  M]  an.  Im  OE  sehr  viel  «Herren-» 
[alte  Belege  :  her-  herr-  herren-  here-  heer-]. 

ahd.   hörro  (h^ro)  mhd.  herre    höro. 


—    110    — 

Im  Seiburg  (G.  Reichenweiher)  heisst  ein  Fels  cKüiser- 
stuhb  ;  in  Gebweiler  ist  ein  ((Königstuhl»  [Küngstül  1453].  -- 
Der  heutige  «Herrenberg»,  ehemals  Kloster-  jetzt  Domanialgiit, 
hiess  früher  Gipich  (s.  unter  Kiwi)  und  sodann  r Abtswald, 

Abtsberg»    [[ein  welscher  Koler  im  Ahtswaldt Cladaly 

des  kolers  ahns  Apis  Berg  fraw  1580,   Kirchenbb.  von  Mühl- 
bach]]. 

Härnleskhopf  Ml  Su,  «Hömleinskopf».  Sonst  im  OE 
noch  4  aHörnlen»  [im  hörnlin  1590  Beblenheim,  an  dem,  hom 
1516  Herlisheim]. 

ahd.  mhd.  hom  «Hom».  Vgl.  Hornapari. 

Hertefail  n.  Gü.  S.  Schlussbemerkungen  Nr.  8. 

Herstare  m.  Su  [jn  Hurschenrene  13.  Jh.]  Prätlit- 
her^tpl.  M,  Witaherst  f.  W.  i.  Th.  ÄixhürstE. 
«Hirscheren,  Widenhurst».  Für  den  1.  ON  hat  MTB  3660  falsch 
«  Hirschen  D. 

ahd.  hurst,  borst  f.  rahd.  hurst  f.,  pl.  bürste^ 
MA  hür^t  pl.  her^t  «Gesträuch,  Gebüsch,  Dickicht». 

Hertsep^l  L,  Hertsal^x^''  M'*-  «Hirzenböhl,  -lochen. 
Sonst  noch  im  OE  viel  «Hirz-,  Hirsch»  [6t  hirsers  sieg  1371 
Colmar,  hirstein  1300,  hirtzstein  1358,  Hirczenstein  1394 
Watt  Weiler,  hirzfeld  728  Dorf  Hirzfelden]. 

ahd.  hiruz  hirz,  mhd.  hirz,  hirze,  MA  herts 
«(Hirsch». 

H^rtsikspürne ,  am  Honeck,  Ml-La  Bresse  (französ* 
«la  fontaine  de  la  duchesse»).  «Herzogsbrunnen».  Sonst  noch 
etliche  Zusammensetzungen  mit  «Herzog»  [vnder  der  hertzogenn 
hiirst  1571  Niederhagenthal,  jn  der  hertzigen  mat  1507  Lutfer]. 

ahd.  h  e  r  i  z  0  go  mhd.  h  e  rz  o  ge  «Heerführer».  Davon 
unser  Familienname  «Herzog»,  in  unserer  MA  Hertsik. 

Hetelpä  Stw.  «Hüttelbach».  Nicht  Deminut.  von  MA 
het  «Hütte»  :    denn  es  musste  unbedingt    Hetla(pä)    lauten. 

Het&tät  f.  S  M,  Hetstätkh^pfU  M,  PäQorthet» 
Gü  «Hüttstatt,  -köpfte». 

MA  Hot (9)  ahd.  hutta   mhd.  hütte  «Hütte,  Zelt». 

Hienleskrit  S  Heänlasprük  Mr  [an  die  hüner- 
leisß  Brück  1681]  Hienarkfris  B.  «Hüenleskritter  Huenles- 
brück».  Dazu  im  OE  eine  Anzahl  «Hühner-»  [vor  dem  hiener 
holtzli  1567  Buschweiler,  jnn  der  hüenermatten  1568  Frö- 
ningen, hnnrehach  .  *  *  vff  das  hünrtal  1453  Bühl]. 

?  ahd.  mhd.  huon  (pl.  ahd.  huonir  mhd.  huener). 
Vielleicht  aber  auch  PN  H  u  n  o  1 1.  Und  das  von  Stoff,  beson- 
ders gegebene  (heute)  durchaus  unbekannte  «Hirliskrüt»  [Curia 


—    Hl    — 

Urlugis  13.  Jh.]  S  bezieht  sich  doch  wohl  auf  den  ersten  unserer 
drei  ON.  Forstmann  kennt  einen  PN  U  r  1  i  uc  9.  Jh.  U  r  I  ioch 
11.  Jh.,  von  ahd.  urliugi  «Kriegi». 

-Hik  in  Paxlashik  f.  S  HikUskäs  B  und  S. 
Letzteres  vielleicht  vom  PN  Hügün,  der  vor  200 — 300  Jahren 
in  B.  vorkam. 

Hislaspari  Su,  S  t  ö  i  n  ä  h  i  s  1  a  Ml  (ein  Complex  von 
teilweise  überhängenden  Felsblöcken).  Hys  (ü  f)  Ml-Wilden- 
stein-Krüt.  cHüsHsberg,  Huswald». 

?  ahd.  mhd.  h  ü  s,  MA  hys  Demin.  hisl»^  «cHausi». 

Hof,  em  fewere,  Höfäkar  Su,  Sütshof  S  Altahöf 
(s.  d.)  Kherixhof  (auch  :  H6i  lakh  el  ixbof)  Ml, 
M^iarhöf  Khelixhof  Tümesh^f  M  Laimlashöf 
Maridhöf  B,  Khäi  wah^fla  Gu,  Prathof  E:  «Hofacker, 
Schützhof,  Alten-)».  Stoff,  hat  28  verschiedene  « Hofacker 9,  und 
noch  andere  Zusammensetzungen  mit  Hof  [hofdcker  1397 
Hegenheim,  Hoffacker  1480  Ober-  und  Niederspechbach,  zu 
hofsteUeix  1458  Mömach]. 

ahd.  mhd.  hof  «Hof,  Gehöft,  Garten:». 

Hoiaker  pl.  MI,  Hoiäkar  sing.  E  Su  Gü,  Hoi- 
kärte  E.  Stoff,  falsch  cHennacker»  (für  Su). 

MA  hoiäkar  «Futteracker j»,  von  hoi,  ahd.  he  wi  mhd. 
höu,  hou,  houwe,  «cHeu». 

Hoilare  m.  S  Hoildrkh^pfla  B  Hoilapäx* 
wäsa  Gü.  cHaulenbachwasen».  Im  OE  über  30  «Holder 
Holder-»  [zu  holder  13.  Jh.  Meyenheim,  jm  holderpaum  1565 
Golmar,  hey  der  holder  hurste  1347  Hirsingen,  zu  holderlow 
.  .  .  zue  holderlewe  ....  1369 — 1551  Bergheim,  zem  holder- 
stocke  1421  Henflingen]. 

MA  hoildr  m.  ahd.  holantar,  holuntar  mhd. 
hölunder  holder  «Holunder».  In  der  MA  ist  o  zum 
Diphthong  geworden,  als  Ersatz  für  das  ausgefallene  d  der 
mhd.  Form.  —  Der  dritte  ON  gehört  vielleicht  eher  zu  Häil. 

Hölpry  ox  Hölarwält,  HöUrkharpholts  S, 
Hölkäs  M,  Hülox  Stw,  Holawäi  Hölsläif  Gü. 
«Hohlbrachen,  Hohlerwald».  Sonst  im  OE  viel  «Hohl,  Hohle-, 
Hohlen -D  [zu  der  holengaasen  1441  Zimmersheim,  am  holen 
weg  1567  Alt-Pfirt]. 

ahd.  mhd.  hol,  MA  hol. 

Holtsm&t,  HoltssUk  S  H^ltsla  B  Kharpholts 
Kharphältsle  S,  Kharpholts  (zwei  verschiedene 
Steilen)    ßi^bolts     Ml,    Krüäholts   Püä/holts    Gü, 


—    H2    — 

Ai^holt  s  E.  crHölzlen,  Kerbholz,  Gruholz«.  Dazu  viel  cHolz-^ 
-holz»  im  OE  [alte  Belege  :  -holtZy  -holcz,  holz]. 

ahd.  mhd.  holz  «Wald,  Gehölz».  In  diesem  Sinne  bei 
uns  nicht  mehr  appellativisch  gebraucht. 

Hömät  Hyor^in  Ml^  HostätaL,  Hömät  Höpel 
Su,  Horöt  (s.d.)  Hofleä  Howäila  Gü.  «Hohmatl,  Hoh- 
roth,  Hohbühl,  Hohflie  (Hoflie)».  Im  OE  eine  Unzahl  «Hob-,  Auf 
der  Höhe,  Hohen-  und  ungefähr  50  cHohrain;»  [zum  hohen  Reine 
1329  Bendorf,  vf  dem  hochen  rein  1455  Eglingen,  an  dem 
hohen  Rhein  1416  Alt-PQrt,  Hoenchirche  870,  ob  der  hohen 
werben  1333  Piaifenheim]. 

ahd.  höh  mhd.  hoch  MA  hyox>  hö-  «choch». 

Hornapari^  veraltender  Name  des  Stadtchens  Corni- 
mont  im  französ.  Departement  der  Vogesen.  [[Homenberg  in 
den  Kirchenbb.  von  M.  1574  ä,]]. 

Horot  n.,  das  Dorf  «Hohrod».  [Wemherus  de  hohenrod 
13.  Jh.,  ze  hohenroden  1339  Hohenrode  ....  hohenrade  1456, 
Horot  1576].  [[Hohenroda,  Hohenrolha  1574  ff.,  Hohe(n)roÜi 
1684  Kirchenbb.  von  M.]]  Horotpari,  Annexe  von  Hohrod. 
cHoroth,  Horothberg». 

s.  Köt. 

Hüntsmes  £  Su.  «Hundmiss,  Hundsmissliach» .  ahd. 
mhd.  bunt  {d)  oder  PN  H  u  n  o  1 1. 

HÜQsrlox  Su.  «Hungerloch».  Ziemlich  viel  «Hunger-» 
im  OE  :  [hungerberg  1421  Brünighofen,  am  hungervelde  1296 
Isenheim,  hungerburne  1389  Egisheim,  in  der  hungerlachen. 
1453  Sulzmatt,  hungerloch  1592  Rufach. 

?  ahd.    hungar    mhd.    hungar. 

Hütsaküät  E  «Hutschengut». 

Hünäk  m.,  T-La  ßaroche  [Honnach  1198,  Hunach  1210, 
hohenack  1251,  hohennac  1279,  hohinnac  1288,  Hohnack  1397] 
der  «Hohenack». 

Mone  leitet  -a  c  k  und  -n  a  c  k  vom  keltischen  ab,  nach 
Analogie  des  irischen  'n  aighe  «(kleiner)  HügeU.  Der  H. 
liegt  im  Sprachgebiet  der  roman.  MA  des  Kaysersberger  Thals. 
Aber  man  darf  wohl  auch  an  ahd.  nacch  hnacch  mhd. 
nac   nacke  «Hinterhaupt,  Nacken»  denken. 

Nicht  zu  verwe<:hseln  mit  dem  : 

Hyon^k,  Hün^k,  n.  (und  m.)  Ml  «Hoheneck».  Der 
höchste  Gipfel  des  Münsterthals,  1368  m  überm  Meer,  [an  den 
grabeji  von  hohenecke  15.  Jh.,  la  pUxine  du  haut  de  chaulmey 
en   alemand   hoheneck   1594] .     Hünäkpürna,    Quelle  am 


—    113    — 

südl.  Abhang  des  Gipfels.  Stoff,  hat  viel  <Hoh-,  Hohen-» 
alte  Belehre  :  hohen-y  hoh-^  kochen-,  hoen-]  und  4  «hohe  Eck» 
vff  der  kohenecky  uff  hoheneck  1540  Jettingen,  vff  die  hohen 

egk  1388  Steinsulz]. 

Vgl.  H6-  und    Hünäk.     ?    ist  viell.  auch  an  ahd.   hün 

«Riese»  zu  denken. 


Hü.rst  s.  Herstara. 


I. 


lakleshMta  pl.  S.  «Jäglesheiden»,  vom  PN  Jikla, 
geschrieben  cJägle». 

löslasprüky  I^slasmät  Ml.  In  dieser  Form  vom 
FN  I  ä  s  1  a  (geschrieben  :Jesle,  Jessle).  —  MTB  3660 
falsch  «Esels-Bruckei». 

letale  m.  Ml,  ein  aufrechtstehender  schmaler  Fels,  auf 
einem  der  cSpitzeköpfj»,  weithin  sichtbar. 

Der  Familienname  lötala  (geschrieben:  Jedele)  ist  im 
Thal  verbreifet.  Es  mag  sein,  dass  irgend  ein  Träger  des- 
selben, zum  Spass,  dadurch  verewigt  worden  ist,  dass  der 
beireffende  Fels  nach  ihm  benamst  wurde. 

Ich  kann  mich  indessen  des  Gedankens  nicht  erwehren, 
dass  hier,  in  der  Form  einer  Anlehnung  an  einen  modernen 
Namen,  ein  Ueberbleibsel  aus  sehr  alter  Zeit  vorliegen  dürfte. 
Sollte  nicht  in  unserm  I ^ t a l a  ein  uralter  Jötul,  Jutul 
oder  Jutun  stecken,  d.  h.  ein  Riese  der  altnordischen  Mytho- 
logie? Diese  Riesen  (verkörperte  Naturkräfle)  hausten  in. den 
Bergen,  und  ihr  Herz  und  Kopf  war  nicht  selten  aus  Stein. 
Sie  kämpften  gegen  die  Grötter,  und  auch  gegen  die  Menschen 
zeigten  sie  sich  feindselig.  Auf  den,  für  den  menschlichen 
Fuss  fast  unzugänglichen  Spitzeköpfen,  konnte  die  Einbildungs- 
kraft der  ersten  Germanen,  die  sich  im  Thal  ansiedelten,  gar 
füglich  die  Heimstätte  eines  Riesen  vermuten.  Wenn  die 
Stürme  vom  Honeck  in  die  Wolmsd  herunter  fegten,  so  war 
der  Jötul  hoch  dort  droben  mit  im  Spiel  .... 

Dem  I^tala  gegenüber  liegt  das  sogenannte  Amaltäl, 
eine  sehr  grosse  Mulde;  unterhalb  des  Honecks,  nach  Nord- 
westen, befindet  sich  das  Frä^katäl  :  beide  Namen  erinnern 
lebhaft  an  die  althochdeutsche  Zeit  ....  Allerdings  können 
sie  eben  so  gut  von  PN  abstammen,  die  ihrerseits  auf  jene 
Völkerschaften  oder  Geschlechter  hinwiesen,  als  von  den  Namen 
dieser    selbst.      Immerhin    scheint    das    Vorhandensein     dieser 

8 


—    114    — 

Namen   in   der   Nähe   unseres   1 6 1  a  1  a   obige  VermutuDg   zu 
unterstützen. 

Noch  ist  auf  folgendes  Zusammentreffen  aufmerksam  zu 
machen.  Die  Burg  zu  Diedoltshausen  heisst  und  hiess  beson- 
ders früher  le  Bonhomme,  ^das  Männlein»,  gewiss  nach 
dem  hoch  aufragenden  isolierten  Felsblock,  auf  oder  bei  dem 
sie  sich  erhob.  Aber  sie  hiess  in  sehr  alter  Zeit  auch  Goten- 
burc  1199y  Gutenburg  1235,  dann  domus  Indelin 
1394,  Jüdelinshus  1441.  Liegt  nicht  auch  hier,  in  «nem 
ähnlichen  Zusammenhang  wie  vielleicht  bei  unserm  I  6  t  a  1 9 , 
ein  mythologischer  Untergrund  vor? 

Ilakhopf  B-L,  IIa  pari  Gü.  Stoff  hat  1  clhlengässlein» 
[jnn  Vhlengaszen  1592  Rufach]. 

ahd.  üwila,   mhd.  iuwel,   iule,  MA  11   f.  cCule». 

is&ksaker  Su.     Ob  wol  früher  is-ach   cEisbach»? 

isemötle,  Äftorisamät  B,  cisenmatt».  Sonst  im 
OE  noch  ziemlich  viel  cIsen->  [am  yszen  ackher  1605  Witten- 
heim,  ysenhcu^h  1441  Sankt-Kreuz,  ysenbreit  1475  Rufach, 
über  den  Eyserinne^i  Heyne  1394  Rappoltsweiler]. 

ahd.   isan   (isarn),  mhd.   isen   (isern)  MA,   isa,  n. 

Iftn  m.  W  1.  Th.  cJohn».  Als  GN  (appellativisch  ge- 
braucht) ist  iün  (GMA  iyüna  m.,  dem.  iinla)  ein 
schmaler  Streifen  Landes,  das  man  beim  Bearbeiten  vornimmt ; 
auch  ein  langgezogenes  schmales  Rebstück. 

lytapürne  S,  eine  Quelle  unweit  der  £iwal.  Die 
Sage  will,  dass  dort  ein  Jude  ermordet  worden  ist.  Darum 
spuckt  es  oft  in  jener  Gegend.  Vernimmt  man  von  dorther 
ein  Winseln  und  Jammern,  so  steht  ein  Umschlag  der  Witte- 
rung bevor.  Ein  Einwohner  von  Sondernach  —  es  war  ein 
fryünfä^takh^it  (Frohnfastenkind),  und  als  solches  sah 
er  mehr  als  andere  Menschen,  besonders  die  Geister 
waren  für  ihn  sichtbar  —  stieg  einmal  dort  hinauf.  Einige  hundert 
Schritte  weiter  oben  erblickte  er  einen  andern  Einwohner  von 
S,  den  Leids  Märtlos  Mätis,  ebenfalls  am  Berg  hinan- 
steigend ;  an  seiner  Seite  schritt  ein  Begleiter,  den  der  ihnen 
Nachfolgende  durchaus  nicht  erkennen  konnte ;  dieser  be- 
schleunigte seine  Schritte,  und  holte  endlich  den  Mätis  ein: 
dessen  geheimnisvoller  Begleiter  war  aber  verschwunden.  Auf 
die  Frage :  wer  denn  sein  Grefährte  gewesen  sei,  und  wo  der- 
selbe  hingekommen,  antwortete  Leias  Märtlds  Mätis  höchst  er- 
staunt und  erschrocken  :  er  sei  mutterseelenallein  da  herauf 
stiegen.  Vierundzwanzig  Stunden  später  war  4^9r  Watar 
(andere  Witterung,  Unwetter)  eingetreten  .... 


—    il5    — 

Das  lässt  einigermassen  schliessen,  dass  man  es  hier  mit 
einem  cWuotan-Brunnen»  zu  thun  hat.  —  Stoff  kennt  einen 
[joden  bronn  1488  Eipsheim]  und  über  30  «Judengasse, 
Judenkirchhof»  und  Aehniiches. 


K. 


K&löisift^re  pl.  Stw.  Der  FN  «Geley»  war  früher  im 
Thal  ziemlich  verlwreiW. 

K&liepan  Mr.  cGalgenberg»  [in  galgeherc  13.  Jh.^ 
galgeherg  1456].  Im  OE  zieml.  viel  cGalge^,  Galgen-»  [alte 
Belege:  galgen]. 

ahd.  g  a  1  g  0  mhd.  g a  1  g e  tGalgen,  Gestell  am  Zieh- 
brunnen». 

Kamlasm&t  Su.    Stoff  falsch  cGaulesmatt». 

-Karte  m.y  in:  Häsakärta,  Krytkärta  M,  KärtU 
(französ.  cMartin-Gazon»)  uud  Kärtlasräin  Su-Le  Valtin» 
Khelp9lkärt9  Stw,  Kheri^kärta,  Rapkärte^  ti 
fewora  Karte,  Ystarkärta  Gü-W.  i.  Th.,  Hoikärtö 
E,  «Gärtlesrein,  Hasen-,  Ostergarten.»  Nur  wenig  Einschlägiges 
im  OE. 

ahd.   garto,    mhd.   garte,    MA  karte. 

Käs  f.,  H^ilkäs,  Prainleskäs,  Yelikasle  S, 
WaUkäs,  Wolfskasle,  KasU  Ml,  Kasle,  K  hei  ix- 
kasle  M,  Lyokäs,  Räwekasla,  Hikleskäs,  Wi^M- 
mätkäs  B,  Läi^arekäs,  Käspürna  Su,  Mortskäs 
Stw,  Snakekasle  Mr.  < Heil-,  Brendelis-,  Ueligasse,  -gass- 
lein».  Im  OE  ziemlich  viel  cGasse,  Gass-»  [in  Gassen  1659 
Feldbach,  vf  der  Gassen  1550  Tagolsheim,  in  den  Goßen 
15.  Jh.  Rappoltsweiler,  gässlinacker  1715  Linsdorf]. 

ahd.  gaP^a,  mhd.  gaßffe,  «Gasse»;  GMA  Käs  «Hohl- 
gasse» . 

KJt^alpari,  Grat  und  Ostabhang  des  Bergzugs,  welcher 
den  Rheinkopf  mit  dem  Hohneck  verbindet,  «Kastelberg» 
[super  montem  qui  dicitur  Kostelberg  ....  super  montem 
KasteWerg  16.  Jh.,  auff  ein  Berg  oder  Kopff  den  man  nennt 
den  Alltenkassten  1550].  Stoff  hat  noch  ungefähr  16  ON  mit 
«Kastei-»  [neben  dem  kurczen  Kastelbach  1537,  Castelbach 
18.  Jh.  Leymen,  an  Kastil  1250  Gebweiler,  der  Castenberg 
1567  Köstlach,  Kastellegräben  1338  Regisheim].  Die  Mehrzahl 
dieser  Namen  scheint  Orte  zu  begreifen,  wo  sich  einst  Burgen 
oder  Verschanzungen   erhoben.   —   Daneben    etliche   «Kasten» 


—    446    — 

[an  dem  grossen  Käst  oder  felssen  genannt  4567  SewenJ,  eia 
<GastelwalGl»  Nieder-Burnhaupt,  ferner  cKaschelber^»  Nieder- 
burbach und  cKaschelbach*  [im  Kastelhach  4584  Rammers- 
matt]. 

Zu  Kasten  als  Bergname  erklärt  Bück :  cschrofier 
Fels,  Bergvorsprang»,  was  euuferiBMsen  durch  obiges  Citait 
(4567  Sewen)  erhärtet  wird.  Auffallend  ist,  dass  die  letzte 
Spitze  eines  Ausläufers  unseres  K  a  ^  o  1  p  a  r  i  den  Namen 
ti    Pürk  (cdie    Burg»)  trägt. 

Käsjnöi  n.  M-Stw,  Kä^näiriet  Stw,  «Gasebney». 

Bei  cGasteren»  (Landschaft)  und  cGeschinenc  (Ort  in  der 
Schweiz)  denkt  Bück  an  das  roman.  casateria  Senn- 
hütten, bzw.  an   casones,   casinas    <!rHütten». 

KMskhopf,  Köism^tla  S,  Käisp^tla,  Keis- 
läkdr  Ml,  K^ispa,  Käispa  L  [geissenbach  4407J 
[[außm  geißhach  4588  Kirchenb.  v.  M]]  und  E,  Keis- 
herts^los  und  Keisrek(a)  B-L,  Keispari,  Köismät 
L,  Käispari  Su,  Käi^tik  f.  [an  den  geiszbühel  4313] 
Gü,  W.  i.  Th.  —  Im  OE  sehr  viel  Zusammenss.  [an  geiseberge 
4308  Bergheim,  am  geysperg  4347  Kötzingen,  an  dem  geis- 
bvhel  4290  Hochstett].  —  ahd.  mhd.  geiz,  GMA  keis, 
MMA    k  ä  i  s   «Ziege» . 

KelWläQ  f.  MI,  cGilbling,  Gilwling».  Sonst  hat  Stoff 
nur  noch  [im  Gilbling  4727  Bendorf]  und  [gilwin  hürstUn 
4  424]  Henflingen. 

?  Ob  zusammen  zu  stellen  mit  KhalwläQ  L  (s.  d.  W.) 
oder  ist  an  ahd.  gälo  (gen.  gälwes),  mhd.  gel  cgelb»  zu 
denken  ?  —  In  romanischen  Gegenden  ist  (nach  Bück)  g  i  1 1  = 
«Hügeb,  kymrisch  gilbin  ccBerghöhe». 

Kemarkpari  Gü.  Stoff  kennt  nur  ein  cGimmermeh» 
und  2  «Kimmersberg»  [vff  die  Kummertzmatt  4380,  auf 
kümertsberg  4602  Hellfrantskirch]. 

?  PN  Gimpert. 

Kensp9,  Kemspo  (GMA:  Kai^po),  n.,  das  Dorf 
«Günsbach»  {Heimricus  de  Gvnnisbach  .  .  .  Cunradtts  et 
Walterus  de  Gunnishach  .  .  .  in  bamio  Gunnensbach  .  .  . 
apud  Gunnelbach  43.  Jh.,  Güninspach  4278 — 4493,  ze  Gün- 
nespach  .  .  .  Günischbach  4339,  Günspach  4392  und  4456, 
Ginspach  4575].  [[Gimsbachj  Gimspoc/i  Kirchenb.  v  M., 
4574  ff.,  Ginnsckbach  4645.]]  —  In  der  Gemarkung  von 
Gü  :   tor  't'  s  1 9  r  k  e  m  ^  p  a,   ein  kleines  Waldthal. 

?  PN  Gund-  Gunzo  (Stamm  Gin-);  oder  wäre  mit 
Arnold  (bei  dem  Flussn.  <Göns»  und  den  ON  <Gunz,  Gänz- 
burg») an  irisch  gun  «Bachi  zu  denken? 


—    Ii7    — 

Kepä  (iif  em)  n.  Ml ;  auchiP^wält.  P^waltlaL 
Päwält  Su.  Stoff,  hat  ein«  Anzahl  Zusammensetzungen  mit 
«Bann>  [under  hanbül  1359  Leymen,  an  dem  hanholz  1%26 
Ammerschweier,  zu  dem  hanla  1305  zem  banUhen  1322  Knö- 
ringen]. 

ahd.  mhd.  ban,   bann  cVerbot». 

Kepräx  n.  Su— H  tGebräcb». 
Ob  spätere  Form  von  p  r  y  o  ^f  ? 

K^rsM  Karsai  [[Görz  Oertza  Gertze  Görtzey  Goretze 
Goriiz  Kirchenbb.  von  1574  fi.'^  ausser  Brauch  kommender 
Name  für  G^rardmer,  im  französ.  Departement  der  Vogesen. 

Kärtsäker  Su.  «Gerzacker». 

Wohl  vom  PN  Gerhard  oder  Gerold. 

Kese'W^el  m.  Mr  T  [am  gisse  übel  1278]  «Gisübel». 
Daneben  noch  in  dem  OE  ein  Dutzend  andere  G  :  [der  gyszoble 
1500  Ensisheim,  Küsdbuhele  13.  Jh.  gyszübel  1432  giszgübel 
1542  Ingersheim]. 

?  ahd.  mhd.   geiss  «Ziege».  Oder  PN  Gozilo? 

Kbäiwehefle  n.  Gü.  Nach  Stoff,  im  OE  über  60  mit 
cKaiby  Kaiben»  zusammengesetzte  ON  [am  Keihacker  1436 
Obermichelbach,  Keybacker  1370  vff  der  Keübengrub  1480 
Weier  i.  Ried]. 

nhd.  k  a  i  b  k  e  i  b,  «Aas»  MA  k  h  ^  i  p,  k  h  ä  i  p  Schimpf* 
und  Fluchwort. 

Khäle^wäs  (e),  Khäldwdskhopf,  -r^sL.  «Kaien- 
wasen».  S.  P^li  }(9. 

?  ahd.  chalo  mhd.  kal  «kahh. 

Khäliköfe  m.  Gü.  Stoff,  hat  ungefähr  zwei  Dutzend 
«Kalchofen]>  und  etliche  andere  «Kalch->  [bi  dem  kalchsiege 
1297,  Fislis,  ad  fumum  calicum  :  .  .  .  1135  Wemher  von  cal- 
couene  1275  Gebweiler,  am  Kalchofen  1522  Hunaweierj. 

ahd.  chalch   chalh,  mhd.  kalc,    MA   khälik  «Kalk». 

Khälpe  m.,  Khälpastäin  Mr  [versus  calpach  13.  Jh.] 
«Kalbach». 

ahd.  mhd.  kalt  «kalt»  oder  ahd.  cbalp  mhd.  kalp 
«Kalb». 

Khält-  in:  Khältwäbar  S  u.  B  Khältapürna  Ml 
Khältapürn  Su  Khältapründ  Wasserbg.  «Kaltwasser, 
Kaltenborn.  «brunn».  Im  OE  eine  Anzahl  Zusammensetzungen 
mit  «Kalt-»  [in  der  Kaltenbach  1421  Niederburbacb,  zu  Kalten- 
humen  1425  Traubach,  vncz  dem  Kaltenloch  1450  Wittels- 
heim]. 

ahd.  mhd.  kalt. 


—    118    — 

Khäli^erxnes  f.  Ml.  cKälbermiss».  Im  OE  wenig 
«Kalber-,  Kalbs-»  [auf  der  Kälber  Almendt  1667  Obertrau- 
bach,  kaJbesmettelin  1453  Murbach].  Vgl.  Khälpa. 

Khal'wleQ  m.  L.  «Kälblin».  Im  Kirchenb.  von  M  1665 
kommt  ein  vielleicht  mit  diesem  identisches  [[ÜLoZö^in^]]  vor. 

Stoff,  gibt  ausserdem  noch  sieben  c Kälblin,  Kälbling» 
[uf  die  kelin  1441    Kaisersberg-Urbach,    des  herges  keibUng 

17.  Jh.  Bergheim,  helbling  1660  Sanct-Pilt^  an  den  kekoyling 
weg  1490  im  kölbling  1578  am  keUbling  1589  Sulzmatt]. 

?  kelt.  calbh  «Berg». 

Kha^elmJtt  Ml.  Stoff,  hat  mehrere  «Känelmatten, 
Kandel,  Kendel,  Kannen-»  [amm  Kanndel ....  Kannelbach . . . 
ze    kannelmatten   1453,    im    Kandtel  ....    bey    CandelmaU 

18.  Jh.   Bühl,    Kandelpum  1567  Dolleren,  jnn  dem  KendeU 
1522  Hunaweier,  Kantenbaum  1611  Kiffis]. 

Nach  Bück  ist  Kandel  f.  (Canabis)  =  Wasserrinne, 
und  vireiler  =  Holzrise,  Vorrichtung  zum  Herabrutschen  des 
Holzes  von  einem  Berge. 

In  unserer  MA  ist  khaQol  m.  :=  (hohler)  «Siengel, 
Halm»;  daher  kliskhaQdl  =  «wilde  Möhre,  Gleisse».  So- 
mit dürfte  KhaQdlmat  einfach  die  «Wiese  mit  der  vielen 
Gleisse»  bedeuten. 

Khäntseräin  m.  Gu.  Wahrscheinlich  =  «der  Johannis- 
Rain»,  vgl.  unser  MA  Khan tstik  «Johannistag»  khiintsfir 
c Johannisfeuer > ,  khäntstriwol  « Johannibeere» .  Oder  auch 
der  «Rain  mit  den  Kanzeln»,  denn  es  befinden  sich  dort 
mehrere  «Kanzeln»,  s.  kh^tsol. 

Kh4päQ  f.  M.  KhampeQmyr  B.  —  MA  ein  Appel- 
lativ, welches  ein  hölzernes  Halsband  für  Kalber  bezeichnet, 
von  kham  «Hals  des  Rindes,  etc.»  und  pä^o  «binden». 

Khäpel  (e  ter)  S,  KhäpoUkor  M  B,  Khipal 
Khäpolwäi  Mr,  Khäpalomäta  W  i.  Th.  «Kapdl, 
Kapellenacker,  Kapellacker.»  Viel  Einschlägiges  [bi  dem  keppeUn 
1421  Emiingen,  in  der  Cappelmatten  1561  lUzach,  am  capM- 
acker  1479  Blotzheim,  Cappehvasen  1694  Luemschweiler] 
im  OE. 

ahd.   chapella,   mhd.   kapelle. 

Kharpholts,  Kharph^ltsla  S,  Kharpholts  10 
(2  mal  vorkommend)  L,  Kharphol tskärta  L.  Khar- 
pholts, Kharpholtshäil  Su.  «Kerbholz».  Daneben  im 
OE  nur  sehr  wenig  «Kerbholz,  Kerben»  \jm  Kerbholz  1533 
Ck)lmar]  mhd.  körbe,   körp   «Einschnitt». 

Kharäl&X»  f-  M.    Eine  sehr  steile  Rinne. 


—    419    — 

m.  Gö-W  i.  Th.  (fewor- m  etlor- eqer 
Khä  rwäi)  Kharixlo'^di  M.  «Karrweg».  Im  übri^ren  OE 
nur  noch  etliche  Zusammensetzungen  mit  «Karren-,  Karr» :  [in 
Karrichstal  1328  Niedermorschweier,  Karrickweg  1465  Colmar]. 
ahd.  Charruh  (hh)  mhd.  Karrech,  Karrich  MA 
Kh  äri }(  cKarren». 

KhaSTvai  S.  Stoff,  hat  etl.  «Käs»»,  worunter  ein  «Käs- 
weg» Niedersept.  —  ?  ahd.    chäsi   mhd.    Kaese. 

Kh&tsastaile  n.  M,  Khäts9khopf  B  Khätsa- 
p  f  1  y 9 k  Su,  Khatsa^täin  H.  «Katzenköpflein,  -pftu^?. » 
Im  OE  gegen  40  Zusammensetzungen  mit  «Katz-,  Katzen-»  [zu 
Kotzenlande  1328  Winzenheim,  Chazinthale  Kazinthal  1184, 
in  Kancendale  1222  Df.  Katzenthal,  Ita  de  cazwanch  in 
43.  Jh.  Bennweier]. 

Bück :  Katzenstaig,  f.  nennt  man  in  Oberschwaben 
steile  Pfade  oder  Stiche  an  Fahrwegen.  Wohl  bildlich  nach 
dem  Kletterbrett  der  Katze  am  Bauernhof,  das  allerdings  k. 
heisst.  Möglich  dass  in  einigen  Namen  Katze  auch  eine 
mythische  Bedeutung  hat.»  —  Der  «Katzenstein»  von  Hohrod 
sieht  ordentlich  wie   ein  ehemaliges   heidnisches  Denkmal  aus. 

ahd.    chazza   mhd.    katze. 

KhästOTvält  Ml.  Stoff,  kennt  nur  den  « Kasten wald» 
zwischen  Colmar  und  dem  Rhein  [Kastenholz  1364]  und  zwei 
«Kasten»  [am  Kasten  ....  an  der  grossen  Käst  oder  felssen 
genannt  1567  Sewen,  by  dem  stock  vnder  dem  Kasten  1399 
Sierentz],  sowie  den  < Kasterbrunnen»  von  Grebweiler. 

Bück  meint:  «Kasten»  (Bergname):  schroffer  Fels,  Berg- 
vorsprung. 

Khätsel  f.  MI;  vorspringender  Fels  am  Hohneck.  MA 
auch  Appelativum,  um  solche  Felsen  zu  bezeichnen.  Stoff, 
kennt  vier  «Kanzeln»  im  OE. 

ahd.    chanzella    mhd.    Kanzel. 

Kheäpari  Gü-W  i.  Th.  [am  Kinberg  1252,  vf  das 
höchste  des  Künberges  1318,  am  Kienherg  1441].  —  Khyo- 
s6s9r  m.  Su,  Kheäldiar  [heim  Kühe  läger  ißiß]  Winzen- 
heim.  «Kuhbei^,  Kuhsoser,  Kuhläger.»  Stoff,  hat  sonst  noch 
an  die  20  «Kähläger»  und  ziemlich  viel  andere  «Küh-»  [der 
kugin  Hof  1371  Colmar,  bey  der  Kueh  Cappell  14.  Jh.  Geh- 
Weiler,  vff  der  Kugleger  1500  Heilig-Kreuz,  Kugewasen  1346 
Berrweiler]. 

Für  die  2  letzten  ON  ist  wohl  sicher  ahd.  mhd.  Kuo, 
pl.  Küeje  die  Wurzel;  für  den  erstem  ist  offenbar  an  ahd. 
chien,    kän   mhd.   kien    «Kien,    Kiefernholz   (vergl.  Kien- 


—    120    — 

span,  Kienfackel)  zu  denken,  wenn  nicht  an  kell,  c  u  n  (kymr. 
cwn)  «hoch,  die  HöheD. 

Khdföi  m.  Ml— M  i^Kuhfeib:  —  Ob  wirklich  förKhei- 
fail?  Es  wäre  das  einzige  Wort,  in  dem  das  Z  von  fail 
weggefallen  und  kh^i  (pl.  von  khyü)  sich  in  kb^  verflacht 
hätte. 

Khdiserspryox  m.,  Khäisarsmät  [hi  des  keiserz 
mMen  am  angere  43.  Jh.]  Khäisersprenla  Mr.  — Im 
OE  noch  einige  «Kaisers-i»  [Keysersgasse  1365  Golmar]. 

ahd.  Keisar   mhd.  Keiser. 

Kh^kelrets  m.  B  «Kögelritz».  Ob  zusammengesetzt  aus 
unserm  Kh  ^ka  1  cKegeb  und  einem  sonst  nicht  vorkommenden 
Worte  «Ritz:»  f.  m.,  welches  nach  Bück  «Heumatte,  Wiesei 
bedeutete  ? 

Kheliymötle  S  H^itdkhelixhof  Mi  (eine  öde  Stelle 
am  unteren  Ende  der  Wolmsä;  die  Ueberlieferung  wilK  dass 
dort  zur  «Heidenzeit»  [das  ist :  «in  sehr  früher  Zeit»]  ein  Be- 
erdigungsplatz gewesen  sei),  Kheri^hoft  Kheli^kasU 
Kheri^^ält  M,  Kheliywäi  B,  Kheriymäta  Su, 
Khelpol  Stw,  Kheri^wäi  Gr,  Kherixkärta  6ö, 
Kheriywäila  E. 

«Kirchmatten,  -weg,  -gasse.»  Im  OE  über  200,  Kil-, 
Kirch-,  Kirchen-,  [in  Küchthal  1328  Türkheim,  in  Kilmatien 
1424  Kürchhühel  .  .  .  Kilchbühel  1594  Roderen,  Kilwart  hcm 
1358  ßlotzheim]. 

ahd.  chiribha  chilihha,  mhd.  kirche  kilcbe,  MA  kheli^ 
kheriy  «Kirche». 

Khelpel  m.  Stw.  [Hesso  de  Kilchbuhele  ,  .  .  de  kilpule 
13  Jh.,  kilchbühel  1339,  ze  kirchbühel  (ceüa  in  — ,  cappelle 
ze)  1407.  Khelpdlkärta  Stw.  Sonst  im  OE  nur  noch 
2  «Kirchbühb  [Kilchpühel  1568  Obertraubach,  Kürchlmhel  .  .  . 
kilchbühel  1594  Rodern].     S.  Kheliy. 

Khersasupreke  B.  Stoff,  hat  eine  Anzahl  «Kirsch-» 
[zu  dem  kirszboum  1347  Hindiingen,  zem  kirsbomlin  138ü 
Kötslach,  der  Kirszgarten  1567  Pürt]. 

ahd.  chirsa   mhd.  kirse  kerse  MA  khers    «Kirsche». 

Kh^rtsmät  S,  Kh^rtsspari  Khertsapari- 
khopf  M.  Stoff,  hat  nur  2  «Kerzen-»  [Kertzenmätüein  1567 
Buschweiler] . 

?  PN  Kero. 

Kh^VT'laspari  Su,  Khäwalarüns  E.  «Köblesberg». 
Wohl  von  FN  «Köbele,  Köble,»  MA  Kh^w(a)l9  ausgesprochen. 


--  121  — 

Khiespe  Kheäspa  H,  «Kiespach»  [de prato  in  Ctishach 
13.  Jh.] 

?  ahd.  mhd.  kuo,  pl.  küeje. 

Kliipeäker  Su,  «Kipacker». 

Khölhoi  f.  KhöUlox  S.  Khöldrsmät  MI,  Khö- 
likwasla  St\v,  K  h  61  hoi  Su,  Khöldrüns  Gü.  Kohlhaul, 
-hau,  Kohlenrunz.  Daneben  noch  viele  Kohl-,  Kohlen-,  Kohler-» 
im  OE.    [alte  Belege :  Kol-  Coler-  koll-.] 

ahd.   cholo,   mhd.    kole. 

Kholpe,  Kholin^9  m.,  Kholwaf^lsa  Ml.  Stoff, 
meint  «Kolben»  «für  Kolbach».  Sonst  hat  er  nur  einige  wenige 
«Kolben-»  [jn  kolbengass  1365  Niedermorsch weier]. 

In  dem  Kirchenbb.  von  M,  1574  ff:  [[vom,  im  Kolben, 
der  koler  im  Mitiah  kolhen.^] 

?  ahd.  cholbo,  mhd.  kolbe,  «Kolbe,  Keule,  Knüppel», 
oder:  ahd.  cholo,  mhd.  kole  «Kohle»  mit  s^hd.  bah,  mhd. 
bach,  also  «Kohlbach»? 

-Khopf  m.  (dem.  Kh^pfle,  pl.  Kh^pf)  in:  Spets- 
khopf  Klönskhopf  Snapfsri  etkhopf  LaQdfalt- 
khopf  Stritkh^pfU  Nüis^lkhopf  H^rnlaskhopf 
S,  RikhopfR  OS  khopf,  Kh^pfle  ti  §pets9kh^pfRyo- 
tepäkhopf  St^wäsakhopf  Kläkh^pfU  Ml,  Hyonä- 
khopf  Ml-Stw,  Altmätkhopf  NäUtap61khopf  Präin- 
khöpfla  Kä^n^ikhopf  M,  Eliakhopf  M-Ml-S-B,  Ri- 
Xäkarkhopf  B,  Khäla  was  khop  f  B-L,  KhöpfU 
Pärakhopf  RäpakhopfSu,  Froiakhopf  Mr,  Häita- 
p^lkh^pfla  Läiarmätkh^pfla  6ü,  Pa/lakhäpfla 
E.  Bei  Stoff.  «-Kopf,  -Köpf,  -Köpfle».  —  Sonst  hat  Stoff,  nur 
einige  wenige  «Köpflin»  [vf  dem  Köpflin  1380  Moos,  Khöpfflin 
(der  berg  vff  dem)  1568  Mörnach]. 

MA  Khopf,    m.  «Spitze,  Gipfel».    . 

Khüimer  m.,  Khüimarmät  S,  Khü  imarkhopf, 
Khüimarwän  Su.  «Kumerbach,  Kummerweg,  vodere 
Kummer,  Kummerwand.»  Daneben  noch  einige  OE  Kumer, 
Kummer,  [am  Kumer  1567  Dolleren  ;  an  der  Kümerten  matten 
1540  Franken]. 

mhd.  k  umher  «Schutt,  Unrath,  —  Not,  Bedrängnis.» 
Diphthongisierung  als  Ersatz   für  das   ausgefallene  b  (wie 
fail  für  velt,  krüim  für  krumb  u.  s.  w.) 

Khümpf  m.  Gü  [ob  dem  kümpffe  1456]  «Kumpf».  Da- 
neben bringt  Stoff,  nur  noch  4  «K.»  [im  Kumpf  1635  Thann]. 

mhd.  kumpf  m.,  «Gefass».  MA  khüpf,  khümpf, 
m.,  =  dass  tiefe  hölzerne  Gefass,   dass  der  Mäher  an  seinen 


—    «2    — 

ledernen  Leibgürtel  hängt,  und  worin  sowohl  der  Wetzstein  als 
das  zum  Schärfen  der  Sense  mittels  desselben  nötige  Wasser 
enthalten  ist. 

Khürtsape  m.  Gr  cKurzenbach».  Ziemlich  viel  OE 
«Kurz-,  Kurzen-»  \jin  kurtzen  gelend  1399  Reichenweier,  in 
ktrtzen  gössen  1454  Türkheim]. 

mhd.  ahd.  kurz. 

Khüirv^et&l,  abgehender  deutscher  Name  des  oberhalb 
La  Bresse  gelegenen  und  französich  «Colline  de  Chajoux» 
genannten  Thaies. 

Kiöre  m.,  Kiära^wana  S.  Nicht  bei  Stoff.;  dagegen 
führt  er  sehr  viel  «Gehren»  aus  dem  OE  an  [an  dem  geren 
4347  Hindiingen,  der  gere  1407  T,  zu  Gere  13.  Jh.  Walbacfa, 
am  gerwasen  1452  W.  i,  Th. 

Unser  ON  geht  auf  einen  zugespitzten  Komplex  von 
Feldern  und  Wiesen,  ahd.  göro  «Spitze,  Ecke»  mhd.  g^re, 
«keilförmiges  Stück  Zeug,  Schoss»  MA  kiöra  «Schoss«. 

Kiermäte  pl.,  Su.    Stoff,  falsch  «Kirmatten». 
Wohl  zu  ahd.  mhd.  gir  «Geier». 

Kiesepä  Ml  [im  Geissebach  i456]  «Giesenbach». 
?  ahd.  jesan  «sprudeln,  wallen». 

Kikeröpiirik  W.  i.  Th.  [Tietricus  de  Girsperc  1185, 
Conradus  de  Girehberc  1198,  Genfridus  de  girisperch  1214, 
Girsberg  1241]  [[Girspurg^  Gyrspurg^  Kirchb.  von  Mr  1029  ff.]] 
Stoff.  «Girsperg,  volkst.  Gigerspurg».  Dann  «Girsperg»  (eines 
der  3  Schlösser  von  Rappoltsweiler,  welches  früher  der  Stein 
hiess,  sodann  aber  den  Namen  der  im  14.  Jh.  damit  belehnten 
Familie  aus  dem  Münsterthal  annahm)  [Gyrsperg  1316,  Güers- 
perg  1394]. 

ahd.  mhd.  gir  «Geier». 

KiiTV'i  m.  Ml,  bei  Stoff.  «Gipich»  [Gippichy  Gippisch 
1575].  Felshügel,  dem  «Herrenberg»  vorgelagert ;  letzterer 
scheidet  das  Mittlachthal  in  zwei  Teile,  sodass  der  Kiwi  in 
einer  Weg-  bezw.  Thal-Gabelung  liegt. 

ahd.  giwicci  Wegscheide. 

Klämersm&t  6ü. 

KläQk  m.  M,  KläQ(k)häil  KU^mäto  S,  Kläqk- 
f^ls9  KläQkrüs  MI,  KlaQkle  SienekläQ(k)  B, 
KläQhäil  Kläiimäta  [in  den glangmatten  1456]  K\änk\9 
TywokläQ  Su.  —  «Klängle,  Klanghaul,  Schönenklang». 

?  ahd.  chlang   mhd.  chlang,   klanc  «Klang». 


—    123    — 

Kl&spfät    Ml,     KUspürn    Su— H,     KUsrus    La 
Bresse  (unterhalb  des  Hohneck).  «Glasborn». 
?  ahd.  mhd.  glas  «Glas». 

KlltstäLii(e)  (üf)  W.  i.  Th.  [an  livoen  steinach  1452, 
vff  läwesteinott  1475].  «Klaus  Steinen». 

Klä'we  m.  Mr^Gü,  «Klebach».  Sonst  nur  selten  vor- 
kommend [;m  clehe  1487  Wettolsheim,  im  klebbach  1550 
Mitzach]. 

ahd.  c  h  1  e  b  ö  n,  mhd .  kleben  «kleben,  haften,  fest- 
sitzeni>.  Bück  sagt:  kleb,  kleeb,  n.,  in  Kleben,  in  der 
Regel  ein  nasser  Ort. 

Klä^w^lesrMn  M.    Vergl.  Kl  ä  Hai  na. 

Klafail  Kläfail  Ml  Kläinrüns  E.   «Kleinrunz». 

c  < 

Kl^nskhopf  S — Linthal  ;  dazu  :  KHnskhopfrüs, 
-w  ä  1 1,  -^  w  9  n  9  [Klinskopf  1738,  Glintzkopf  1760],  «Klins- 
kopf ».  MTB  Nr.  3668  schreibt  ziemlich  richtig  «Klinzkopf». 
Die  Schreibung  «Kleinskopf»  ist  ganz  unrichtig.  In  Büchern 
oft  der  Lauchenkopf  genannt;  1328  Meter  überm  Meer. 

Kl^pf,  üf  ter,  M.  KUpfarsmät  S.  Stoff,  kennt: 
«Kleff»  [am  Klefen  .  .  .  am  Kläven^  an  die  KlefiSßl  Rimbach] 
•Kleffelbach»  [jnn  klepfelhach  1550  Weiler  bei  Thann]  und 
[ob  dem  Klaff  er  1479  Wenzweiler,   Klopfer  1764  Rädersdorf]. 

?  ahd.  Klapf,  «Stein,  Fels»  oder  ahd.  Klaph,  chlap- 
hdn,  mhd.  Klaf,  Klapf  «Knall,  Krach,  Schall».  —  Der 
ON  Kl^pfersmät  scheint  übrigens  mit  dem  PN  (Spitz- 
namen)   Klöpfar   zusammen  zu  hängen. 

Kletserstöin  M,  Kletsarfälsa  Ml  «Glitzerstein». 
Sonst  nur  noch  in  Alt-Pfirt  vorkommend. 

mhd.  gli  t  ze  rn,   MA    kletsara    «glänzen,   glimmern». 

Klokeplyiimemät  Ml,  Wiese  (am  Fusse  des  Kiwi) 
auf  welcher  zeitig  im  Frühjahr  massenweise  eine  gelbe  Nar- 
zisse (MA  klokaplyüm  «Glockenblume»)  blüht.  Stoff,  hat 
einige  «Glocken-«  [Glockenmatten  1620  Bruebach]. 

ahd.  glocka  mhd.  glocke,  MA  klok. 

Knexel  m..  Ml.  Eine  Stimmoräne  im  Wolmsathal.  Stoff, 
hat  fünf  «Knichel»  [auf  dem  knichell  18.  Jh.  Obersteinbrunn, 
in  dem  knüchel  1427  Pfaffenheim,  am  knichel  1567  Rimbach, 
im  knühel  1547  Sausheim). 

?  mhd.  hnol  «Berg,  Gipfel« ;  oder  ahd.  nacch,  hnacch, 
mhd.  nac,  nacke,  «Hinterhaupt,  Nacken». —  Ich  hörte  das 
Wort  knexel  auch  einmal  appellativisch  für  «kleiner  Berg». 

KnoleäJb:er  S,  Knob  m.  Stw. 

?  mhd.  Knolle  «Erdscholle,  Klumpen«  oder  hnol? 


—    iU    — 

Kr&femäta  Su ,  «Grafmailen»  und  auch  sonst  noch 
einige  «Grafen-»  [am  Grauenackher  1558  Mülhausen,  am 
gräfenacker  1429  Niedermagstatt ,  in  groven  gerut9  1312 
Heilig-Kreuz,  in  grafenmatten  1537  Niedermorschweiler,  die 
grafen  sleiffen  1250  Gebweiler]. 

Kräiepari  M-B  und  B  (zweimal  vorkommend)  X  Ha- 
ler ä(i)  Su.  «Kreyenberg»  .Altenkray».  Im  OE  viel  -Krey, 
Krey-,  Kreyen-»  [uf  der  kreyen  ....  vf  der  kreye  ,  .  ,  .  vf 
der  kreyh  1591  auf  der  krewen  1723  Winkel,  uff  der  dürren 
khreyen  1655  auf  der  dürren  krayen  1694  im^  düren  krey 
1740  Oberlarg,  am  oberen  krey  gen  1762  Obersept,  im  kregen- 
herg  1575  Niederhagenihal  am  Kreyenhühel  18.  Jh.  Gebweiler, 
kreyhühell  1550  Häusseren- Wesserling ,  kreyenbüchell  IKO 
Ramspach,  kragenhühel  1441  Reichenweiher,  an  den  kragen 
hüchel  1429  Wettolsheim,  in  der  Kreyenbach  1250  Kregeinback 
1286  Gebweiler,  bi  chreienbade  1288  Kreyenbach  1537  Alten- 
schlag]. 

abd.  chräia  chrawa  chr^,  mhd.  kra^a  MA  krii 
f.  «Krähe«. 

Indessen  deuten  ON  wie  vf  der  dörren  khreyen, 
im  Krayen,  Obergrey  auf  ein  anderes  Etymon  hin,  als 
auf  den  Namen  des,  wenn  auch  noch  so  verbreiteten  und  be- 
kannten Vogels.  Nun  aber  hat  sich  im  französ.  und  schweizer. 
Jura  das  Wort  cra  crä  cras  craie  cr^  cröt  erhalten, 
welches  teilweise  noch  jetzt  ein  Appellati vum  oder  GN  ist  und 
«Berg,  Hügel«  bedeutet ;  in  ON  kommt  es  besonders  häufig 
vor.  Beispiele:  le  cr^t  perr6  (=  «le  mont  pierreux»)  und 
le  crä  de  Combats  in  der  Gemarkung  von  Saint-Dizier 
unweit  Delle ;  die  «colline  d'Hermont»  bei  Pruntrutt  und  Cour- 
genay  heisst  in  der  dortigen  MA  le  cras  d'Hermont. 
Sogar  in  Zell  (La  Baroche)  in  unserer  Nähe  kommt  der  ON 
1  e  cra  vor.  Von  Stoffel  angeführte  und  wohl  zumeist  hierher 
gehörige  ON  sind  ferner :  la  craie,  la  combotte  de 
la  craie  [en  la  craye  1737  Villars-le-Sec],  au  cras,  sur 
le  cras  Florimont,  Botans,  Olttendorf,  \au  cras  du  Banney 
1737]  Croix,  le  cras  du  Moulin  Lufendorf,  la  cha- 
pelle  de  crets  [im  Cr«t  1544]  Courcetles.  In  einem  von 
Trouillat  1  324/325  mitgeteilten  Dokument  (Nr.  24,  13.  Jh.)  ist 
als  Zeuge  genannt:  Magno  abbas  de  Altecrest;  dieses  ist 
ein  1134  gegründetes  Cistersienser  Kloster  im  Bezirk  Orbe 
(Schweiz) ;  französisch  heisst  es:  Haut-crest:  das  wäre 
gleich werthig  mit  dem  deutschen  (allemannischen)  «Hohen- 
krähen»  [craige  1221]  in  welchem  Bück  und  Bacmeister 
übereinstimmend  ein  vordeutsches  (keltisches)  cra  ■Bei'g,   Fels» 


—    125    — 

zu  erkennen  glauben,  indem  sie  dabei  an  irisch  craige  «Fels» 
denken  ;  die  gleiche  Ableitung  lässt  Bück  auch  für  den  ON 
«Heukragen»  gelten.  —  Bemerkenswert  ist  noch  dass 
Kräidpari  zwei  mal  in  B  vorkommt,  und  dass  Stoffel  fünf 
OE  «KreyenbühN  kennt:  nimmt  man  in  diesen  7  Namen 
das  erste  Wort  als  Grundwort  an,  so  löst  sich  der  betr.  ON 
einfach  in  die  Tautologie  «Berg-Berg»  oder  «Hügel-Hügel»  auf, 
ein  Vorgang  der,  wie  die  Fachleute  wissen,  unzählige  male 
vorkommt.  Ganz  besonders  dürfte  Alt8krä(i)  vordeutsch 
sein  und  durchaus  die  Bedeutung  von  Haut-Crest  «Hoch- 
bergo  haben,  was  auch  örtlich  zutrifft.  Alts  als  Bestimmungs- 
wort wäre  hier  das,  wie  es  scheint,  nicht  nur  dem  Lateinischen 
sondern  auch  dem  Keltischen  eigene  alt-  «hoch».  Vgl.  den  ON 
(lat.)  Alteripe,  ein  Kloster  bei  Freiburg  in  der  Schweiz, 
französ.  •Haute-Rive»,  deutsch  «Altenryf»,  wobei  Alten 
ebenfalls  eine  irrtümliche  Anlehnung  an  das  deutsche  zu  sein 
scheint.  —  Unser  Ältekrä(i)  liegt  eher  im  Gebiet  der  ro- 
manischen als  der  allemannischen  MA. 

Krämersmät  f.  Ml. 

Stoff*,  führt  aus  dem  OE  mehrere  mit  «Krämer»  zusammen- 
gesetzte ON.  [Krämerherg  1674  Hochstalt  vnder  dem  Kremarnn 
i540  Niederranspach,  Kremei^sache  4441  Buenzweiler,  Krämers- 
melte  1566  Hindiingen.] 

mhd.  Kram  «Bedachung  eines  Kramstandes». 

Xräpafölsa  Ml,  im  Zuge  der  Spitzenköpfe.  «Krappen- 
felsen». 

Elsäss.  (aber  nicht  Münsterthäler)  MA  kräpo,  ahd.  rabe 
{rappo)    mhd.  rabe  «Krähe,  Rabe«. 

Kräpsrüs  S,  Kräpspayle  Sulz-W.  i.  Th.  Kräps- 
prekla  W.  i.  Th.  «Krebsbach,  -brück  -runz».  Daneben  noch 
«ine  Anzahl  «Krebs-»  [Krepshach  1565  Hirzbach,  Krebsloch 
1565  Hirsingen]. 

ahd.  chrebisz,  chrebaszo  mhd.  krebesze  kre- 
besz   MA   kräps  «Krebs». 

Kräwe  (üf  am)  m.  Mr,  Weäätkräw»  L.  Ersteres 
•ein  Stadtteil  längs  des  ehemal.  Stadtgrabens.  Stoff,  hat  noch 
-em  Dutzend  «Graben,  Graben-»  [uff  dem  Graben  1537  Senn- 
heim. 

ahd.  grabo  mhd.   grabe  MA  kräwd. 

Kresa,  em,  m.  Su  «Griesen».  Sonst  hat  Stoff,  noch 
•einige  «Gressen-,  Gressig-»  [Gressnaw  1630  Oltmarsheim, 
gressigbrunnen  1744  Kiffis] . 


—    126    — 

Krestlaskyüt  B.  MA  Kre^tla  =  Deminutiv  von 
€  Christian». 

KrötleSTväsa,  m.  S.  [[Kretles  loassen  1741  Chronik 
von  Matern  Jägle  von  M]]. 

St.  hat  einige  cKrotten-^  Kröttli». 

Kre^^leQ  m.  Stw  E  [greweling  böm  1456]  «GhTeuling». 
Stoff,  hat  ein  «Greuel»  [jm  grikoel  1471  jn  greüwel  1546  Hül- 
hausen]  und  noch  3  «Greuling»  [im  greweling  1290  Wueo- 
heim].  Er  erklärt  «Der  Greuling  ist  eine  Art  Birne». 

Kriäpe  n.,  das  Dorf  «Griesbach«  [opud  Gruzenshach  •  .  . 
Rtidigerus  de  gruzinbach  13.  Jb.^  Grtissichspach  .  .  .  Grus- 
senspach  1411,  GrygpcLch  1434,  Grüspach  1456,  Gruselback 
1480]  [[auss'm  Grispach  1574—1600,  Kirchenbb.  von  H; 
GHschbach  1656]]. 

mhd.   g  r  i  e  z    (g r  ü  z)    «Sandkorn,  Sand,  Gries» . 

Kriter,  iif  to,  (pl.)  Poiarskrit  FUskritar  S, 
üf  tar  Krit  f.  MI,  Kritarwält  E,  Hanikskrit  Stw, 
Öfapä^kritdr  Gü.  Bei  Stoff.  •  Kritter,  Kritterwald ■  und, 
neben  «KrQt*  (dem  Dorf)  über  zwei  Dutzend  «Grüt*  [de  Gereuih 
1342|Geruf6  1357,  zu  Gerut  1416  [[GerüU,  Gerüth,  van  Crithen, 
Gereith  Kirchenb.  von  M,  1574  ff.]]  das  Dorf  Krüt,  an  dem 
gerütte  1489  Appenweier,  in  dem  greuth  1588  Bebienheim, 
im  gerate  1488  Hattstatt,  in  dem  oberen  Gereith  1661  Hoch- 
statt, in  dem  grutte  15.  Jh.  Rappoltsweiler]]. 

mhd.  riuten  «ausreuten,  urbar  machen«;  ahd.  riuti 
mbd.  r  iute,  «durch  Reuten  urbar  gemachtes  Land«  ;  geriute 
=  Collektiv.  MA  krit  n.  (meist  am  Waldesrande  und  hoch 
gelegenes)  Feldstück,  das  abwechselnd  mehrere  Jahre  hinter 
einander  angepflanzt,  und  sodann  wieder  einige  Jahre  brach 
liegend  gelassen  wird. 

Kritspe  L  Stw.  Kritskhopf  Su,  Stäindkrits  L, 
Kritsäkar  W.  i.  Th.  Stoff,  hat  nur  ein  «Kreuzbach^.  Da- 
neben aber  eine  stattliche  Anzahl  anderer  «Kreuz,  Kreuz-«  \bi 
dem  crüce  1328  Ammerschweier  bi  dem  kruze  1380  Köstlach, 
zem  Krucze  1436  Obermichelbach,  auff  der  Creutzmatten 
1431  Ligsdorf]. 

ahd.  chrüzi  mhd.  KHuz y  Kriuze ,  MA  krits  n. 
•Kreuz». 

Kriiäholts  Gü—W.  i.  Th.  [Grünholtz  1742,  Grueholz 
um  1790]  «Gruholz».  Nahe  am  Grat  welcher  das  Münster- 
thal vom  romanisch  sprechenden  Urbisthal  (Kaysersbergerthal) 
scheidet. 

?  gael.  cruach  «Haufe,  Berg«,  oder  creuch   «Sumpf*. 


—    127    — 

Krüimäker  M.  •  Krummacker «.  Im  OE  über  100 
cKrumm-»  [der  krumbe  acher  1296  Alt-Pfirt,  vff  die  krumbe 
fürte  1400  Munweiler]. 

ahd.  chrumb  mhd.  krump(b)  MA  krüim  «krumm^ 
gekrümmt,  verdreht». 

Kryep  f.,  Kriewla,  Su,  Selwarkryüp  Ml  fetäin- 
krüäp  Gü — H.  «Grieblen».  Sonst  wenig  «Gruben-,  Grüblen» 
im  OE  [in  grUen  1359  Leymen,  im  Grübler  .  .  .  zu  Grieben 
durch  1567  Buchsweiler,  bi  der  wolf  grub  1380  Mörnach] . 

ahd.  gruoba  mhd.  gruobe,  MA  kryüp  kryap, 
krüäp   «Grube». 

Kryot  Kru9t  Krüt,  n.,  Kryotkh^pfl9  B.  «Kroth, 
Krothköpflein». 

mhd.  grät  «Fischgräte,  Rückgrat,  Bergrücken».  MA 
kryot,  kruot,  krüt  n.,  «Grat»,  nur  noch  selten  als  Ap- 
pellativum  gebraucht. 

Kryosplyiine,  Kryosprfeitferät  S,  Kryosläiar 
(-läkar)  S — B,  Kryosöwano  M,  Krüwesrüs  Krüwas- 
mät  (auch  Kr6smät  gesprochen)  Su,  Kruste  k  Gü.  «Gross- 
matt, Grossrunz».  Im  OE  weit  über  200  «Gross-»  [alte  Belege : 
gross-  groß-]. 

ahd.  mhd.    gro§,    MA  kryos   krüs  krüwos. 

KülÜQ  m.  auch  K  h  u  1  ü  q  (erstes  u  wie  nhochd.  u  oder 
franz.  ou  ausgesprochen),  m.  Scheint,  auf  den  früher  im 
Thal  vertretenen  französ.  PN  Coulon  zurückzugehen. 

Kiirliö  n.  Ml. 

-Kyüt  in:  Altakyüt  Ml— S,  Kietle  Ml,  KrestUs- 
kyüt    äpältarskyüt    B,    Hütsoküät    E. 

•Altengut,  Hutschengut», 
ahd.  mhd.  guot. 

Kwarpfät  f.,  S.  Stoff,  hat  nur  ein  paar  «Querchweg 
[1536  Oberenzen]  «Querren weg»  [auf  dem  Querren  Weg  1588 
Andolsheim,  ze  querrenwege  1328,  am  querchweg  1529  Nieder- 
morschweier,  querichgesselin  1453  Gebweiler]. 

ahd.  dwörah,  twerh  mhd.  twerch,  dwerch, 
dwer,  querch  «schräg,  quer».  MA  nur  noch  ewarts- 
wariy. 

Kv^rarrva,  Kwarpa,  m.  S  [under  der  werben  .  ,  .  vff 
der  werben  1456],  «Querben». 

Collectiv  von  MA  warp  f.  «kleine  langgezogene  Boden- 
Brhöhung»  ;  oder  mhd.  tw^r-bach. 


—    128    — 

Läimäkar  m.  Stw.  Stoff,  hat  viel  «Leim-^  Leimen-» 
[Leymbach  Leimbach  1323,  1361  das  Dorf  L,  am  Leimen  1342 
Moos]. 

ahd.  leimo  xnhd.  leim,  leime  «Lehm»  MA  l^ima 
läi  m  9. 

Laimlaswäsa  MI,  Laimlashöf  B.  Geht  in  dieser 
Form  aut  den  PN  Lämle  (vor  300  Jahren  Lämble  Lemble 
geschrieben)  zurück.  Ausfall  des  b,  Diphthongisierung  des 
Vokals. 

Laits,  Laitswäsa,  m.  Su.  «Lenzwasen*.  Ich  borte 
auch  L  a  i  t  s.  Diese  Formen  scheinen  auf  den  PN  «Lenz»  zurück* 

c   « 

zuführen.  Stoff,  hat  nur  einige  «Lenz-*  [lencacker  1287 
Hundsbach]. 

Laker,  Läiar  n.  m.  La  i  armät  kh^p  fla  Gü,  K^is- 
läk^r  Ml,  Kryosläiar  B,  Kheäläiar  Winzenheim  [beim 
Kühe  läger  1640]  «Kühläger«.  Im  OE  eine  kleine  Anzahl 
«Läger-»  [jm  leger  an  dem.  heidenberg  1511  Osenbach]. 

ahd.  legar  mhd.  löger  MA  läkar,  läiar  ■Lager- 
stätte». 

LtämMspari  B.  «Lameisberg».  Geht  auf  den  PN  «Lamey», 

der  im  Münsterthal  ziemlich  verbreitet  ist. 

Län  Län,  f.  MI.  Scheint  ganz  modern  zu  sein  und  mit 
dem  PN  gleichen  Klangs  («Magdalena»)  in  Verbindung  zu  stehen. 
—  Anderseits  würde  auf  die  Lage  der  betr.  Stelle  ganz  gut 
das  ahd.  lina  hlina  mhd.  lene  «Lehne,  reclinatoriumi 
passen;  vgl.  auch  got.  hlains  m.  «Hügel»  anord.  hlein 
Felsvorsprung* . 

LiäQinät  B.  LäQakarla  H-Mr  [ad  langin  agger 
13.  Jh.  am  langenacker  1407]  LäQdpd  Gr  [langenbaek 
1441]  LäQdpäy  H  Läqara  m.  Lä^ardkäs,  Läqmat 
Su,  LäQ9wäs9  Ml  LäQhäil  LäQwarp  LäQsläta 
Stw  LäQprü)f  E.  «Langäckerlein,  Langenbach«,  u.  s.  w.  Im 
OE  eine  Unzahl  «Lang-  Langen-»  [alte  Belege  :  lang-,   langen- . 

ahd.  lang,  mhd.  i  a  n  c,  MA  lä  q.  —  Hiezu  gehört  auch  : 

LaQepä  S  [in  lengenbach  13.  Jh.,  lengenbach  1456  [[r)f 
lengenbachy  auff  Lengenbach  1580,    1583   Kirchenb.  von  IT], 
LaQafalt    La  q  df  a  1 1  k  hopf    S-Linthal     [lengenfeld  .  .  . . 
lengenfeldkopf  il^4],   Laqepari   H.    «Lengenbach,   Langen- 
feld- ;  MTB  3668  (ebenfalls  falsch)  Langenfeld  (statt  Lengenfeki). 
Sonst  im  OE  nur  noch  ein  «Lengen-»   [montis  Lenginberc 
1188,  Lengenberg  1319  Hattstatt-Vögtlinshofen]. 


—    1!29    — 

Liäntspurn  m.  E.  «Landsburn». 
LÄtara  m.   La ti  nies  f.  S.  «Lattern». 
Nach  Bück  ist  «Lade»,    FlussN  in    Lada    Ladusa    La- 
derna U.S.W.  =  altkeltisch  latis. 

Lätarspäi  m.,  zu  S  gehörender  Weiler;  [in  landoltispach 
dB.  Jh.^  in  lander$chhach  1456]  ][Lander8pach^  Kirchenbb. 
^'on  M  1574  fif.]]  Lätarsd,  üf  Lätssr  S  (oberhalb  des 
Weilers).  «Landerspach,  Landerse,  Landersematten». 

Geht  auf  den  PN  Landolt  zurück. 

luki  t\  S  Ml  M  Gü  W.  i.  Th.  T  Läxmät  Mr.  Stoff. 
kennt  nur  -Lach»  M  und  «Lachmatt»  T.  Aus  dem  übrigen 
0£  hat  er  eine  Anzahl  «Lach,  Lachen,  Lachen-*  [vff  die  lachen 
1479  Folgensburg,  jn  der  lachen  1318  Riespach]  Er  erklärt: 
im  Sundgau  ist  Lachen  synonym  mit  Noden  und  bedeutet 
•  Wiesen,  Feldlachen,  Feldwiesen»  an  dem  Ablauf  eines  Weihers. 

—  ahd.  lacha  mhd.  horlacha  •  Schlammpfütze».  MA 
Jä^  f.  «kleine  Wasseransammlung». 

Layterwim  f.  B.  Stoff,  und  MTB  3668  falsch  «Lechter- 
^vand».  s.  Wdn. 

Löfalsmät  E.  Stoff,  kennt  im  OE  :  «Am  Löffel,  Löffel- 
bach, -matten,  -thal,  Löffelseben,  Löffelstiehl». 

Leimal  m.  M  «Leimel».  Ist  auf  ahd.  «linta-buhil» 
mhd.  «li  nde- b  ü  hei»  zurückzuführen,  entsprechend  den 
lautlichen  Eigenthümlichkeiten  unserer  GMA.  Erst  Fortfall  des 
e  und  des  d,  worauf  das  übrigbleibende  h  das  n  in  m  um- 
wandelte; dann  Fortfall  des  6,  und  als  Ersatz  dafür  Di  phthon- 
gisierung  des  Vokals;  am  Ende  des  Worts  Verflachung  von 
b  üh  e  1   in   pal. 

Aehnlich  leitet  Arnold  «Steimel»  ab,  =  «SleinbühU. 

Liöi'waltäl  Ml,  Läiwalspä  B.  Wohl  für  Letzteres 
hat  Stoff,  ein  sonst  unbekanntes  «Lauben»  B.  Im  OE  noch 
einige  anklingende  ON :  «Leiblesmatten»  Ballersdorf,  und  et- 
liche «Leiber,  Leiberen»  [neben  dem  leiwer  ....  ein  houeatat 
bi  dem  leiwer  h^me  13.  Jh.  Meyenheim,  am  löwer  1534  im 
leiiwer  1563  jm  Levber  1577  Riedisheim,  vff  der  leweren 
1489  a7i  dem  leewenen  1495  Schlierbach-Dietweiler,  an  des 
l^ebers  acker  1380  Orschweier,  by  dem  leüweren  ,  ^  .  vff  dem 
Leuwer  bühel  1534  Niedersteinbrunn].  Den  ON  «Lifepvre  = 
Leberau»  erklärt  Aug.  Stöber  durch  das  celtische  laib,  laibe 
•Lehm»  (Rev.  d'Als.  1854,  87  ff.). 

Lent-,  LeQ-  in:  Lentalsäkdr  B  Lental  Dorf 
«Linthal»,  [[Linthel  Lindel^  Kirchenbb.  von  M  1574  ff,.]] 
L  e  n  1 0 1 1  d  1,    das  nach    diesem  Dorf  benannte  Ende  des  Geb- 

9 


—    130    — 

Mreilerthales    [[Margreta zue    höfen    im    Linthellhal 

Kirchenb.  von  M  1577]],  Lenta  abgehender  deutscher  Name 
des  Dorfes  Le  Thillot  im  Vogesendepartement,  Le^apükal 
Stw,  LeQdwäsa  Gr.  Im  OE  eine  Anzahl  «Linden'  [alte 
Belege  stets:  linden-]. 

ahd.  linta  mhd.  linde  MA  lent  f.  «Linde». 

Lepskäs  f.  S.  Soll  auf  den  PN  «Philips^  MA  Leps 
zurückgehen. 

Löriyafalt  n.  B,  Leriyap^l  m.  Su  L^riyapari  GQ. 
•Lerchenfeld,  -buhl*.  Im  OE  gibt  es  eine  Anzahl  «Lerchen-i 
[Lerichenbet'g  1507  Altkirch,  l^rchenberg  1337  Berenzweiler, 
in  lerchenuelde  1308  Rappolts weiter,  in  lerichen  velde  14.  Jh. 
Türkheim]. 

ahd.  I^rahha  mhd.  l^rche  «Lerchei»  oder  mhd. 
lerche,  larche,  «Larchenbaum*  wofür  ahd .  1  e  r  i  h  (AA) 
vorauszusetzen  ist ;  für  beide  hat  unsere  MA  1  ^  r  i  )r  f. 

Läsaräin,    m.    Gü.    In    dieser    allein   bekannten    Form 
=  «der  Rain»  des  (PN)  Lfesar,  geschrieben  «Löscher». 
?  PN  Luitgoz? 

Letsalfail  n.  S.  «Lüizelfeil».  Im  OE  eine  Anzahl 
cLützel-»  [luzelbach  ....  lüzzelenbach  1278-1493  Rappolts- 
weiler,  lützelnberg  1489  Westhalden,  im  lüczleu  sewe  1421 
Ammerz  Weiler]. 

mhd.  lützel  «klein».  Trotzdem  ist  das  Sondernacher 
Letsalfail    verhältnismässig  recht  gross. 

Liprük  Su  «Libruck*.  Ist  aber  keine  Brücke,  sondern 
eine  Sennerei  oberhalb  des  Sulzerer  See*s.  G«ht  vielleicht  auf 
ahd.  hrukki  «Rücken». 

Li^spe  m,  Liespemäta,  Li^spsreka  Stw  «Lies- 
bach».  Stoff,  hat  das  Wort  noch  4  mal  [zer  Liespack  1279, 
liessbach  1390,  das  bei  Sanct-Apollinaris  entspringende  «Lies- 
bachbächlein»  ;  ließbachgraben  1497  Blotzheim]. 

?  ahd.  lisca  «Riedgras». 

Li^stäi  S  B,  Lifelala  Lielalakas,  Try^lie, 
K  ü  r  1  i  fe  MI ,  L  i  e  n.  L  i  ^  m  ä  t  a  (an  zwei  verschiedenen 
Stellen),  B,  Li^mat  Liematwät  Liematwäsla  Stw, 
L^la  n.  [Löhly  ....  zu  dem  löhelin  1455]  Gü-W.  i.  Th., 
Liemät  Su.  Stoff,  hat  nur  «Lögele,  Lögeleköpfle  (W.  i.  Th.) 
Löhly  (Gü)  Lehmatt  (Su). 

Mehrere  Ableitungen  möglich:  von  ahd.  hleo  «Hügd, 
Grenzhügel»;  oder  Deminutiv  von  Lyo,  Lüjr  s.  d.  W;  oder 
ahd.  lehan  mhd.  I^hen  «geliehenes  Gut». 


I 


—    131     — 

Ldöyt9X*8  m.  Siw.  «Liechtern». 

?  ahd.  licht  mhd.  lieht  «hell^  leuchtend  (gelichtet)» 
und  aran,  «pflügen,  die  Erde  behauen». 

ti  Ltiewarei,  f.  Ml.  Ob  wohl  damit  zusammengestellt 
werden  dürfen  :  «Löbere*  [an  der  I6wer  1453  Wuenheim]  und 
•Li verseile»  [lyef'erschell  1441  Markirch]  ? 

Liisames  n.  B.,  Lysp^l  Siw.  St.  «Lissermiss».  Im  OE 
ziemlich  viel  «Luss»  und  «Lussbühl» :  [vf  der  lusse  1407  Bilz- 
heim,  jm  pferren  lu8  oder  im  vsserenn  lus  1548  Brunnstatt, 
im  luhsse  ....  in  dem  Lusse  1362  Colmar,  in  der  luße 
14.  Jh.  Hattstatt,  vf  der  lus  1380  Sulzmatt,  liissebuel  1279 
Blolzheim,  Luspühel  1603  Ck)lmar,  lyßbfkhel  1507  Ensisheim, 
Laussbühl  1717  Sigolsheim]  auch  einige  «Lies-»  [zer  liesbach 
1279  lieschbach  1535  ließbachgraben  1479  Blotzheim]. 

Ob  auch  Lyspa  S  (h.  d.  W)  hierher  gehört? 

A.  Siöher  sieht  in  lys  lis,  luss  ein  keh.  Wort,  = 
Zusammenziehung  von  lu  «klein»  und  ais  «Hügel»,  in  kelt. 
MA  lus  leus  lous  luos.  Rev.  d'Alsace  1872,  510  ff. 
—  Das  Wort  kommt  auch  im  Unter-Elsass  vor  :  [[am  lusebuhel 
1348  Tieffenbach  im  Weilerthal]]  (aus  einem  Kaufakt,  mitge- 
teilt in  Th.  Nartz  :  Le  Val  de  Vill6,  S.  224). 

Lit  f.  und  n.,  als  GN  nicht  mehr  gebräuchlich,  als  ON 
immer  auf  ausgedehnte  Halden  oder  breite  Bergabhänge  gehend  : 
am  Lit,  Litaäksr,  Sümarlit  Ml,  Prdtlit  M, 
Wäitarlit  B,  Arslit  Litäkar  E,  Älit,  Pfäflit  Su, 
üf'tor  Lit  Stw.,  Wentarlit  H-Gfi  [an  den  Uten  i^] 
Stak  lit  W.  i.  Th.  [in  stekkenliten  13.  Jh.,  vnder  stecken^ 
Ute  1452]  und  Wasserburg,  Hölit  T  [an  hohen  Uten  13.  Jh.J 
StofT.  gibt  diese  Namen  mit  «Litt,  Litten,  Sommer-,  Brand-, 
Winter-,  Ehrsch-,  Ah-,  Pfaff-,  Stecklitt  wieder».  Ausserdem 
hat  er  noch  eine  Anzahl  «Litt,  Litten»,  einfach  oder  in  Zu- 
sammensetzungen :  [vff  dei*  Utten  1421  Buetweiler,  an  der 
Uten  1453  Bühl,  an  der  Leuthen  1551  Sennheim,  an  der  Ute 
1328  Sigolsheim,  in  Uta  1272  Sulz,  in  der  litten  1441  Zim- 
mersheim]. 

ahd.  hlita,    Uta  mhd.  lite   «Bergabhang,  Halde*. 

Liitslaslüx  n.  Stw. 

LiOipä  m.  Su  «Laubbühl». 

?  ahd.  loub  mhd.  loup  «Laub»;  oder  der  PN  «Lau» 
MA   Loi? 

LiOiyariet,  Loiyaraijk  pl.  S,  Loiya  m.  Linthal- 
Lautenbach.  Im  Gebweilerthal  spricht  man  L ä  i a / a  La i a  y  9, 
mit  stark  gutturalem  y.   «Lauchen»  [jm  lauchen  ,  .  ,  in  lochen 


—    132    — 

1496.]  Die  am  «Lauchenkopf»  (bei  uns:  Kl^nskhopO  ent- 
springende «Lauch»  heisst  [Loffichia  .  .  .  Loffcia  .  .  .  Lor- 
faha  728  Lauf  aha  8i7  apud  aquam  Louchach  1259  an  der 
Lochen  1369,  u.  s.  w.] 

Aug.  Stöber  (Rev.  d'Al».  1854,  87  ff,)  erklärt  da$  Wort 
durch  walo-celtisch  Clwch  «Fiuss,  Zusamnienfluss»,  und  fährt 
noch  an  :  I  o  u  g  h  im  gaelo-celtischen  «Sumpf»,  loch  1 1  w  c  h 
im  walo-celtischen  «See»  bedeutend. 

Lotd  f.,    als  GN  =    «(schlechte)    Hütte  aus    Reisig  oder 
Brettern»,  im  ON  Sälpietarlots  M. 
?  ital.  1  0  g  g  i  a . 

liOX  n.  in:  Khölaloy  S,  Otarlo}^  Hü^arlo^r 
Lo)fmes  Su,  Holoy  Stw.  «Olterloch,  Hunger-,  IxK:hmi.ss». 
Im  OE  viel  «Loch,  Loch-,  Löchlein»,  die  teils  zu  ahd.  loh 
mhd.  loch  «Verschluss,  Gefängnis,  verborgener  Aufenthalts- 
ort, Höhle,  Loch,  Oeffnung»,  teils  auf  ahd.  lö  loh  mhd. 
looch   gehen  dürften.  S.  Lyoy  und  L  ü  n. 

Luierspa  m.  \V.  i.  Th.  (-Gü)  St.  »Luefersbach«.  [Wemher 
de  Rothe  von  Luuersbach  13.  Jh.,  u.  luoverspach  .... 
luverspach  ....  Itiofersbach  1278-1493,  pn  l^fferbach  1452 
lüferspach  1456,  vor  am  Lüferspach  zu  Gunspach  1472]. 

-lün  in  Pvdylün  Su.  «Buchlohn».  Daneben  hat  StolY. 
noch  einige  «I^hn,  -lohn»  :  [lonpach  1418  Rimbach-Zell,  Ion- 
graben  lograben  15.*fö  Obermichelbach,  im  lungen  lo  1361, 
;m  langen  Ion  1374,  am  langen  Idn  1489  Fislis-Bettlach]. 

lün  ist  dat.  pl.  von  ahd.  mhd.  lö  loh,  welches  «Wald, 
Gehölz»  bedeutete.  Bei  den  hessischen  ON  erscheint  dieser  dat. 
pl.  in  vielen  Formen.  Ein  Buhlen  bei  Waldeck  wurde  ge- 
schrieben :  Buohloha  850,  Buoclohon  1074,  Boclon  1126,  Bulon 
14.  Jh.  (Arnold,  Ansiedelungen  u.  s.  w.,  117.  119.  ün>er 
P  y  e  y  1  ü  n  =r=  daher  «Buchwald- .   S.  L  y  o y . 

Lüntap^l   (L  ü  t a  pe  1  ;    GMA   L  ü  t  a p  6 1)    zwei    Senne- 
reien unweit  des  Honeckkopfes.    Tit^lüntapel,  ein  Doppel- 
wasen,  liegt  in  der  Gemarkung   von  Stossweier,  Waislütepe  1 
(franz.  Montabey)   liegt  jenseits  der   Grenze.    —    Lütapä 
Su.  —   «Deutsch-Lundenbühl,   Lundenbühlrein.    Lundenbach>. 

LykSTvarp    f.    M    «Luxwerb».     Daneben    noch    einige 
Lux-»  im  OE  [ob  dem  lovcchsberch  1278-1493  Walbach]. 

?  ahd.  mhd.  luhs  MA  lyks  »Luchs»;   oder  PN  «Lukas. 
MA  Lyks. 

Lyoy,  Lyo,   Lüy,  Lü,  n.  Ml  M  B  L  Stw  [zu  Loch  . .  . 
zue    lochen    1339]    Hfelwarlyo    S    Lyoymatla    Lyokas 


—    133    — 

Pr^illyo  M,  .Ranilü;r  Litslasluy  Stw.  «Looch,  Loh- 
matt, Breitlau,  Helberloh,  Remloch».  Ausserdem  gibt  Stoff,  eine 
Anzahl  «Loch,  Loch-»  aus  dem  OE  [zue  looch  .  .  .  zue  lauch 
18.  Gebweiler]  und  einige  «Loh,  Loh-»  [in  der  lochen  1537 
Sennheira]. 

ahd.  mhd.  lö  loh  n.,  welches  in  Hessen  (in  vielen  Ab- 
stufungen und  Abschleifungen)  so  liäuüg  vorkommt  dass  W.  Ar- 
nold (S.  117-119)  es  geradezu  zu  einer  der  uralten  Bezeich- 
nungen für  «Wald,  Gehölz«  statuirt.  Siehe  Lün,  Pyeyiün) 
—  Für  einzelne  ON  könnte  man  auch  mhd.  lochboum  «ein- 
gekerbter Baum»  (zum  Bezeichnen  einer  Grenze  oder  des  Stehen- 
bleibens) von  ahd.  lahha  «Einhieb»  heranziehen;  «Loch, 
Loche»  war  im  mhd.  geradezu  ein  «Grenzbaum»,  sogar  ein 
« Grenzgraben».  — 

Lyspe  m.  Lyspapürne,  Lyspawasla  S.  Vgl. 
L  i s  am  es. 

Lytapä  n.,  M-Ml  und  (das  DorO  •Lullenbach»  [Luten- 
back ,  1120 ,  Litten  bah  .  .  .  Lutinbah  13.  Jh. ,  Lutembach 
1456,  Lautenbach  16.  Jh.]  [[Lauttebach,  Lautebach  Kirchenbb. 
von  M  1574  ff.]]  Stoff,  hat  aus  dem  Oberelsass  noch  einige 
gleichnamige  ON  [vnder  der  lutenbach  1453  LinthalJ. 

ahd.  hU  (hlüt,  hluda)  mhd.  lut  MA  lyt  «laut,  laut- 
tönend» ;  der  «lautende  Bach». 


91. 


Mäk'äispari  Su,  « Mageisberg».  Vom  FamilienN  -Mägei, 
Mägey»,  der  im  Thal  vorkommt. 

Mänspari  m.  Su  [am  Mannsperg  .  .  .  mansperg  1456] 
«Mansperg»^  Im  OE  3  «Mans-»  [Manspach  1151  «das  Dorf  M», 
Mansperg  1569  Niederburbach]. 

?  PN  Manno. 

Mäntik  m.  Stw  «Montag».  Im  OE  noch  4  andere 
[möntag  weg^  mentag  weg  1573  Nieder muespach],  —  « Montag i, 
n.,  ein  ehemaliges  Flächenmass. 

Mariepürna  M.  Mariaho'f  B.  Stoff,  hat  15  «Maria, 
Marien-». 

-Mät  f.,  kommt  äusserst  zahlreich  vor  Metle  Lyo- 
matla  Tornämäta  Eimapämatld  Mörlasmät  Wit- 
mäta  Slifmät  PfyülmätRosmätPaymätau.  s.  w. 
allein  in  M.   Die  in  den  anderen  Gemarkungen  vorkommenden 


—    134    — 

Mäta  aufzuzählen  ist  unnöthig.  Es  sei  nur  bemerkt  dass  das 
Eschbacher  Mätia  hierher  gehört,  und  nichts  mit  i Mittlach* 
zu  thun  hat,  wie  Messtischblatt  3660  falschUch  schreibt  und 
Stoff.,  neben  dem  richtigen  «Mattlein»  auch  noch  will.  Beleg 
nur  für  Pr^itmäta  S  [de  agris  apud  breitenmatun  13.  Jh. 
ze  Breitmatten  1339].  Im  OE  viel  «matt,  -matt»,  u.  s.  w., 
l'W att^  -mattey  -mettlin]. 

mhd .  mate,  malte  «Wiese» .  Unsere  MA  kennt  nur 
das  einzige  Appellativum  mät,  f. 

MatsarM  n.  [a  villula  que  Mezerol  dicitur  817  Meterol 
824  Mecerol  12.  Jh.,  Macerol  13.  Jh.  de  Mezzerol  ...  in 
Mezerol  ,  .  .  de  Mizirol  ...  in  Mezzeräl  13.  Jh.  Metzeral 
1408]  [[Metzeral  Metzerall  selten  Metzer ahl  Metzral  Kirchenbb. 
von  M  1574  ff.]]. 

?  PN  Mazo.  —  Arnold  leitet  die  in  Hessen  zahlreich 
vorkommenden  ON  mit  Metz-  von  ahd.  mezan  meizattj 
•schlagen,  metzgen»  ab,  und  denkt  dabei  an  heidnische  Opfer- 
plätze. —  Ob  bei  der  Endsilbe  an  ahd.  äl  öl  «Sumpf«  zu 
denken  ist? 

M^iersp^l  S  Mäidrsprü/  Su,  Meiarhöf  M  [zu 
fronhoff  1456]  [[der  Meyer  vffm  Hoffe,  vffm  fron  hoffe^  fron- 
hoff 1574-1600,  auff  dem  Meyerhoff  1668,  landspurgischer 
Meierhof  1716  Kirchenbb.  von  M]]  Mäiarhoft  Gr.  «Meyer- 
bihl,  Meyersbrochen,  Meyerhof».  Im  OE  30  «Meyer-  Meyers-« 
[in  Meyersberg  1492  Hohenrodern,  bi  dem  yneiger  tunjie 
13.  Jh.  Meyenheim]. 

ahd*  meior,  meier  mhd.  meier,  meiger  «Bewirt- 
schafter,  Pachter,  Oberaufseher  eines  Gutes». 

Meliyrüs  m.  S  «Milchrunz». 
ahd.  miluh  mhd.  milch. 

M^lm^t  Ml  M  E  H  M^lmäta  Haim^l  Gü,  MeU 
akarM,  M^lwält  Wasserbg.  Stoff,  nur  «Muhlmatt».  Im 
OE  eine  Unzahl  «Mühle,  Muhl-,  Mühlbach  [alte  Belege:  mühl-, 
mullin,  7nüllen--j  mit,  miel,  mulli,  mühle], 

ahd.  muli   mulin,  mhd.  mül    müle. 

Mebsia  m.  Su.  «Mülmen».  MTB  3660  falsch  «Mulwen- 
wald». 

Melpe  n*  das  Dorf  «Mühlbach»  [[ad  Melin  ecclesiam  S9^]] 
[capella  ad  Mulebac  1057-1072  ...  ad  amnem  qui  muleback 
nominatur  13.  Jh.,  Albret  de  Milbach  13.  Jh.,  die  zelte  zu 
Mühlbach  1339,  Mxilebach  1407,  Mulbach  1456]  [[Mülöach, 
einmal  Milbach,  Kirchenbb.  v.  1574-1600]]. 


—    135    — 

?  ahd.  muH  mwh'n,  mhd.  mül  müJe,  —  Die  hessischen 
ON  Miehien  [Milene  1132  Milen  1326]  und  ähnliche  be- 
treffend, verweist  Arnold  auf  das  keltische  melin  «Mühle»; 
irgendwelche  Erklärungen  im  Deutschen  seien  kaum  zulässig  (?). 

Meni/pari  Mr  [apud  munchenberg  13.  Jh.  «Münch- 
berg». 

Im  OE  viele  einschlägige  ON  [M^nchhusen  1250  Ensis- 
heim,  Munickhoven  1458  Niederaspach]. 

ahd.  munich   mhd.  münch,    mönech   «Mönch*. 

Menster  n.  (Maistar  in  GMA),  die  Stadt  «Münster», 
die  ihren  Namen  vom  monasterium  oder  Kloster  erhalten 
hat,  welches  um  das  Jahr  660  am  Zusammenfiuss  (C  o  n- 
fluens)  der  beiden  Haupt-Thalbäche  enstand.  [ad  monaste- 
riolo  Confluentis  673,  ad  manasterio  sancti  Gregor ii  ,  ,  .  in 
ipso  monasterio  Confluentis  141^  u.  s.  w.,  Gerhardt  militis 
de  Munster  13.  Jh.  .  .  .  Münster  in  sant  Gregoriental  1339 
Clara  de  Münstre  14.  Jh zu  Monstern  1524,  u.  s.  w.] 

Menätartäl  (Mä  j  std  rtäl)  das  «Münsterthal»  [in  valle 
Sancti  Gregorii  1235,  vallis  sancti  Gregorii  13.  Jh.,  in 
Münstertal  1339,  Monsterthal  1434,    Vaux  de  Monstier  1594]. 

—  Maistarmät,  MI.  M^istörwai   M   Men^tarwäi  Gü. 

—  ahd.  klang  das  lat.  Wort     munustiri   munustri   mhd. 
m  ü  n  st  e  r. 

In  der  romanischen  MA  der  Bewohner  von  Ober-  und 
Niederhütten,  im  oberen  Kaysersbergerthal,  hat  man  zur  Be- 
zeichnung von  «Münster»  den  Namen  Wormat^i.  S.  Schluss- 
bemerkungen Nr.  7. 

MSrlesmät  M.  Stoff,  hat  nur  «Merle  ....  Märleweiher 
Öderen,  und  «Merlerunz»  Ober-Ürbeis. 

M^rtsäkar  Mr,  M  e  r  t  s a  p  r  ü  n  9  Gü.  Im  OE  über  ein 
Dutzend  «Merzenbrunnen»  [uf  mertzen  brünlin  1471,  bi  dem 
merzelburnen  14.  Jh.  Zimmerbach ,  zu  mertzenborn  1488 
Wettolsheim]. 

?  ahd.  marzio  mhd.  merze  «März». 

?  oder  PN  Meginhard, 

Mes  f.  Häiwalmes  Fryomes  Lätimes  R6t- 
Idsmes  S,  firalmes  (firlames)  Rüntmes  Khük- 
lä^t^^^s  P6st(o)mes  Khäl  warmes  Witamesla 
Lä^kmes  MI,  Lisamfes  Hämalmes  Nüiwäimes 
Aftarmes  B,  Ferstmes  MI-La  Bresse  [fursztmusz  1594], 
Mysmes  Präitmes  Loymes  Myrholtsmes  Por- 
matsmes  ti  Mesa  Su ,  Hüntsmes  E  Präitmes 
Hüntsmes    Tsantnarsmes   Stw. 


—    136    — 

Bei  Stoff.,  soweit  er  diese  ON  hat :  «Eibelmis,  Fro-  Erlen- 
Breitmiss»,  u.  s.  w.  Er  hat  weiter  noch  über  ein  Dutzend  «Miss, 
-misse»  [die  hinder  miecz  1550  Ranspach,  Missmath  1567 
Rimbach ;  inn  ein  TobeU,  ist  ein  mosz  oder  Riedt,  haist  die 
rote  Miesz  1550  Krülh]. 

mhd.  mies,   moos,    mos,  MA  mes    «Sumpf». 

Metelpari  M  H  Metalp^l  Su  E  Metalpe  Gr.  Stoff. 
Citat  [de  prato  in  Mittelbach  13.  Jh.  B]  dürfte  auf  einen  «Mittel- 
buhl»  in  B.  gehen,  der  jetzt  verschollen  ist,  aber  noch  im 
Taufbuch  von  1712  vorkommt.  «Mittelberg»,  -bohl,  -bach».  Im 
OE  sonst  noch  recht  viel  «Mittel-»  u.  s.  w. 

ahd.  mittil  mhd.  mittel,  adj.  «in  der  Mitte  be- 
findlich». 

Metara  m.  Su,  «Mittern». 

Metlä  n.,  Annexe  von  MI  (&.  A). 

M  etl  9wält  Su,.  «Mittlach»,  «Mittelwald». 

Daneben  im  OE  noch  «Mittlachmühle»  zue  Mittelach  1302 
ze  Mittela  1371  Mittlo  1480  Colmar]  und  «Mittelaue»  [mittel  ow 
1516,  die  mittel  auw  1547  Dammerkirch]. 

ahd.  mittil   mhd.  mittel  *m  der  Mitte  befindlich». 

Maxalmätri^s  m.  S  Meyalmyr  Meyalmät  f.  Stw. 
[in  michelen  gernure  13.  Jh.]  «Michelmattrunz,  Michelmur». 
Daneben  hat  Stoff,  noch  etliche  «Michel-»  [Michelbach  1105 
Michlenbach  bi  tanne  1460  das  Dorf  dieses  Namens  ;  niicheU 
velt  1265  Sankt-Ludwig;. 

michel    mhd.  ahd.  «gross». 

Mishäimla  n.  Su,  Stoff,  und  MTB  3660  falsch  -Miss- 
heimle», mit  SS  oder  kurzem  t. 

?  M.\  mis    pl.  von   mys   «Maus». 

Mokaäkar  B. 

?  MA  moka  m.  =  «Brocken,  grosses  Stück»  l)ezw. 
«Erdscholle». 

Morts,  ausser  Brauch  kommender  Name  von  Le  Valiin, 
nördlich  von  der  Schlucht,  im  französ.  Departement  der  Vogesen 
[[MoriSj  MortseCy  von  Morlsen  Kirchenb.  von  M.  1574  ff.]] 
Mortskc^s   Stw.,    Hohlgasse  in  der  Richtung  von  Le  Vallin- 

Morts. 

Miilt  f.  M.  Eine  tiefe  Stelle  in  der  Fecht. 
mhd.    mulde   «ausgehöhltes  Gefass» ;    MA    mült    »Bix)d- 
mulde". 

Müslaspari  Slw\  [Curia  Muschardi  13.  Jh.]  «Musch- 
lesberg». 


—     137    — 

MyoresprÜTjk  m.  B.,  «Morenspning».  Im  OE  einige 
•Moren-»  [Marren-  Morenveldt  1568  Sondersdorf,  Mohren-Feldt 
1605  Wiltenheim,  gen  Morsote  1489  Herlisheim]. 

MA  myor  f.  .  «Multerschwein,  Zuchtsau»  mhd.  möre 
(eijrenll.  «schwarze»  von  maurns)  «Sau». 

Myr  (üf  ter)  S,  uf  am  Mirla  n.  S,  ti  Wismyr  Ml, 
W  i  s  m  y  r  S-Linthal,  M  e  y  a  l  m  y  r  f .  '  Ijn  michelen  gemure 
13.  Jh.]  Käl  eism  yra  Ali  km  y  r  a  Reqkmyr  Stäinmyr 
Slw,  M  y  r  p  ä  M  y  r  h  o  1 1  s  m  e  s  Su.  Bei  Stoff.  ■  VVeissemauer, 
Michel-  Ellig-  Steinmur  Murhach  und  falsch  «Miihlholzmiss» ; 
für  letzteres  schreibt  auch  MTB  3660  falsch  «Missholzmiss». 

—  ahd.  raura,  muri  mhd.  mure  mi\r  «Mauer».  Unser 
MA  myr  f.  bezeichnet  auch  die  naturlichen  Steinwälle  und 
Sfeinanhäufungen. 

Myrlospari  m.  Su  «Murlesberg». 

Mysmes  f.  Su,  «Musmiss».  In  Oberhütlen  «Manis»  j?e- 
nannt,  weshalb  Stoff,  für  letzteres  falsch  einen  besondern  Ort 
statuirt.  Vgl.  M  is  h  ä  i  m  1  a. 

Myür  (am),  M  y  ü  r  a  1  o  y  M,  M  y  u  r  m  ata  B  [hedina  de 
prato  mure  13.  Jh.]  Meärmäta  W.  i.  Th.  [jn  den  mttren 
1462]  Myürapä  S.  «Morbach,  Morenloch,  Muer,  Muermatten». 

—  Vgl.  GMA  Myiirfalt  das  «Moorfeld»  der  Gemarkung 
Lauten bach-Zell  [morchenfelldt  1550] ,  welches  fast  überall 
falsch  «Mordfeld»  jiesch rieben  wird. 

Sloff.  hat  einige  «Muer,  Muer-»  [im  Mver  1538  Betten- 
dorf, in  dem  mure  1421  Carspach,  im  mur  ....  mcr  1489 
Sulzmatt]. 

mhd.  muor  «Sumpf»;  ebenso  MA  m  y  ii  r,    müär. 


X. 

Einige  Bemerkungen 

znr  schriftstellerischen 

Behandlung    der   Mundarten 

durch  Beispiele  aus  dem  Münsterthäler  Dialekt 

erläutert  von 

J.   Spieser. 

I. 

V  iele,  meist  einsilbige,  Wörter  nehmen  in  unbetonter 
Stellung  im  Satze  eine  kürzere  Form  an,  indem  lange  Selbst- 
lauter verkürzt,  doppelte  vereinfacht,  kurze  zu  9  verflüchtigt, 
und  Endbuchstaben  abgeworfen  werden.  Da  es  mir  scheinU 
dass  diese  Thatsache  von  manchen  mundartlichen  Schriftstellern 
nicht  immer  genügend  beachtet,  und  vielfach  die  volle  Form 
für  die  abgestufte  gesetzt  wird,  so  halte  ich  es  nicht  für  über- 
flüssig, einmal  darauf  hinzuweisen,  indem  ich  ein  Verzeichnis 
der  Wörter  gebe,  die  in  meiner  heimatlichen  Mundart  obigem 
Gesetze  unterliegen. 

aem,  am  ihm ;  an,  ä  an ;  aen,  e  in ;  aena,  *  na  i/in,  ihnen ; 
ar,  ar,  ar  er;   as,  s*  es  (nom.) ;  amyol,  amol  einmal;  er,  er. 


1  Jeder  Vokal  Tor  m,  n,  I)  ist  nasiliert,  d.  h.  die  Oeffinung 
des  Gaumensegels,  die  bei  diesen  Lauten  stattfindet,  tritt  schon  beim 
Einsetzen  des  Vokals  ein,  was  besonders  bei  langen  Vokalen  dentlicb 
zu  kören  ist.  Bisher  habe  ich  diese  Nasalierung  nach  dem  Vorgehen 
Mankels  nnbezeichnet  gelassen,  hier  bezeichne  ich  sie  bei  langes 
Vokalen. 

2  Nach  Yoransgehendem  s  «es»,  z.  B.  was  es  mäyt;  mä^t  s  at  ? 
ploys  es! 


—    139    — 

ar  ihr  (1.  dat.  sing.  2.  nom.  plur.);  ^r,  er  ihr  (pron.  poss.); 
es,  s*  es  (acc);  fän,  fä  von\  P^r,  fer  für;  för,  for  vor;  haimer, 
hani9r  haben  wir;  hiets,  hets  jetzt;  1%,  i,  1.  ich  2.  euch;  jyo, 
jo  ja;  kaimar,  kamar  geben  tmr ;  ki^,  k^  i.  gehen  2.  gen; 
kyüt,  kül*  gfwt ;  ni6r,  mer,  mar  1.  mir  2.  lütr ;  mi,  mi  meiny  e ; 
miesa,  mesa  mu88en  ;  mix,  '^i  mich ;  n^i,  n^i,  n^  nein ;  nyo, 
no  nac^;  pär,  pär  Paar;  päs,  päs  Tante ;^  pi,  pi,  pa*  6^-; 
sai,  sai  segne ;  sdeimar,  ssemar  sind  wir ;  •  s^,  se,  sa  sie ;  sj, 
si  S6tn,  e ;  si^,  si  stcfi  (acc.) ;  so,  so  sa  so ;  täna,  tana  diesen 
(acc.  s. ;  dat.  pl.);  tär,  tar  dieser  (nom.  m. ;  dat.  f.);  tör,  ter, 
tar  dir;  tarnyo,  tamo,  no  darnach^  dann  ;  ti,  ti  dein,  e;  tie, 
te  diese ;  ti^,  ti  dich ;  tsyü,  tsü,  tsa  zu ;  türiX>  ^ur  durch ; 
ly,  ty,  ta,  — ,*  du;  tyo,  to  da;  ün,  ü,  a*  und;  iis,  as  uns; 
waimar,  wamar  wollen  wir ;  w;pna,  waena  wen ;  was,  was  was ; 
w^r,  wfer  wer;  wie,  we  wie;  wyii,  wu  U'o,  a^s.  Vergl.  ferner 
die  Zahlwörter  4 — 19  in  Mankels  Arbeit  in  den  Strassb.  Studien 
II,  S.  136. 

II. 

Wenn  man  sich  nach  der  landläufigen  Art,  in  der  Mundart 
ru  Schriftstellern,  einen  Begriff  machen  wollte,  wie  das  Volk 
wirklich  spricht,  so  wurde  man  nicht  nur  in  lautlicher  Hin- 
sicht irre  geführt,  sondern  man  bekäme  auch  vom  ganzen 
Wortschatz  und  namentlich  vom  Stil  der  Mundart  ein  falsches 
Bild.  Fast  überall  merkt  man  es  den  Verfassern  an,  dass  ihr 
mundartliches  Sprachgefühl  durch  die  in  der  Schule  erlernten 
Schriftsprachen  getrübt  und  verdunkelt  worden  ist,  so  dass  sie 
auf  Schritt  und  Tritt  Ausdrücke  und  Wendungen  gebrauchen, 
deren  sich  der  Mann  aus  dem  Volk,  der  in  seiner  Mundart 
lebt  und  webt  und  sie  unbefangen  und  ohne  gelehrte  Beein- 
flussung spricht,  nie  bedienen  wird.     Da   begegnen  dem  Leser 


1  Siehe  Anmerkung  2  auf  vorhergehender  Seite. 

2  Z.  B.  küt  läw08  mky9  spielen,  küta  moxjo !  u.  s.  w. 

« 

s  Veraltet,  z.  B.  ti  päs  Anamei  die  Tante  Annemarie,  «päs»  nennt 
jetzt  meist  nur  noch  das  Gesinde  die  Herrin. 

*  Z.  B.  pe  tsite  früh, 

^  Vergl.  Mankel  a.  a.  0.,  S.  137  unten. 

«  In  den  Redensarten  hälwe  hMp,  khisa  pryot,  kbas&  ärt^pfel, 
knala  fäl,  pi  liwa  Uwe,  pi  weine  water,  swärtsi  hywo  hMslüp  (Haube 
und  Halstuch),  t&ke  nä/,t,  ts^i  kritse  fatse  (ganz  zerrissen);  achte 
dabei  auf  die  Veränderung,  die  dieses  e  im  vorhergehenden  Wort 
bewirkt:  hälw  für  hälp,  liw  für  lip,  wein  für  w«it,  hyw  für  hyp, 
t&k  für  t&. 


—    140    — 

mit  geringer  Laut  Veränderung  Wörter  wie  also,  allmäh- 
lich, bekanntlich,  bedeutend,  sofort,  in  der 
That,  hof  fentlich  u.  s.  w.  u.  s.  w.  nicht  bloss  auf  jeder 
Seite,  sondern  zuweilen  fast  auf  je'^^r  Zeile,  von  welschen 
Fremdwörtern  ganz  zu  schweigen.  Einigermassen  lässt  sich 
das  nun  damit  entschuldigen,  dass  es  überhaupt  einem  Ge- 
bildeten schwer  wird,  beim  Gebrauch  der  Mundart  derartige 
Wendungen  des  Schriftdeutschen  ganz  zu  vermeiden. 

Diese  Beobachtung  veranlasste  mich  seinerzeit,  mir  eine 
Sammlung  von  Beispielen  anzulegen,  wie  in  der  Mundart 
meiner  Heimat  derartige  Wörter  und  Wendungen  wieder- 
gegeben werden.  Die  Sammlung  hat  zwar  bisher  nach  keiner 
Richtung  irgend  weiche  Vollständigkeit  erreicht ;  da  ich  aber 
in  absehbarer  Frist  nicht  in  der  Lage  sein  werde,  sie  erheblich 
zu  vervollständigen,  so  ziehe  ich.  vor,  sie  in  ihrem  lücken- 
haften Zustande  zu  veröiTentlichen  in  der  Hoffnung,  da&s  viel- 
leicht der  Eine  oder  Andere  dadurch  veranlasst  werde,  in 
diesem  Stück  selbst  zu  beobachten  und  zu  sammeln.  Ich  be- 
merke noch,  dass  die  hochdeutschen  Ausdrucke  sich  keines- 
wegs durchgängig  oder  auch  nur  grösstenteils  mit  meinen 
mundartlichen  Uebertragungen  genau  decken.  Um  den  Umfang 
und  Inhalt  dieser  letzteren  fest  abzugrenzen,  wären  zahlreiche 
Beispiele  notwendig,  was  aber  hier  der  Raum  verbietet  und 
mein  Zweck  nicht  verlangt. 

Da  der  Wortton  bei  den  folgenden  Ausdrücken  weder 
gleichgiltig  noch  selbstverständlich  ist,  so  bezeichne  ich  ihn, 
und  zwar  nach  dem  Vorgang  vieler  Phonetiker  mit  einem  über 
die  Zeile  gestelhen  Punkt  vor  der  Tonsilbe. 

Allerdings  frili ;  allmählich  nyot-nyo;  allzusehr  -trewar- 
newar,  tsyü  fä§ ;  als  Jüngling  {Jungfrau)  'letjarwis ;  also, 
folglich  wion  'sal  e§,  e  'tarn  nyo,  üf  -tie  ärt,  tar'nyo,  waia 
•tam ;  auf  der  Stelle^  sofort  kli/,  'äsafäs,  aj-n^tarnyo,  pletsli, 
ilas ;  auf  jeden  Fall  'älawäi,  S9  kawes  [se^or]  äs  -epas,  üna 
•fälar,  'älamyol,  s  -fält  si  nel;  aufs  Geradewohly  üf  wyolkd- 
•ryot;  aufs  neue  üf 9  'nüis,  Ufa  fress;  aufwärts^  in  die  Höhe 
•ewarsi ;  augenscheinlich  oik'sinli ;  bedeutend  äs  fepas  "es,  äs 
tar-wärt  es ;  beinahe  sa  fil  äs  'fepas,  sa  fil  äs  'nit,  tsa  raya, 
fäs,  fäs-kär;  bekanntlich  jo,  nöy  t ;  besonders  forä,  nä'kär; 
bestimmt  sa  kawes  äs  'epas,  i/  terf  'r^ta ;  bistüeilen,  hie  und 
da  tän  at  -wän,  äl'myol,  älmol  a  'tyr ;  damals  "salmyols; 
da7*um  waia  'tarn;  dennoch  feinawui  ;  direkt  aeis-ka^ks; 
durchaus  rünt-ys;  etwas  {gross)  -wyol  (-kryos) ;  fortivährend 
ä  äim  'stek ;  gegen  Ende  des  Jahres  -nystsyii;  -nyswärts ; 
gegenwärtig  'täto ;  genau  kvdiy  üf  ta  "tüpfa;  geschweige 
farkswika;  gezwujigenerweise  ev/dT'  inäyi;  gleichgiUig  •apila»^, 


—    141    — 

'aejtyün ;  grossenteih  fil ;  hauptsächlich  s  miörst ;  heimlich 
«m  far'stfekta,  näwa'nys ;  hoffentlich  epa ;  iminer  noch  nicht 
•als  nä  net ;  in  der  That  'sal  es  'wyor;  in  diesem  Fall  waen 
•las  ['salj  e§  ;  iii  gewissem  Sinn  üf  '»i  ärt ;  je  nach  dem  -nyo 
tarn;  kaum^  schwerlich  'kheimarli,  'pli^sli,  'plüt  ü  -pli^sli, 
s  neem  mi'wötar ;  kürzlich,  neulich  'kasnük ;  lauter  'itli ; 
manchmal  ma^myol,  älmyol,  'älkapot,  älmol  9  'tyr ;  mög- 
licherweise, vielleicht  khä  -sa^,  s  khsent  [khä]  ka-ryota,  taqk- 
•wyol,  fviiyt ;  nach  meiner  Meinung  wie  'i^s  fai'stäQ,  'tiyts 
mi ;  nächstes  Jahr  Atarjyor ;  nati^rlich  a-myol,  sal  -§11; 
nennenswert ,  ordentlich  äs  äp9s  'eä ;  nichtsdestoweniger 
'^inawai,  waialam-tox ;  niclit  se/ir  'ne  Isa  [net  S9]  kär,  'net 
fas,  'ne  kryos ;  ob  wohl?  -wutar  -e,  kho'khä  fe;  er  pflegte 
zu  sagen  dr  *het  als  *ks^it  (als  umschreibt  das  Imperfektum 
vieler  Sprachen) ;  plötzlich  ewor  »isli  -myol ;  rückwärts 
*h£eQai*si,  (bildl.)  tahfe^a  -nä ;  scheinbar  -ti^^ts  eina ;  schliess- 
lich s  l^tSt,  am  'ant ;  schnell  'weitli,  knäl  a  'täi,  'kalaeQd, 
'täpfdr^  kswa^nt ;  so  9sö,  üf  'tie  ärt,  'täna  wäi ;  soeben  krät, 
tar*f6r,  hälwars'tsyü ;  €S(mdem^  wird  durch  Voranstellen  des 
betreffenden  Satzes  wiedergegeben,  zuweilen  blas  ausgelassen, 
z.  B.  •net  ryot,  -Swärts;  soviel  als  was;  tapfer  -retdrli ;  übrigens 
*khümt  mar  i,  was  i  'säka  wel ;  ungefähr  isB'raiXj^,  hp^,  9 
stekar  {ungefähr  4  Tage  9  iä  -ßera);  verhältnismässig  e  tar 
•sa/  nyo ;  vorwärts  fer ;  wahrscheinlich  'ife  äs  net,  'älawäi  ; 
wie  man  sagt  kawos,  frili  {er  soll  heim  gekommen  sein  9r 
•es  k9we8  [tVili]  *heim  khüma) ;  wie  mir  scheint  kloi,  Sints, 
•tiyts  nii(y);  ivie  mir  eben  einfällt  noxt. 


Druckfehler  in  frühem  Jahrg^ängen. 


Die  Druckfehler  meiner  Sprachproben  in  Jhrg.  I  sind  m 
Jhrg.  II  S.  167  aufgezahlt;  die  von  Jhrg.  II  in  Jhrg.  VI  S.  145 
verbessert.  Meine  Sprach  proben  in  Jhrg.  IV  sind  druckfehlerfrei. 
In  Jhrg.  V  S.  128  Z.  4  ist  das  i  im  Wort  «rajsd»  nachträglich 
ausgefallen,  ebenso  von  unten  Z.  6  die  Akxente  im  Wort 
Käi^,  und  S.  137  Nr.  55  hinter  cl^ia»  ein  t  (löid  t  aidra). 
Uebersehen  habe  ich  dort  auf  Seite  136  in  Anmerkung  4  das 
e,  ü,  ü  statt  9,  ü,  ü  in  ciür§a,  Süns^t,  sünSt».  In  Jhrg.  VI 
S.  145-153  ist  in  Nr.  161  das  Nasenlauthäkchen  unter  «hätal» 
nachträglich  ausgefallen,  ebenso  Nr.  197  im  Worte  sa  das  s  (müs 
sa  hieta).  Undeutliche  Zirkumflexe  stehen  Nr.  44  in  sata, 
Nr.  89  in  prötja,  Nr.  115  in  löia,  117  :  häs,  123:  rf^yiB,  132: 
w^ra,  141  :  kär,  189-196  wÄr  (mehrmals),  undeutliche  Gravis 
152:    khä,  190:  w6is.     In   Jhrg.  VII    S.  176  Z.  22    habe  ich 

irrtumlich  ctsan>  statt  cts^n»  gesetzt.     Störend    sind    die  un- 
deutlichen Akzente  in  Z.  13  in  t^\e*  und  «Is^rSt». 

J.   Spieser. 


XI. 


Mundartliche   Sprachproben 

aus  den  Dörfern 
TATiebers-weiler,    Waldhambach   und    Rosteig 

mitgeteilt  von 

J.  Spieser. 


JL/en  Stoff  zu  den  nachfolgenden  Sprachproben  verdanke 
ich  Herrn  Lehrer  Stengel  in  Dehlingen,  der  mir  seine  reich- 
haltige Sammlung  von  Sprichwörtern  und  sprichwörtlichen 
Redensarten  freundlichst  zur  Verfugung  stellte.  Um  nicht  zu 
viel  Raum  in  Anspruch  zu  nehmen,  wähle  ich  nur  aus,  was 
mir  in  sprachlicher  Hinsicht  besonders  interessant  erscheint. 
Herrn  Stengels  mündlichen  und  schriftlichen  Mitteilungen  ver- 
danke ich  auch  Alles,  was  ich  hier  über  die  Mundart  von 
Wiebers  Weiler,  seiner  Heimat,  sagen  kann. 

Was  dem  Elsässer  Beobachter  an  dieser  Mundart  wohl  am 
stärksten  auflalU^  sind  ausser  dem  eigentümlich  singenden  Ton- 
fall, die  stimmhaften  Mitlauter.  Wohl  die  meisten  Konsonanten 
sind  von  einem  schwachen  Stimmton  begleitet ;  ich  habe  dies 
in  der  Schrift  aber  nur  da  ausgedrückt,  wo  dieser  Stimmton 
ganz  deutlich  und  unleugbar  hervortritt.  Dies  gilt  in  erster 
Linie  vom  stimmhaften  s-Laut,  der  auch  in  Norddeutschland 
im  An-  und  Inlaut  regelmässig  gehört  wird,  und  den  die 
Orthoepisten  ziemlich  einstimmig  für  mustergiltiges  Deutsch 
verlangen.  Er  unterscheidet  sich  vom  süddeutschen  s  (und 
norddeutschen  %  ff  und  d),  das   ein  blosser  Geräuschlaut    ist^ 


—    144    — 

durch  das  Mittönen  der  Stimmbänder.  Es  ist  der  Laut,  der 
niederländischem,  englischem  und  französischem  z  zukommt. 
Da  in  unserer  Lautschrift  für  den  Doppellaut  des  schriftsprach- 
lichen z  «ts»  steht,  so  wird  ausser  der  Gewohnheit  der  Leser, 
unter  z  ts  zu  verstehen,  dem  Gebrauch  dieses  Zeichens  für 
stimmhaftes  s  nichts  im  Wege  sein.  Auch  stimmhaftes  9cfc, 
franz.  j,  im  Folgenden  durch  2  bezeichnet,  wird  deutlich  ge- 
hört in  Wörtern  wie  iwarzi^  aufwärts,  füri^iyr  vorwärts. 
Ob  auch  die  stimmhaften  Verschlusslaute  &,  d,  g  vorkommen, 
habe  ich  nicht  zu  entscheiden  vermocht.  Ich  gebrauche  daher 
einstweilen  wie  in  den  übrigen  Dialektproben  die  Zeichen  p. 
ty  k  für  die  Verseht usslaute  ohne  nachstürzenden  Hauch,  d.  b. 
für  die  süddeutschen  6,  d,  g  ;  und  p/i,  th,  fe/i,  für  die  Ver- 
schlusslaute mit  nachstürzendem  Hauch,  die  man  gewöhnlich 
im  Deutschen  unter  den  einfachen  Zeichen  />,  t,  k   versteht. 

Mit  1  bezeichne  ich  ein  1,  bei  dem  die  Zungenspitze  nicht 
am  obern  Zahnfleisch  anliegt,  sondern  gegen  den  harten  Gaumen 
gedrückt  wird. 

Unter  den  Selbstlautern  macht  dem  Ungeübten  beim  Nach- 
sprechen ein  eigentümlicher  Zwischen  laut  zwischen  ü  und  u 
grosse  Schwierigkeit,  der  etwa  norwegischem  oder  schwedischem 
u  nahe  kommen  dürfte.  Die  Lippen  werden  dabei  wie  })ei  u 
oder  u  gerundet;  während  aber  bei  ersterm  die  Vorder-  und 
bei  letzterm  die  Hinterzunge  in  ihre  höchste  Lage  gehoben 
wird,  geschieht  dies  bei  dem  in  Rede  stehenden  Laut  mit  dem 
mittleren  Zungenrücken.  Da  wir  für  den  Laut  des  hochdeutschen 
ü  in  der  Lautschrift  das  Zeichen  y  gebrauchen,  so  wähle  ich 
das  dadurch  frei  gewordene  Zeichen  ü  für  diesen  Zwischenlaut. 
In  Ermangelung  eines  besondern  Zeichens  setze  ich  ü  auch  da, 
wo  es,  zwischen  Selbstlautern,  zum  Mitlauter  geworden  ist  und 
sich  englischem  w  nähert. 

Zum  «singenden»  Charakter  der  Mundart  gehört  es,  dass 
gegen  Ende  des  Satzes  die  kurzen  Vokale  halblang  werden,  und 
auch  auf  die  Konsonanten  mehr  Zeit  verwandt  wird,  als  ich  es 
von  meinem  heimatlichen  Dialekt  gewohnt  bin. 

Zum  Vergleiche  füge  ich  die  lautlichen  Abweichungen  der 
Waldhambacher  und  Rosteiger  Mundarten  bei,  ohne  Rücksicht 
auf  das  Vorkommen  der  betreffenden  Redensart  in  Wh.  u.  R. 
In  der  erstem  Mundart  macht  das  r  die  schon  Jahrgang  VII 
S.  175  und  Jahrgang  V  S.  134  von  mir  erwähnte  Schwierigkeit. 
Nach  längerer  Beobachtung  bin  ich  zu  folgender  Ansicht  ge- 
kommen. Ganz  alte  Leute  sprechen  noch  wohl  überall  Zungen-r. 
Leute  von  mittlerem  Alter  sprechen  Wörter  wie  Wirt,  wird, 
Garten,  Dorf,  fort:  weot,  wa?8t,  köata,  töaf,  füat  aus, 
während  sie  wör,  rör,  rar,  pyr    (geworden,   Rohr,    rar,    Bauer 


—     145    — 

=  Pferdebesitzer,  Fuhrmann)  im  Auslaut  mit  einem  r  sprechen, 
das  nur  wenig  schwächer  als  das  Auslaut s-r  ist.  Das  jüngere 
Geschlecht  verwandelt  alle  nicht  durch  einen  nachfolgenden 
Selbstlauter  geschützten  r  in  a  oder  wirft  sie  ganz  ab.  Ja  Ein- 
zelne, und  ihre  Zahl  nimmt  stets  zu,  machen  aus  dem  r  ein 
volles  den  Wortton  tragendes  a,  vor  dem  der  Selbstlauter  zum 
Mitlauter  wird,  oder  mit  ihm  einen  aufsteigenden  Diphthong 
bildet.  Nach  dieser  Aussprache  kommt  wöa  (wüa?)  geworden 
dem  französischem  "Wort   voix    sehr  nahe. 

Wir  haben  also  hier  Gelegenheit,  einen  Lautwandel  in 
seinem  Werden  zu  beobachten,  einen  Lautwandel,  der,  soviel 
ich  sehen  kann,  durch  keine  äussern  Einflüsse,  etwa  durch  eine 
für  vornehmer  geltende  städtische  Mundart  hervorgerufen  ist, 
sondern  der  einer  innern,  in  der  Natur  der  Sprach  Werkzeuge 
liegenden  Notwendigkeit  folgt  und  denen,  die  ihn  mitmachen, 
nicht  zum  Bewussisein  kommt,  (vgl.  z.  B.  dasselbe  Schicksal 
des  r  im  Englischen).  Man  wird  daher,  weil  die  Mundart  noch 
in  der  glücklichen  Lage  ist,  sich  von  innen  heraus  ungestört 
fortzubilden,  wenigstens  in  lautlicher  Beziehung  nicht  wie  in 
meiner  Heimat  die  Sprache  der  Alten  als  die  für  den  Ort  be- 
zeichnende darzustellen  haben,  sondern  eher  die  des  jungem 
Geschlechts.  Darum  lege  ich  diese  im  Folgenden  zu  Grunde, 

Von  der  Rosteiger  Mundart  will  ich  hier  nur  die  eine  Er- 
scheinung besonders  hervorheben,  die  ich  auch  anderwärts 
schon  häußg  bemerkt  habe,  dass  nämlich  auslautende  lange 
Selbstlauter  nicht  bis  ans  Ende  ihre  Reinheit  bewahren,  son- 
dern etwa  im  letzten  Viertel  ihrer  Zeitdauer  in  den  Mischlaut 
a  ftbergehen,  indem  die  Zunge  aus  der  betreffenden  Vokalstellung 
in  die  Ruhelage  zurückkehrt,  während  die  Stimme  noch  fort- 
tönt, z.  B.  ty9  du,  pÜ8    Knabe,    söa    so,  knia    Knie. 

Aus  Mangel  an  besondern  Typen  habe  ich  etliche  kleine 
Lautverschiedenheiten  unbezeichnet  lassen  müssen.  So  sind 
die  beiden  ch -Laute  (ich,  ach)  durch  dasselbe  Zeichen 
5^  dargestellt.  Der  ich -Laut  ist  nicht  nur  nach  Vorder- 
zungenvokalen  und  Konsonanten  zu  sprechen,  sondern  auch 
nach  dem  r- vertretenden  a  (z.  B.  in  tüa/  durch).  Dieses  a  hat 
auch  auf  den  vorhergehenden  Vokal  Einlluss,  in  dem  es  Hebung 
der  Zunge  bewirkt,  so  nähert  sich  ed  einem  ed,  aea,  einem  ea 
u.  s.  w.  —  Das  i  klingt  in  Rosteig  und  Wiebers weiler  oft  nach 
e  hin,  ohne  diesen  Laut  zu  erreichen.  Da  ich  etwas  Sicheres 
darüber  aber  nicht  auszumachen  vermochte,  so  sehe  ich  einsl- 
^veilen  noch  vom  Gebrauch  des  Zeichens  i  ab.  —  In  Wald- 
hambach  und  Wiebersweiler  kommt  das  d  dem  schriftdeutschen 
et  näher   als    sonst   im   Elsass.     o  steht  zwischen  ä  und  o.  — 

10 


—     146    — 

Mit  <(5»  und  «oe^»  bezeichne  ich  geschlossenes  und  offenes  öy 
wie  ersteres  allgemein  deutsch  in  «König»  oder  im  franz. 
<K  p  e  u »,  und  letzteres  nach  norddeutscher  Aussprache  in 
«ckönnen»  oder  im  franz.  « s e u  1  »  gesprochen  wird,  cob» 
ist  ein  Laut,  den  man  bei  erstmaligem  Hören  nicht  leicht  von 
ca»  unterscheidet,  ein  cca»  das  etwas  nach  <oej»  hinneigt. 

Um  den  eigentümlichen  Tonfall  der  Wb.  Mundart  zu 
veranschaulichen,  hat  Herr  Stengel  die  Güte  gehabt,  nachfol- 
genden Sätzen  musikalische  Noten  beizufügen  : 


1^  j  g  g  m ;'  r  j^  ^lHhM^-^Hf 


i 


im  zeit  to;if  we  ix  z6u.  wtl  khümst  ti  h^t 
es    ist  80.    Und  es  ist  doch  wie  ich  sage.  Wo  komniBtBm  her? 


ik  zeit  ez6. 


^-4Hf-^-l^ 


/TS 


t 


i 


\?==^- 


wü  khümit  t9 
Wo  kommst  du 


h^r?         h6n     iy    ne/t    o  -  tar    net? 
her?        Habe  ich  recht    oder       nicht? 


^t\ 


t 


-^- 


X 


3 


4: 


t 


■^- 


hÜt   tin     mttl!        phäk    ti;^     ^i^^s! 
Halte  deinen  Mund!    Packe  dich  hinaus! 


tö    khüm  h^r: 
Da   komm  her! 


6  k^t      tor     kr&t    we     z»  -  lüm  füks;        wi    tifer    üwd 
Es  geht  dir  gerade  wie     je  -  nem  Fuchs;     als    der    auf     ein 


1&  -  plät  kaiprim  est      ün    h^t     kamsent,       zeit     a     pj6r, 
Laubblatt  sprang,  und  meinte,  es  sei  eineBine, 


^^ 


t 


t 


^ 


t 


* 


T 


hat     ar      ka  -  zät:    „i;^     hffit    di;|r    to;^    net     ka  -  fnes, 
sag  -  te      er:  „Jch  hätte  dich  doch  nicht  ge- fressen. 


w 


^ 


f 


:?5: 


V- 


Ur 


_y ^ ^ ^ ^ 1^  ' 

im    wön     ta       a      p6r    ka  -  waen  wörst!" 
selbst  wenn  du    eine  Birn  ge-wesen  wärest!" 


1 


—    147    — 


I. 


4.  'Wb.  taer  mäxt  a  kazi/t,  äs  mar  zix  fablet. 
'Wh.  >  »  ))  kse^t,  »  ma  sex  f*^*« 
R.         2>        »      »  ksi^t,  täs  mar  six  farixt. 

Der  macht  ein  Gesicht,  daas  man  sich  fürchtet. 
oder :  we  wön  ar  ta  ^six  äla  kazof  haet. 
wi      1»      a    D      i>      :»     ksof      i^ 
:»    y/än  ar  d      9      »       >       hM. 
tri«  wenn  er  den  Essig  aüen  gesoffen  hatte. 
oder:  we  trei  tä  rseiawaetar. 
wi     »      5      »   waeta. 
»      »      »      »    waetar. 
voie  drei  Tage  Regentoetter. 

2.  A?Vb.    mar  msent,  mar  müs  üf  tar  zöü  fürt,  ün  wön  khaen 
"WTi.   ma        »        ma       »      »    ta   söy   füat,    »      »         * 
R.       mar      »        mar      »      >   tar  söü  fürt,     »    wän      » 

3fan  meint,  man  muss  auf  der  Sau  fort,  auch  wenn  kein 
fsbrkal  em  Uä\  e§t. 
faeakah  >      :»    es.s 
farkal      2>      :»      };» 
Ferkel  im  StaU  ist. 

3.  "WTd.   tö   maent   mar   tox,   mar    mest   pet   stiwla  ün  §pöra 
TTVli.   t(N      }»        ma      »       ma        ))       met      }i>         »       :» 
R.        tö      xy       mar     »      mar    müs      »        j»        >    ipöra 

Da  meint  man  doch,  man  mius  mit  Stiefeln  und  Sporen 
oder:  pet  Sü  ün  §tremp 
met  D     ]!>        j» 
»    sy     »         » 
mi^  Schulden  und  Strümpfen 
oder:  pet  ta  f(6s  tren  spreqa. 
met ))     9       j»  ]» 

]»    i>    fis      :»  }) 

mit  den  Füssen  drein  springen 

4.  Wb.   tö  zol  tox  ^^^X  *®r  tünar  tren  §l^n. 
"Wh.  tö  sol    »       »      ta   tüna      »    sicfewa. 
R.        iö    :»     i>    kWiy  tar  tünar     i>     Slän.s 

Da  aoK  doch  gleich  der  Donner  drein  schlagen. 


1  In  Wh.  sagt  man  hier  gew.  csw6nt8>  {Schwanz). 

2  «est»  hört  man  in  Wh.  noch  oft  bei  alten  Leuten,  bes.  am 
£nde  des  Satzes. 

3  Andere  Infinitive  auf  n  sind  in  Rosteig  ausser  hkn  haben, 
ksen  geben,  k§n  gehn,  ksln  sehen,  sen  sein,  stdn  stehen, 
tfkn  thun,  noch:  flin  fliegen,  frön  fragen,  kr6n  kriegen, 
lin  lügen,  lyn  schauen,  pin  biegen,  ryn  ruhen^  s&n 
sagen,   trän   tragen,   tsin   ziehen,    win  wiegen,   wägen. 


—    14«    — 

5.  Wb.    löü,  iy  mgen,  iy  müs  tar  ta  khop  arä  ris9. 
Wh.   low,  ey    »       ey    »     le     »      >>       »      » 

R.        lye,  ix      »       iy     »      lar  *      »       arüniar  reisa. 

5c^u,  icT^  meifie,  ich  muss  dir  den  Kopf  herunter  reiuen, 

6.  Wb.  wer  z  a  wünar,  won  i^  tiy^  taet  prün  ün  plö  sl^n? 
Wh.  waea  s  »  wünta,  »  ey  tey  »  pryn  »  i  sldfewa? 
R.        waer  »  »  wüntar,  wän  iy  tiy    »    pröün  »  plöa  slän  ? 

Wär'8  ein  Wunder,  wenn  ich  dich  würde  brcuin  und  blau 

schlagen, 

7.  Wb.  täs  k^t  äwar  toy  iwar  s  ponal^t  anüs. 
Wh.  tes  D  äwa  »  iwa  »  ;d  anys. 
R.         ^      »    äwar    »     iwar  j»  pönalit  anöüs. 

Das  geht  aber  doch  iiber  das  Bohnenlied  hinaus. 

8.  Wb.  pi  taem  hat  z  ^If  kawörf. 
Wh.  »  »  »  s  »  kawöaf. 
R.        p^i   »        »     D  61af  kawärf. 

Be»  dem   haVs   11  geworfen    (er  ist  im  Begriff  drein  sn 

schlagen). 

9.  Wb.  taer  zetst  älawil  um  hoya  phaert. 
Wh.  taea  seist  d  üf  um  i>  pha&at. 
R.        taer     »     älawfeil  üf  am  höya  pha§rt. 

Der  sitzt  immer  auf  dem  hohen  Pferd. 

40.  Wb.   taer  zetst  kliy  üw  um  özal. 

Wh.   taea  setst     »     üf      »  fesal. 

R.        taer     »     kleiy   ^    am  ^sal. 

Der  sitzt  gleich  auf  dem  Esel  (ist  gleich  beleidigt). 

11.  Wb.    en  taena  färl  z  anen  we  süts. 
Wh.     »       )>      föal  s     »     wi  a  » 
R.  3)       «      färt  jD     »      »   »  syts. 

In  den  fahrfs  hinein  wie  ein  Schuss  (Jähzorn). 

12.  Wb.   las  est  a  raeytar  tsörijal  {Zornigel). 
Wh.   tes  es    »  raeyta  tsoanijal. 

R.         »     »     »  raeytar  Isärnikal. 

13.  Wb.   taer  waes  zin  tsör  khaeii  eq  (Ende). 
Wh.    taea     »     sim  tsöan    »      a?Q. 

R.        taer  wais  seim  tsäni  »      aent. 

14.  Wb.  won  laer  em  tsör  est,  röst  ar  we  weltas  ter. 
Wh.  »  taea(r)  »  tsoan  es,  »  a  wi  a  »  t^. 
R.        wän  tfer      »     tsärn    »    rast  ar  »    j      ji       t^r. 

15.  Wb.   taer  hat  üf  ta  ts^n  kakrekst  fön  tsör. 
Wh.  tsea     »      »    »      d      kakretst    »    tsöan. 
R.        taer     j)      j»   »      »      kakrilst  fün  tsärn. 


—    149    — 

16.  Wb.  ix  krfei  fön  lütar  ts6r  nöjr  la  swentzü/t 
Wh.  e^  kr6  »  lyta  tsoan  »  t  swentsü^t 
R.       i^  kr6a  fün  löütar  tsärn  noy  j>    Swentsy^t 

Ich  kriege  vor  lauter  Zorn  noch  die  Schmndiucht 

ön  ta  häls. 

kn  »   hals. 
an  den  Hals, 

17.  Wh.  mar  msent,  taem  est  a  lüs  iwar  ta  Ijfewar  kakräwalt. 
Wh.   ma        »  »      e§   »  lys  iwa    t   laewa  > 

R.       mar      >>  »       »    »   löüs  iwar  t   Isewar         » 

üfan  meint,  dem  ist  eine  Laus  über  die  Leber  gekrabbelt, 

18.  Wb.  mar  maent,  taer  hat  a  pöpa  n  em  hern  {Käfer  imHim), 
Wh.   ma      »       laea   »    »    »  »    hean. 

R.        ma      »       taer   »    »    »      n  »    hern. 

49.  Wb.    wön  ta  nüma  w6rst,  wü  tar  pbaefar  wäkst ! 
Wh.     »      »       »      waeas,     »    ta    phaefa        "p 
R.        wän  t       »       wij§r§,  wy  (wi)  tar  phaefar  » 

iiO.  WT).   wärt,  taem  wel  ij(  tsa^ia,  was  trfei  sbrpsa  für  a  pre  ken  I 
Wh.   w6at,     »      »    ey     »       »      »    aeapsa    »   »    »      » 
R.        wärt,     »      »    i^  tsaia     »      »    arpsa  fär  a  pr6a  kaen  I 

Wartj  dem  will  ich  zeigen,  was  3  Erbsen  für  eine  Brühe 

geben! 

iM.  "Wb.  wärt,  iy  wel  tar  sün  ta  Stära  Staey^. 
Wh.  wöat,  ex  »  ta  »  »  stöa  §taeya. 
R.        wärt,  iy    »     tar    »     »    slära      » 

Wartf  ich  wiU  dir  schon  den  Star  stechen. 

"22.  "Wb.   wärt  nüma,  tu  phifst  nöy  üs  üman  önara  lox  I 
Wh.    wöat      »        ty  phiß      »     ys      »      öntara    » 
R.        wärt      »         »  phäifs  nox  öüs  aman  äntara  » 

Warte  nur,  du  pfeifst  noch  aus  einem  andern  Loch! 

23.  "Wb.  täs  est  tar  tesraöl  net  kaäe^ktldiesma/  nicht  geschenkt). 
Wh.   tes  es  ta       »        »   ksaei^kt. 
R.         »    »  tar  tesmöl  »        i> 

24-  Wb.   tesmöl  sl6n  ix  tar  ta  khop  arä. 
Wh.       »       §lä    ex  ta    »       »       » 
R.        tesmöl  släa  ix  tar    »       »     aräa  (arüntar). 

25.  Wb.  täs  farkabs  iy  tar  net,  ün  wön  iy  hünart  jör  alt  waer. 
WTi.  tes  fakaes  ex  ta  »  »  »  ex  hüntat  ^  »  waea. 
R.         »   farkaes  iy  tar    -»      »    wän  ix  hüntart  jör  »  war. 

i>»ea  vergesse  ich  dir  nicht,  selbst  wenn  ich  hundert  Jahre 

a2t  werde. 


—    450    — 

26.  Wb.    täs  zol  lar  üw  um  kawesa  praena. 
Wh.   tes  sol    »    üf     }»        »  » 
H.         2>     »     ]»     )»    am       »  » 

Dies  aoU  dir  auf  dem  Gewissen  brennen. 

27.  Wb.   naem  tix  en  ät,  tu  hast  üf  tar  mil  {Mühle), 
Wh.       »      tei  »    äxU  ty  hää   »   ta     » 

R.  »     tix   »    äxt,    »     Ä     »   tar   » 


II. 


!•  Wb.   taBF    e§t  krop  we  zöüp6nastro  {Saubohnensirok). 
Wh.  taea(r)eä     »     wi  soyp6aastr6. 
H.        taer       y>     i»       y>     söü     » 

2.  Wb.  pi  taem  in6nt  ix  net  zöuhert  zen. 
Wh.  »  »  m^yi  ex  »  söyheat  sen. 
R.        p^i  »         »      ix    1^    söühert    » 

3.  Wb.  tö  khümt  mar  ön  we  zöü  ema  jütahüs. 
Wh.  tö  »  ma  »  wi  a  söw  »  jytahys. 
R.       tö      »        mar  an  >»   d  söüw  y^    j^'tahöüs. 

4.  "Wb.  taer  est  nöx  net  wsbia  zinar  hdflixkhaet  en  ta  zöüstil 
Wh.  taear  es  i»  »  waeia  sinara  h^flexkha§t  »  »  söystal 
R.        taer    n  nox     *        >>      säinar  höflixkhait  2>    »    söüsül 

wegen 

kaspert  wör  (worden). 
kSpöa  wöa  (w^a). 
käpär  war. 

5.  Wb.  tas  est  a  krowar  läts  (Wifaier),  a  raexlar  flöjal,  a  wüstar  ki§t. 
YSTh.  tes  es  » krowa     >  » raexta      »      » wysta     > 
R.        »    :i>   » krowar   »               )» raextar  flökal,  a  wiSlar    9 

6.  Wb.   taer  färt  aem  {Einem)  äla  iä  tsön  möl  iwar  ta  näs. 
Wh.   taea  föat    »  »    »     »       »    iwa    t      > 
R.        taer  färt     »                    yt    täa  ts^  möl  iwar   »      » 

7.  Wb.   taer  löst  zix  net  üf  ta  ts^wa  {Zehen)  traeta. 
Wh.   taea    »    sex    »     »    t       »  » 
R.        taer  last  six    »     »    »      »                     trseta. 

8.  Wb.   taer  §nöütst  aena  {Einem)  ön,  äs  khaen  hünt  khsen  stek 
Wh.   taea  Snöytst    »  »»>»>> 
R.        taer  snöütst     y>                  an,  täs     ]»         i^         j        i 

pröt  mS  fön  aem  naema  taet. 
»      »     fün     »         ]»      taet. 


j 


—    151     ~ 


III. 


i.  Wb.  teer  k^t  trüf  anen  we   muni  (Stier)  üf  9  hauhüfa. 
"Wh.   taea    »     »       >      wi  a  myni  »  »  hdeyhyfa. 

R.  tser     »      »        y>       :^  y>  müni  >  »  hauhöüfa. 

^.  WJt).  wön  mar  taena  he^a  anüs  jäit,  khümt  ar  förna  aren. 
Wh.     »    ma      »         »      anys  jaeit,       »       »    föana     » 

R.  wän  mar    »      henta  anöus  jäkt,  )»        }»   färna     » 

3.  Wb.  taer  hat  ta  söm  en  ta  aua,  ün  t^  trekt  ar  tsü. 
Wh.  taea    »     t       »      »     »  dewa,  »     »      »      a      » 
R.  taer    »     »    §äm    »     » n  awa,»    ti      >>      ar  tsya. 

4.  Wb.  §öm  tix,  tu  käst ! 
Wh.  »     tex,  ty    » 
R.  Saem  ti^r,  »      » 

5.  Wb.  üma  pazofana  zol  a  hauwäua  üs  am  v^aei  tära. 
Wh.  *     psofana    sol  a  hdeywcfewa  ys  »      »        3» 
R.  ema        >  i»    )>  hauwäwa  öüs  am  wdea  > 

Etilem  Besoffenen  soll  ein  Heuwagen  aus  dem  Wegfahren^ 

6.  Wb.  taem  kah^ra  ta  höza  kaSpont. 
Wh.      »      höra       t    hösa  k§pönt. 
R.  9        ])         ^   hosa  kspant. 

7.  Wb.  taer   e§t   um  tfeiwal  föm  swönts  kaääwti  {geschabt), 
Wh.  taea(r)  e§   »        »        »        »        k§äwt. 

R.  laer        »  am       ))      füm  swänts  kSäpt. 

S.  Wb.  pi  taem  eät  hop  ün  mälts  farlör. 

Wh.  »    »      es    »      »      »      falöa. 

R.  p^i  »      »     »      »      »       farlör. 

9.  TVb.  taer  est  net  za  z6ta  üu  net  za  piöta  {sieden^  braten). 

Wh.  taea  es     y>    tsa  sela  »     »     tsa    » 

R.  taer    »      »     »     sita  »     »      »  pröta. 

dO.  Wb.  taer  löüt  e^ar^ix  we  h^nart^p. 

Wh.  taea  löyt  e^arse^  wi  e  h^natip. 

R.  taer  löüt  üntaräiy  »    »  hinartip. 

Der  schaut  auf  den  Boden  wie  ein  Hühnerdieb. 

A\,  Wb.  taer  hat  fön    tar  ünzaniy  {wüter^d)   khü  kafraes. 

Wh.  taea   »      »      »    ünsane^  »     kfraes. 

R.  taer    »     fün     »    ünseniy  khya      » 


1  In  der  Laatyerbindnng  wt   mass  der  Ungeübte    sich   hüten, 
<das8  er  kein  9  hineinbringt. 


—    452    «- 

12.  Wb.    taena  zol  mar  pet  fenfe^arkrüt  ts^jrs. 
Wh.       »     sol  ma  met         »       kryl       » 

R.  »       »    mar   »      fenafeqarkröüt  tsaiya. 

13.  "Wb.  laem  kah^rt  ünkapncnti  äe§  üfkaläit. 
Wh.       »    höat  »        1  ajs        » 
R.            »     hört       ÜQ     9  »  jf 

14.  "Wb.  mar  noaent,  tser  wot  Jena  pet  ta  aua  tür}fstafe}ra- 
Wh.  ma       »       tjea     »       »      met  »    dewa  tüa^r^tx^a. 
R.  mar      »        tser     »       »        »     »nawa  türijr^taeya. 

M(tn  meint,  der  woUte  Einen  mit  den  Augen  durchstecheiL 

15.  Wb.    waer  taem  e^ar  ta  klöwa  {Klauen)  feit,  taer  est  farldr. 
Wh.    Wcca    »         »      t       »  fält,  taeaes   falö». 
R.        waer    »     üntar »       »  »     taer  >    farlör. 

16.  Wb.  taer  est  üf  miy  kafäl,  we  ta  foüla  (Vögel)  üf  a  il. 
Wh.  taea  e§  »  mey  kfäl,  wi  t  föila  »  >  » 
R.        taer   »      »    miy     »        »    y^    fökal  9    »  n  äl. 

17.  Wb.   pet  taem  est  net  kül  khöila  {kegeln)^  ar  wäferft  aem  ta 
Wh.   met    »    es     »      »        »  a    waeafl   »   t 
R.           ))      }i>     9      »     kC^t  khökia^  ar  warft    9    i 

khüüal«  ön  ta  khop. 
khywal     »    »       » 
khykal     an   »       i> 

18.  Wb.  wön  taer  aem  en  s  hüs  khümt,  zol  mar  s  krits  maua. 
Wh.  »  taea(r) »  .  »  d  hys  »  sol  ma  »  >  mä^a. 
R.  wän  taer      »     >  >  höüs   >         »    mar »  kreits    » 

19.  Wb.  tö  müs  mar  ziy  üs  um  stäp  säfa. 
Wh.  tö     »      ma    sey  ys     »    staep     » 
R.  tö    ))      mar  siy  öüs  am  stäup   » 

20.  Wb.    tair  hat  ta  staerna  föm  hemal  arä  kaflüyt. 
Wh.    taea    y>    t    staeana     »         »        ^     kflüyt. 
R.        taer    »    »    starna  füm  himal  arüntar  kfly^l. 


IV. 


1.   Wb.    taer  künt  khaem  mens    niks. 
Wh.   taea     »         »       maens  neks. 
R.        taer      :»  y>  »        •» 

Der  gönnt  keinem  Menschen  etwas. 


1  Ohne    nachfolgendes    Haaptwort    wurde    es    in    Wh.    lantea 
kaprsenti,  z.  B.  tes  es  a  ktiti,  a  pr&fi ! 

«  Vergl.  föüa^  Vogel,  rüüal  Spielkugel,  loeüa^  Legel, 
plöüal  Klopfholz    zum  Waschen. 


—    153    — 

S!.    Wb.  taer  farkünt  aem  ta  münfal  pröt  wii  mdr  afest. 

Wh.  taea  fakünt      »     l(?)    »i         »       »       »    aest. 

R.  taer  farkünt     »      ta  mumpal    j^     wi      y>       » 

Der  miasgöfint  Einem  den  Bissen  Brot,  den  man  isst. 

3.  Wb.  tö    hon  iy  en  a  w^spalsnäät  kasto^. 
Wh.  tö      »     e/^  »    »  »  kstoy. 
R.  tda  han  iy   ^    »  waespalsne^t     ^ 

Da  ^&e  tcÄ  m  ein  Wespennest  gestochen. 

4.  Wb.    tar  t^iwal  s6rt  tä    ün  nät   ön  ta  lit. 
Wh.   ta       »       siat  td^w  a  näyt  »     »    » 
R.        tar      »       sert  täa  ün  näyt  an   »   J^it. 

Der  Teufel  schürt  Tag  und  Nacht  an  den  Leuten, 

V. 

4.    Wb.    täs  est  a  ra^ytar  Süsal  (Ohertriehener  Mensch). 

Wh.     »    es    ))  raeyta       » 

R.        tes    »     »  ra?xt9r    sysal. 
^.    Wb.   mar  maent,  taer  est  kaphekt  em  hern. 

Wh-  ma        »       taea  es        »  »    hean. 

R.        mar      j>        taer   y>     kaphikt    x»    hern. 

Man  meint,  der  ist  gepickt  im  Hirn, 

3.    Wb.   iy  kläw,  taer  est  pet  ara  p^ltsakhäp  kasos, 

Wh.   ey     »      ta^a  es    met  »     p^ltskhäp    ksos. 

R.        iy  kläp,  taer    »       »      »  ^  » 

IcÄ  glaube,  der  ist  mit  einer  Pelzkappe  geschossen. 

VI. 

d.   Wb.  taersmörtaemtapr^iümsmülarüm,äwar  khaenaanen. 
Wh.  taeasmöat   »    »    »     »   »myl     »      äwa       »         » 
R.        taersmört   »    »    »     »   » möul   »      äwar     »         > 

Der  schmiert  Einetn  den  Brei  um  den  Mund  herum,  aber 
keinen  hinein. 
^.    "Wb.  täs  e§t  a  när  en  zina  zäk. 
Wh.    »    es    »  nöa   »    sina  säk- 
R.        tes   2>    })  när   )>    s^ina  » 
3.    Wb.  taena  khön  mar  waferfa  we  mar  wel,  ar  fölt  älawil 
"Wh.      »         »      ma    waeafa  wi   ma      »      a    fält       » 
R.  1»     khän  mar  warfa    wi   mar    »      ar    9    älaw^il 

Deti  kann  man  tceffen  wie  man  wUl,  er  fäüt  immer 
üf  ta  fes  we      khäts. 
»    t      »    wi  a       j> 
»  »    fis     ^    ]i^       j) 
auf  die  Füsse  wie  eine  Katze. 


1  Veraltet;  jetzt  meist:  <myl  fol>. 


—    154    — 

4.  WJt).  ta3r  tret  üf  tswö  äeltara  wäsar. 
Wh.  taea  trat    »      »  »       wäsa. 
R.       tser    3)      j)   tswöd  sültara  vrasar. 

Der  ^rä^^  au/  2  Schultern  Wasser. 

5.  Wb.  taer  e§t  klät  we     el  (Aal), 
Wh.  töea  es      »     wi  9  öl. 

R.        ta3r    ))       2)      )»    »  61. 

6.  Wb.  taer  wies,  äs  tsön  phünt  rentfla^s  9  p^sdri  züp  ken. 
Wh.  laea     »       »      »         •  >    flie§  >      »       süp     » 
R.       taer  wais,  >    ts^a      >  »    flais  »      »         »       > 

Der  tretss,  cfa«5  iO  Ffd.  Rindfleisch  eine  bessere  Suppe  geben 
äs  tswabi. 
»   tswaei. 
»   tswai. 

7.  Wb.  taer  waerft  a  klina    fü§  en  s  wäsar  für  a  kr6sa  za  fo^a. 
"Wh.  taea  waeafl  «     »        fe§   »  »  wäsa   füa  »      »     tsa  » 
R.        taer  warft  »  klaenar  füs  »  »  wäsar  fär  »      »       »  fä^a. 

Der  wirft  einen  kleinen  Fisch  ins  Wasser^  um  einen  grossen 

zu  fangen. 

» 

8.  Wb.  taer  hält  zi^r  ta  pükal  züwar. 
Wh.  taea     »     se)r  »       »       sywa. 
R.       taer     »     six   »    pykal  söüwar. 

Der  hält  sich  den  Bücken  frei  (sauber). 

9.  Wb.  taer  hat  s  n6)r  älawil    üma   onara   en  ta  sük  kasüt. 
Wh.  taea    »     »    »         »          »      öntara   »  »     »    käut. 
R.       taer    »     >  no^älaweil  eman  äntara   »  »  syk  k^et. 

Der  hats  fwch  immer  einem  Andern  in  den  Schuh  gesdriittä. 

10.   Wb.  taem  prü^^t     mar  net  pet  um  s6rtdr    weQka. 

Wh.     »     pryx^     *^^      *     ^^^    *  siatöa        » 
R.         )»     pröüyt  mar    }»       Ji>    am  söiartör     > 

Dem  drauc^t  man  nicht  mit  dem  Scheunenthor  zu  ynnkxn, 

IJ.   Wb.  taer  smört  ta  lit    pet  6rüm  sbiana  §mälts. 
Wh.  taea  smöat  t     »     met    »      aeiana      » 
R.       taer  Smdrt  »    l^it    »       »      aiana       » 

Der  schmiert  die  Leute  mit  ihrem  eigenen  Schmoiz. 

i2.   Wb.  tasr  naemt  s  net  zo  kanau,    taer  lost  khäua^  iwar 
"Wh.  taea      »       »    »     so  kandey,   taea    »     khywal  iwa  s 
R.       taer      »        »     »      »    kanau,    taer  last  khykal  iwar  > 
Der  nimmts  nicht  so  genau,  der  lässt  Kugel  übers 

holts  k^n  oder:  taer  löst  Mfa  krät  zen  ün  naemt 
»        »  taea    »     61f       »     sen    »        » 

»        »  taer  last  ölaf     »       »      »        » 

Holz  gehn  der  lässt  11  gerade  sein  uud  nimmt 


—    155    — 

Iritsen    für  9  tütsat. 

»  »    »       » 

Ir^itsfea  för  »  lytset. 
13  für  ein  Dutzend. 

43.    Wb.  taem  est  s  mül    en  lar  rüüw  lös  kö^. 
"Wh.      »     e§    »  myl      »    tö    röy       »      » 
R.  »      »     »  inöül   »   tar  ry»       »    käq. 

Dem  ist  der  Mund  in  der  Rulie  los  gegangen. 

-14.   "Wb.  taem  m6nt  i^  min  mül  net  e  -wüy  l^na. 
"Wh.     »     mäyi  e}r     »     myl     »    »      »       » 
R.  »         »      i)r  m^i*  möul  »    »      »        » 

Dem  möchte  ich  meinen  Mund  nicht  eine  Woche  leihen. 

15.  "Wb.  taem  zol  mar  a  märkslos  ön  s  mül  he^ka. 
Wh.  »  sol  »  »  möak  »  »  »  myl  hae^ka. 
R.  »       »      »     »  mark  »    an  »  möül      » 

Dem  sollte  man  ein  HängescMoss  an  den  Mund  hängen. 

16.  Wb.  t6    klaepart  ta  köntsa  tä    we     milrät. 
'Wh.    »    klaepat     »       »        »    wi  a       » 
R.       tia  klepert     »   käntsa  täa  »    »  milrät. 

Die  klappert  den  ganzen  Tag  wie  ein  Mühlrad. 
"17.  i'Wb.  taer  Hit  äs   mar  tarpi  töntsa  khent  oder 
Wh.  taea  leit  »    ma    tapi        »       khaent 
R.       taer  lit    täs  mar  tarp^i  täntsa      » 

Der  lügty  dass  man  dabei  tanzen  könnte, 
äs  si/  ta  pälka  p6ia  oder:  s  plö    föm  hemal  arä. 
»    sey  t        »         »  »    »        »        »         » 

täs  siy  »        »       pin  »  ploa  tum  himal  aräa. 

Dass  sich  die  Baiken  biegen,  Das  Blaue  vom  Himmel  herunter, 
-48.    Wb.   taer  liit  zo  stärk  äs  a  phaert,  (Pferd)  raent. 

Wh.   taea  leit  so  stöak   »  >  phaeat  »       (spre^t). 

R.        taer  lit    »    stärk  las  y>  phäert  ^ 

49.   Wb.   taer  k6t  pet  niks  äs  pet  liia  üf  s  lönt. 
Wh.  taea    »    metneks  »  metleia  >   >»     » 
R.        taer    >       >       >     täs    »    lia    »    >  länt. 

Der  geht  mit  nicfUs  als  mit  Lügen  aufs  Land. 

20.   "Wb.   üs   taem   khent  mar  tswön  jüta  maua,    im  taet  toy 
Wh.    ys      »      khaent  ma        >      jyla  mäya      »      »      » 
R.        öüs     »  »      mar        »         »  »         >      »      > 

Aus  dem  könnte  man  2  Juden  machen  und  toürde  doch 
nöy  a  krest  iwriy  pliwa. 

»     »      >      iwrey      > 
noy  »      »      iwriy  pläiwa. 
fiocÄ  ein  Christ  übrig  bleiben. 


—  456  — 

21.    Wb.   taem  khön  mar  niks  zdn,  taer  farfaetart  älas. 
Wh.       »        »      ma    neks  sdewa,  taea  fataetat    > 
R.  »     khä'   mar     >     sän,  taer  fartätart     » 

Dem  kann  man  nichts  sagen,  der  verschwatzt  Alles. 

VII. 

1.  Wb.   taer  est  azo  ful,  äs  ar  net  kazit  {sieht). 
Wh.  taea  e.^    aso  fyl,    »   a      >     ksit. 

R.        taer    »       »    fööl,  täs  ar  »     ksit. 

2.  VlTb.   taer   hat   ziy   nö^  n4  khaen  met  klet  {müdes  GUed) 
"Wh.    taea     »      sey     »      »       >         >       » 

R.        taer    >      siy  no)r  n^a    »       mitas  klit 
kamä/t. 


> 


3.  Wb.  taer  hat  zina  teka  pMts  ä  net  föm  safa. 
Wh.  taea    >    sina     »         »      ae   »       »        > 
R.        taer    »    seina  tika     ß     äa  >     füm     » 

Der  Äa<  «einen  (2icÄ:en  Peh  auch  nicht  vom  Arbeiten, 

4.  Wb.   taer  fraesi  ün  züfl  kiit  ün  tut  niks. 
Wh.  taea  fraest    »    syft     >      »     >    neks. 

*  R.        taer      »        >    söüft  küt  ji      >       > 

5.  "Wb.   täs  est  azo  rar  we  mürar§waes  {Maurerschweissy 
Wh.    9    e§    aso  röa  wi   myrar    » 

R.        tes    »      >     rar    »     möwararswais. 

6.  "Wb.    taer  fart^nt  iwar  zim  §äfa  s  wäsar  net,  wü  ar  treckt 
"VSTh.   taea  fat^nt    i\va    sim     »     »  iväsa     >      »   a        > 
R.        taer  f artint  iwar  säim  »     >  wäsar  >    wi   ar      > 

Der  vere^tent  über  seiner  Arbeit  das  Wasser  nidU,  das 
er  trinkt, 

7.  Wb.  taer  kM  äla  öwat  pet  ta  h6nara  üf  ta  zaetal. 
Wh.  taea  >  >  »  met  >  »  »  »  saetal. 
R.        taer    »       >  nöwat  >    >    hinar     »    »    saesal. 

Der  gelU  jeden  Abend  mit  den  Hühnern  auf  die  jSton^ 

8.  Wb.    taer  khümt  älawil  -befand  we  lömi  kÖQS  oder:  weta 
"WTi.    taea       >  »  >         wia»         »  wit 
R.        taer       >       älawäil'lientanö  »  »  lämi  käns         >  > 

Der  kommt  immer  nach  wie  eine  lahme  Gans,   wie  die 

alt  fäsanät. 

>  fäsanä^rt. 

>  fäsanä)(t. 
alte  Fasnadht. 


—    157    — 

9.    Wb.    l«r  w6r  küt  nöm  tot  seka,  lö  khent  mar  16q  hew9. 
^WTi.    ta»a  w<l»a    »        »      »       *       16  khsent  ma     »        » 
R.        taer  wjer  küt  nöm   »       »      tö9      »      mar  läia     » 

Der   wäre  gut  nach  dem  Tod  schicken^   da  könnte  man 
lang  leben, 

10.  Wb.    taem  k6t  {geht)  s  we  tar  zael  Snaek  (ScÄn^c/ce),  te  est 
"Wh.       »       »  »  wi  ta   ssel     >>  »  eä 
R.           »       »                ))    »    Sielara     »                         tia » 

zewa  (7)  j6r  lö^j  öma  pöm  (ßaum)  anüf  kakräwalt, 
sewa  5)      »       »        »  »  » 

siwa  jör  läQ  äma  päm  »  » 

ün  wi  za  tarnö  arä      kfäl  eU,  bat  za  kazät :  «ila 
»     »  sa  tanö     »  »    es^     »    sa  ksät :       » 

»     »   »  tarno  arüntar ))     »       »    »     »  «iwar^ila 

preQt    khaen    kiek.» 

tut  »       küt.» 

»  »       küt.» 

11.  Wb.  tö  k^t  s  «khüm  iy  hit  {heute)  net,  khüm  iy  morja». 
Wh.  tö  »  »  »  ey  »  j>  »  eymöaja». 
R.        töa  «    »        »       iy  hfeit              »  »      iy  märja». 

12.  Wb.  taer  hat  nöy  net  fartönt  für  en  a  höla  tsönt  {Zahn). 
"Wh.    taea    »       »      »     fatent    füa    »    »     »         » 

R.         taer    »     noy    »     fartint  lar    »    »     »       tsän 

13.  Wb.    taer  waert  kaheqkt  ^w  ar  tswöntsiy  jör  alt  e§t. 
Wh.    taea  waeat  khae^kt    ^w  a    twöntsey     »      »    es. 
R.        tier  wart        »         äw  ar  tswäntsiy  jör    »     » 

Der  wird  gehenkt,  eJie  er  20  Jahre  alt  ist. 

14.  Wb.    taer  löst  niks  leia  äs  a  milstain  {Mühlstein), 
Wh.    t«ea     ))     neks    »     >>    »        » 

R.        taer  last      »       »      n    »        » 

15.  WTj.    iwar  taena  müs  mar  ziy  zae^a  oder:  ta  zaL-ia  spraeya. 
"Wh.    iwa        »        »     ma    sey  säßia  »    sabia       » 
R.        iwar       »        »      mar  siy     »                »      »  » 

lieber  den  mu8S  man  sich  segnen ;  den  Segen  sprechen. 

16.  Wb.   täs  est  a  spetspü  za  krös  ün  hol  äs  ar  est. 
"Wh.     »    es    »        »        sa     »      »      »     »    »   es. 
R.        tes    »     »  spetspüa »      »       »      »    täs  »     » 

2>a8  ist  ein  Spitzbube,  so  gross  und  hohl  er  ist. 

17.  Wb.    tier  zuft,  äs  ta  penza  em  wäksa. 
Wh.    tiea  syfl,    «    t    pensa    »         » 
R.        taer  söüt't,  täs  t     »        »         » 

Der  säuft,  dass  die  Binsen  in  ihm  wachsen. 


—    158    — 

48.    Wb.   für  taena  est  ter  waei  net  prs^t  kanük. 
Wh.   füa     »     es   ta      »       »     praet       ^ 
R.        fär     »      »     tar  waea    »     prait  kanüa. 
J\ir  den  ist  der  Weg  nicM  breit  genug. 

19.  Wb.  taer  löüt  tren  \ve  tar  Sa^arhönas. 
Wh.  taee  löyt  »  wi  te  se^ahonsdl. 
R.        tasr  lyt      »       »     tar  sentarfaänas. 

Der  sieht  drein  toie  der  Schinderhans. 

20.  Wb.  tas  e§t  tar  tswafeit  khär^^smörSmüla. 
WTi.  »  es  ta  tswaeit  khöa^smöasmyla. 
R.        tes    »    tar  ts^rait  khäii^sm^rsmyla. 


XII. 


Volkstümliche 


Feste,  Sitten  und  Gebräuche 

im  Elsass. 
1892. 


Mitgeteilt  von 

Bruno  Stehle. 

(Fortsetzung.) 

Fastnacht. 

(^feraulsbach  (Kreis  Thann).  —  Über  den  Fastnachtdienstag  er- 
zählt ein  alter  Mann  folgendes:  Früher  wurde  in  unserm  Dorfe  am 
Fastnachtdienstag  in  allen  Wirtshäusern  getanzt.  An  diesem  Tanze 
durften  nur  Männer  und  Frauen  teilnehmen,  nicht  aber  Junglinge 
und  Jungfrauen.  Dabei  entschieden  die  Eheleute  über  das  Wachstum 
ihres  Hanfes.  Sprangen  sie  beim  Tanzen  hoch  auf,  so  durften  sie 
im  nächsten  Sommer  ein  schönes  Hanffeld  erwarten.  War  es  ihnen 
aber,  wie  man  sich  ausdrückte,  c nicht  recht  in  den  Beinen»,  so  er- 
hielten sie  nur  kleinen  Hanf. 

Daher  folgendes: 

«Du  bisch  bim  Tanze  nit  hoch  g^sprunge, 
Drum  hasch  o  kä  schena  Hanf  bakumma.» 

Boppenzioeüer  (Kreis  Altkirch).  —  Es  herrscht  die  Sitte,  dass 
an  Fastnacht  einige  junge  Burschen  im  Dorfe  herum  gehen.  Alle 
sind  verkleidet,  und  einer  Yon  ihnen  hat  einen  Korb  auf  dem  Rücken 
hängen,  um  Eier  einzusammeln.  Dieser  Bursche  wird  an  einer  Kette 


—    160    — 

Yon  einem  andern  geführt.   Sämtliche  singen  dann  vor  jedem  Haoie 
folgendes : 

«Wir  gehen  das  Gassele  anf  und  ab. 

Wir  battle  Eier  un'  Anke, 

D^Mntter  isch  fo  Franke; 

Redelstei  rot,  d'  Faldbabe  sind  tot, 

Dr  Holzschlegel  übers  Hüs, 

Dr  Kuckuck  sufFt  alli  Eier  Ü8.> 

Haben  sie  dann  viele  Eier,  so  gehen  sie  in  ein  Wirtshans  und 
verzehren  sie. 

Mittlach  (Kreis  Colmar).  —  Am  Fastnachtdienstag  gehen  die 
Kinder  vor  die  Häuser  des  Dorfes  und  singen  folgende  zwei 
Strophen : 

1.  «Sida,  Sida  Fada,  um  das  Hüss,  um  das  Hüss, 
^s  steht  na  scheni  Frau  im  Hüss, 
Kiachler  rüss,  oder  i  schlag  na  Loch  ins  Huss. 

2.  Ffanna,  Pfanna  kracha, 
Dia  Kiachler  sen  gebacha, 
Qam  mir  äins  oder  zwäi, 
Demo  gang  i  weder  häim.» 

Hernach  erscheint  die  Hausfrau  und  überreicht  den  Kindein 
Küchlein.  Gibt  sie  aber  nur  eines,  dann  singen  die  Kinder  folgende 
Strophe : 

«^8  bisst  (beisst)  mi  ama  Fiasala,^ 

Hat  garn'^  na  Kiachala, 

^s  bisst  mi  numa  na  wenig  tra, 

Hat  garn  zwai  kha.> 

Bitschioeiler  (Kreis  Thann).  —  An  Fastnacht  holen  die  Jünglinge 
bei  ihren  Liebsten  die  sogenannten  Fastnachts-Küchlein  und  singen 
dabei  folgende  Worte: 

«Reiha,  reiha  Rosa, 

D^Kiachla  sen  geblosa, 

D'Kiachla  sen  gebacha, 

I  ha  si  hera  kracha, 

Kiachla  hevüs, 

Kiachla  herüs, 

sVsch  a  schena  Jungfer  im  Hü&> 

Kiffis  (Kreis  Altkirch).  —  Am  zweiten  Fastnachtsonntag  wiid 
nachts  ein  grosses  Feuer  angezündet,  und  dieses  nennt  man  Fast- 
nachtsfeuer. Bis  um  das  Jahr  1830  wurden  Reigentänze  um  dasselbe 
aufgefühi-t.  Jetzt  werden  nur  noch  Fackeln  geschwungen.  Alte 
Leute  erzählen,  dass  ihre  Qrosseltern  ihnen  gesagt  haben,  man  habe 
früher  einen  grossen  Strohmann  darein  geworfen. 

Dieser  Gebrauch  soll  von  den  Heiden  herrühren. 


1  Füsschen. 
«  Gern. 


—     161     - 

Knstsheim  (Kreis  Gebwtiler).  —  Es  war  von  jeLer  Sitte,  am 
ersten  Fastensonntage  das  Fastnachtsfener  anzuzünden.  Am  Nach- 
mittage yersammeln  sich  die  Knaben  des  Städtchens.  Sie  gehen  von 
Haas  zn  Haus,  die  Leute  bittend,  ihnen  etwas  zum  Fastnachtsfeuer 
beizusteuern.  Dabei  sagen  sie  folgende  Verse:  Holz  fir  a  Wolf,  a 
Stangel  fir  a  firika  Bange]  und  Strauch  fir  a  alti  Frau  (Holz  für 
feinen  Wolf,  einen  Stengel  für  einen  feuerigen  Bengel  und  Stroh  für 
eine  alte  Frau). 

Vor  dem  Städtchen  wird  das  Gesammelte  zu  einem  Haufen  auf. 
getürmt.  Abends  ziehen  jung  und  alt  singend  auf  den  Platz,  wo 
das  Feuer  angezündet  werden  soll.  Die  jungem  Knaben  laufen  mit 
Fackeln  und  Strohbüscheln,  die  auf  Stangen  befestigt  sind,  auf  den 
Aeckern  umher.  Plötzlich  ertönt  der  Befehl,  den  Haufen  anzuzünden. 
Unter  Jauchzen  und  grossem  Jubel  wird  dieser  von  den  Knaben  an- 
gezündet. Während  das  aufgetürmte  Brennmaterial  brennt,  werden 
mehrere  Lieder  gesungen.  Ist  das  Feuer  erloschen,  so  begeben  sich 
die  Teilnehmer  vergnügt  nach  Hanse.  Der  Gebrauch  hat  sich  bis 
auf  den  heutigen  Tag  erhalten. 

Fastenzeit  und  Karwoche. 

TagöUheim  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Hirschmontag  (Montag  nach 
Aschermittwoch)  sind  die  Frauen  Meister.  Sie  gehen  in  den  Wald, 
fallen  eine  Eiche  und  verkaufen  sie.  Das  Geld  gehört  ihnen,  wo- 
für sie  sich  in  einem  Wirtshause  belustigen.  Auf  der  Gasse  nehmen 
sie  den  Jünglingen  die  Kopfbedeckung  und  geben  sie  erst  dann 
wiedej  dem  Eigentümer  zurück,  wenn  dieser  sie  in  eine  Schenke 
ührt,  wo  sie  auf  seine  Kosten  trinken. 

Katzenthal  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  Es  herrscht  der  Aberglaube, 
dass,  wenn  man  am  ersten  Fronf asten sonntag  spinnt,  das  Fronfasten- 
weibchen kommt  und  das  Spinnrad  zertrümmert. 

Türkheim  (Kreis  Colmar).  —  Die  Kinder,  die  in  der  letzten  Fron- 
fastennacht geboren  sind,  stehen  unter  der  besondern  Gewalt  der 
bösen  Geister.  Deshalb  dürfen  sie  nicht  nach  dem  Angelusläuten, 
das  Haus  verlassen.  Auch  soll  keines  dieser  Kinder  zu  irdischem 
Glück  gelangen. 

Türkheim  (Kreis  Colmar).  —  Die  Nacht  des  letzten  Fronfasten- 
iags  ist  die  Durchspinnnacht  An  diesem  Abend  kommen  die  Frauen 
zusammen,  um  bis  um  12  Uhr  zu  spinnen.  Mit  Anbruch  der  Geister- 
stunde begeben  sie  sich  zu  Bett,  damit  nicht  das  sogenannte  <Fron- 
fastenweibchen>  zu  ihnen  kommt.  Gewöhnlich  gibt  es  den  Frauen 
eine  schwere  Spinnarbeit  auf.  So  soll  es  einst  zu  einer  Frau  ge- 
kommen sein  Es  gab  ihr  auf,  in  einer  bestimmten  Zeit  12  Spulen 
zu  spinnen.  Lange  dachte  sie  über  diese  unausführbare  Arbeit  nach. 
Da  kam  ihr  der  Gedanke,  auf  jede  Spule  nur  drei  «Aetling>  zu 
machen  zu  Ehren  der  hl.  Dreifaltigkeit.  Als  das  Fronfastenweibchen 
zurückkam,  sagte  es:  «Du  hast  Glück  gehabt!» 

Ein  Schuster  arbeitete  mit  seinem  Gesellen  in  dieser  Nacht  bis 
JXTDL  12  Uhr.    Beim  Glockenschlag  forderte    er  seinen  Gesellen   auf, 

11 


—    162    — 

zu  Bett  zu  gehen,  damit  nicht  das  FronCastenweibchen  komme.  Der 
Geselle  aber  äusserte  r  «Es  mag  nur  kommen,  ich  schlage  ihm  den 
Hammer  auf  den  Kopf.»  Und  er  arbeitete  weiter.  Da  trat  das 
Weibchen  herein.  Der  Geselle  stürzte  sich  auf  dasselbe.  Plötzlich 
war  der  Geselle  Yersch wunden.    Man  sah  ihn  nie  mehr. 

Um  das  Fronfastenweibchen  fem  zu  halten,  bindet  man  an  einen 
Stab  ein«  Gabel  und  stellt  ihn  in  die  ficke  vor  die  Thüre.  Daran 
sticht  es  sich. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Am  dritten  Fastensonntage  (auch 
llittelfasten  genannt)  ist  die  sogenannte  Jungfrauenfastnacht.  An 
diesem  Tage  wurden  früher  Kuchen  gebacken,  die  sogenannten  Jung- 
frauenkuchen. Jetzt  ist  dieser  Gebrauch  YöUig  verschwunden.  In 
dem  Nachbardorfe  Begisheim  herrscht  dieser  Gebrauch  jetzt  noch. 

Bopperunoeüer  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Karfreitag  Morgen  um 
6  Uhr  wird  neben  der  Kirche  ein  Feuer  gemacht.  Daselbst  werden 
die  Ejreuze,  die  auf  dem  Kirchhofe  umgefallen  sind,  sowi«  auch  alte 
Bretter  aus  dem  Kirchturme  genommen  und  yerbrannt.  Ein  jeder 
holt  sich  dann  Kohlen  oder  N&gel,  die  darin  sind  und  legt  sie  in 
den  Stall.    Dies  hält  den  bösen  Feind  von  dem  Vieh  ab. 

Diese  Sitte  nennt  man  «den  roten  Juden  verbrennen». 

Palmsonntag. 

Krüt  (Kreis  Thann).  —  In  Krnt  ist  es  Sitte,  dass  am  Palmsonn- 
tag die  Knaben  Palmen  (Zweige  der  Stechpalme  zusammengebunden 
und  mit  einem  Stiele  versehen)  in  die  Kirche  tragen,  wo  sie  gesegnet 
werden.  In  diese  Palmen  pflegt  man  lange  Ruten  des  Hase^nuss- 
Strauches  zu  stecken.  Die  geweihten  Ruten  werden  in  die  Viehställe 
gebracht,  damit  durch  sie  das  Vieh  vor  Krankheit  bewahrt  werde. 
Die  gedörrten  Palmen  werden  auf  dem  Feuerherde  angezündet,  so- 
bald ein  schweres  Gewitter  über  dem  Hause  steht. 

Ober^Stdzbach  (Kreis  Thann).  —  Am  Palmsonntag  werden  in  die 
zu  weihenden  Palmen  Zweige  von  einem  Sevenbaum  gesteckt  (im 
Elsass  ist  die  Pflanze  bekannt  unter  dem  Namen  «Sevi»).  Sind  die 
Palmen  nach  Hause  gebracht,  so  wird  einer  von  diesen  Zweigen  in 
den  Garten  gesetzt.  Wächst  derselbe,  so  stirbt  jemand  ans  dem  be 
treffenden  Hause. 

Kiffis  (Kreis  Altkirch).  —  Am  Palmsonntag  pflegt  man  Seve- 
bäum  in  die  Erde  zu  stecken,  um  zu  sehen,  ob  das  Jahr  ein  glück- 
liches oder  ein  unglückliches  wird ;  denn  wächst  der  Sevebaura. 
«0  hat  man  ein  unglückliches  Jahr  zu  erwarten,  andern  Falles  ein 
glückliches. 

Dieser  Gebrauch  besteht  heute  noch. 

Kiffis  (Kreis  Altkirch).  —  Vergisst  man  am  Palmsonntag  die 
geweihte  Palme  in  den  Garten  zu  stecken,  so  kommt  der  Sakristan 
und  steckt  dieselbe  hinaus.  An  Ostern  muss  man  ihm  dann  Ostei^ 
eier  geben. 

Ist  im  Sommer  ein  Gewitter  am  Himmel,  so  zündet  die  Hausfrau 
ein  Büschel  geweihte  Palmen  an,  und  der  Rauch  leitet  den  Blitz  ab. 


—    163    — 

Ostern. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Hi«r  ist  es  Sitte,  dass  die  jungen 
Barschen  bei  den  Jangfranen  an  Ostern  die  Ostereier  holen.  Die 
Mädchen  rechnen  es  sich  zur  Ehre  an,  wenn  sie  die  in  Bereitschaft 
gehaltenen  Eier  los  werden.  M&dchen,  bei  denen  die  Eier  nicht  ge- 
holt werden,  müssen  sich  schämen  und  werden  damit  ansgelacht, 
dass  sie  auf  ihren  Eiern  braten  müssten. 

Maifest. 

OstiMusen.  (Kreis  Erstein).  —  FrfLher  gingen  die  Knaben  des 
Dorfes  am  ersten  Mai  in  den  Wald.  Einer  von  ihnen  warde  dann 
mit  grünen  Zweigen  and  Blumen  umwunden,  so  dass  man  nichts 
Ton  ihm  sah,  als  das  Gesicht,  und  dieses  wurde  mit  Mehl  gepudert. 
Dieser  Knabe  wurde  dann  von  den  andern  im  Triumph  durch  das 
Dorf  geführt.  Voran  ging  einer  mit  einem  grünen  Baumzweig.  Ein 
anderer  trug  einen  Korb  und  sammelte  Eier.  Diesen  mit  Zweigen 
and  Blumen  geschmückten  Knaben  nannte  man  cdas  Maimännchen». 

TagoUheim  (Kreis  Altkirch).  —  Am  ersten  Mai  führte  man  einen 
mit  Blumen  und  grünen  Zweigen  bekränzten  Jüngling  yon  Haus  zu 
Haas.  Dieser  sang  den  Leuten  den  Mai  an  und  erhielt  Ton  diesen 
Wein,  Eier  und  Speck.  Wenn  er  fertig  war,  gingen  alle  in  ein  Wirts- 
haas, wo  sie  einen  Schmaus  hielten  und  nachher  tanzten. 

So  war  es  bis  Yor  30  Jahren. 

Pfingsten. 

Damhaeh  (Kreis  Schlettstadt).  —  Das  Pfingstpflütterle.  —  Die 
Weidbuben,  deren  Zahl  zwischen  20  und  30  betrug,  feierten  am 
Pfingstmontag  folgendes  Fest: 

Um  2  Uhr  nachmittags  trieben  einige  von  ihnen  die  Herden 
heim ;  die  anderen  hüllten  während  dieser  Zeit  einen  ihrer  Kameraden 
so  vollständig  in  grüne  Zweige  ein,  dass  er  nur  noch  ein  wenig  aus 
den  Augen  schauen  konnte.  Waren  die  mit  der  Heimfahrt  beauf- 
tragten Buben  auf  die  Weide  zurückgekehrt,  dann  zog  der  ganze 
Tross  —  in  der  Mitte  das  Pfingstpflütterle  von  2  Weidbuben  geführt 
—  dem  Städtchen  zu.  Einige  derselben  trugen  Körbe,  Krüge  und 
grosse  Weinlogel  zur  Aufnahme  der  Gaben.  Am  unteren  Stadtthor, 
•durch  welches  die  Gesellschaft  einzog,  wurden  sie  von  der  Dorfjngend 
erwartet,  und  sobald  diese  das  Pfingstpfiütterle  erblickte,  rief  alles: 
«Das  Pfingstpflütterle  kommt,  das  Pfingstpflütterle  kommt!»  Die 
Weidbuben  stellten  sich  in  den  Strassen  von  Zeit  zu  Zeit  in  einem 
Kreise  auf,  nahmen  den  grünbelaubten  Genossen  in  die  Mitte, 
knallten  mit  der  Peitsche,  während  das  Pfingstpfiütterle  gleich  einem 
Tanzbär  in  dem  Kreise  herumtanzte.  Alt  und  Jung  freute  sich  an 
^lem  munteren  Treiben,  und  alles  sang  und  sprang  und  jauchzte  mit 

Die  mit  der  Sammlung  betrauten  Weidbuben  gingen  in  die 
Häuser  und  erhielten  hier  von  den  gastfreundlichen  Leuten  Eier, 
Speck,  Würste,  Brot,  Mehl  und  Wein.  Waren  die  Krüge  und  Wein- 
logeln  gefüllt,  so  wurde  ihr  kostbarer  Inhalt  in  ein  Fässchen  ge- 
tragen.  Nachdem  der  Umzug  durch  alle  Strassen  der  Stadt  gemacht 


—     164    — 

war,  begab  sich  die  reich  beschenkte  Qesellschaft  in  ein  Hans,  wo 
an  demselben  Abend  noch  die  Gaben  nuter  Mithilfe  einer  Anzakl 
geladener  Freunde  and  Freundinnen  bei  Sang  und  Klang  Terzehit 
wurden. 

Osthauaen  (Kreis  Erstein).  —  Früher  ritten  die  Bauemsöhne  am 
Pfingstmontag  in  das  Feld.  Derjenige,  welcher  das  beste  Pferd  hatte 
und  d«r  erste  war,  erhielt  als  Preis  «inen  Blnmenstrauss. 


Nieder-Beischdorf  bei  Sulz  u.  W.  —  Früher  fanden  hier  wie 
anderwärts  Umzüge  der  Schuljugend  statt,  wobei  Eier,  Mehl,  Speck 
und  Wein  gesammelt  und  später  gemeinschaftlich  verzehrt  wurden. 
Diese  Sitte  wird  jetzt  gründlich  verhöhnt  in  der  Gestalt  des  «Pfingste- 
dreck».  In  der  Dämmerung  der  beiden  Pfingsttage  springt  plötzlich 
ein  mit  Reisig  um  und  um  bedeckter  Junge  aus  irgend  einer  Seiten- 
gasse auf  die  Hauptsfrasse;  hinter  ihm  her  laufen  Gruppen  von 
Kindern  und  singen  folgende  Schmähreime : 

«Pfingstedräck  het  Aerpse  gfrässe, 
D^Khii  un  d'Ross  im  Stall  vergässe; 
Schlupf  unte  nüs,  schlupf  owwe  nüss. 
Hebb  alli  blutt  un  blindi  Vöijel  üss. 

Ganz  genau  so  wird  es  in  dem  nahe  gelegenen  Bübl  und  in 
Lobsann  gemacht ;  nur  tritt  in  Bühl  das  Lied  in  folgender  Va- 
riante auf: 

«Pfingstedräck  hat  Aerpse  gfrässe. 
Hat  sein  Ross  im  Stall  vergässe ; 
Reit  unte  naöüs,  reit  owwe  naöüs, 
Heb  alli  blindi  un  bluddi  Vöijele  aöüs.» 

In  Lobsann : 

«Pfingstedräck  het  Eier  gfrässe, 
Het  dUoss  un  d'Khii  im  Stall  vergässe; 
Fliig  unte  nüss,  fliig  owwe  nüss, 
Hebb  alli  blutt  e  blindi  Vöjele  üss  > 

Neben  Eier  und  Speck  wird  hier  auch  Geld  gesammelt,  das  nach- 
her verteilt  wird. 

In  Schleithal  findet  die  Vermummunc;  und  der  Umzug  am  Sams- 
tag vor  Pfingstsonntag  statt;  hier  lautet  das  Reimliedchen  etwas 
anders^ 

•■Pfingstedräck  hat  Hawwere  gfrässe, 

Hat  sei  Ross  im  Stall  vergässe. 

Hann  ir  khä  Hawwere,  bann  ir  khä  KleeV 

Allee!» 

Dabei  balgt  sich  der  «Pfingstedräck»  mit  anderen  Kiiabeo  und 
wälzt  sich  einigemal  auf  dem  Boden  herum. 

Postdorf  (Kreis  Saarburg).  —  Umzug  am  Pfingstmontag.  Ein 
weiss  gekleidetes  Mädchen,  das  Gesicht  gleichfalls  mit  einem  weisses 
Tuch  überdeckt,  mit  einem  Blumenkranz  auf  dem  Kopf  und  um  die 
Lenden,    wird   durch   zwei    Begleiterinneu   durch    das    Dorf  geführt. 


1 


—     105    — 

Ihnen  folgt  die  ganze  Schaljagend,    nnd  vor  jedem  Haas  wird  Halt 
gemacht  anter  Absingang  des  folgenden  Mailiedes: 

«Der  Mai  ist  gekommen  in  unser  Land, 

Bringt  ans  brav  Laab  (Laab)  in  ansere  Hand. 

Tanz,  Marei,  da  hast  gewonnen ; 

Ein  roter  Apfel,  ein  schwarzer  Kern. 

Die  Frau  ist  hftbsch  and  lachet  gern. 

Bringt  ans  brav  Butter  and  Eier  daher. 

Die  Fraa  ist  Meister  and  aach  der  Mann.» 

Nach  dem  Lied  werden  Gaben  in  Empfang  genommen,  Mehl,  Eier 
nnd  Batter,  and  im  Lauf  des  Nachmittags  werden  im  Hanse  eines 
Mädchens  Pfannkachen  daraas  gebacken  and  gemeinschaftlich  verzehrt. 
—  Sobald  der  Umzag  beginnt,  sagt  man  <d*r  Maiboot  sehe  hommt». 
In   den  letzten   zwei  Jahren   hat  derselbe  nicht  mehr  stattgefunden. 

Hürtigheim  (Landkreis  Strassburg) : 

«Do  komme  di  Hirrikner  Pfingscbdeknächt 

Und  wolle  hawwe  das  Pfingschderächt : 

E  Stick  Spack 

Vonn  d^r  Mohre  Sitt  ewagg, 

Nit  ze  gross  un  nit  zu  kl&in, 

Sohnäide-r-e  wenig  wäit  hinäin; 

E  Hafe  voll  Millich,  e  Kann  voll  Wäin, 

Da  wolle  wir  damit  zufridde  säin ; 

Eier  erus!  Eier  erüs! 

Odder  merr  schigge  de  Morder  ins  Hihnerhüssl» 

(Mitgeteilt  von  Dr.  L  i  e  n  h  a  r  t) 


Rirchweih. 

Münster  (Kreis  Colmar).  —  Von  allen  Kilbentagen  ist  der  letzte 
Montag  der  lustigste.  Zur  besonderen  Belustigimg  trug  das  so- 
genannte «Pappeessen»  bei.  Auf  dem  Sandbuckel,  wo  der  Tanz- 
boden steht,  wurde  ein  langer  Tisch  aufgestellt  Ueber  demselben 
war  zwischen  zwei  Bäumen  eine  Schnur  gespannt,  woran  mit  Gries- 
snppe  gefüllte  Töpfe  hingen.  Um  den  Tisch  nahmen  die  Burschen 
über  14  Jahren  Platz.  Dann  wurden  ihnen  die  Augen  verbunden 
und  Schüsseln,  die  ebenfalls  mit  dicker  Griessnppe  gefüllt  waren, 
vorgesetzt.  In  der  Suppe  befanden  sich  auch  Geldstücke,  z.  B. 
20  Pfennigstücke^  halbe  und  ganze  Markstücke.  Die  einzelnen 
Barschen  durften  aber  nicht  ihre  eigene  Suppe  essen,  sondern  mussten 
sie  dem  Nebenmann  eingeben.  War  ein  Geldstück  darin,  so  gehörte 
ea  dem,  der  es.  in  den  Mund  bekam.  Während  dieser  Mahlzeit 
-wurden  die  Töpfe  über  dem  Tische  von  Buben  deren  Augen  ebenfalls 
Terbonden  waren,  zerschlagen.  Dass  es  sehr  beschmutzte  Gesichter 
und  Kleider  gab.  und  dass  mehr  Suppe  verdorben  als  genossen 
'wurde,  ist  natürlich.    Diese  Sitte  dauerte  ungefähr  bis  1880. 

Ferner  mussten  die  Buben  von  12—16  Jahren  «Sack  hüpsen» 
(hüpfen).  An  demselben  Tag  um  2  Uhr  nachmittags  gingen  sie  auf 
das  Rathaus,  wo  sie  im  Gesicht  mit  den  verschiedensten  Farben  an- 


—    166    — 

gestrichen  wurden.  Jeder  erhielt  eine  farbige  Mätze,  einen  mmmnen- 
gefaltenen  Sack  um   die  Schalter  and  Masikinstramente  Ton  Papp- 
deckel.   In   dieser  Kleidang  zogen   sie  hinter  der  Mosik  dorch  die 
Stadt.    Auf  dem  Sandbackel  wurde  eine  Bahn  von  etwa  300  Schritt 
Länge   mit  Seilen  abgegrenzt.    Kam   der  Zag  an,  so   wurden  die 
Barschen   in  die  S&cke  gebunden,  so  dass   sie  auf  dem  Boden  des 
Sackes    standen  und  nur  den  buntbemalten   Kopf  ans  dem  Sack 
hervorstreckten.    Am  andern  Ende  befand  sich  ein  Tisch,   auf  dtm 
Preise   im  Werte  von  0,60  .^  bis   b  Ji  für  die  Laufer   aufgestellt 
waren.     Auf  das  Zeichen   eines  Polizisten  begann  das  Wettrennen. 
Mancher   trat   im  Eifer  auf  den  Sack  und  purzelte  dann  zu  Boden, 
wo   er  Uegen  blieb,   bis  ihm  seine  Kameraden  aas  der  unbequemen 
Lage  unter  Hohn  und  Spott  der  Zuschauer  befireiten.     Die  5  besten 
Läufer  erhielten  die  Preise.    Dieses  Spiel   wurde  188Ö  zum  letzten 
Mal  gefeiert. 

Ernte. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Im  Herbst  findet  man  oft  auf  Kar- 
toffeläckern ein  kleines  Pflänzchen  (Gauchheil).  In  dem  Kelche  be- 
finden sich  flachrunde  Samen  in  der  Form  kleiner  Geldstücke.  Sind 
die  Kelche,  oder  wie  man  sie  hier  nennt,  «die  Glückhäfela»  Kill 
Samen,  so  bedeutet  dies,  dass  das  folgende  Jahr  ein  gutes  sein 
werde;  sind  die  Glückhäfela  aber  leer,  so  deutet  dies  auf  ein  Miss- 
jahr hin. 

Escheneweüer  (Kreis  M&lhausen).  —  Das  «Gleckhamfala».  Bd 
den  Bauersleuten  des  hiesigen  Dorfes  herrscht  folgender  Gebrauch. 
Wenn  der  letzte  Weizen  geschnitten  wird  und  nur  noch  wenige 
Aehren  stehen,  so  knien  sämtliche  Schnitter  bei  denselben  auf  ^ 
Erde.  Dann  beten  sie  mit  lauter  Stimme  fünf  «Vater  unaer»  und 
fünf  «Ave  Maria».  Sobald  das  Gebet  vollendet  ist,  erhebt  sich  der 
Bauer  von  der  Erde,  nimmt  eine  Sichel  in  die  Hand  und  schneidet 
den  noch  stehenden  Weizen  ab,  indem  er  die  Worte  spricht:  «Im 
Namen  des  Vaters  und  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes.»  Darauf 
werden  neun  der  schönsten  Aehren  zusammengebunden  und  in  der 
Wohnstube  hinter  das  Kruzifix  gesteckt.  Diese  neun  Aehren  bilden 
das  «Gleckhamfala>,  Dasselbe  bleibt  hinter  dem  Kruzifix,  bis  im 
Spä^ahr  der  Weizen  gesäet  wird.  Dann  wird  es  heruntergenommei; 
die  Kömer  werden  aus  den  Aehren  gerieben  und  Termischt  mit  dem 
Saatweizen  ausgesäet 

lAehsdorf  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  man  den  letzten  WeiKn 
mäht,  80  schneidet  man  das  Glickhempfele.  Dieses  geht  folgender- 
massen  vor  sich:  Man  lässt  eine  Anzahl  der  schönaten  Aekr« 
stehen.  Am  Ende  schneidet  ein  Mäher  die  Aehren  in  drei  Streicba 
ab,  indem  er  die  Worte  spricht:  «Im  Namen  des  Vaters  und  des 
Sohnes  und  des  heiligen  Geistes.  Amen.»  Nachher  wird  auf  den 
Acker  gebetet,  damit  Gott  das  Eingeerntete  segnen  wolle.  Gewohnüdi 
legt  der  Meister  Geld  zwischen  die  Aehren,  welches  dann  der,  weide 
das  Glickhempfele  schneidet,  nimmt  Dieses  wird  dann  sasamniS' 
geflochten  und  mit  Blumen  und  kleinen  Bändern  geziert.     Nachdes 


1 


—    167     — 

im  Dorfe  die  Ernte  beendigt  ist,  wird  dasselbe  in  der  Kirche  vom 
Pfarrer  gesegnet. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  — -  Anch  hier  wird,  wie  im  vorigen  Jahr- 
gang beschrieben,  das  «Qlickhampfele»  geschnitten,  nnd  die  Körner 
desselben  wwden  im  nächsten  Jahr  unter  den  Saatweizen  gemischt. 
Daher  kommt  auch  der  Name.  Dieses  Hämpfele  (band voll)  Kömer 
soll  Glück  und  Segen  im  nächsten  Jahr  bringen. 

Liebsdorf  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  die  Weizenemte  beendigt  ist, 
so  feiern  die  Bauern  ein  Fest."Die&es  Fest  nennt  man  «Sichlete».  Es 
werden  Kuchen  gebacken  und  zum  Mittagessen  gute  Speisen  bereitet 

St.  Johanni. 

Gereuth  im  Weilerthal.  —  Hier  wird  am  Johannistag  ein  grosses 
Feuer  gemacht.  Die  Jugend  sammelt  Holz  im  Dorfe  und  singt  dabei 
folgende  Worte: 

«Salvei,  karei, 

Gleck  es  hüs, 

Ungleck  herüs. 

St.  Johannes  stira, 

St.  Johann  soma, 

's  Gald  wurd  bald  kumma, 

Bitzel,  ratzel 

Schonazazel 

Mit  77  junge  Rawaknacht 

Gan  is  auii  a  Wecka, 

Met  77  Ecka, 

Gan  is  aui  ^  a  Küacha, 

Mer  wana  scho  versüacha, 

Gan  is  noch  a  Schteckel*  Spack, 

Soscht  geh  mer  net  vo  der  Ther  awak. 

KeeUnkciU  (Kreis  Schlettstadt.)  ^  In  Kestenholz  wird  am  Jo- 
bannistag  ein  sogenanntes  Johannisfeuer  angezündet  Die  Jünglinge 
sammeln  Holz  und  singen  folgende  Worte: 

«Salwei,  klarei, 

St.  Johannes  Stirel, 

Gan  is  fer  a  Firel. 

Mer  se  vo  St  Maretz  (St.  Moritz), 

Gan  is  aui  Schnetz ; 

Mer  se  vo  St.  Marta  (St.  Martin), 

Mer  kena  net  erwarta; 

Mer  se  vo  Keschtaholz, 

Gan  is  aui  a  Schitel  Holz  ; 

A  Schit  a  rüs 

Oder  i  schlag  a  Loch  es  Hüss.» 


1  Gebet  uns  auch. 
*  Stückchen. 


—   ie»  — 

St.  NikolaoB. 

Orschweier  (Kreis  Qebweiler).  —  Unartige  Kinder  pftegt  man  da- 
durch einznschücktam,  dass  man  ihnen  vorstellt,  Hans  Trapp  käme 
zur  Thür  herein  mit  dem  Kopf  unter  dem  Arm,  mit  ledernen  Zähnen 
und  mit  dem  Hintern  im  Schnappsack. 

Sitschtoeüer  (Kreis  Thann).  —  Am  Nikolausfest  verstecken  sich 
die  Kinder,  wenn  abends  der  St.  Nikolaus  mit  dem  Hans  Trapp 
kommt,  und  sprechen : 

«Balla,  kapa, 

Ga  mer  Sü! 

Da  Sü  esch  di ! 

Niki,  naki, 

Hinterm  Ofa  stak  i!> 

Bedeutungsvolle  Tage. 

ürbis  (Kreis  Thann).  ~  Wer  am  12.  Juli,  also  am  Feste  «Hein- 
rich>  auf  einen  Baum  steigt,  fallt  herunter. 

Wingenheim  (Kreis  Colmar»  —  Regnet  es  den  ^.  Dezember 
(St.  Nikolaus;  und  den  5.  August  (Maria  Schnee),  so  erfrieren  die 
Reben. 

Regnet  es  den  8.  Juni  (Medard ,  so  soll  es  die  darauf  folgenden 
vierzig  Tage  regnen. 

Tctgolsheim  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  man  an  Barbara  (4.  De- 
zember) einen  Zweig  eines  Apfelbaumes  in  einem  Gefass  mit  Wasser 
in  die  Wärme  stellt,  so  blüht  der  Zweig  an  Weihnachten. 

Kiffis  (Kreis  Altkirch.)  —  Am  Tage  des  hl.  Laurenzius  (10.  Au- 
gust) findet  man  überall,  wo  man  nachgräbt,  Kohlen. 

Da   es  um   diese  Zeit   keine   heftigen    Gewitter   mehr   gibt,    so 

sagt  man : 

«St.  Loranz 

Hetts  Watter  verschlanzt.» 

üttenheim  (Kreis  Erstein  <.  —  Am  26.  Juni,  am  Tage  von  Johannes 
^nd  Paulus,  gehen  die  Schulknaben  von  Haus  zu  Haus  und  sammeln 
Holz.  Dasselbe  wird  am  Abend  vor  dem  Dorfe  verbrannt  als  soge- 
nanntes <  Hage  1  f euer  >• 

Beim  Holzsammeln  singen  die  Kinder: 

«Ga  nis  euw  a  Stirl 

Züam  a  Heulfirl, 

Sankt  Blasa,  Sankt  Blasa, 

Ga  nis  euw  a  altr,  stumpfigr  Basa, 

Sankt  Martin,  Sankt  Martin 

Ga  nis  euw  a  Scheppala  Winn, 

Sankt  Fidd,  Sankt  Fidd 

Ga  nis  euw  a  Schitt, 

Sankt  Teil,  Sankt  Teil 

War  nigs  gedd,  dar  kummt  i  d'Hell.» 

En8i8?ieim  (Kreis  Geb weiler).  —  Der  Dreifaltigkeits- 
sonntag   will    drei    Opfer    haben;     einen    Ertrunkenen,     eioeo 


—    169    — 

Erhängten  nnd  einen  Verunglückten.   Die  Kinder  werden  vom  Baden 
nnd  Klettern  auf  Bäumen  abgehalten. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  am  Dr  eifaltigkei  tss  onn- 
tag  Regen  fällt,  so  erntet  man  um  die  dritte  Garbe  weniger  Ge- 
treide. 

Am  14.  Mai;  am  Tage  des  hl.  Bonifacius,  werden  die  Bohnen 
gesetzt.  Es  herrscht  nämlich  der  Glaube,  dass  sie,  an  diesem  Tage 
gesetzt,  besser  gedeihen. 

Am  Tage  des  hl.  Blasius  und  der  hl.  Agatha  erhält  jedes  Stück 
Vieh  ein  kleines  Stück  des  gesegneten  Brodes,  um  sie  vor  der  bösen 
Gewalt  zu  schützen. 

Wenn  am  Tage  des  hl.  Pankratius  Regen  fällt,  so  fallen  die 
Birnen  herunter,  wären  sie  auch  mit  Draht  befestigt. 

Gebart  und  Taufe. 

Oberaulzbach  (Kreis  Thann).  —  Wenn  ^n  Kind  getauft  wird  und 
dasselbe  schreit,  so  sagt  man:  Das  Kind  bleibt  gesund  und  wird 
stark;  weint  das  Kind  dagegen  nur  wenig,  so  glaubt  man,  es  werde 
nicht  viel  mit  ihm  werden.  Weint  aber  das  Kind  gar  nicht,  so  wird 
es  bald  sterben. 

Bäldersheiin  (Kreis  Mülhausen),  —  Ist  bei  einer  Kindtaufe  die 
Patin  schön  gekleidet,  so  sagt  man,  dass  auch  das  Kind  immer  schön 
gekleidet  sein  werde. 

Niedermorschtoeüer  (Kreis  Mülhausen).  —  Wenn  eine  Wöchnerin 
zum  ersten  Male  ausging,  riefen  ihr  die  altern  Leute  zu :  <I  wünsch 
dr  Glick  an  d^Sunna  un's  nechsta  Johr  wieder  umma.» 

So  war  es  bis  187(^ 

Hochzeit. 

Niedermorachweiler  (Kreis  Mülhausen).  —  Wenn  die  Brautleute  am 
Altare  knieen,  giebt  der  «Ehrenknabe»  dem  Bräutigam  eine  Ohrfeige 
und  sagt:  «Gang  ab  dr  Gassa.» 

So  war  es  bis  1870. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Hier  sagt  man :  «Eine  lustige  Braut, 
eine  traurige  Frau  >  Deshalb  sieht  man's  nicht  gerne,  wenn  eine 
Braut  fröhlich  ist. 

Baneenheim  (Kreis  Mülhausen).  —  In  früheren  Zeiten  trug  die 
Braut  keinen  künstlichen  Kranz  wie  heutzutage,  sondern  einen  grünen, 
der  von  der  Braut  selbst  aus  Rosmarin  verfertigt  wurde.  Wenn  die 
Hochzeitsleute  nach  der  Trauung  die  Kirche  verliessen,  entfernten 
sich  die  zwei  Brautleute  vom  Hochzeitszuge,  jedoch  so,  dass  sie  von 
den  andern  nicht  gesehen  wurden.  Sie  gingen  in  ein  nahe  bei  der 
Kirche  gelegenes  Haus.  Bemerkten  alsdann  die  Hochzeitsleute,  was 
vorgefallen  war,  so  wurden  die  zwei  Geflüchteten  gesucht.  Sie 
gingen  von  Haus  zu  Haus,  und  so  geschah  es  manchmal,  dass  sie 
sämtliche  Häuser  durchsuchen  mussten,  bis  sie  dieselben  fanden. 
War  nun  der  Hochzeitszug  zu  Hause  angekommen,  so  streute  eine 
Person  Weizenkömer  über  die  zwei  Getrauten,  als  Zeichen  der  Frucht- 
barkeit.   Hatte  die  Braut  die  Stube  betreten,  so  nahm  man  ihr  den 


—    170    — 

Kranz  vom  Kopfe  ab.   Derselbe  wurde  sofort  unter  dem  Aussprache 
der  drei  höchsten  Namen  verbrannt. 

Baldersheim  (Kreis  Mülhausen).  —  Schneidet  die  Brant  ihr  Hoch- 
zeitskleid  selbst  zu,  so  zerschneidet  sie  aach  zugleich  ihr  Gluck. 

AUdarf  (Kreis  Molsheim).  —  Stammte  die  Braut  aus  einem  be- 
nachbarten Dorfe,  so  wurde  sie  am  Hochzeitstage  mit  einem  Wagen 
abgeholt.  Dem  Wagen  voraus  ritt  ein  schön  bekränzter  Jüngling. 
Während  die  Braut  auf  den  Wagen  stieg,  trank  der  Reiter  ein  Glas 
Wein  auf  das  Wohl  des  zukünftigen  Paares.  Bei  der  Abfahrt  warf 
er  das  Glas  auf  den  Boden.  Zerbrach  das  Glas  nicht,  so  stand  dem 
jungen  Ehepaar  Unglück  bevor.  Ging  hingegen  das  Glas  in  Stücke, 
so  war  dies  ein  Zeichen  des  Glückes,  und  dies  wurde  um  so  grösser, 
je  zahlreicher  die  Scherben  waren. 

Ältorf  (Kreis  Molsheim).  —  Vor  Jahren  führte  der  Bräutigam 
die  Braut  selbst  in  die  Kirche.  Auf  diesem  Gange  durfte  er  die 
Braut  nur  an  einer  Ecke  der  Schürze  festhalten. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Fällt  in  unserer  Pfarrkirche  eine 
Trauung  und  eine  Leichenfeier  auf  den  nämlichen  Tag,  so  sagen  die 
Leute,   eines   von  den  beiden  jungen  Ehegatten  müsse  bald  sterben. 

Niedermorachweüer  [Kreis  Mülhausen).  —  Wenn  die  Eheleute  aus 
der  Kirche  kommen,  werden  sie  nicht  ins  Haus  eingelassen,  bis  sie 
versprechen,  etwas  zu  bezahlen. 

Niedermorschioeüer  (Kreis  Mülhausen).  —  Wenn  die  Eheleute  aus 
der  Kirche  kommen,  nimmt  der  Brautführer  dem  Ehemann  die  Braut 
und  gibt  sie  ihm  nur  gegen  ein  Geschenk  oder  ein  Verspredien 
wieder  zurück. 

So  war  es  bis  1870. 

ürbis  (Kreis  Thann).  —  Wenn  einer  zum  zweiten  Male  heiratet, 
so  gehen  abends  während  des  Abendessens  die  jungen  Leute  vor  das 
Haus  und  machen  mit  Glocken,  Deckeln,  Kochhäfen  u.  s.  w.  eiii«i 
grossen  Lärm,  man  nennt  dieses  Schariwari.  Alsdann  werden  die 
betreffenden  hereingerufen  und  bekommen  zu  essen  und  zu  trinken. 

Krankheiten. 

Ingersheim  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  Mittel  gegen  Magenfiebec. 
Wenn  jemand  Magenfieber  hat,  so  soll  er  ein  wenig  Kampfer,  Frauen- 
haar (Pflanze),  Brotkrumen  und  Knoblauch  untereinandermengen. 
Diese  Mischung  muss  er  in  ein  Tüchlein  einwickeln«  Bei  Sonnen- 
aufgang wird  die  Mischung  mit  dem  Tüchlein  mittelst  einer  Schnur 
um  den  Hals  gehängt,  so  dass  das  Tüchlein  mit  der  Mischung  auf 
dem  Magen  liegt  Dieses  muss  man  neun  Tage  auf  dem  Iftagen 
liegen  lassen.  Bei  Sonnenaufgang  am  neunten  Tage  trägt  man  die 
Mischung  in  ein  fliessendes  Wasser.  Beim  Hineinwerfen  in  das 
Wasser  kehrt  man  demselben  den  Rücken.  Die  Mischung  wird  über 
die  linke  Schulter  in  das  Wasser  geworfen ;  dabei  darf  man  sich  nicht 
umsehen.  Wenn  man  alles  genau  so  macht,  wird  die  Krankheit 
schwinden;  unterlässt  man  aber  etwas  davon,  wird  das  Fieber  nicht 
geheilt. 


—    471     — 

Bischofsheim  (Kreis  Molsheim).  —  Mittel  für  Zahnweh.  Hat  man 
Zahnschmerzen,  so  nehme  man  einen  neuen  Nagel  und  steche  damit 
so  lange  in  den  Zahn  oder  in  das  Zahnfleisch  um  denselben,  bis  er 
blutig  ist;  dann  schlage  man  den  blutigen  Nagel  in  eine  Stelle,  wo 
weder  Sonne  noch  Mond  hinscheint.  Die  Schmerzen  sollen  sofort 
aufhören. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  man  Brot  isst,  das  in  einem 
neuen  Backofen  gebacken  wurde,  bekommt  man  innerhalb  einer 
Jahresfrist  kein  Fieber. 

OberstiUbach  (Kreis  Thann).  —  Wer  Kuchen  isst,  der  in  einem 
neuen  Backofen  gebacken  wurde,  der  braucht  keine  Angst  zu  haben, 
von  der  Schwindsucht  befallen  zu  werden. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Wer  mit  der  Gliederkrankheit  behaftet 
ist,  darf  während  sechs  Wochen  keinen  Kirchhof  betreten,  nicht  über 
fiiessendes  Wasser  und  nicht  in  die  Kirche  gehen,  sonst  sind  alle 
Mittel  erfolglos. 

Seniheim  (Kreis  Thann).  —  Ein  Mittel,  den  Kindern  das  Zahnen 
zu  erleichtern.  Glaubt  man,  dass  ein  Kind  schwer  zahnt,  so  muss 
sich  der  Vater  des  Kindes  nach  einem  lebendigen  Maulwurf  umsehen. 
Bei  einem  Knaben  muss  es  ein  männlicher  Maulwurf  sein  und  um- 
gekehrt. Der  Vater  muss  das  Tier  in  seinen  Händen  sterben  lassen. 
Hierauf  werden  dem  toten  Maulwurf  die  beiden  vorderen  Füsse  ab- 
geschnitten. Dieselben  werden  in  ein  Säckchen  eingenäht,  und  der 
Vater  muss  diese  kostbare  Reliquie  einige  Zeit  um  den  Hals  hängen 
und  mit  sich  herumtragen. 

Wurde  noch  vor  einigen  Monaten  angewandt. 

Oberstdjsbach  (Kreis  Thann).  —  Arzneien  oder  überhaupt  Flüssig, 
keiten,  welche  den  Kranken  gereicht  werden,  dürfen  nicht  mit  der 
Spitze  eines  Messers  umgerührt  werden,  sonst  bekommt  der  Kranke 
das  Stechen. 

Wird  jetzt  noch  von  vielen  Leuten  geglaubt. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  In  der  Umgegend  sind  Leute,  die  sich 
mit  Hilfe  von  geheimen  Gebeten  und  Zeichen  verschiedene  Gewalten 
zuschreiben.  So  könnten  sie  z.  B.  starken  Blutverlust  gänzlich  stillen, 
ohne  dass  sie  selbst  gegenwärtig  sind.  Diese  geheime  Kunst  nennt 
man  «bschurme>. 

Tod. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  sich  in  einem  Hause  viele 
Mäuse  befinden,  so  deutet  dies  einen  baldigen  Todesfall  in  der 
Familie  an. 

BoppenzweHer  (Kreis  Altkirch).  —  Stirbt  ein  Verwandter  in  der 
Fremde,  so  sagt  man,  er  würde  dieselbe  Nacht,  in  der  er  stirbt,  zu 
Hause  einen  warnen.  Dieses  kann  in  Klopfen  oder  Poltern  im  Hause 
bestehen,  oder  es  kann  plötzlich  ein  Licht  erscheinen,  oder  man  kann 
eine  Uhr  schlagen  hören,  die  sogenannte  Totenuhr. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Beim  Sterben  einer  Person  wird  in 
dem   betreffenden  Hause   sofort  alles   «gerührt»,  wie  die  Leute  sich 


—     17-2     — 

ausdrücken.  Das  Vieh  nnd  die  Schweine  werden  in  ihren  Stallen 
aufgejagt.  Der  Wein  and  andere  im  Hanse  sich  befindlichen  Flüssig- 
keiten werden  geschüttelt,  sogar  die  Erde  in  den  Blumentöpfen  wird 
aufgewühlt,  sonst  würde  nach  dem  Glauben  der  Bewohner  in  kurzer 
Zeit  alles  absterben,  die  Flüssigkeiten  dagegen  schwinden. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Nach  der  Beerdigung  einer  Person 
werden  sofort  des  Verstorbenen  Kleider,  Bettzeuge  etc.  gewaschen. 
In  dem  Strohsack  des  Bettes  wird  neues  Stroh  gethan.  Man  glaubt, 
wenn  dies  alles  nicht  geschehe,  so  würde  der  Verstorbene  keine 
Ruhe  finden. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  jemand  stirbt  so  wird  bei 
der  Leiche,  nebst  einer  beliebigen  Anzahl  Kerzen  noch  ein  Oel- 
lämpchen  angezündet  und  bis  zur  Beerdigung  brennend  erhalten. 
Sobald  aber  am  Beerdigungstage  die  Leiche  aus  dem  Hause  getragen 
ist,  wird  das  Lämpchen  in  den  Backofen  gestellt  und  fleissig  nachge- 
sehen, ob  dasselbe  während  der  Beerdigungsfeierlichkeit  auslöscht 
Ist  dies  der  Fall,  so  wird  es  als  ein  gutes  Zeichen  angesehen.  Es 
herrscht  nämlich  der  Glaube,  dass  dann  die  Seele  der  Terstorbenen 
Person  an  ihren  gehörigen  Ort,  d.  h.  an  einen  guten  Ort  ge- 
kommen sei. 

Bitschtoeüer  (Kreis  Thann).  —  Folgen  bei  einem  Leichenzug  die 
Frauen  in  einem  grossen  Abstände  hinter  den  Männern  nach,  so 
glaubt  man,  es  werde  bald  wieder  jemand  sterben. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Viele  Leute  glauben  fest,  dass 
Verstorbene,  die  ein  Versprechen,  wie  eine  Wallfahrt  zu  machen,  Messen 
lesen  zu  lassen  etc.,  nicht  erfüllen  konnten,  im  Grabe  keine  Ruhe  finden 
und  Verwandte  oder  Freunde  auf  das  Versprechen  durch  Erzeigen 
etc.  aufmerksam  machen  und  sie  bitten,  dasselbe  zu  erfüllen. 

Haben  Verstorbene  Geld  vergraben,  so  finden  sie  keine  Enhe, 
bis  das  Geld  gefunden  ist. 

Ensisheim  [Kreis  Gebweiler).  —  Alte  Leute  behaupten,  dass  der 
Priester  die  Verstorbenen,  für  welche  er  die  hl.  Messe  liest,  während 
der  hl.  Wandlung  in  Person  sieht  und  erkennen  kann,  an  welchem 
Orte  im  Jenseits  sie  sich  befinden. 

Von  Vermissten  erfahrt  der  Priester,  ob  sie  noch  leben  und  wo 
sie  sich  aufhalten.     Solche  Messen  heissen  Zwingmessen. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Beim  Tode  eines  Familienange- 
hörigen werden  Wasser  und  Milch  ausgeschüttet :  die  Leute  behaiq^ten, 
die  Seele  des  Verstorbenen  fährt  durch  Wasser  und  Milch. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Einer  toten  Weibsperson,  welche 
bei  der  Geburt  des  Kindes  starb,  pflegt  man  Schuhe  an»n riehen. 
Man  glaubt  nämlich,  die  Mutter  kommt  sechs  Wochen  in  der  Nacht 
zu  ihrem  Kinde,  um  es  zu  nähren.  Man  legt  ihr  Schuhe  an,  um  sie 
zu  hören,  wenn  sie  kommt. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Ist  der  tote  Leichnam  runzelig, 
wenn  man  ihn  in  den  Sarg  legt,  so  holt  er  jemand  nach,  d.  h.  es 
stirbt  jemand  aus  der  Verwandtschaft  kurze  Zeit  darauf. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  während  der  hl.  Wandlung  die 


—    173    — 

Tarmahr  schlägt,  gilt    dies  als  ein  Zeichen,   dass   bald  jemand  im 
Dorfe  stirbt. 

Hexen  nnd  Geister. 

Boppemtoeiler  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  man  draassen  etwas 
findet,  so  soll  man  zuerst  das  Kreuz  darüber  machen,  denn  der  böse 
Geist  könnte  Gewalt  darüber  haben. 

Boppenzweiler  (Kreis  Altkirch).  —  Es  herrscht  der  Aberglaube 
dass  des  Nachts  nach  dem  Abendläuten  alle  Katzen  Hexen  seien,  be- 
sonders die  schwarzen. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Weibsleute  sollen  nach  dem 
Läuten  der  Betglocke  nicht  ohne  Schürze  das  Haus  verlassen,  weil 
sonst  die  Hexen  Gewalt  über  sie  haben. 

Ingersheim  'Kreis  Rappoltsweiler).  —  Abends  nach  dem  Läuten 
des  englischen  Grusses  soll  man  keine  Milch  mehr  über  die  Gasse 
tragen,  sonst  wird  sie  verhext  werden. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  man  nach  der  Betglocke  Milch 
Ton  einem  Hause  ins  andere  trägt,  so  besprengt  man  sie  mit  Weih- 
wasser. Man  glaubt  nämlich,  die  Hexen  hätten  um  diese  Zeit  Gewalt 
darüber. 

Leute,  die  fest  daran  glauben,  geben  um  diese  Zeit  keine  Milch 
mehr  aus  dem  Hause 

Oberaulzbach  (Kreis  Thann).   —    Wenn   es  Betezeit  geläutet  hat, 
darf  keiner  Katze  mehr  etwas  mit  der  rechten  Hand  oder  Fuss  ge- 
than  werden,   wohl  aber  mit  der  linken,  sonst  erhält  der  böse  Geist 
über  einen  Gewalt. 

Osenbach  (Kreis  Gebweiler).  —  Die  Hexen  lassen  sich  viel  in  der 
Gestalt  von  Hasen  sehen.  Wenn  man  einen  solchen  Hasen  halten 
oder  schlagen  will,  so  muss  man  es  mit  der  linken  Hand  thun,  denn 
mit  der  rechten  wird  man  ihn  nie  treffen. 

Osenbach  (Kreis  Gebweiler).  —  Ein  Mann,  der  schon  mehrere 
Ochsen  verloren  hatte,  und  dem  wieder  einer  krank  wurde,  nahm 
auf  Anraten  eines  Wiedertäufers  ein  schwarzes  Huhn,  das  aber  keinen 
weissen  Fleck  haben  durfte,  und  schlug  es  in  einem  Sacke  so  lange 
mit  drei  Haselruten,  bis  er  glaubte,  es  sei  tot.  Als  er  aber  den 
Sack  aufthat,  sprang  das  Huhn  fort.  Am  andern  Tage  aber  lag  eine 
Frau,  die  als  eine  Hexe  verrufen  war.  im  Bett  und  starb  zwei  Tage 
darauf.  Als  der  Wiedertäufer  etwas  über  den  Ochsen  gesprochen 
hatte,  wurde  er  wieder  gesund. 

Boppenzweiler  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  jemand  in  einem  andern 
Haus  Milch  holt,  so  gibt  ihm  der  Besitzer  des  Hauses  Weihwasser 
und  sprengt  auch  davon  in  die  Milch,  damit  der  böse  Feind  keine 
Gewalt  hat 

Kiffia  (Kreis  Altkirch).  —  Findet  man  auf  einem  Acker  den 
Zahn  einer  Egge,  und  zwar  so,  dass  die  Spitze  nach  oben  schaut, 
80  nimmt  man  ihn  am  Weihnachtsabend  in  die  Messe.  Schaut  man 
während  der  Wandlung  durch  denselben,  so  sieht  man  die  Hexen 
opfern 


—    174    — 

Bitschweüer  (Kreis  Thann).  —  Früher  glaabte  man,  und  die  alten 
Leute  glauben  noch  heute,  dass  ein  Marksteinversetzer  nach  dem 
Tode  als  feuriger  Mann  erscheinen  müsse. 

Gereuth  (im  Weilerthal).  —  Hier  glauben  die  alten  Leute,  dass. 
wenn  man  einen  gehörnten  Ochsenkopf  im  Stalle  aufhängt,  das  Vieh 
Tor  den  Hexen  bewahrt  wird. 

Katzenthal  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  In  Katzenthal  verordnen 
alte  Leute,  einen  ganz  schwarzen,  fleckenlosen  Geisbock  zu  halten, 
-durch  welchen  das  Vieh  vor  den  Hexen  bewahrt  werde. 

Kiffis  (Kreis  Altkirch).  —  Legt  man  ein  Brot  so  auf  den  Tisch, 
dass  die  Obenseite  nach  unten  kommt,  so  haben  die  bösen  Leute 
Gewalt  im  Hause. 

Kiffis  (Kreis  Altkirch).  —  Liegt  ein  Messer  auf  dem  Rücken,  so 
reitet  der  Teufel  darauf,  und  man  schneidet  der  lieben  Muttergottei 
ins  Herz. 

Oaenbach  (Kreis  Gebweiler).  —  Tötet  jemand  dem  Nachbarn  die 
Hühner,  und  will  man  diesem  Menschen  schaden,  so  muss  man  das 
Herz  eines  Huhnes  nehmen,  es  voller  Nadeln  stecken  und  dann  in 
das  Kamin  hängen.  So  wie  das  Herz  nach  und  nach  verdorrt,  so 
wird  auch  das  Leben  des  Menschen  nach   und  nach  dahin  schwinden. 

AJtorf  (Kreis  Molsheim).  —  War  eine  Hexe  im  Stall,  so  dass  die 
Xühe  mager  wurden  oder  wenig  Milch  gaben,  dann  rief  man  den 
Hexenmeister.  Dieser  verlangte  ein  schwarzes  Huhn  in  einem  neuen 
'Sacke,  um  Mittemacht  schlachtete  der  Künstler  das  Huhn.  Zu 
derselben  Zeit  musste  sich  der  Eigentümer  des  Viehes  mit  der 
Windmühle  auf  den  Dunghaufen  stellen  und  diese  in  Bewegung 
bringen.    So  wurde  die  Hexe  aus  dem  Stalle  vertrieben. 

Oaeribach  (Kreis  Gebweiler).  —  Wenn  eine  Kuh  verhext  ist,  so 
nimmt  man  die  Milch  derselben  und  schlägt  sie  mit  drei  Haselruten, 
welche  vor  Sonnenaufgang  in  den  drei  höchsten  Namen  gehauen 
werden,  so  lange,  bis  sie  blutrot  wird.  Dann  wird  die  Hexe  kommen 
und  etwas  verlangen,  aber  man  soll  ihr  die  Thüre  nicht  öffnen. 

Man  lässt  auch  manchmal  die  Milch  in  einen  feurigen  Hafen- 
-deckel  laufen. 

Ohersulzbach  (Kreis  Thann).  —  Kin  Mittel,  eine  Hexe  in  einem 
Hause  zu  bannen.  Kommt  eine  Hexe  in  ein  Hans  und  man  stellt 
einen  Besen  hinter  die  Hausthür,  aber  derart^  dass  der  Stiel  am 
Boden  steht,  so  kann  die  Hexe  nicht  mehr  zum  Haus  hinaas.  Ins 
der  Besen  weggenommen  ist  Dasselbe  kann  man  erreichen,  wenn 
man  einen  Laib  Brot  verkehrt  auf  den  Tisch  stellt. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  ein  Haus  abgebrochen  nnd  aa 
einem  anderen  Orte  wieder  emchtet  wird,  stellt  man  an  der  früheres 
Stelle  zwei  Ziegel  in  Form  eines  Daches  gegen  einander,  damit  das 
Gespenst,  das  sich  im  Hause  befand,  darunter  wohnen  kann. 

Enstsheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Wenn  die  Brüstchen  der  kleinen 
Kinder  anschwellen  und  sich  mit  Milch  oder  Wasser  füllen,  so 
isagen  die  Leute,  s'Dockala  kommt  des  Abends  und  sangt  bei  dem 
Kinde. 


—    175    — 

Mittel,  s'Dockala  zu  vertreiben. 

Es  wird  den  Kindern  ein  in  der  Oktav  des  Fronleichnamsfestes 
geweihtes  Kranzchen  anf  die  Bmst  gelegt.  Andere  hängen  dem 
Kinde  den  Ehering  nm  den  Hals.  Am  meisten  wird  der  Dockalafoss 
(Droidenfnss)  angewandt.  Es  gibt  einen  einfachen  nnd  einen 
doppelten.  Der  Dockalafoss  mnss  in  «inem  Zuge  gemacht  werden. 
Man  macht  ihn  an  die  Thüre  nnter  Sprechen  der  drei  höchsten  Manen. 
AUe  Ritzen  nnd  selbst  das  Schlüsselloch  werden  verstopft.  Die  Leute 
behaupten,  dass  man  anf  diese  Weise  das  Dockala  abhalten  nnd  ver- 
treiben kann. 

Orschtceier  (Kreis  Gebweiler).  —  Es  geht  die  Sage,  dass,  wer  an 
Weihnachten  in  der  Mitternachtsmesse  ein  Ei  von  einem  schwarzen 
Hnhn  oder  einen  Eggenzahn  in  der  Tasche  trage,  mit  Hilfe  dieser 
Dinge  erkennen  könne,  wer  eine  Hexe  sei.  Dieselbe  werde  nämlich 
plötzlich  das  Gesicht  im  Nacken  haben  und  den  Betreffenden,  der 
die  Untersuchung  anstellt^  unverwandt  ansehen. 

Dessenheitn  (Kreis  Colmar).  —  Wenn  man  an  Weihnachten  in 
die  Mittemachtsmesse  neunerlei  Holzstabchen  zusammengebunden 
mitnimmt,  so  müssen  die  Hexen  während  der  hl.  Wandlung  sich 
umkehren  und  rückwärts  schauen.  Aber  nur  jene  Person  sieht  die 
Hexen,  welche  die  Holzstäbchen  in  der  Tasche  hat. 

Emisimm  (Kreis  Gebweiler).  —  Wer  am  Weihnachtsabend  vor 
Beginn  des  Gottesdienstes  zwei  Messer  in  Form  eines  Kreuzes  auf 
eine  Brunnenschale  legt  oder  ein  4  blätteriges  Kleeblatt  oder  dreierlei 
Holz  in  der  Tasche  trägt,  erkennt  in  der  Mittemachtsmesse  die  Hexen. 
da  sie  während  der  Wandlung  ihr  Gesicht  vom  Altare  weg  nach 
hinten  richten. 

Der  Betreffende  muss  aber  vor  Schlnss  des  Gottesdienstes  die 
Kirche  verlassen,  weil  jene  im  Freien  demselben  Leid  zufügen  und 
Gewalt  über  ihn  haben,  bis  der  englische  Grass  des  Morgens  ge- 
läutet wird. 

Osenbach  (Kreis  Gebweiler).  —  Das  sogenannte  «Dogala»  soll 
des  Nachts  in  der  Gestalt  einer  Katze  kommen.  Es  soll  auf  die 
Brust  des  Menschen  sitzen,  so  dass  man  nicht  mehr  schnaufen  kann. 
Wenn  man  mit  Licht  kommt,  so  soll  es  f ortlauf en,  oder  sich  in  ein 
anderes  unscheinbares  Ding  verwandeln. 

Boppenztoeüer  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  ein  Geist  zu  einem 
kommt,  so  sagt  man:  «Alle  guten  Geister  loben  Gott  den  Herrn!» 
Dann  fragt  man  ihn :  «Was  ist  dein  Begehren  ?>  und  gibt  ihm  die 
Hand,  aber  nur,  wenn  er  antwortet.  Antwortet  er  nicht,  so  reicht 
man  ihm  den  Nastuchzipfel,  sonst  würde  die  Hand  verbrennen.  Das 
Jahr  darauf  aber  stirbt  man. 

Türkheim  (Kreis  Colmar).  —  Nachtjäger.  Hier  besteht  allgemein 
der  Glaube  an  einen  Nachtjäger,  das  sogenannte  «Hüsstata-Männchen» . 
Jede  ältere  Person  weiss  etwas  davon  zu  erzählen. 

Ein  Mann  bewässerte  des  Nachts  nach  12  Uhr  in  dem  sog. 
Rotenbuch  seine  Wiese.  Plötzlich  hörte  er  ein  wildes  Schreien  und 
Hnndegebell.    Da  sauste  von  einem  Berge  herunter  eine  Hundeschar 


—    176    — 

an  ihm  vorüber.  Ebenso  rasch  eilte  sie  den  gegenüberliegenden 
Berg  hinauf  nnd  verschwand  hinter  demselben.  Noch  einige  Zeit 
lang  will  der  Mann  das  Geheal  in  den  Lüften  gehört  haben. 

Besonders  viel  soll  das  Hüsstata-M&nnchen  aaf  dem  Eichberg 
gesehen  werden.  (Dies  ist  der  Rebhügel,  an  dem  Türkheim  ange- 
lehnt ist.) 

Zur  Zeit  der  fcanxötischen  Revolution  lebta  hier  ein  Gelehrter, 
der  sich  aaf  Schwarzkanst  verstanden  haben  soll.  Einst  fahr  er  mit 
seinem  Schwager  in  einer  Kutsche  von  Walbach  nach  Türkheim  and 
zwar  des  Nachts  um  die  zwölfte  Stunde.  Als  sie  an  das  Thal  kamen, 
das  den  Schlossberg  (Plixburg)  von  dem  Stauffen  trennt,  sagte  er 
zu  seinem  Schwager:  «Ich  will  dir  etwas  zeigen!»  Mehrmals  rief  er 
nun  zur  Thüre  hinaus:  «Hüssta-ta!>  In  demselben  Augenblick  um- 
kreisten Hunde,  Pferde  von  schwarzen  Jägern  beritten  die  Kutsche. 
Es  entstand  ein  furchtbares  Hundegeheul,  und  von  allen  Seiten  her 
erscholl  der  unaufhörliche  Ruf:  <Hüssta-ta!>  Dies  dauerte  einige 
Zeit  fort,  bis  der  Schwarzkünstler  etwas  zur  Kutsche  hinausriel 
Plötzlich  war  es  wieder  still. 

Man  bezeichnet  besondere  Orte,  an  welchen  Geister erscb einungen 
häufig  sein  sollen.  So  das  abengenannte  Rotenbach.  (Dies  ist  das 
Thal,  durch  welches  die  Strasse  nach  Drei-Aehren  fuhrt)  Dann  der 
Schlossberg  (Plixburg),  an  dem  sich  die  bekannte  Sage  von  dem  Burg- 
fräulein knüpft.  Ferner  das  westlich  von  Türkheim  gelegene  Hausen- 
feld.  (Hier  sollen  vor  dem  30jährigen  Krieg  Häuser  gestanden  haben). 

Auf  diesem  Felde  hörten  mehrere  Arbeiter  im  Jahre  1884  ein 
Jammern  in  den  Lüften.  Es  kam  vom  Schlossberg  her  und  schallte 
nach  dem  Hohnack  hinüber. 

Lützel  (Kreis  Altkirch).  —  Ein  Förster  aus  Dürlinsdorf  ging  in 
die  Wälder  der  Lützler  Klosterherren.  Als  er  durch  den  Wald  schritt, 
sah  er  auf  einmal  ein  Schloss  vor  sich.  Der  Förster  verwunderte 
sich,  hier  ein  Schloss  zu  sehen.  Diese  Stelle  war  sonst  mit  Wald 
bedeckt,  und  der  Förster,  der  die  Gegend  gut  kannte,  wusste  es  wohL 
In  dem  Schlosse  ging  es  lustig  zu.  Als  der  Förster  hineintrat,  kam 
«r  in  einen  grossen  Saal,  wo  viele  Hexen  ein  lustiges  Mahl  hielten. 
•Sie  assen,  tranken,  sangen,  und  unter  dem  Schall  der  Musik  tanzten 
sie.  Bei  seinem  Eintritt  fragte  man  den  Förster,  ob  er  in  diese 
Gesellschaft  eintreten  wolle.  Da  er  Ja  sagte,  reichten  ihm  die  Hexen 
ein  Buch  und  forderten  ihn  auf,  seinen  Namen  in  dasselbe  einzu- 
tragen. Er  sollte  nämlich  unterschreiben,  dass  er  von  Gott  abfalle. 
Da  schrieb  er  den  Namen  «Jesus»  hinein.  Plötzlich  verschwand  das 
Schloss  mit  allen  Hexen,  und  der  Förster  sass  mit  dem  Buch  in  der 
Hand  mitten  in  einem  Dornbusche.  In  dem  Buch  waren  die  Namen 
vieler  eingetragen,  die  der  Förster  persönlich  kannte.  Zu  Hause 
angekommen,   gab  er  das  Buch  dem  Pfarrer,  welcher  es  verbrannte, 

Winkel  (Kreis  Altkirch).  —  Gespensterhafter  Ort  Zwei  Bftänner 
•hielten  bei  ihren  Herden  Nachtwache.  Die  Weide  war  umzäunt  und 
lag  im  Distrikt  Wiukler  Reben.  Mittendurch  führte  ein  Weg.  Ds 
.sahen  die  Hirten  zwei  Reiter,  die  ihre  Pferde  der  Thüre  zu  lenkten. 
Der   eine    der  Hirten    sagte   zu  dem  andern:    «Du  machst  die  Thore 


—    177    - 

auf,  und  ick  luklte  den  Hut  hin.  Das  sind  Tomehme  Hemn,  und  da 
gibt  es  ein  h&bsches  Trinkgeld.»  Wie  dieser  von  Trinkgeld  sprach, 
verschwanden  die  Reiter.  Am  folgenden  Morgen  waren  die  Köpfe 
der  Hirten  heftig  angeschwollen. 

Obersulzhach  (Kreis  Thann).  —  Früher  wurde  bai  uns  sehr  fest 
daran  geglaubt,  dass,  sobald  des  Abends  das  «Ayc  Maria»  gelautet 
wäre,  die  bösen  Geister  über  einen  Gewalt  hätten.  Deshalb  ging 
nian  am  Abend  nicht  mehr  hinaus,  um  Milch  oder  Brot  etc.  zu  holen. 
Besonders  glaubte  man  an  den  sogenannten  Nachtjäger.  Sehr  oft 
hörte  man  ihn  seinen  Hunden  rufen:  «Do  dia  dia  dia  dia!»  Man 
glaubte,  dass,  wenn  einer  dem  Nachtjäger  in  dieser  Weise  dreimal 
nachriefe,  er  ohne  Erbarmen  von  ihm  mitgenommen  würde.  So  er- 
zählt eine  Frau,  die  jetzt  einige  60  Jahre  alt  ist,  folgendes :  «Als  ich 
noch  ein  Mädchen  von  ungefähr  10  Jahren  war,  kam  es  vor,  dass 
der  X  dem  Nach^äger  in  angegebener  Weise  nachrief.  Als  der  X 
das  zweite  Mal  rief,  war  ihm  der  Nachtjäger  näher  gekommen.  Als 
er  das  dritte  Mal  nachgerufen  hatte,  nahm  ihn  der  Nachtjäger  mit 
sich  fort.  Unter  einem  Schuppen  ruhte  er  mit  ihm  aus.  Die  Leute 
aus  dem  Dorfe  eilten  ihm  nach  und  besprengten  die  Luft  mit  Weih- 
wasser. Da  Hess  endlich  der  Nachtjäger  den  X  in  einem  Walde 
(Qrossbirkenwald)  auf  einem  Klafter  Holz  liegen.  Der  Nachtjäger 
hatte  den  X  so  sehr  am  Halse  gedrückt,  dass  der  Unglückliche  fast 
nicht  mehr  atmen  konnte  und  an  dieser  Stelle  ganz  blau  war.»  Die 
Leute,  welche  dies  gesehen  haben  wollen,  halten  ea  für  wahr  und 
lassen  sich  durch  nichts  davon  abbringen. 

NiedermorschtDeüer  (Kreis  Mülhausen).  —  Abends  sab  man  öfters 
eine  Kutsche  ohne  Gespann  durch  das  Dorf  fahren. 

NiedermoTsehweHer  (Kreis  Mülhausen).  —  Auf  einer  Wiese  und 
bei  einem  Brunnen  im  Dorfe  sah  man  öfters  einen  Jäger  mit  vielen 
Hündchen,  der  rief:  «Alle  mine  Hindala  hütatata.» 

Niedermorschweiier  (Kreis  Mülhausen).  —  Abends  sah  man  öfters 
einen  grossen  Mann  mit  einem  breiten,  schwarzen  Hut  durch  das 
Dorf  gehen;  was  ihm  in  den  Weg  kam,  schlug  er  zu  Boden.  Er 
ging  immer  denselben  Weg;  er  kam  vom  Winzerhaus  her,  ging 
mitten  durchs  Dorf  und  versteckte  sich  dann  in  einer  Höhle  eines 
Hügels,  Simliberg  genannt.  Sein  Weg  führte  ihn  durch  ein  Haus; 
in  diesem  soll  er  sogar  einmal  die  Mulde,  an  welcher  die  Hausfrau 
den  Teig  bereitete,  umgeworfen  haben 

Ammerachfoeier  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  Früher  sprach  man 
viel  von  dem  Stadttier.  An  finstern  Winterabenden  lief  einer  auf 
allen  Vieren,  eine  Zain  (einen  Korb  mit  zwei  Handhaben)  auf  dem 
Rücken,  durch  die  Gassen  und  schrie  aus  Leibeskräften.  Am  andern 
Morgen  hörte  man  dann  überall  sagen:  «Heute  Nacht  hat  aber  das 
Stadttier  wieder  gebrüllt.» 

Enstsheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Alte  Leute  behaupten,  das 
N  a'c  h  tk  al  b  gesehen  zu  haben.  Dies  ist  ein  gewöhnliches  Kalb,  das 
aber  bald  so  gross  wird,  dass  es  in  den  zweiten  Stock  hineinsehen 
kann.  Es  lacht  die  Leute  aus.  Wer  den  Arm  nach  ihm  ausstreckt 
oder  das  Fenster  öffnet,  erhält  einen  sehr  angeschwollenen  Kopf. 

12 


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Fislis  (Ks-eis  Altkirch).  —  Früher  herrschte  de^  allgememe 
Qlaabe,  dass  in  jedem  Dorfe  das  sogenannte  «Dorftier»  banse.  Wenn 
man  am  Abend  der  Fronfastentage  zwischen  11  nnd  12  Uhr  hinaos- 
ging,  so  legte  es  sich  einem  in  den  Weg.  Es  hatte  dabei  eine  nn- 
gehenre  Grösse  nnd  die  verschiedensten  Tiergestalten. 

Dies  glaubte  man  bis  1850 

Obersuigbiich  (Kreis  Thann).  —  Fenermänner.  Wenn  einer  einen 
Grenzstein  Oder  einen  Grenzpfahl  versetzt,  so  mnss  der  betreffende 
nach  seinem  Tode  als  ein  feuriger  Mann  so  lange  kommen,  bis  der 
betreffende  Stein  (Pfahl)  wieder  an  seiner  richtigen  Stelle  steht. 

So  erzählt  man  folgende  Geschichte :  Auf  einer  Wiese  wurde  oft 
ein  feuriger  Blann  gesehen.  Mehrere  Jünglinge  des  Dorfes  fassten 
den  Bntschlnss,  den  feurigen  Mann  einmal  n&her  zu  sehen  und  ihn 
nach  seinem  Begehren  zu  fragen.  Als  nun  eines  Abends  der  feurige 
Mann  wieder  an  derselben  Stelle  sich  sehen  Hess,  liefen  die  Jüng- 
linge auf  ihn  zu.  Als  sie  aber  nahe  bei  ihm  waren,  verloren  alle 
bis  auf  einen  den  Mut  und  kehrten  um.  Letzterer  aber  trat  an  den 
Feuermantt  heran  und  sprach  folgendes  zu  ihm :  «Alle  guten  Geister 
loben  Gott  den  Herrn  und  ich  auch.  Sage  mir,  welches  ist  dein 
Begehi'en  ?>  Der  Feuermann  entgegnete :  «Gehe  nach  Hause,  im 
Hausflur  wirst  du  eine  Schaufel  und  eine  Hacke  finden,  hole  sie  her. 
Der  Jüngling  that,  wie  befohlen.  Als  er  wieder  zurück  kam,  zeigte 
der  feurige  Mann  auf  einen  Grenzstein  nnd  sagte  :  «Setze  diesen  Stein 
hier  hin.»  Als  es  geschehen  war,  sprach  er  zum  Jüngling:  «Ich  bin 
dein  Taufpathe.  Nun  bin  ich  durch  dich  ein  Kind  der  Glückseligkeit 
und  in  kuzer  Zeit  wirst  du  auch  ein  solches  sein.»  Hernach  ver- 
schwand er.     Kurz  darauf  starb  der  Jüngling. 

Gewitter. 

Roppenzioeüer  /Kreis  Altkirch).  —  Kommt  ein  sehr  schweres 
Ungewitter  herangezogen,  so  nimmt  man  gesegnete  Palmen,  die  man 
aufbewahrt  hat,  und  wirft  sie  ins  Feuer.  Dadnrch,  glaubt  man, 
wird  sich  das  Wetter  verziehen. 

Tiere  und  Pflansen. 

Tagohheim  (Kreis  Altkirch)  -  Wennn  man  abends  eine  Spinne 
sieht,  hat  man  Glück;  sieht  man  sie  am  Morgen,  so  hat  man  Unglück. 

Wenn  man  eine  Elster  schreien  hört,  so  bedeutet  es  Unglück. 

Wenn  des  Abends  in  '  der  Nähe  eines  Hauses  eine  Eule  ihre 
Stimme  hören  lässt,  sagt  man,  in  dem  Hause  stirbt  jemand. 

Wenn  man  an  Adam  nnd  Eva  (24.  Dezember)  Obst  geniesst,  so 
bekommt  man  Geschwüre. 

Oberaulsbiich  (Kreis  Thann).  —  Alte  Leute  dniden  es  nicht,  dass 
man  die  gestockte  Milch  (Dickmilch)  mit  einer  Gabel  esse.  Sie  be- 
haupten, so  oft  man  mit  der  Gabel  in  die  Milch  sticht,  ebenso  oft 
sticht  man  der   K  u  h  ins  Enter. 

Münster  (Kreis  Co l mar).  —  Mittel,  um  Wanzen  zu  vertreiben. 
Man  streut  Erlenblätter  in  dem  Zimmer  umher,  in  dem  man  Wanzen 
verspürt,    oder   legt   auch  von  den  Blättern  unter  das  Bett.    In  drei 


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finstein  Nfichten  von  Vtl2?~12  Uhr  klopft  man  an  verschiedenen 
Stellen  an  den  Wänden.  Anf  dieses  Zeichen  verschwinden  die  Bett- 
wansen. 

Friesen  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  die  Vögel' wShrend'der  Sommer- 
zeit vor  den  Wohnhfinsern  Nahrang  suchen,  so  bedeutet  dies  eine 
tenre  Zeit. 

Boppenzweüer  (Kreis  AltkirchJ.  —  <Rätzt>  eine  Elster  in  der 
Nähe  eines  Menschen,  so  ist  er  am  nämlichen  Tage  noch  un- 
glücklich. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  jemand  ein  neugekauftes  Stück 
Vieh  zum  erstenmale  tränkt,  so  wirft  man  gesegnetes  Salz  ins  Wasser. 

Uitenheim  (Kreis  Erstein).  —  Wenn  jemand  eine  Eidechse  tötet, 
so  sagt  man,  dass  es  den  darauf  folgenden  Tag  Regen  gebe. 

ürbis  (Kreis  Thann).  —  Wenn  einer  ein  Rotschwänzchen  tötet, 
so  färbt  sich  die  Milch  rot. 

Uitenheim  (Kreis  Erstein).  —  Wenn  jemand  ein  Rotkelchen  tötet, 
so  sagt  man,  die  Kuh  giebt  rote  Milch. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Das  Viertel  Weizen  (100  1)  kostet 
in  jedem  Jahre  so  viele  Fünffrankenstücke,  als  der  Kuckuck,  wenn 
er  zum  erstenmale  ruft,  nach  einander  ohne  Pause  Kuckuck  schreit 

Geberschweier  (Kreis  Gebweiler).  —  Wenn  in  einem  Hause  ein 
Marder  gefangen  wird,  so  trägt  ein  Knabe  aus  dem  Hause  denselben  im 
Dorfs  umher.  Er  nimmt  einen  Korb  mit  und  geht  mit  dem  getöteten 
Marder   von    einem  Haus  zum   andern   und   ruft   zum  Thor  hinein: 

<Ga  mer  na  Ei, 

Oder  der  Marder  frisst  i  d^zwei.» 

Oft  erhält  er  so  viel  Eier,  dass  er  nach  Hause  gehen  und  den 
Korb  leeren  mnss. 

KriUh  (Kreis  Thann).  —  Wenn  eine  Jungfrau  gern  wissen  will, 
welches  ihr  zukünftiger  Mann  wird,  so  nimmt  sie  ebensoviel  Wunder- 
blumen (Centaurea  jacea),  als  sie  Liebste  hat:  sie  bezeichnet  jede 
Blume  mit  dem  Namen  eines  Geliebten.  Hierauf  werden  die  Randblüten 
abgeschnitten  und  so  acht  Tage  in  der  Tasche  aufbewahrt.  Während 
dieser  Zeit  darf  nicht  nach  denselben  geschaut  werden.  Wenn  nun 
die  Blume  eines  Geliebten  wieder  aufblüht,  wird  derselbe  ihr  Mann. 

Ensisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Im  Zeichen  der  Jungfrau  werden 
keine  Bohnen  gesetzt;  die  Leute  behaupten  nämlich^  sie  blühen 
immerfort  und  tragen  keine  Früchte. 

ObersuUbach  (Kreis  Thann).  —  Setzt  man  Kraut,  wenn  sich 
die  Sonne  im  Kreis  der  Zwillinge  befindet,  so  gibt  es  anf  jeden 
Setzling  zwei  Krautköpfe.  Diese  beiden  Krautköpfe  sind  aber  nur 
klein,   weshalb  man  sich  hütet,  zu  dieser  Zeit  das  Kraut  zu  setzen. 

Besprechiingen. 

Ingersheim  (Kreis  Rappoltsweiler).  —  Wenn  jemanden  etwas  ge- 
stohlen wird>  so  kann  der  Eigentümer  bewirken,  dass  der  Dieb  zu 
ihm  kommt. 


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D«r  Eig«ntiimer  mass  nm  Mitternacht  anf  dem  Gottesacker  drei 
N&gel  ans  einem  Sarg  holen.  Daranf  moss  er  die  Nügel  in  ein 
Brett  oder  in  ein4  Wand  schlagen.  Den  ersten  Nagel  schlägt  er  mit 
den  Worten  ein:  ^Dieb,  ich  nagle  dich  an  im  Namen  des  Vaters;» 
Den  zweiten  Nagel  schl&gt  er  ein  mit  den  Worten:  «Dieb,  ich  nagle 
dich  an  im  Namen  des  Sohnes ;>  den  dritten  mit  den  Worten:  «Dieb, 
ich  nagle  dich  an  im  Namen  des  heiligen  Geistes.»  Nachdem  dies 
gethan  ist,  mnss  sich  der  Dieb  zeigen. 

Dies  wurde  bis  zu  den  Jahren  18^—40  geglaubt,  und  danach 
wurde  auch  gehaüdeli 

Bangenheim  (Kreis  M&hlhausen).  —  Wie  der  Dieb  das  Gestohlene 
wiederbringen  mnss.  Man  geht  vor  Sonnenaufgang  zu  einem  Birn- 
baum und  nimmt  drei  Nägel  aus  einer  Totenbahr  oder  drei  unge- 
brauchte Hufnägel  mit,  hält  dieselben  gegen  der  Sonne  Aufgang  mid 
spricht :  «0  Dieb !  ich  binde  dich  bei  dem  ersten  Nagel,  den  ich  dir 
in  deine  Stirn  und  dein  Uirn  thu  schlagen,  dass  du  das  gestohlene 
Gut  wieder  an  selben  Torigen  Ort  musst  tragen  :  es  soll  dir  so  weh 
werden  nach  dem  Menschen  und  nach  dem  Ort,  wo  du  es  gestohlen 
hast,  als  dem  J&nger  Judas  war,  als  er  Jesnm  verraten  hatte.  Den 
andern  Nagel,  den  ich  dir  in  deine  Lung  und  Leber  thu  schlagen, 
dass  du  das  gestohlene  Gut  wieder  an  seinen  vorigen  Ort  sollst 
tragen,  es  soll  dir  so  weh  nach  dem  Menschen  und  nach  dem  Orte 
sein,  wo  du  es  gestohlen  hast,  als  dem  Pilato  in  der  Höllenpein. 
Den  dritten  Naget,  den  ich  dir  Dieb  in  deinen  Fuss  thu  achlagen, 
dass  du  das  gestohlene  Gut  wieder  an  seinen  vorigen  Ort  ransst 
tragen,  wo  du  es  gestohlen  hast:  0  Dieb,  ich  binde  dich  und  bringe 
dich  durch  die  heiligen  drei  Nägel,  die  Christum  durch  seine  heiligen 
Hände  und  Füsse  sind  geschlagen  worden,  dass  du  das  gestohlene 
Gut  wieder  an  seinen  vorigen  Ort  musst  tragen,  wo  du  es  gestohlen 
hast» 

Die  Nägel  müssen  aber  mit  Armens&nderschmalz  geschmiert 
werden. 

Bamenheim  (Kreis  Mülhausen).  —  Dass  einer  das  Gestohlene 
wieder  bringen  muss.  Gehe  morgens  früh  vor  Sonnenaufgang  zu 
einem  Wachholderstrauch  und  biege  ihn  gegen  der  Sonne  Aufgang  mit 
der  linken  Hand  und  sprich:  «Wachholderbeerbusch,  ich  thue  dick 
bücken  und  drucken,  bis  der  Dieb  dem  N.  N.  sein  gestohlenes  Got 
wieder  an  seinen  Ort  getragen  hat »  Du  musst  einen  Stein  nefames 
und  auf  den  Bu8<^h  legen,  und  unter  dem  Stein  die  Hirnschale  vmi 
einem  Uebelthäter.  Du  musst  aber  Achtung  geben,  wenn  der  Dieb 
das  Gestohlene  wieder  gebracht  hat,  dass  du  den  Stein  wieder  an 
seinen  ersten  Ort  trägst  und  hinlegst,  wie  er  lag,  und  den  Basdi 
wieder  losmachst.' 

Bamenheim  (Kreis  Mülhausen).  —  Ein  besonderes  Glück  eines 
zu  bezwingen,  der  sonst  für  Viele  gewachsen  ist  Sprich :  Ich,  N.  N., 
thue  dich  anhauchen ;  drei  Blutstropfen  thue  ich  dir  entziehen  ;  des 
ersten  aus  deinem  Herzen,  den  andern  aus  deiner  Leber,  den  drittes 
aus  deiner  Lebenskraft,  damit  nehme  ich  dir  deine  Stärke  nnd 
Mannschaft 


—    481    — 

Bamenheim  (Kreis  Mälhaasen).  —  Wie  man  beim  Spiel  gewinnen 
kann.  Man  binde  sich  mit  einem  rotseidenen  Fadfn  das  Herz  einer 
Fledermaus  an  den  Arm,  womit  man  auswirft,  und  man  wird  alles 
gewinnen. 

Banzenheim  (Kreis  Mülhansen\  —  Einen  Stocken  zu  schneiden, 
dass  man  einen  damit  prügeln  kann,  so  weit  er  auch  selber  entfernt 
sein  mag.  Wenn  der  Mond  an  einem  Dienstag  neu  wird,  so  gehe 
vor  Sonnenaufgang  aus,  iritt  zu  einem  Stecken,  den  du  dir  zuvor 
schon  ausersehen  hast,  stelle  dich  mit  deinem  Gesicht  gegen  der 
Sonne  Aufgang  und  sprich  diese  Worte :  «Steck,  ich  greife  dich  im 
Namen  des  Vaters  und  des  Sohnes  und  des  hl.  Geistes.  Amen.> 
Nimm  dein  Messer  in  die  Hand  und  sprich  wiederum:  «Steck',  ich 
schneide  dich  im  Namen  t  f  f,  dass  du  mir  sollst  gehorsam  sein, 
wenn  ich  den  Namen  desjenigen  rufe,  den  ich  prügeln  will.  Darnach 
schneide  an  zwei  Orten  am  Stecken  etwas  hinweg,  damit  du  folgende 
Worte  darauf  schreiben,  stechen  oder  schneiden  kannst:  abia,  obia, 
asbia;  lege  einen  Kittel  auf  einen  Scheerhaufen,  schlage  mit  deinem 
Stecken  auf  den  Kittel  und  nenne  dieses  Menschen  Namen,  welchen 
du  prügeln  willst,  schlage  tapfer  zu,  so  wirst  du  denselben  eben  so 
hart  treffen,  wenn  er  auch  viele  Meilen  von  dem  Ort  entfernt  ist. 
Statt  des  Scheerhaufens  thut  es  auch  die  Schwelle  unter  der  Thüre. 

Allgemeine». 

Uttehheim  (Kreis  Erstein)  —  Wenn  man  einen  herausgerissenen 
Zahn  in  ein  Mausloch  wirft,  so  wächst  wieder  einer  nach. 

Urbis  (Kreis  Thann).  —  Wenn  man  mit  dem  Messer  in  den  fjaib 
Brot  sticht,  so  sticht  man  dem  Heilande  in  das  Herz 

Enstisheim  (Kreis  Gebweiler).  —  Wer  sich  früher  vom  Soldaten- 
leben befreien  wollte,  ging  um  Mitternacht  auf  den  Kirchhof,  holte 
einen  Knochen  daselbst  und  nahm  ihn  mit  sich,  wenn  er  seine 
Nummer  zog.  Er  glaubte  dadurch  eine  hohe  Nummer  zu  ziehen, 
wodurch  man  vom  Militärdienst  gewöhnlich  frei  wurde. 

Roppenztoeüer  (Kreis  Altkirch\  —  Wenn  man  ein  Vaterunser 
beten  kann,  während  ein  Stern  (Sternschnuppe)  zu  einem  andern 
fährt,  hat  man  eine  arme  Seele  erlöst. 

Bappemtoeäer  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  zwei  in  demselben 
Augenblick  die  nämlichen  Worte  aussprechen,  ohne  es  zu  wollen,  so 
sagt  man,  sie  hätten  eine  arme  Seele  erlöst 

Boppenzvoeiler  (Kreis  Altkirch).  —  Man  sagt,  wenn  man  eine 
arme  Seele  erlÖHt,  so  wird  man  das  nächste  Jahr  sterben. 

Fislis  (Kreis  Altkirch).  —  Wenn  einem  auf  der  Jagd  oder  aii^ 
Reisen  zuerst  eine  weibliche  Person  begegnet,  so  soll  man  den  ganzen 
Tag  unglücklich  sein. 

Es  ist  schon  vorgekommen,  dass  Leut^,  die  fest  daran  glauben, 
trieder  umkehrten. 


XIII. 


Der  Hüsherr! 

Lasispiel  in  einem  Act  von   Daniel  Gnttav  Adolph  HorsiA. 

Scöne  I. 

(Der  rideau  geht  uff  —  d'sc^ne  blibt  während  dem  Monologue  leer.) 

Linsespalter  :  (hinter  de  Coulisse.)  Pfui  Deifel,  was  isch 
denn  des  vor  a  Staub  ?  —  Wer  klopft  denn  do  widder  sinni 
Debbi*  ufTem  Gang  öss?  Ah»  's  isch  der  Schnieder  !  Heh  do 
howwe,  diss  kenne  sie  bliewe  lonn.  Schunn  nit  geoüe, 
dass  eini  ihri  sechs  Kinder  de  ganze  Daa  üewerem  Kopf 
herum  trepple^  dass  er  eim  schier  verspringt,  un  dass  Ihri 
Frau  hit  widder  d' Wasserleitung  laufe  losst  wie  wüihi ; 
wenn  Ihri  Frau  wasche  will,  ze  soll  sie  an  de  Bach  gehn, 
denn  für  diss  hawi  sie  nit  inrichte  Ion.  —  Was  riech  ich 
denn  nurre?  ah,  d'Madam  Bierebaum  brennt  widder  Cafe; 
heh,  Madam  !  Sie  könnte  Ihre  Cafe  awer  au  glich  gebrennt 
kaufe,  statt  so  e  Dampf  ze  mache,  diss  riecht  jo  abscheilich, 
mer  verstickt  fascht !  —  so  Dings  lied  i  nit  in  miem  Hües  ! ! ! 

Se^ne  II. 

S^raphine  :  Herrje,  hitt  isch  widder  nimmi  züem  üshalte 
mit  dem  Mann,  hitt  isch  er  awer  au  zue  üwel !  I  mein 
minne  Babbe.  S*isch  halt  widder  amol  's  Ziel  gewese  geschl, 
un  i  mein  als  *s  hann  noch  nit  alli  de  Hüszins  gebroocht, 
dorum  isch  er  so  bös !  Au  fond  isch  er  e  güeter  Mann, 
min  Babbe,  wenn  nur  's  Geld  nit  ward.  Z'ersch  komm  ich 

1  Teppiche. 


—    183    — 

b'ihm,  un  derno  kommt  awer  glich  hinte  nooch  's  (xeld  !  — 
Zitier  denne  Morye  wueth  er  awer  do  in  der  Stub  erum. 
Z'ersch  hawi  nit  gewusst  was  loss  isch,  no  hawi  awer 
uff  der  Kalender  geluet  un  hab's  halt  gsehn  wo's  fehlt. 
Wenn  i  nur  wüsst  wer  noch  züe  regliere  hett !  Voyons  un 
peu  :  der  im  rez-de-chauss^  het*s  glich  gescht  morye  ge- 
brocht, denn  er  kennt  ne  !  's  Herr  Brummeis  sin  au  exact ; 
die  wohne  im  erschle,  no  komme  mir,  —  es  kann  doch 
der  Schnyder  au  nit  sin,  wo  im  dritte  wohnt,  un  die 
Wittfrau  in  der  Mansarde,  wo  ihri  pension  alle  Vierteljohr 
touchirt,  isch 's  sicher  au  nit.  1  hab  doch  nieme  vergesse  ? 
Ah  si  1  awer  der  Herr  muess  bezahlt  han,  (zögernd)  —  denn 

s'isch  unser  Garniherr  un,  un natirli  hett  er  bezahlt! 

1  muess  emol  's  ßabette  froye^  verlieht  weiss  diss,  wer  schon 
do  isch  gsin,  denn  die  Maidle,  mer  weiss  es  jo,  hasse  halt 
gar  zue  guet  uff  alles  uff,  's  isch  als  vielmohl  awer  au  nit 
guet.  Enfin  —  Babelle,  —  Babette  ! 

Scene  III.   ■ 
S^raphtne.  —  Babette. 

Babette  :  (Kommt  herin,  links.)  Was  beliebt,  Mamselle 
S6raphine? 

S^raphine  :  Ich  hab  dir  schun  vielmol  gsaat,  di'i  sollsch  nit 
Mamsell  Seraphine  sauwe!  Du  weisch  jo,  dass  i  denne 
Name  nit  liede  kann.  1  kann  au  gar  nit  begriffe,  worum 
min  Babbe  mich  so  laufe  het  lonn  ;  wenn  i  zellemols  schunn 
babble  hätl  könne,  ze  hätt  i  mi  gewehrt.  —  Düe  solsch 
einfach  sauwe,  Mamsell  Finnele. 

Babette  :    Awer  d'Mamsell  sin  zfie  alt  un  züe  gross,  dass.  .  . 

Seraphi  ne  :  Sülle,  liewi  Babette,  bisch  schunn  so  lang  im 
Hües  bi  uns,  dass  ich  dir  dis  erlaub. 

Babette  :    Wie  Sie  welle  ! 

Seraphine:    Apropos,   due    kensch    d'Lünne   au    von    mim 

Babbe. 
Babette  :    (bei  Seite)  0  jeh  ! 

Seraphine  :    Wie?  • 

Babette:     Oja! 
Seraphine:  Un  wursch  au  schon  gemerkt  hann,  dass  er  sie . . . 

Babette  :  Hitt  het.  's  isch  au  kein  Wunder,  's  isch  halt 
gescht  Michaeli  i  gsin,  un  —  Sie  sehn,  Mamsell,  dass  i  ne 
guet  kenn  I 


1  Michaeli  ist  ein  Vierteljahrstermin. 


—    484    — 

S^raphine  :    Hör,  Babette,  henn  denn  noch  nit  alii  bezahlt? 

Babette:    So  viel  ich  weiss,  nein. 

S^raphine  :  Herrje  was,  na  do  grieje  mer  noch  ebbs  ze- 
n-erlewe.  Wer  esch  denn  noch  nil  do  gsin  ?  (bei  Seite) 
es  wurd  doch  der  Herr  Schmalhans  nit  sin  ? 

Babette  :  I  glaub  als  d'Madam  Bierebaum,  d'jung  Wittfran 
im  dritte .  .  . 

S^raphine:    Qame  soulage  I 

Babette  :    I  bin  noch  nil  ferti  —  un  der  Herr  Schmalhans! 

S^raphine:  Oh  mon  Dieu,  der,  der  exact  Herr,  due  trum- 
piersch  di  sicher,  —  gell  due  trumpiersch  dich  ? 

Babette:  Nein,  Mamsell  Finnele^  i  habb  gewiss  guet  acht 
genn,  un  s'  isch  eso  wie  i  do  saa. 

S^raphine  :    Awer  hör,  diss  isch  jo  gar  nit  möjli. 

Babette:  Worum  nit.  Nittwohr,  der  Herr  isch  jung,  hei 
grad  noch  kein  brillanfi  Zahlung  un  .  .  . 

S^raphine  :    Awer  Babette  ! 

Babette:  Si  excusire,  i  will  Sie  nit  offensiere,  i  weiss,  dass 
Sie  un  er  . .  . 

S^raphine:  (bei  Seite)  Es  wurd  doch  noch  nix  gemerkt 
han.  (laut.)  Was  wit  du  domit  sauwe? 

Babette  :  Na,  was  oll  i  sauwe,  i  weiss,  dass  Sie  denne 
junge  Herre  gern  hann. 

S^raphine  :    Awer  nein,  i  hab  der  doch  gar  nix  gsaat ! 

Babette:  Zell  schun,  Mamsell,  awer  mer  hett  jo  Ohre  ud 
Auwe. 

S^raphine  :    (bei  Seite)  Oh  die  Magd  ! 

Babette  :  Sie  wäre  wisse,  dass  der  Herr  Schmalhans  au 
viel  d^pense  denne  Monet  het  g'het,  z'erscht  diss  nei  Kleid, 
wo  Ihne  d'Farb  dervun  so  guet  gfallt,  —  un  derno  e  Huel 
un  e  halb  Duzed  neji  Hemder,  Sie  wisse  jo,  die,  wo  Sie 
ihm  sinni  Initiale  nin  g'stickt  hann ! 

S^raphine  (bei  Seite):  Je  tombe  des  nues.  (laut)  Was 
sa^sch  de  do,  wer  hett  dir  denn  dis  gsaat? 

Babette:  Gsaat  ?  Nieme  I  nein  Mamsell  Finnele,  sehn  Sie, 
ich  pass  nur  uff;  e  jeder  Schritt  un  Tritt,  wo  Sie  mache, 
weiss  i.  (S^raphine  fait  un  geste)  Unterbreche  Sie  nüe  nit, 
ich  gib  ufT  Sie  acht,  wie  wenn  Sie  mini  eije  Tochter  wärde. 
Hawi  nit  au  e  bissei  s'  Recht  derzue?  isch  Ihn  Mammeoit 
kurz  noch  Ihne  Ihrer  Geburt  gstorwe,  un  hawi  Sie  net 
derno  ganz  uffgezöye,  wie  wenn  Sie  min  eye  Kind  werde 
gsin?   Vergewe  Sie  mer  dorum,  wenn  ich  Sie  hüet,  awer 


—    485    — 

i  mein's  guet  mit  ne.  Der  jung  Mensch  isch  ordeirtli  un 
gfalit  mir  au  ganz  güet,  awer  Sie  wäre  e  schwerer  Stand 
hekumme  un  an  de  Wille  von  Ihrem  Bahbe  sfosse.  Der 
jung  Mensch  isch  brav,  awer  was  im  Herr  Linsespalter  am 
beschte  gfallt,  s'  Geld,  diss  het  er  halt  leider  nii.  Na,  Ma- 
demoiselle,  griene  Sie  mer  nit,  i  hab  ne  wohl  jetzt  s'  Herz 
e  bissei  schwer  gemacht,  drum  vergewe  Sie  mir  noch  emol, 
un  i  wurr  ne  au  in  dem  Fall  niitzli  sin!  (knejl  hin.) 
S^raphine  (Hebt  sie  uff,  sie  umarme  sich.)  Oh  du  güeti 
Babette.  Du  hesch  erecht,  du  bisch  mini  zweit  Mamme, 
un  wie  i  Di  hab  jetzt  so  höre  redde,  ze  isch  mer  gsin, 
dass  nur  e  Mueter  uff  die  Art  züe  Ihrer  Tochter  redde  kann. 

Seime  IV. 

Die  Vorigea.  —  LtesespAlter. 

Linsespalter  (sieht  beide  umarmt)»  Lue  do,  was  isch  denn 
diss?  Hann  ihr  nix  andersch  ze  thnen,  als  do  here  zue 
stehn  un  euch  zue  bichte?  Euch  hawi  au  noch  gebrächt, 
für  mir  's  Lewe  sör  ze  mache.  Welle  ihr  mache,  dass  ihr 
an  euri  Arweit  kume! 

(Babette  tritt  ab.  ~  S^raphine  nimmt-e-n-Arweit.) 

Seraph  ine:  Oh  Babbe,  was  hesch  de  denn,  düe  besch  hit 
gar  nit  güet  gelönt. 

Linsespalter  :  Was  bin  ich!  E  Wunder!  (Pustend.)  Uff! 
isch  diss  e  WirthschaA  in  dem  Huss,  was  hawich  für  Lo- 
catar.  Zwei  Hüsszins  sin  noch  nit  leglirt,  un  gescht  esch 
's  Ziel  g'sin.  's  isch  nit  zuem  ushalte!  Awer  die  solle  nur 
kumme.  Uffsaa  due  i  ne,  grad  uff  der  Siell,  oder  soll  i  ne 
glich  der  Hässje  schicke,  i  hab's  ganz  willes.  Do  isch  zuem 
erschte  der,  —  der  na  —  wie  soll  i  saa,  unser  Chamber- 
garnizipfel,  do  der  Schmalhans,  na  der  soll  mer  nurre  kumme, 
der  isch  mer  doch  schun  a  Wyll  zueviel. 

S^raphine:  Ach  Crott  —  oh  Babbe,  wie  kansch  nurre  so 
redde. 

Linsespalter:  Was  saasch  ?  Wie  ich  so  redde  kann,  na 
wursch  sehn  wie  i  denne  empfang.  —  No  zuem  zweite  die 
Wittfrau,  die  hett  bigott  au  noch  nit  bezahlt.  Na  di  wur 
i  awer  au  grieje.  (bei  Seite)  Hein,  was  hawi  gsaat?  Die, 
die.  .  . 

Seraphine  :  Nein,  so  Dings  kann  ich  nit  höre,  i  geh  in 
min  Zimmer.  (S^raphine  ab.) 

L  i  nsespal  ter  :  Geh  weye  mer  zuem  .  .  .  halt,  's  isch  jo  mini 
Dochter.  —  I  möcht  nur  wisse,  was  diss  Maidel  hett,  es 
macht  mer  schun  e  Wyl  e  so  e  sunderbars  Gsicht.  Diss 
will  mir  bardu  nit  gfalle. 


—    186    — 

Sc^ne  V. 
Linsespalter.  —  Mme.  BierebAvm. 

(Es  klopft.)  (Linsespalter  setzt  sich  an  den  Tisch.) 

Linsespalter  :  Awer  alles  will  mi  glauwi  hitt  emh^tiere, 
i  glaub,  jetzt  kommt  am  End  au  noch  Visit !  —  Entrez ! 

Mme.    Bierebaum  :    Bonjour,  Herr  Linsespalfer. 

Linsespalter:    Guete  Daa. 

Mme.  Bierebaum  :  (erstilnt)  Tiens,  tiens,  hit  esch  er  awer 
Irucket,  gewöhnli  isch  er  gar  nit  so  mit  mer !  — 

Linsespalter  :  (ungeduldig)  Madam,  dummle  Sie  sich  a 
bisseL 

Mme.  Bierebaum  :  (bei  Seite)  I  glaub  er  wurd  au  noch  grob. 
Do  hawi  jo  gar  nit  's  Herz  ihm  ze  sauwe,  dass  i  d'Woh- 
nung  geranschiert  möcht  han.  Herr  Linsespalter,  do  bring 
i  ne  de  Huszins,  un  .  .  . 

Linse  Spalter  :  Eh,  dass  mer  witterscht  redde,  welle  roer 
sehn  obs  richtig  isch. 

Mme.  Bierebaum  :  (bei  Seite)  Oho!  (laut)  Do,  Herr  Lin- 
sespalter, lueje  Sie  nooch  un  do  han  Sie  's  Büchel  zöem 
inschriewe.  (Sie  legt  das  Geld  auf  den  Tisch.  —  Linsen- 
spalter zahlt.) 

Linsenspalter:    's  isch  erecht,  (er  quittirt.) 

Mme.  Bierebaum  :  (bei  Seite)  Er  hetts  «merci«  vergesse! 
(laut)  Unn  derno  möcht  ich  au  d'Wohnung  geranschiert 
bann,  denn .  .  . 

Linsespalter  :  (auffahrend)  Was  welle  Sie ?  d' Wohnuo«: 
geranschiert  han,  ah,  par  exemple !  i  hab  sie  jo  erseht  for 
8  Johr  wissle  un  dabeziere  Ion.  Sie  komme  mir  erecht, 
Madam.  Ich  bin  nur  erstünt,  dass  Sie  mer  so  ebbs  l>egehre? 
Erschtens  komme  Sie  e  Daa  mit-em  Zins  züe  spoot,  un 
derno  welle  Sie  au  noch  arrangements.  Wisse  Sie  was, 
wenn  ihne  d'Wohnung  nimmi  gfallt,  so  könne  Sie  uff  Wy- 
nachte  zeye.  —  I  loss  nix  mache,  i  kann  nit,  i  will  nit, 
i  hab  kein  Geld. 

Mme.  Bierebaum:  Herr  Linsespalter,  diss  halte  Sie  nier 
awer  au  im  e  bessere  Ton  sawe  kenne  ua  nit  so  grob! 
Na,  's  het  allewil  gheisse,  dass  sie  nit  ari  fin  sin  un  i  liab's 
jetzt  mit  mine  eijene  Ohre  müen  höre ! 

Linsespalter  :    Auesblickli  verloon  .  •  . 


—    487    — 

Mme.  Bierebaum:  Guet^  guet,  i  weiss  schun  was  noch 
kummt,  awer  sauwe  will  ine  nur  noch,  dass  Ihr  Benemme 
wuschter  esch  als  mini  Tapet,  und  dass  Ihri  Seel  noch  viel 
schwärzer  esch  als  min  Plafond,  (spöttisch) :  Adje,  Herr 
Linsespalter,  nix  für  unguet.  —  (ab.) 

Sc^ne  VI. 

Linsespalter  :  (ruft  ihr  nach)  Hein  !  Was,  hör  ich  erecht? 
Awer,  Madam  Bierebaum,  diss  zahle  Sie  mir  heim !  So 
growi  Beleid igunge  eim  an  de  Kopf  ze  schmisse.  Diss  loss 
i  nit  derbi  un  wenn  i  mit  Ihre  vor  der  Herr  Maire  muess. 
Ufl*  der  Stell  geh  i  hin  un  verklau  Sie.  —  (ruft)  Babelte! 
Babelte ! 

B  a  b  e  1 1  e  :    Was  beliebt,  Herr  ? 

Linsespalter:  Min  Stock,  min  Huel,  mit  Angles !  un  e 
bissei  flinker  als  sunscht,  denn  i  bin  leids  pressirt. 

B  a  b  e  1 1  e  :    Glich,  Herr  Linsespalter,  (ab.) 

Linsespalter:  (Zieht  das  rohe  de  chambre  aus.)  Ich  wur 
doch  einmol  sehn^  wer  der  Hüsherr  esch. 

Babelte:  (Babette  erscheint.)  Do  haw  i's,  —  soll  i  ne  helfe? 

L  i  n  se  s  p  a  1 1  er  :  Jo,  (Duel  sich  an)  alle  !  schick  di :  So.  — 
Nein,  diss  isch  mir  jetz  doch  zu  viel,  meinsch,  kommt  do 
d' Madam  Bierebaum,  un  macht  mir  Grobheite  !  awer  ich 
nemm  sie  vor,  un  düe  bisch  2^ije. 

Babette  :    Ich  hab  jo  ni.v   ghört  noch  gsehn  ! 

Linsespalter:  Diss  macht  nix.  Sin  schun  viel  andri  au 
Zeije  gsin  un  han  noch  weniger  gsehn  als  wie  du.  (ab.) 


Sc^ne  VII. 
Babette  —  dsnn  Schmalhans. 

Babette  :  Was  isch  do  vorgfalle?  Ha  ha!  die  wurd  wohr- 
schinli  d' Wohnung  gemacht  welle  han  !  Na  do  het  sie  de 
letze  verwilscht !  Unser  Herr  isch  zäh  wie  a  Bifteck  uss-m 
Kuppelhof  !  Un  derno  isch  er  dllewey  grob  worre  un  sie 
wohrschinli  spöttisch,  denn  sie  kann's.  —  I  weiss  nit,  er 
wurd  verlicht  unterweys  reuig  un  kehrt  widder  um,  denn 
die  Madam  duet  ihm  grad  nit  so  uewel  .  .  .  ('s  klopft.) 
Entrez .  .  .  enfin,  i  kenn  mini  Lytt. 

Schmalhans  :  Bonjour,  Babette,  isch  der  Herr  Linsespalter 
nit  do? 


—    188    — 

Ba bette  :  Nein,  er  isch  grad  ewe  furtgange  un  diss  in  eim 
Schüm !  Awer,  —  wenn  Sie  welle,  dass  i  ne  d'Mamsell  ruef, 
die  isch  d'heini. 

Schmalhans:  Jo^  wenn  Sie  so  guet  welle  sin.  (Babette  ab 
rechts.)  Was  e  Gifick  !  Ireff  ich  doch  emol  die  Mamsell 
ellein,  un  brüch  nit  Angst  ze  bann,  jedi  Secund  verscheicbt 
ze  wäre,  als  wie  uns  diss  als  bassirt,  wenn  mer  uff-m 
Gang  stehn  un  e  Wörtel  mitnant  redde .  .  .  (hört)  sie 
kuiyinit. 

S^raphine:  (zögernd.)  Herr  Schmalhans ! 

Schmalhans:  S^raphine,  —  pardon  Mademoiselle,  wenn  i 
ne  so  saa,  awer  ich  kann  nit  andersch.  Ich  vergeh  fascht 
vor  lüdder  Fraid,  dass  ich  doch  endli  's  Glück  hab,  Sie  so 
ellein  zu  treffe,  dass  ich  ne  emol  erecht  saawe  kann,  was 
min  Herz  für  Sie  empOnd,  un  dass  nur  Sie  allein  min 
ewiger  Gedanke  sin  !  (drückt  ihr  die  Hand.) 

S^raphine:  Ach,  Herr  Schmalhans,  halte  Sie  in,  —  wenn 
dis  der  Babbe  höre  dat. 

Schmalhans:  Oh,  Mademoiselle,  mit  Ihrem  Babbe  wur  iau 
schun  ferti  wäre.  Und  wenn  Sie  welle,  ze  fröj  ich  bi  ihm 
um  Ihri  Hand,  un  hitt  noch. 

S^raphine:  (coquett  bei  Seite)  Diss  war  mir  erecht.  — 
(laut)  Awer  Herr  Schmalhans,  Sie  wisse  jo  gar  nit,  ob  i 
au  wott! 

Schmalhans:  Wie?  Nein,  diss  isch  Ihr  Ernst  nit,  gelte 
Sie?  Sie  wisse  jo  wie  gern  dass  ich  Sie  hab.  Wie  viel 
Mol  soll  ichs  denn  noch  saawe  I  Sie  sin  min  Engel,  min 
HofTnungsstern !  (zärtlich)  Voyons,  dites  moi,  bann  Sie  roi 
nit  au  gern? 

S^raphine:    (moitiö  vaincue.)  Herr  .  .  . 

Schmalhans:   Nur  e  ganz  kleins  Bissele. 

S^raphine:  (vaincue.)  Oh...  doch,  e  bissel-viel !  (rou- 
gissante.)  A,  mon  Dieu,  jMai  dit. 

Schmalhans:  (fallt  uff  d'Kney,  halt  ihre  d'Händ.)  Ob,  du 
liewer  Käfer,  Sie  nemme  mir  a  Zentner-Lascht  vom  Herze. 

—  Ah,  quel  bonheur S^raphine  —  du  bisch  min  1 1 ! 

(kusst  ihr  knieend  die  Hände.) 


1  Scköm  oder  Hatz  will  beissen  «Hetze,  wüthend». 


—    i89    — 

Scilla  vm. 

Die  Vorige.  —  Babette.  —  Linflespalter. 

(Im  nämliche  Moment,  wo  der  Linsespalter  eryn  kommt,  steckt 

's  Babette  de  Kopf  rechts  eryn.) 

Ba  bette:    Ich  komm  zue  spoot,  i  hab  welle  preveniere.  (ab.) 

Linsespalter:  Der  Gükuk  un  kenn  End  !  !!  was  sieh  ich 
do? 

Söraphine:  Der  Babbe,  ach  Gott  ('s  wurd  ihre  üewel !  Der 
Schmalhans  fangt  sie  ufT  iin  hett  sie  in  de-n-ärm.) 

Schmalhans:  (bei  Seite)  Diss  isch  jetz  e  schoeni  Gschicht. 
(laut.)  Herr  Linsespalter,  Ihn  Dochter  . .  . 

Linsespalter:  (einfallend)  Sie,  Herr  Schmalhans,  was  sin 
Sie  eyetlich  au  für  a  Burscht.  Kneye  Sie  do  mir  nix  dir 
nix  in  miner  eeijene  Stub  uff  mine  eijene  Bodde,  un  diss  au 
noch  vor  mim  eijene  Kind  ?    Dort  isch  dThür ! 

Schmalhans:  (bei  Seite)  I  dät  gern,  (laut)  I  kann  jo  nitt. 
Herr . .  . 

Linsespalter:  (steht  vor-ne.)  Was  sauwe  Sie,  Sie  könne 
nit?  Ja,  was  hebt  Sie  denn,  ich  nit.  —  Ja^  meine  Sie, 
dass  ich  mir  diss  alles  von  Ihne  gfalle  los?  Verklaut  wäre 
Sie  —  höre  Sie  —  verklaut,  ah  Sie  meine,  dass  mer  mich 
mit  so  Mins  bezahlt!  —  Allez-vous  en  (Linsespalter  dreht 
ihm  den  Buckel). 

Schmalhans:  (bei  Seite)  Sapristi  isch  d'Mamsell  S^raphine 
awer  schwer!  Diss  hätt  i  nit  geglaubt.  —  Was  soll  i 
nurre-n-anfange  ?  (laut)  H^  (ruft)  Babette,  Wasser ! 

Linsespaller:  Ja  wie  viel  Mol  soll  ich  Sie  noch  heisse  näss 
gehn?  Könne  Sie  denn  nitt  französch? 

Babette:  (kommt.)  Herje,  unseri  guet  Mamsell!  (schitt 
Wasser  in  e  Glas)  —  ich  glaub  's  wurd  ihre  weh ! 

Schmalhans:  (bei  Seite)  Mir  au,  wenn  ich  sie  noch  lang 
hewe  muess.  (laut)  Babette,  helfe  Sie  mer  sie  do  ufl's 
Canap^  laje  —  so  —  merci.  Awer  jetzt  geh  i,  sie  macht 
d'Aue  schon  widder  uff! 

Linsespalter:    Luej  do,   —  ma  (ille,  min  Kind,  wach  uff! 

Babette:  Do  sin  Sie  Schuld  dran. 

Seraphine:    Oh,  Babbe,  hesch  du  mich  verschreckt! 

Linsespalter:  So,  so,  diss  heisch  du  verschreckt,  wenn  i 
diss  töte-ä-töte  do  zuem  Glück  verstört  hab,  wo  du  mit 
dem  Herre  do  g'het   hesch?    Na  wart  nur,   ich  will  dem 


—    490    — 

schon  saawe  vor  wem  dass  er  züe  kneje  hett.  Babette,  saal 
Sie  ihm,  er  soll  so  schnell  als  möjli  mache,  dass  er  zuem 
Hüss  nüss  kommt.  Der  soll  nimm  so  ufidringlich  sin  un 
dir  Angst  un  Schrecke  injauwe. 

Ba bette:    Diss  due  i  min  Lebdesdaa  nit. 

Linse  Spalter:  Hah,  jetz  wurd's  guet !  Du  au  wursch  sletti, 
was  esch  denn  diss  für  a  Complott?  Ah-so,  eh  bien,  weisch 
was,  do  hesch  dinne  Laufpass,  Geh  un  pack  dini  sewe 
Sache   zamme   un   süffer  mir  mini  manage!     (Babette  ab.) 

Seraphine:  Herrjerum,  Babbe  was  machsch  Du;  schicksch 
's  Babette  fürt ! 

Linsespalter:  Was  i  do  mach  ?  de  siesch  jo,  alles  diss  Un- 
geziefer müss  mer  züe  der  Barack  nüss,  sunsi  gibt's  kein 
Rüeh.  I  will  doch  emol  sehn,  wer  do  Herr  un  Meister 
^sch  I 

S^raphine:  (entschlossen.)  Eh  bien,  Babbe,  ich  geh  au  fürt ! 

Linsespalter:  Haha,  hör  a  Mol  do,  was  fallt  denn  Dir  in? 

Seraph  ine:  Es  fallt  mir  nix  in,  Babbe,  awer  in  denne  Con- 
ditione  kann  i  nimm  d'heime  bliewe.  Do  isch  jo  eim 
's  Lewe  verleid ;  Du  duesch  jo  hilt,  wie  wenn  Du  äs  em 
Hiesel  wärsch. 

L  i  n  s  e  s  p  a  1 1  e  r  :  Ma  ßlle,  i  ghub  Du  widd  mir  au  noch  Moral 
mache  ? 

Seraphine:  Moral  oder  nitt.  Du  hesch  der  Madame  Biere- 
baum  uffgsaat,  der  Herr  Schmalhans  hesch  furtgschickt, 
un  jetzt  hesch  au  noch  's  Babette  fürt  heisse  gehn,  eh  bien, 
jetzt  blibt  mer  nix  mehr  anderscht  üwrig,  als  au  ze  gehn. 

Linsespalter:  (bös.)  Du  bischt  jetzt  still,  du  babbelsch 
ganz  Zitt  vom  Fortgehn.  Wo  wottsch  Dfi  denn  hin?  Du 
worsch  schön  do  bliwe. 

S^raphine:  Nein,  i  geh  zu  minere  Tante,  die  wurd  mich 
schun  bie  Ihre  b'halte,  un  verzähl  ihre,  was  Du  mir  ge- 
macht hesch  un  wie  mit  de  Litt  bisch,   wo  bi  Dir  wohne. 

Linsespalter:    Was  ich  Dir  gemacht  hab ? 

S  6  r  a  p  h  i  n  e  :    Der  Herr  Schmalhans  hättsch  nitt 

Linsespalter:  (aufbrausend.)  Kein  Wörtel  meh.  —  Ah  so 
raucht's?  D'Mamsell  het  e  Schatz.  Eh  bien,  ma  fille,  denne 
müsch  Dir  üssem  Kopf  schlaa  — ,  do  wurd  nix  drüss. 
Tiens,  tiens,  diss  hätt  i  nit  gedenkt,  dass  diss  Ding  so 
Ernscht  esch  !  Da  kommt  der  Erseht  beseht  eim  in's  Hös 
un  verdreyt  eim  synere  Tochter  der  Kopf  un  meint  diss 
geht  eso.    Nein,  niemols. 


—  191   — 

S^raphine:  Entweder  wurd  der  Herr  Schmalhand  min. 
Mann,  oder  i  geh  in's  Kloster ;  i  nemm  kein  anderer. 

Linsespalter:  Oh,/s  wurd  als  besser.  Diss  welle  mir  e 
mol  sehn  !  Ich  saa  der  awer  nein,  un  domit  punklum, 
kannsch  mache^  was  Du  witt. 

S^raphine:    Na^  ze  geh  ich  fort. 

Li  n  ses  pa  It  er  :  (ufgebrocht)  Miliionelement^  ze  geh  weje 
mir  zum ....  un  los  mir  min  Fried. 

(S^raphine  ab.) 

Scöna  IX. 

L  i  n  s  e  s  p  a  1 1  e  r  :  So,  jetzt  wurd's  doch  emol  Ruej  genn  ! 
(setzt  sich.)  —  Do  zeje  ihr  ey-e-ri  Maidle  gross  un  diss 
isch  der  Dank.  Kümm  henn  Sie  de  lange  Rock  an  un 
de  Zopf  gei-e-ne  posierten  coifTure  vertuscht,  so  meine  Sie 
schon,  sie  sin's  un  derfe  mache,  was  sie  welle.  Un  stetti 
isch  des  Maidel,  i  hätt  niemols  gedenkt,  dass  es  mir  mit 
so  etwas  geje  de  Kopf  stosse  wurd  ;  na  es  wurd  wirklich 
sich  driwer  noch  denke  und  sicher  sehn,  dass  i  recht  hab. 
I  könnt  mer  de  Kopf  verschlauwe,  dass  ich  an  so  ebbs 
nit  gedenkt  hab,  wo  der  Schmalhans  yngezoie-n-isch.  Hatt 
i  gedenkt,  dass  sich  mini  Tochter  mit  dem  chambregarnie 
abgitt  ?   Awer  do  tröje  jemand !  nit  emol  sich  selber  kann 

mer  meh  tröje (steht  auf.)  I  bin  neigieri  ze  wisse, 

was  s'  S^raphine  do  hüwe  in  der  Stub  macht?  (luejt  nin.) 
Gomment,  's  isch  jo  nitdo?  sollt's  am  End  jo.. .  Ah,  di.ss 
esch  nit  mögli,  mini  Tochter  —  kann  mich  doch  unmögli 
so  verlonn !  (ruft.)  Finaele,  S^raphine  !  .  .  .  Kein  Antwort ! 
Oh  Gott,  was  hawi  angstellt,  min  einzig  Kind  thuet  mi 
au  noch  verlosse  un  losst  mich  arme,  alte  Mann  allein  ! 
Verlicht  trumpier  ich  mich,  un  es  isch  am  E]nd  bi  jemand 
im  Hus,.  ich  muess  es  süeche,  ich  zitter,  ich  ridder  .  .  .  i 
muess  Gewissheit  bann  I  (ab  au  fond.) 

Seine  X. 
S^raphine.  —  Linsespalter. 

S^raphine:  (kommt  herin,  zum  Ussgehn  gerischt.)  So,  jetzt 
bin  i  gerischt.  Ach  Gott,  's  fallt  mer  doch  a  bissei  schwer 
s'Furtgehn.  Was  wurd  min  armer  Babbe  anstelle,  wenn 
i  nimmi  do  bin.  Awer  es  geht  nimmi  anderscht.  Na,  adi^ 
Maman    (eile    envoie   un  baiser  au  tableau  repr^sentant  sa 


—    492    — 

m^re)  —   (avec  Emotion)  adi6  Stub!    (Linsespalter  kummt 
erin  links)  adj6  Bal^! 

Linsespalter:  Ma  fille,  S^raphine,  —  witi  denn  Du  mich 
jo  verlonn  ?    Kannsch  Du  mich  denn  . .  . 

S^raphine:  (S^raphine  langsam  ab.)  0,  Babbe,  ich  hab 
Dich  jo  so  gern,  awer  der  Herr .  . .  Schmalhans  au,  un  diss 
ischs,  wo  mich  fürt  triebt. 

Linsespalter:  Schon  widder  der  Name .  . .  was  soll  i  denn 
mit  dem  Maidel  mache?  's  isch  doch  nix  anzufange  (ne  la 
voyanl  plus)  S^raphine,  wo  bisch  ?  (lauft  an  d'Thür.)  Fin- 
nele  komm  zeruck.  Du  sollsch  ne  bann  !  —  (S^raphine 
freudig  herein.) 

S^raphine:  Oh,  merci,  liewer  Babbe,  (embrassant)  awer 
gell^  glich  uff  der  Stell  gibsch  uns  zamme? 

Linsespalter:    Pressirts  denn  eso ! 

S<^raphine  :  Oh  ja,  no  wurscb  au  niemmi  reig.  Un  gell, 
Babbe,  de  losch  mi  au  mit  dem  Hebre  denne  Owe  uff  de 
Ball,  wo  sinni  Soci^tät  gibt? 

Linsespalter:  Au  noch,  weje  mir.  —  Ja,  was  isch  denn 
diss  for  a  Soci^tät? 

S^raphine:    Ei  d'Harmonie. 

Linsespalter:  Ah  gell,  diss  isch  die,  wo  der  Pr^ident 
dervon  erseht  kürzli  in  de  Gemeinderoth  isch  komme? 

Seraph  ine:    Jo,  Babbe. 

Sc^ii«  XI. 
Die  Tori|r«ii.  ~  Babette.  —  ScknaUuivs. 

Ba bette:  (kummt  herin  getischt  züem  Furtgehn.)  I  will  ne 
myni  Adj^  mache,  drum  komm  i  noch  emol  herin. 

Linsespalter:  I  glaub,  Dir  esch  nit  guet?  Glich  blibscfa 
Du  do  un  hol  mer  amol  d'Madam  Bierebaum.  (Babette  ab.) 

S^raphine:    D'Madam  Bierebaum  ? 

Linsespalter:    Ei  jo,   un  Du  geh  und  hol  Dir  emol  denn« 

Herr . .  . 
S^raphine:    Oh  gern  (wie  si  Thür  ufmacht,  steht  er  dervor 

e  valise  in  der  Hand). 
Schmalhans  :    Adi^,    S^raphine,    Du    siesch,  ich    geh    von 

danne. 
S^raphine:    Mach  kenn  Dummheite  und  kumm  emol  erio. 
Schmalhans:  (stotternd)  Ich  —  i  —  ich?  soll  erin  kumroe? 

(bei  Seite)  ja  un  din  Babbe? 


-      193    — 

Linsespalter:  Approchez  donc,  junger  Mann^  Sie  solle 
an  mir  e  Vater  bann,  drum  geh  ich  Ihne  do  mini  einzig 
Tochter,  —  Do,  Seraphine  (lui  met  sa  main  dans  celle  de 
sa  fille)  hesch-ne. 

Schmalhans:  (losst  vor  plaisir  d'valise  falle.)  Oh,  Herr  S6- 
raphine,    Sie   mache  mich   zuem  glücklichste  Linsespalter. 

Linsespalter:   Was  saat  der? 

Seraphine:  De  sisch  jo,  er  isch  ganz  verwirrt,  (zu  Schmal- 
hans) AUons,  calmier  dich  doch ! 

Seene  XII. 

Die  Vorigen.  —  Babette.  —  Mme.  Bierebanm. 

Mme.  Bierebaum:  (en  entrant  ä  Babette)  Höre  Sie,  sin  Sie 
au  sicher,  Babette,  dass  er  mich  het  ruefe  lonn,  denn  i 
kann  nit  begriffe  worum? 

Babette:   Er  wurds  ne  jetzt  schon  klar  mache ! 

Linsespalter:  (apres  avoir  touss^.)  Madam,  Sie  y/äve  sich 
erinnere  .kenne,  dass  i  gsaat  hab,  dass  ich  mit-ne  vor  de 
Mär  kumm? 

Mme.  Bierebaum:   Ich  glaub  fascht  —  un  derno ? 
Linsespalter:  Un  derno  —  na  nemme  Sie  mich  als  Mann, 
no  komme  mir  vor  de  Herr  Mär. 

Mme.  Bierebaum.  Ho,  worum  nit,  wenn's  ne  plaisir  macht 

(bei  Seite)    Er  bessert  sich,  mir  isch's 

erecht. 

S^raphine:    Hein  Babbe,  was  machsch  denn  do? 

Linsespalter:  Ich  nemm  e  kleini  Revanche  uf!  euch  zwei, 
—  so  bekommt  min  Schwejersohn  au  noch  a  Schwejer- 
mueter. 


13 


XIV. 

D'Milionedande  üss  Amerika 

oder 

d'Verwande  uf  der  Prob. 

Schwank  in  2  Akten  von  Emil  Oberthflr. 

Aufgeführt  im  cStrassburger  Nautischen  Verein» 

am  30.  November  1889. 


Personen : 

ToMSON  Mbtir,  Reotner  aus  Amerika  sorfick. 

Tante  Lbhnbl,  deasen  Frau. 

RoBiNB  Sbnft,  deren  Schwester. 

JuLBs  Sbmft,  Sohn. 

Gboro  Havmbr,  Mechaniker. 

Lina,  dessen  Frau  i  *t  «•         ■•  i^t.  , 

T           T»             o  L-fl.  '  Neffe  und  Nichten 

Jakob  Rudbr,  Schinmana  ;  ,      „.  ,   ,     i 

o               -      T%T  •  der  Tante  Lehne!. 

boPHiB,  eine  Waise  1 

Jabnobl,  Lüiblb,  WtBSBLi  Hammer'^  Kinder. 

GuscHTBL,  Fritz,  Ruderer. 


i 


—    495    — 


Akt  I. 


(Die  Scene  stellt  eine  Partie  des  Ostwaldes  bei  Strassburg  vor^ 
ist  leer,  man  hört  einen  fernen,  sich  annähernden  Gesang.) 


I.  Scene. 

(Jängel,  Lüiel  und  Wiesel  kommen  angesprungen.) 

L  ü  i  e  1 :  Ah !  do  isch  e  schöner  Platz,  kumme,  do  isch  Schatte 
un  scheen  Gras.  (Güschtel  und  Fritz  springen  wie  aus 
einem  SchifT  und  helfen  den  übrigen  Personen  beim  Aus- 
steigen.) 

Rosine:  [schreiend.)  Gewen  acht,  i  bin  krietzli. 

Ta  n  t  e :  Ach,  wie  scheen  isch's  do  !  Awer  min  Kumplement 
dene  junge  Litt,  wo  so  scheen  un  so  schnell  gfahre  han, 
die  kenne's  emohl. 

Jakob  :  Mer  sin  jo  alli  Mitglieder  vum  Strossburier  Nodische 
Verein,  wenn  wir  nit  fahre  kennte,  zell  war,  weier,  noch 
scheener. 

Jules:  Vergessen  awer  numme  den  Immes  und  d'Rafräsch- 
issema  nit  üs  em  Schiff  ze  lade,  (zu  Tom)  Was  steht  Er 
do,  wie  en  Oehlgetz,  hol  Er  ebs  ze  drinke  derzue,  versteht 
Er  mich. 

Tom:  (welcher  den  Tauben  spielt)  Ja,  recht  scheen  Wetter 
hit. 

Jules:  Ach  was  I  scheen  Wetter,  lang  Er  de  Budellekorb, 
schaff  Er  ebs. 

Tom;    Am  Missisipi  isch  awer  viel  heisser. 

Jules:  Isch  denn  Er  daub  oder  het  Im,  par  Hassar,  am 
Missisipi,  d'Sunn  s'Hirn  usgerohtzt. 

Tante:  Schüll,  sei  nur  guet  mit  em  Tom,  's  isch  jo  der 
beseht  Mensch,  wo  mer  finde  kann. 

Jakob:  Drum  meecht  i  au  de  cousin  Jules  bitte,  'ne  anstän- 
diger ze  traktiere,  sunsch  wurr  ich  em  zeije,  wo  der  Bartel 
de  Moscht  holt. 

Jules:  Jo,  's  isch  guet,  Schagebel,  mer  weiss  jo,  du  meechtsch 
der  e  roths  Reckel  verdiene. 

Georges:  (Mit  Auspacken  der  Esswaaren  beschäftigt.)  Was 
isch  denn  do?  Do  isch  jo  e  Duzed  Serwila,  wo  nur  acht 
Stück  dran  sin. 


—    196    — 

Guschtel:  Kenn  Wunder,  der  Herr  SchCiU  bet  halt  de 
Proviant  ze  verwalte  g'het. 

Jules:  I  hab  unterwijs  als  numme  geluit,  ob  si  au  frisch 
bliewe  un  do  hawi  vun  Zit  ze  Zit  eini  versueche  mien.  I 
hab  sie  doch  nit  kenne  verowose  losse. 

Georges:  Ja,  un  do  isch  e  gebroteni  End,  wo  nur  noch 
ein  Schinkel  dran  isch. 

Jules:  Die  isch  iwerm  Schlofe  gemetzt  worre,  do  schtehn  d 
als  numme  mit  eim  Fues  do. 

Fritz:   Oder  der  Schüllele  hat  sie  unterwäis  ambütiert. 

Tante:  Jetzt,  ihr  Kinder,  welle  mer's  es  bequem  mache  ud 
unser  Breakfast  in  Gremüthlichkeit  milnand  geniesse  un 
dene  scheene  Da  in  Friede  un  Einigkeit  zuebringe. 

Georges:  Awer  diss  isch  jetzt  doch  nit  ein  Duen,  do  sin  jo 
bigosch  nix  als  leeri  Budelle  in  dem  Korb,  hätt  denn  ehe 
der  Schul!  die  au  üsgeluckelt. 

Jules:  Es  sin  nur  d'ewerschte  zwei,  do  het  d'Sunn  so  drof 
gebrennt,  dass  sie  allewei  ingedrikelt  sin. 

Jakob:  Schüll,  i  sa  der  jetzt,  wenn's  noch  emol  vorkumml, 
dass  ebs  uf  die  Art  verdrikelt  no  isch,  no  wursch  Du  ge- 
dünkt, nit  dass  Du  es  am  End  au  noch  ze  druket  wäre 
dätsch. 

Georges:  Na,  loss  nur  guet  sin,  Schacob,  mer  weiss  jo,  dass 
der  knifflisch  Schul  allewiel  sini  Schteess  loos  muess  lonn, 
un  dass  em  die  zwei  weggebutzte  Budelle  besser  gschmekt 
han,  als  wenn  er  vier  anderi  u(T  en  ehrlichi  Art  bekumme 
hätt. 

Jules:  Merci,  Jörri,  für  dini  Verteidigung,  awer  so  en  Ad- 
vokat hätt  i  keine  gebrucht. 

Tante:  Kein  bilteri  Wort,  Ihr  Kinder;  Sehn,  i  bin  so  glickli 
unter  Euch  ze  sin.  Ihr  kenne  gar  nit  glauwe  was  des  e 
Gruenz  isch  für  e  Strossburjer  Kind  90  Johr  lang,  vun 
sinere  Vaterstadt  entfernt  gelebt  ze  han,  ohne  de  Minster- 
zipfel  ze  sehn,  und  no  wider  heimzekumme  frisch  un  gsand, 
un  e  grosser  Deil  vun  sinnere  liewe  Famili  wider  ze  finde. 
Obschun  sich  viel  hie  verändert  het,  allwiel  mir  in  unserm 
Hinter wald  in  Amerika  gelebt  han,  wo  ich  au  manches 
erlebt  hab ;  ze  sin  mer  mini  Jugenderinnerunge  wider  ganz 
frisch  inkumme,  un  d' Anhänglichkeit  an  mini  Famili  un 
d'Lieb  zu  mim  Heimatsland  sin  starker  als  noch  jemols  in 
mir  wach  worre. 

Georges:  Jetzt  Tante  welle  mer  awer  au  en  Awotsante 
mache. 


—    197    — 

Tante:  Ja,  vun  ganzem  Herze  soll's  erst  Glas  unserra  liewen 
Elsass  un  sinere  Hauptstadt,  unserm  guete  Strossburi, 
gelde. 

Alle :  (stehn  auf.)  Strossburi  soll  lewe ! 

Tante:  Ja  Strossburi!  mini  Heimat,  du  schöner  Ort,  wo  i  in 
minere  Jugend,  d'erst  Freud  un's  erst  Leid  empfunde  hab. 
Wo  i  durch  d'Lieb  un  d'Sorgfalt  vun  mine  arme,  awer 
braven  Eltern,  ufgezöue  un  gelehrt  bin  vvorre,  min  Brod  in 
Ehre  ze  verdiene.  Er  gedenkt  mer  allewiel  noch,  der 
Schmerz,  wo  ich  empfunde  hab,  wo  ich  dich  verlosse  hab 
mien,  fascht  ohne  Hoffnung  dich  je  widder  ze  sehn.  Ich 
hab's  gfiehlt,  wie  unglickli  die  arme  Mensche  miese  sin, 
dene's  Schicksal  nit  erlaubt,  in  ihri  Heimat  zeruck  ze 
kehre.  Un  wie  glickli  bin  ich,  in  mim  Strossburi,  wo's 
eso  schön  isch  un  bi  allem,  was  mer  uf  der  Welt  am 
liebste  isch,  min  Famili,  jetzt  ze  lewe  un . . .  emol  ze 
sterwe.  (Die  übrigen  Personen  auf  der  Szene  stimmen 
den  Chor  an :  In  der  Heimat  ist  es  schön,  von  J.  Krebs, 
Musik  A.  Zöllner.) 

Lina:  Tante  kumm,  jetzt  welle  mer  e  Promenädel  mache  in 
de  Wald,  de  wursch  sehn,  wie's  der  doil  bi  der  Fischer- 
insel gfallt,  d'Hecke  un  d'Bäum  sin  noch  wie  friejer  un 
d'Ill,  die  isch  noch  do's  nähmli  wie  vor  50  Johr,  het  mer 
als  min  Babbe  g'sad. 

Rosine:  Herjeh  !  do  isch  e  Blindschlich  im  Gras. 

Jakob:  (springt  hinzu  und  hebt  eine  Cigarre  auf.)  Ah,  ba, 
's  isch  nur  eini  vum  Schüll  sine  plein-air-Cigarre,  wo  er 
uns  als  d'Schnoke  mit  verscheicht. 

Alle  :    Jetz  awer  in  de  Wald. 

J  ä  n  g  e  1 :    Ich  mach  e  Wiedepfiff . 

L  ü  i  e  1  e  :    Un  ich  fang  Papillons. 

Wiesel:    Un  ich  mach  de  Tante  e  schön's  Strissele. 

Jakob:  Awer  einer  mues  do  bliewe  un  d*Kleider  un  d'Ess- 
waare  biete. 

Tante:    Der  Tom  kann  dies  schun  b*sorije. 

Jules:  (zu  Tom.)  Awer  nit,  dass  Du  Dich  do  derhinter 
machsch^  Du  alter  Bär. 

Tom  :  Nein,  nein,  ich  geh  nit  mit,  min  Mistress  hat  g'sad, 
ich  soll  stop  hier. 

Jules:  Ah,  dini  Mistress,  na  dini  Mistress  isch  en  alti 
Kwatsch  (alle  ab  ausser  Tom). 


»> 


—    498    — 

II.  Szene. 

Tom:  (versichert  sich,  dass  er  aliein  ist.)  Also,  dini  Mistress 
isch  en  alti ....  wie  het  er  gsad  ?  Na  's  isch  doch  e  fa- 
mosi  Idee,  wo  i  hab  g'het,  minere  Frau,  dere  guele  Tante, 
angerothe,  ihri,  ihr  unbekannte  Famili,  e  Bissei  üssze- 
speküliere,  für  ze  wisse,  mit  wesse  Geisteskinder  mer's 
eietli  zu  thuen  het.  Die  guet  Frau  meint,  dass  bi  dene 
Veränderunge,  Vergrösserunge  un  Verschönerunge,  wo 
zitter  unserm  Uffefhalt  in  Amerika,  in  Strossburi  gemacht 
sin  worre,  d*Litt  gebliwe  sin,  wie  vor  50  Johr,  dass  Handel 
un  Wandel  noch  so  ehrli  betriwe  wäre,  wie  zue  zelle  Zitte. 
Ja,  heb's  am  Oerel !  Sie  losst  sich  nit  im  Traum  infalle, 
wie  obsenat  mer  mues  mit  de  Litt  hitzeda's  umgehn,  wenn 
mer  sie  nit  genau  kennt,  —  ärjer  als  mit  den  Indianer. 
Mer  darf  nur  d'Reklamme  vun  de  Zittunge  lese,  was  do 
nit  alles  vorkummt :  Ausverkauf,  Unterm  Fabrikpreis,  Noch 
nie  dagewesen,  sogar  in  Vers  sueche  sie  d^Litt  in  d'Läde 
ze  locke,  für  sie  drin  ze  mutze!  Doch  still,  do  kummt  Je- 
mand, jetzt  g'schwind  widder  de  Dauwe  gemacht. 

III.  Sxene. 
Bofllne  und  Jules. 

(Tom  begleitet  die  2  folgenden  Dialogue  mit  mimischen 

Bewegungen.) 

Rosine  :  Ich  sa  Dir,  Du  muesch  vielmeh  sueche  der  Tante 
ze  g'falle;  Du  muesch  dühs  schiene  wie  e  Lämmele  un 
ehrli  wie  e  Bimmerle,  für  dass  Du  emol  ihr  Haupterb 
wursch  un  awer  unterdesse  so  viel  wie  möili  erüs  trottsch 
an  dem  viele  Massumme,  wo  sie  het.  Awer  bedenk's :  mit 
growe,  unanständige  Worte  lenkt  mer  ken  Hund  unterm 
Offeloch  evor.  Still,  do  isch  jo  der  Tom. 

Jules:  Oh,  der  daub  Hafe  mit  sim  dumme  G'sicht,  der  kann 
uns  g'schtohle  wärre. 

RJo  sine:  Jules,  De  weisch,  mer  kan  hitzedas  ken  Mensche 
meh  dröüe. 

Jules:  's  isch  schun  guet,  Mama,  Du  weisch  jo,  dass  ich 
g'scheider  bin,  als  die  Alli,  un  dass  i  unser  ganz  Famili 
zeh  Mol  iwertilpel.  Ich  hab  mine  Plan.  Z'ersch  due  i 
emol  mini  Kusine's  Sofferle  hierothe,  i  bin  in  die  lieb'  Krott 
ganz  verschösse,  zitter  dass  i  weiss,  dass  zwölfdöusend 
Märkte  uf  sine  Kopf  placiert  sin,   wo  em  üsbezahlt  wäre, 


—    199    — 

am  Da,  wo's  majoren  wurd.  Dovun  weis  der  Jacob 
kein  sterwes  Wörtele,  der  plump  Schiffisch,  un  doch 
schlicht  er  dem  Maidel  noch ;  un  i  glaub  ersch  noch,  dass 
es  ne  gern  sieht.  Awer,  wenn  ich  emol  uftritt  un  mini 
offres  de  Service  mach,  no  kann  der  Pfutscher  de  Latrett- 
marsch  anschlaue,  wenn  er  will« 

Rosine  :  Ja,  wenn's  nur  au  so  sicher  war,  wie  Du  Der's  in- 
bildsch. 

Jules:  Awer  Mama,  d'Wahl  zwischen  em  Jockei  un  mir  kann 
jo  nit  andersch  als  uf  minen  Awantasch  üsfalle.  Betracht 
mi  doch  emol  recht.  Un  no  die  schön  Position,  wo  ich 
em  ofTrire  kann. 

Rosine:    (lachend)    Position,   ha   Position,    Du  verdiensch  jo 
nit  emol  Geld   für  der . .  .  Pummade  ze  kaufe.    Du  bisch 
jo  üs  alle  Krembeläde,  wo  de  bisch  g'sin,  näsgejauit  worre, 
wil  de  de  Litte  d'Waar  verpfuscht  hesch. 

Jules:  Verpfuscht  I  nix  hawi  verpfuscht.  Die  Spitzbuewerei . . . 
ah,  Spezereihändler  han  die  hittige  progräs  nit  verstände, 
sunsch  hätte  sie  sich  nit  verzirnt,  dass  i  dem  Eine  sini 
schlechte  Schikori  mit  gemahlene  Lokäs  verbessert  un  im 
Andere  sine  Pfeffer  mit  Leime  verstärkt  hab.  Un  wenn  i 
de  Hunni  mit  Fruchtsirop  verlängert  hab,  was  han  sie 
denn  do  derbie  verlöre? 

Rosine:   's  Zuetröüe  un  d'Bratik  han  sie  verlöre. 

Jules:  Na  wart,  wenn  ich  emol  im  Sofferle  sini  Minz  hab, 
no  fang  ich  e  grosse  Pariser  Lade  an  un  mit  minere  In- 
telligenz mues  ich  gueti  Geschäfte  mache.  No  wursch  nim 
saue,  dass  ich  ken  Position  hab.  Doch  jetzt  mues  i  gehn, 
i  bin  sicher,  's  lieb  Soffejel  suecht  mi  iwerall.  Jetzt  's 
schad  nix,  wenn  die  Mamselle  als  e  Bissei  noch  eim 
schmachte  mien.  (ab.) 

Rosine:  (ihm  nachschauend.)  's  isch  halt  e  Birstel,  wie  en 
Engel,  (ab.) 

IV.  Szene. 
Sophie.  —  Jakob. 

(Tom  im  Hintergrund.) 

Sophie:  Was  nur  diss  isch  mit  fmim  cousin  Schakob,  e 
Zitt  her  kummt  er  mer  ganz  andersch  vor,  als  sunscht, 
er  isch  nim  üszegschtehn.  V^enn  er  mi  als  anluit,  bin  i 
ganz  verdattert,  un  wenn  er  so  artli  mit  mer  isch,  bin  i 
Widder  so   verschameriert.    Redd  er  mit  mer,  ze  bobbelt 


—    200    — 

mer's  Herz  iwerlütt.  Diss  isch  e  Zuestand,  der  kann  nit 
so  bliewe.  Bi  der  erste  Geiejeheit  will  i*s  em  awer  stecke, 
dass  er  nimm  mit  mer  ze  redde  brücht  un  mi  au  nim 
anluie  soll. 

Jakob:  (inzwischen  eingetreten.)  Sofferle,  was  hawi  g'hört? 
Wem  wid*s  verbiete,  dass  er  nimm  mit  der  redde  soll? 

Sophie:  (für  sich)  Na,  so  schnell  hätt  die  Geiejeheit  nit  ze 
kumme  bruche.  (zu  Jakob)  's  isch  jo  nit  bös  gemeint.  I 
hör  Di  gern,  wenn  d'mit  mer  reddsch,  awer  De  soUsch's 
nit  duen  un  i  sieh  Di  au  gern,  awer,  i  bitt  Di  drum,  blie 
vun  mer  eweck. 

Jakob:  Liebs  Cusinel,  do  halt'sch  mer  jetzt  e  raisonnement, 
diss  isch  so  klar,  wie  e  Knöpfelbriej.  Also  Du  hörsch  mi 
gern,  awer  i  solFs  Mühl  halte,  un  De  siesch  rai  gern, 
awer  i  soll  d'Platt  butze,  comprends  pas.  Uebrigens  hawi 
Di  ufgesuecht,  um  en  ernsts  Wort  mit  Der  ze  redde. 

Sophie:  (für  sich)  I  wurr  ne  doch  nit  beleidigt  han,  am  End 
will  er  jetzt  nix  meh  vun  mer  wisse,  (weinend)  's  isch 
halt  en  Unglick,  wenn  mer  ken  Mama  het,  wo  eine  gidiere 
kann  un  eim  saue  kann,  wie  mer  sich  ze  benerame  het, 
—  (weinend)  dass  mer  e  Mann  krieit.  (zu  Jakob)  Ja,  was 
hesch  mer  denn  so  seriöses  ze  saue? 

Jakob:  Ah,  was  i  der  ze  saue  hab.  Hm,  Hm,  (a  parte 
Heidegaleh !  jetzt  bring  i  glauwi  nix  meh  rüs.  —  Wenn 
mer  diss  Gebabbeis  nit  gewohnt  isch.  Hm,  Hm,  i  hab 
noch  express  e  langi  Redd  instudiert,  hab  awer  jed's 
Wörtel  dervon  vergesse,  (laut)  Ah  ba  !  D' beseht  Red  isch 
die,  wo  frisch  vun  der  Lewer  eweck  kummt,  die  vergisst 
mer  nit  (nimmt  Sophie  an  der  Hand).  Liebs  Sophie,  do 
isch  min  Herz,  diss  schlaht  nur  für  Dich  un  do  isch  mini 
Hand,  die  begehrt  nur  für  Dich  ze  schaffe;  wenn  Der 
Eins  un's  Ander  guet  genue  sin,  ze  g'höre  heidi  Din.  E 
grossartigi  Lewesart  kann  i  Der  nit  verspreche,  awer  geliebt 
un  g'ehrt  sollsch  sin,  wie  d' vornehmst  Frau,  un  so  lang 
mer  en  Au  offe  steht,  un  i  e  Glied  riere  kann,  w^urr  i 
derfur  sorje,  dass  der  Mangel  und  d'Noth  de  Wej  iewer 
unseri  Schwell  niemols  finde  wäre,  (für  sich)  Jetzt  isch's 
hüsse.  (zu  Sophie)  Was!  De  sasch  nit  nein,  jetzt  bin  i 
der  glicklichst  Mann.  —  Do's  Handel  druff. 

Sophie:  Ja,  do  hesch's,  un  vun  ganzem  Herze;  awer  ein 
Cundition  muess  i  stelle. 

Jakob:    Un  die  war  ? 

Sophie  :  (geheimnisvoll)  In  acht  Da  wurr  i  majoren,  un  vor 
dere  Zitt  derf  nieme  vun  unsere  Verhältnisse  ebs  wisse. 


—    201     — 

Jakob:  Diss  isch  hart  für  mich,  denn  i  möcht  jetzt  schun 
unser  Glieck  in  d'ganz  Welt  nüss  possöüne,  awer  wil  Dü's 
verlangsch,  wurd's  MQhl  g'halte  un  zuer  Bschtädigung  e 
guets  Krächerie  (kusst  sie). 

Tora:    (während  dem  Kuss)  Hizah  I 

(Sophie  und  Jakob  laufen  erschreckt  auseinander,   während  [die 
Gesellschaft  singend  aus  dem  Walde  zurückkehrt.) 


V.  Ssene. 

Lüieie:  Uiah  !  Ich  hab  e  Schwalweschwanz  un  e  Miller-Maler 

g'fange. 
Jängel:  Un  i  hab  e  Spitzel  für  an  min  Fischgert  abg'schnitte. 
Tante:  Was  e  herrlicher  Spaziergang,  der  schön  grün  Wald 

und  diss  prächtig  Wasser. 
Jules:    Do   find   i  nix   schöns  an  dem  Wasser,    wenn  Einer 

ninburzelt    un    kann    nit    schwimme,    versöfft    er   wie  a 

Schieng,  wie  im  en  anderen  Wasser  au. 

Tante:  Kinder I  ich  bin  witt  erum  kumme  un  hab  grossi 
Fliss  un  See  mit  grossartige  Landschafte  g'sehn,  awer 
diess  Gemietliche,  diess  Anzeiende,  was  unseri  III  an  sich 
het,  diess  haw  i  nienes  g'funde.  Die  frind liehe  Uefer,  wo 
sie  inbändle,  der  stät  un  dühs  Lauf,  der  grün  be wachse 
Bode  un  diess  hell  un  rein  Wasser ;  mer  meint  grad,  sie 
will  de  Charakter  un  d'Seel  vun  ihre  Anwohner  drin  ab- 
schbiejle. 

Rosine:  (pathetisch)  Ja !  un  die  gefitzt  Partie  Blindmieseis, 
wo  mer  gemacht  han. 

Tom:  (einen  grossen  Brief  aus  der  Tasche  ziehend  und  ihn 
der  Tante  übergebend)  Do  den  Brief  hat  diesen  morning 
der  postmen  gebracht,  und  ich  hab  im  Truwel  vergessen 
zu  geben  ab,  exkius  mi. 

(Tante  öffnet  den  Brief  und  fallt  in  Ohnmacht.) 
J  akob  :  (nimmt  den  Brief  und  liest) 

My  dear  Lady ! 
Es  ist  mir  sehr  disagribi  Ihnen  zu  teilen  mit,  dass  your 
Bankier,  Herr  Windbörs,  nach  haben  realisirt  all  ihr 
Hauses  und  Länder  in  veri  guet  Banknots,  ist  gebrannt 
damit  durch,  und  ich  kann  ihnen  schicken  nix  mehr 
monney.     Sie  leben  wohl. 

Your  trueli 

Schwindelsohn. 


—    202    — 

Georges:  Armi  Tante,  was  e  harter  Schlab. 

Jules:  E  harter  Schlah?  d'Folje  vum  e  leids  Lichtsinn,  's 
Yermöje  vun  ere  ganze  Familie  im  e  so  en  amerikaDische 
Windbittel  anzevertröue.  Na,  i  hab  allewiel  gedenkt,  's 
isch  nit  viel  loos  mit  dere  Tante.  Kumm,  Mama,  mir 
gehn  heim,  do  isch  doch  nix  meh  ze  zowle,  un  's  gilt 
emend  noch  e  Gewitter,  d'Uetili  isch  schun  ganz  umhenkt 
(mit  Rosine  ab). 

Lina:  (zu  Tante)  Tante,  muesch  Di  jetzt  nit  so  grame,  wenn 
den  au  din  Geld  verlöre  hesch,  ze  hesch  den  als  Ent- 
schädigung e  ganzi  Famili  gewunne,  zwar  nur  en  armi, 
awer  i  hoff,  Du  wursch  glickli  drin  lewe,  denn  D&  bliesch 
bi  uns.  Mer  richte  der  e  netts  Schtiwele  in,  un  din 
Pi&tzel  an  unserm  Tisch  wursch  de  jede  Da  gedeckt  linde. 

Tante:  Ja,  Du  reddsch  guet,  awer  was  sad  din  Mann  derzue. 

Georges:    Awer  Tante,  ich  wurr  doch   minere  Frau   ihrem 

guete  Herze  nit  wideratrewe.    Niemols,    i    hätt  sie  jo  gar 

nimm  erkennt,  wenn  sie  andersch  geredd  hätt.    Also,  üs- 

gemacht.  Du  bliesch  bi  uns. 
Tante:  (reicht  ihm  die  Hand)  Ja,  un  der  Tom  ? 
Jakob:   Der  bliet  hie  mir,    für  dene  guete  Tschooli  wurr  ich 

schun  sorije. 
Georges:    So   isch  recht,  jetzt   awer  in  d'Schiff,   dass  mer 

dene    schöne  Owe,    iwer    der    Heimfahrt,    noch    geniesse 

könne. 
Wiesel:    Tante,  do  isch  au  min  Kranzel,  wo  i  der  gemacht 

hab  (setzt  der  Tante,  welche  sie  küsst,  einen  Kranz  au). 

Vorhang  fallt. 

Akt  IL 

I.  Sxene. 
LinA,  dman  Georges, 

(Die  Szene  stellt  eine  gewöhnliche,  gutgehaltene 

Arbeiterstube  vor.) 

Lina:  (sitzt  zur  Seite  an  einem  Tische  und  näht,  steht  dann 
auf)  Wo  bliebt  numme  die  Tante  so  lang;  sie  isch  doch 
numme  zuem  Euttler  gange,  für  Bletzer  ze  hole  für  imser 
Z'nachtesse.  (geheimnissvoll)  Ich  weiss  gar  nit,  was  diess 
isch :  Zitter  mir  die  Tante  im  Hüs  han,  meint  mer  grad  's 
Glück  un  der  Seje  sin  mit  eren  ingezoüe.  Mir  fiehren  e 
besseri  Kost  un  doch  hawi  iwer  d'Hälft  vum  mim  Wuche- 


—    203    — 

geld  iweri  un  obschun  i  mer  vorgenumme  hab,  allen  Owe 
e  bissei  länger  ze  schaffe  für  e  Bissei  ebs  meh  zu  verdiene, 
ze  kumm  i  halt  Gottsnamme  keine  Da  derzue.  Allewiel 
ebs  andersch,  wo  mi  dervun  abhalte  duet.  Einen  Owe 
kreje  mer  Freikarte  für  in's  Theater,  an  andere  Da  sin 
mer  ingelade  für  in  e  Kunnzert,  no  gibt  widder  der  Nodisch 
Verein  e  Familiefescht,  do  will  mer  doch  gewiss  au  nit 
fehle.  Un  die  Tante,  die  will  doch  iweral  d'Nas  vorne- 
dran  han,   was  welle  mer  no  mache?   mer  gehn  halt  mit. 

Georges:  (in  Arbeitskleidern  tritt  ein)  Guete  Owe,  Lina, 
(küsst  sie)  wo  sin  denn  d'Kinder,  sin  sie  alli  allärt? 

Lina:  Ja^  Gottlob !  Sie  han  so  schön  ihri  Dewuar  gemacht 
für  in  d'Schul,  no  hawi  sie  noch  em  Z'owenesse  e  Bissei 
nah  gelon  für  mit  den  andere  Kinder  ze  spiele.  Dr 
Jängel  het  g'sad,  er  will  im  Baba  e  Bachet  Gressle  fange. 
Awer  was  meinsch,  was  mir  arrewierl  isch,  hitt  hawi  e 
Wunder  erlebt. 

Georges  :  Awer  gewiss  kein  so  grosses  als  ich. 

Lina  :  Oho  !  Hör  nurr  :  Wil  i  so  guet  mit  mim  Geld  üskumm, 
un  i  noch  ebs  iweri  hab,  hawi  unseri  Husmadam  gfröüt, 
ob  sie  uns  diess  leer  Schtiwel  ufT  unserm  Bode,  zuem  e 
resonawle  Pries  verlohne  wott.  Do  hett  die  mer  awer  zer 
Antwort  gewe :  Hör  Sie^  Frau  Hammer,  ich  sieh  wohl, 
dass  ihr  zen  eng  loschiert  sin>  un  wil  ihr  jetzt  die  Tante 
erhalte  mien,  können  ihr  au  nimm  dene  Hüszins  bezahle, 
drum  .  .  . 

Georges:    Het  sie  uns  ufgsad? 

Lina:  Diess  war  jo  ken  "Wunder,  hör  nur  widdersch.  Drum, 
het  sie  g^sad,  nemmen  ihr  die  Schtub,  un  vun  jetzt  an 
zahlen  er  alle  Vierleljohr  zeh  Mark  wenjer.  Het  mer  je 
emol  so  ebs  vun  ere  Husmadam  erlebt?  Isch  diess  ken 
Wunder,  hesch  Du  mer  au  so  eins  ze  verzähle? 

Georges:  Dass  unseri  Husmadam  e  scharmanti  gueti  Frau 
isch,  hawi  scbun  lang  gewisst;  awer  e  so  e  Schenerosität 
bätt  i  mer  halt  doch  nit  vun  ere  erwart.  Jetzt  will  i  der 
awer  au  zeije,  dass  was  s*Mirakl  anbelangt  ich  Dir  nix 
schuldi  blieb.  Ich  hab  mine  Meischter  um  e  Ogmantation 
ang'sproche,  do  min  Famili  sich  immer  vergrössert,  hawi 
em  gsad,  mögt  i  jo  gern  derfur  alle  Da  zwei  Stund  iwer 
Fiehrowe  schaffe.  No  hett  er  e  Bissei  nochsimeliert  un 
gsad :  Schorsch,  i  begriff  dini  Lau  ganz  guet,  awer  iwer 
Fiehrowe  will  i  nit  geschafft  han,  un  i  sieh  au,  dass  Du 
Dich  de  Da  durch  genue  plöüsch,  für  dass  Du  Owets  Dini 
Ruej  brüchsch. 


—    204    — 

Lina:    Un   do  will   er    natihrli   nix  vun  ere  Lohnerhochung 

wisse. 

Georges:  Ei  !  no  war's  jo  ken  Wunder,  wie  Du  vori  g'sad 
hesch.  Dorum  Schorsch,  het  er  widdersch  gedewert,  vun 
hitt  an  schaffsch  Du  e  Stund  wenjer  's  Da's  un  griejsch 
alle  Wuch  zeh  Märkle  meh  Lohn.  Was  sasch  jetzt,  liebs 
Linnele,  isch  diss  nit  wunderbar,  het  mer  schun  so  ebs 
am  e  Meischter  erlebt? 

Lina  :  (nimmt  ihn  bei  den  Händen)  Na,  was  han  mir  Glick, 
kumm  mer  gehn  g'schwind  der  Tante  ergeje  fur's  ere  ze 
saue,  dass  sie  sieht^  dass  sie  uns  gar  nit  läschti  isch. 

(Beide  ab.) 
II.  Szene. 

Jakob,  dann  Jules  and  Jän^el. 

Jakob  :  Isch  niemand  do,  oh  sie  wäre  nit  wit  sin.  Also  hit 
isch  der  lang  gewunsche  Da,  wo's  lieb  Sophie  majoren 
isch,  wo  i  diss  G*heimnis,  wo  i  schun  acht  Da  fasch(  dran 
verwurj,  emol  offen  erus  babble  kann,  un  wo  i  alle  Litt 
saue  darf:  denke  nur  's  Sofferle,  diss  Zuckerschnäwele, 
diss  Makronegösch ele  wurd  min  herzgelK)bbelts  Wiewele. 
(Man  hört  Lärm,  Jules  stürzt  herein,  gefolgt  von  Jängel, 
welcher  ihn  an  den  Angel  hat.)   Na,  was  giebt's  denn  do? 

Jules:  Hilf!  Hilf!  Mordio!  Es  hett  mi  einer  im  finstere  Hus- 
gang  vun  hinten  angepackt.  Hilf!  Mordioh ! 

Jakob  :  Halt  nur  Jules,  *s  g'schiet  der  nix,  ich  bin  jo  do  für 
Der  ze  helfe,  (zum  Jaengel)  Was  hesch  denn  angschteih, 
Du  kleiner  Sakerdieh. 

Jaengel:  Ich  bin  grad  vum  Fische  heimkumme,  wiel's  doch 
nit  gebisse  het,  un  hab  welle  min  Angel  unter  d'Scht^j 
verschtekle,  do  isch  der  cousin  Jules  kumme  un  isch  mit 
sim  Frack  am  Aengele  henke  gebliewe,  (weinend)  e  gani 
nejs  zwei-Pfenni-Aengele. 

Jakob:  So,  do  hesch  e  Nickel,  do  kannsch  der  widder  e 
ganz  neiji  Angel  kaufe. 

Jaengel:  Merci  cousin!  (im  Abgehen)  Wenn  i  nur  so  e 
schwers  Rottel  dät  fange,    wie  i  ewe  eins  dran  hab  g'het 

Jules:  Für  Dini  Hilf  sa  i  der  vielmol  merci,  Schäkel,  Du 
bisch  doch  eielli  e  gueter  Kerl  un  franchement.  Du  dührseh 
mi,  denn  was  de  hit  Owe  vun  mer  erfahre  wursch,  wuril 
Di  nit  b'sunders  freije. 

Jakob:    Oh!  Ja,  was  wur  i  den  erfahre? 


—    205    — 

Jules:  I  will  frank  mit  der  sin,  Du  wursch  gemerkt  han, 
dass  i  schun  lang  en  Au  uf  s  SofTerle  geworfe  hab,  weisch 
diess  Maidel  isch  nit  ze  veraachte  un's  hett  au  ebs  Ver- 
möje  so  e  zwanzig  döQsig  Märkle,  wie  i  hitt  bi  der  Karle- 
schlauere erfahre  hab^  un  hitt  soll  unser  Hirot  usgemacht 
wäre.     Ja,  hitt  will  i  mi  deklariere. 

Jakob:  (zornig)  Was,  mit  Dir  soll's  Sophie  Hochzittere  wäre? 

Jules  :  Na  tröscht  Di  nur  un  denk,  's  isch  doch  besser,  dass 
's  Geld  un's  Maidel  in  der  Famili  bliet.  Siesch,  do  hawi 
en  anoniems  Briefel  bekumrae,  do  steht,  i  soll  unfehlbar 
hitt  Owe  daher  kumme,  es  erwart  mi  e  grossi  Surpries, 
verstehsch  jetzt. 

Jakob:  (lachend)  Ah,  e  Briefe],  grad  wie  ich  eins  bekumme 
hab,  do  gibt's  gewiss  e  grossi  Surpries. 

Jules:  (a  parle)  's  guet  dumm  Sofferle  meint  es  macht  mir 
en  Iwerraschung  mit  sinere  Münz,  wie  wenn  i's  nit  genau 
wisst,  denn  ohne  die  Monete  war  unser  Sach  nisco.  (zu 
Jakob)  Also  Cousin,  bisch  mer  nit  bös. 

Jakob:  Ich,  ganz  un  gar  nit,  's  Maidel  bliet  jo  in  der  Famili. 

III.  Szene. 
Die  Vorigen.  —  Georges  und  Lina  treten  ein,  dann  die  Kinder. 

Georges  :  Guten  Owe,  Ihr  Herre  Vetter,  was  verschafft  us 
d'Ehr  (reicht  ihnen  die  Hand). 

Jakob:    Ei,  mir  sin  do  her  b'stellt  worre. 
Georges:    Ja,  vun  wem  denn  ? 

Jules:    Diss  wisse  mir  nit,  do  les  (gibt  ihm  den  Brief). 
Georges:    Diss  isch  fuericht,  d'Tante  isch  au  verschwunde, 
mer  wisse  nit  wohin  (Die  Kinder  treten  ein). 

Wiesel:    Mama,  esse  mer  bal  z'Nacht,  ich  hab  Hunger. 

Lina:    Glich,    d'Tante  kummt  den  Auesblick  mit  de  Bletzer. 

Rosine:  (in  die  Stube  einlaufend)  Wo  isch  der  Schüllele, 
min  liebs  Söhnel. 

Jules:  Do  bin  i,  was  isch  denn  los,  Alti. 

Rosine:  Ach,  Gottlob,  noch  lawendi,  's  heisst  in  der  ganze 
Stadt,  d'r  Senft-Schüll  het  sich  ufg'henkt,  wil  em  der  schön 
Lade,  wo  er  mit  em  Sofejele  sin  Geld  hat  welle  kaufe, 
vor  der  Naas  eweck  isch  g'schnappt  worre.  Un  der 
Schtupferle,  wo  doch  sunsch  allewiel  d'Wohrheit  redd,  het 
mer  g'sad,  er  weiss  genau,  dass  ne  der  Ruder  Jockei  loos- 
g'schnitte  het. 


—    206    — 

Jakob:  Ja,  dass  isch  wohr,  der  Schüll  isch  am  Jaengel  sim 
Aengele  g'henkt  un  ich  hab  ne  loos  g'scl^nilte.  (Tom,  Tante 
und  Sophie  treten  ein.) 


IV.  Szene. 

Die  Vorisea.  —  Tom.  —  Tuite.  —  Sopliie. 

Tom;  (eine  Kassette  auf  den  Tisch  stellend)  Ihr  Kinder,  ich 
hab  Euch  im  üfdrah  vun  eurer  Tante  eingelade  uf  hitt 
Owe,  um  Euch  en  Uewerraschung  ze  mache. 

Jules:    Was,  der  daub  Bedienter  hett  sich  erlaubt . . . 

Tante:  Nit  Bedienter,  sondern  Herr  Thomson  Meyer,  min 
Mann  (zu  Jules)  un  au  nit  so  daub,  wie  Du  meinsch, 
denn  er  het  schun  manchs  Wöi-tel  g'hört,  au  vun  ere  ge- 
wissen alte  K watsch. 

J  ul  es:   Awer  Tante. 

Tante:    's  isch  guet,  gib  mer  d'Hand. 

Tom:  Z'ersch  will  i  emol  zur  allgemeine  Beruejchung  ebs  ös 
eme  Brief  vun  mim  Korrespondent  us  New- York  vorlese  : 
(liest.) 

My  dearl 

Ich  habe  presentli  gebracht  in  Erfahrung,  dass  mein 
Schreiber  sich  erlaubt  hat  zu  machen  ein  Spass  und  hat 
Ihnen  Ihr  Fortune  als  verloren  gemeldet,  das  ist  no  wohr. 
Ich   sende  Ihnen  hierbei  Ihr  Kapital  in  ch^ques  über. . . . 

Jules:  (sieht  von  hinten  in  den  Brief  und  ruft)  5  Milionen ! ! 

Tom:  Do  diess  e  grosses  Glick  für  uns  isch,  mögt  d'Tante 
han,  dass  d'ganz  Famili  sich  dran  beteilige  soll  un  offriert 
Eich  verschiedeni  kleini  Presentle,  wenn  er  sie  annehme 
welle. 

Jules:   Ja,  ja,  mer  nemmes  an. 

Jakob:    Mit  Dank. 

Tom:  (aus  der  Kassette  ein  Papier  nehmend)  En  Eletums- 
recht  vun  2  neje  grosse  Kanalschiff  mit  Pferd,  e  Hüs  am 
Kanal  mit  Stallunge  un  alles,  was  zue  der  SchüTeret 
g'hört. 

Tante:  Für  de  Schakob  unter  der  Gundition,  dass  er  sini 
Kusine  's  Soflejele  hirot  (zu  Jakob) ;  bisch  Dü's  inverstande? 

Jakob:  Gewiss,  liewi  Tante,  's  Soflterle  thät  i  au  hirote  ohne 
d'Schiff,  denn  mer  sin  schun  zilter  8  Da  verspreche. 

Tom:   Isch  diss  wohr,  Söphiele? 


—    207    — 

Sophie:  Ja,  Du  weisch  jo,  liewer  Unkel,  dass  i  soglicklibin, 
Du  hesch  jo  unser  Verspreche  b'städigt,  weisch  mit  dem 
famose  «Hizahi>  im  Ostwald. 

Jules  :  Diss  isch  Verrot :  ich  hab's  Söfferle  welle  hirole,  wart 
nur  Jockei. 

Jakob:  (zu  Jules)  Du  wursch  mer  doch  nit  bös  sin,  Vetter, 
weisch.  Du  muesch  Di  mit  dem  tröste,  dass  doch  's  Maidel 
in  der  Famili  bliebt,  un  de  hesch  der  jo  e  surprise  er- 
wart. 

Tom:  E  Kauf  iwer  diss  Hüs  mit  dem  grosse  Italienerslade^ 
wo  im  Jules  gest  vor  der  Naas  eweck  kauft  isch  worre. 

Jules:    Do  bin  i  halt  widder  gegohgelt. 

Tante;  (zu  Jules)  Un  wo  vun  sim  Eietimer  Herr  Jules  Senft 
morje  angetrete  kann  were,    zur  Strohf  für  sin  bös  Muhl. 

Jules  :    Awer  Tante,  was  e  nowli  un  angenehmi  revanche. 
Tom:    Un    do   e  G'schäftsprinzip  vun    den   alti    Strossburger 

Handelslitt,   wenn  De  diss  befolisch,    wurd  Din  Lade  alle- 

wiel  guet  gehn. 

Jules:  (liest  ein  von  der  Tante  ihm  überreichtes  Papier.) 
Ehrli  währt  am  Längschte!  Na,  der  Tante  ze  Lieb  will  i 
diss  au  emol  browiere. 

Tante:  (zu  den  Kindern)  Un  mit  was  soll  ich  denn  Ejch 
Plessier  mache,  Ihr  Kinder? 

Wiesel:  Ich  hält  am  liebste  e  Paar  Ohreringle  mit  so  falsche 
Diamändle,  wie  mer  so  viel  sieht. 

Tante:  Diss  sollsch  Du  han,  un  mit  falsche,  denn  's  isch 
besser  d'Stein  sin  nix  nutz  un's  Maidel  isch  recht,  als  um- 
gekehrt, wie  mer's  leider  oft  sieht,  (zu  Jängel)  Un  Du, 
kleiner  Hosseloddel? 

Jängel  :  Kaufsch  mir  e  Fischgert,  wo  mer  vier  Mol  üsen- 
ander  mache  kann. 

Lüiele:  Tante  kaufsch  mir  e  so  e  nejmodisch's  Littvertränkerle, 
no  fahr  i  Di  als  drin  spaziere. 

Tante:  Merci!  er  solle  s^Ues  han,  un  wenn  er  an  de  nächste 
Vakanze  guete  Schuelzeignis  han,  grijen  er  noch  viel  meh, 
drum  ufgepasst.  (zu  Lina  und  Georg)  EJjch,  liewi  Kinder, 
hawi  nix  ze  gewe,  im  Gejeteil  hawi  an  Ejch  e  Bitt  ze 
richte,  nämlich,  dass  wenn  au  unseri  Verhältnisse  sich 
anderschg'schtallt  han,  mir  doch  bienand  wohne  bliewe  un 
ein  Famili  bilde. 

Lina:    (zu  Georg)  Gelt,  wie  guet,  dass  i  diss  Schtiwel  gelehn 
hab. 


—    208    — 

Georges:  Was  Du  do  verlangsch,  liewi  Tante,  diss  geht  nil. 
Als  armi  Litt  sin  Ihr  mir  herzli  willkomme  g'sinn,  Du 
sowohl  als  der  Unkel,  awer  für  Millionär  ze  loschieri  hawi 
ken  Platz  im  für  sie  ze  bediene,  hetl  mini  Frau . .  .  keo 
Zitt. 

Tom:  Ihr  han  uns  als  armi  Verwandi  in  ejerm  Hüs  uiTge- 
numme  un  ejer  Ehrgfiehl  soll  nit  verletzt  sin,  wenn  Ihr 
uns  au  jetzt  b'halte.  Iwrigens  isch  unser  Richtum  nit  se 
wit  her,  denn  üsser  e  Paar  wohlthätige  Vermächtnisse  isch 
unser  Kapital  ulT  ejeri  Kinder  gestellt,  mir  han  nur  d'Zinse 
dervon,  un  mit  dene  wäre  mer  es  in  unserm  neje  Hüs, 
wo  mer  mitnand  bewohne  wäre,  schun  ehrli  durchschlaue. 
Also  angenumme? 

Lina:  Vis-ä-vis  vun  ere  so  en  edle  Handlung  war  e  refus 
en  AfTrunt.  Schorsch,  denk  wie  sie  so  schön  an  Dine 
Kinder  g'handelt  han.  Ich  nemm's  an  un  in  Herzensan- 
gelegenheite  soll  immer  der  Mann  der  Frau  folje.  ((5eorg 
reicht  Onkel  und  Tante  die  Hand.) 

Vorhang  fallt. 


XV. 


Eine  elsässische  Mäklerzunft. 

Yon 

Dr.  A.  Hertzog. 

I. 

Im  elsassischen  Weinhandel  unserer  Ta^e  hat  sich  eine 
Einrichtung  erhalten,  welche  man  bis  in  die  ältesten  Zeiten 
hinauf  an  der  Hand  zahlreicher  und  ausfuhrlicher  Urkunden 
verfolgen  kann^  wir  meinen  die  Weinmäkler,  welche  unterm 
Namen  «Weinsticher»  im  Elsass  überall  bekannt  sind. 
Wiewohl  es  früher  auch  anderswo  Weinsticher  gegeben  hat, 
so  ist  dieser  Ausdruck  für  Weinmäkler,  Weinunterkäufer  nur 
noch  hier  zu  Lande  im  Volksmunde  lebendig. 

Nach  den  spärlichen  Urkunden  über  Weinsticher,  die  uns 
aus  anderen  Gegenden  begegnet  sind,  scheint  der  Ausdruck 
Weinsticher  nur  dem  Oberrhein  und  dem  Mittelrhein  anzuge- 
hören. In  kölnischen  Urkunden  heisst  der  Wein  Unterkäufer  nie 
Weinsticher ;  dort  hatten  zwar  die  Weinschröter  einige  der 
Pflichten  der  oberrheinischen  Weinsticher,  sie  waren  aber  keine 
Weinunterkäufer.  Wie  die  Weinsticher,  so  liessen  auch  zu 
Köln  die  Weinschröter  den  Bürgern  ihre  Weine  in  die  Keller 
und  besorgten  das  Ablassen  der  Weine,  sowie  das  Verladen  auf 
den  Wagen  oder  aufs  Schiff.  Als  Unterkäufer  dagegen  und 
Weinschätzer  fanden  wir  die  Ansticher,  wie  sie  dort  heissen, 
in  einer  badischen  Ordnung  des  Weinschanks  zu  Schliengen, 
Steinenstatt,  Altingen  und  Mauchen,  wo  die  Wein- 
wirte keinen  Wein  in  ihre-  Keller  einlegen  sollten,  er  sei  denn 
zuvor    durch    den  Weinsticher   angeschnitten,     das    heisst   am 

14 


—    240    — 

Kerbholz  angeschnitten  zum  Zwecke  der  Verzollung  oder  Be- 
steuerung. Eine  Ordnung  des  Küferhandwerks  von  1575  für  das: 
Markgrä  flerland  bestinrunt  keine  allzustrenge  Trennung  der  Küfer 
vom  Gewerbe  der  Weinsticher,  wie  dies  an  vielen  Orten  der 
Fall  war,  indem  sie  den  Küfern  das  Ablassen  des  Weines  in 
den  Kundenkellern  gestattet ;  nur  das  Verladen  der  Weine  auf 
die  Wagen  wurde  den  Weinstichern  ausschliesslich  vorbehalten. 
Hier  galt  es  einerseits  eine  sorgfaltigere  Behandlung  zu  erzwingen 
und  andererseits  gewiss  nicht  zum  Wenigsten  jede  Zollunter- 
schlagung unmöglich  zu  machen«  Ordnungen  von  Sausenberg 
und  Freiburg,  sowie  eine  Küferordnung  der  Graüschan 
Hachberg  in  Baden  erwähnen  die  Weinsticher  ebenfalls, 
hier  gehört  das  Abziehen  des  Weines  bei  den  Kunden  den 
Küfern  nur  da  zu,  wo  Weinsticher  nicht  vorhanden  sind. 

Auch  für  Rheinhessen  haben  wir  in  einer  Urkunde  von 
1477  den  Ausdruck  Weinsticher  zur  Bezeichnung  desselben 
Gewerbes  angetroffen,  dort  wurde  Peter  Cmeich  czu  Altzei 
ufTem  Wormser  Gaw  zum  Weinschetzer  und  Weinsticher  an- 
genommen». Ohne  Zweifel  kannte  die  nahegelegene  Pfalz  die 
Weinsticher  ebenfalls,  Urkunden  aus  diesem  Landgebiete  haben 
uns  nicht  vorgelegen.  Im  Mosellande  kommt  der  Ausdruck  nie 
vor,  wir  glaul)en  diesen  Schluss  mit  Recht  daraus  ziehen  zu 
können,  dass  Lamprecht  in  seinem  grossen  Werke  über  dies 
Gebiet  desselben  nie  Erwähnung  thut  und  die  Weinsticher  in 
den  von  ihm  verötTentlichten  Urkunden  sowie  Urkundenzitaten 
nie  erscheinen.  Weinsticherordnungen  aus  allen  den  Gegenden, 
in  welchen  Weinsticher  vorkamen^  haben  wir  nicht  erlangen 
und  finden  können,  wie  dies  für  Elsass  möglich  war.  Nach 
dem  Vorgange  in  Baden  zu  schliessen,  stecken  die  diesbe- 
züglichen Bestimmungen  in  Zunftordnungen  des  Kuferhand- 
werkes,  selbständige  Ordnungen  dagegen  scheinen  dort  nicht 
zu  existieren.  Im  Elsass  aber  sind  die  Weinsticherordnungen 
sehr  zahlreich :  abgesehen  von  denselben  aus  dem  Strassbuiiger 
Archiv,  von  denjenigen  aus  dem  Sulzmatterthal  und  von  Otters- 
weiler, die  wir  hier  speziell  besprechen  werden,  fanden  vnr 
solche  in  dem  Stadtbuche  von  Kolmar ;  auch  die  Stadtbücher 
und  Archive  von  Türckheim,  Schlettstadt,  Kaysersberg,  Ammer- 
schweier,  Gebweiler,  Bergheim,  Barr,  Oberehnheim,  Kestenhob, 
Rosheim  und  Molsheim  enthalten  alle  solche  Ordnungen,  welche 
fast  überall  dieselben  Bestimmungen  einschliessen. 

Schon  die  Thatsache,  dass  ein  solches  handelsrechtliches  In- 
stitut durch  eine  mehrhundertjährige  Vergangenheit  hindurch 
l)einahe  in  ursprünglicher  Gestalt  sich  bis  auf  unsere  Tage  er- 
halten hat,  dürfte  hinreichen,  unseren  Versuch  zu  rechtfertigen, 
dasselbe  in  den  folgenden  Ausführungen  eingehend  darzustellen; 


—    211    — 

noch  mehr  aber  muntert  uns  der  Umstand  dazu  auf,  dass  wir 
durch  diese  kleine  und  bescheidene  Untersuchung  gegenüber 
der  herrschenden  Theorie  den  Beweis  zu  erbringen  glauben, 
dass  es  früher  auch  Mäklerzünfle  gegeben  hat. 

Geben  wir  zunächst  eine  kurze  Darstellung  des  Weinsticher- 
gewerbes,  wie  es  heute  geübt  wird,  um  den  Lesern  dadurch 
sofort  die  Aufgaben  auch  des  mittelalterlichen  Weinstichers 
vorzuführen.  Die  Weineinkaufe  im  Reblande  werden  durch 
Verkaufsagenten  vermittelt,  welche  seit  Jahrhunderten  unter  dem 
Namen  Wein  st  icher  bekannt  sind.  Der  Weinsticher  prüft 
die  Weine  auf  ihre  Qualität  beim  Verkaufsangebot;  wenn  ein 
Fremder,  um  Weine  anzukaufen,  in  ein  Dorf  kommt,  wendet 
er  sich  an  den  Weinsticher,  der  ihn  in  den  verschiedenen 
Kellern  herumführt,  bis  der  Käufer  einen  ihm  gefallenden  Wein 
findet.  Der  Handel  wird  geschlossen  zwischen  dem  Käufer  und 
dem  Verkäufer  in  Gegenwart  des  Weinstichers,  der  Zeuge  des 
Rechtsgeschäftes  ist,  der  auch  das  eingegangene  Geschäft  in  sein 
Buch  einschreibt,  sowie  alle  Bedingungen,  welche  der  Vollzieh- 
ung des  Vertrages  zu  Grunde  gelegt  worden  sind.  Der  Käufer 
wird  stets  vermutet  bar  in  die  Hände  des  Weinstichers  zu  be- 
zahlen, was  jedoch  heute  nur  mehr  in  den  seltensten  Fällen 
geschieht.  Der  Verkauf  durch  den  Weinsticher  ist  dessen  un- 
geachtet ein  Bargeschäft,  so  dass  der  Weinsticher  sofort  Zahlung 
bietet,  wenn  es  der  Verkäufer  begehrt.  Er  hat  nicht  das  Recht, 
das  Geld  längere  Zeit  zu  behalten.  Dies  geschieht  aber  doch, 
der  Ortsgebrauch  und  mannigfaltige  Rücksichten  erheischen  es, 
dass  man  das  Greld  nicht  sofort  verlange;  man  lässt  es  beim 
Weinsticher  liegen  und  zwar,  ohne  Zinsen  zu  fordern.  Der 
Weinsticher  erhält  einen  Weinsticherlohn,  das  Stichgeld,  ver- 
schieden nach  Orten  und  Gegenden.  Im  Unterelsass  zahlen 
Käufer  und  Verkäufer  das  Stichgeld  je  zur  Hälfte,  im  Ober- 
elsass  entrichtet  es  der  Verkäufer  allein.  Der  Weinsticher  macht 
Geschäftsreisen  auf  seine  Kosten,  er  empfangt  und  bewirtet  die 
Käufer,  besorgt  auch  die  Verladung  und  Versendung  der  ange- 
kauften Weine,  dies  letztere  alles  auf  Kosten  der  Käufer. 

Als  Handelsmäkler  waren  die  Weinsticher,  und  zwar  noch 
in  den  ersten  Jahrzehnten  unseres  Jahrhunderts,  beeidigt. 

Aus  der  nun  folgenden  Darstellung  des  Weinsticherwesens 
der  alten  Zeit  werden  die  Leser  ersehen,  welch  ein  Unterschied 
zwischen  Einst  und  Jetzt  besteht,  aber  auch,  wie  zäh  in  unserem 
Lande  alte  Handelsrechtsinstitute  sich  erhalten  konnten.  Wie 
allbekannt  durften  bestimmte  Waren  nur  unter  strenger  Auf- 
sicht von  Markt-  und  Handelsgeschvs'orenen  verkauft  werden; 
schon  in  der  karolinischen  Gesetzgebung,  sowie  auch  in  allen 
späteren   Marktordnungen   des   Mittelalters,   begegnen  wir  den 


1 


Marktgeschworenen.  Diese  mussten  alle  Ware  abschätzen  und 
den  Preis  festsetzen.  Der  Steuer  wegen  mussten  diese  Beamten 
genau  verzeichnen,  wie  viel  des  Weines  z.  B.  verkauft  wurde, 
sei's  zu  Markte,  sei's  durch  einen  Wirt.  Der  festgestellte  Wein- 
preis hiess  der  Weinschlag.  Da  der  eben  erwähnte  Anschlag 
der  Weine  immer  durch  Kosten  derselben  stattfand,  so  geschah 
dies  gewöhnlich  beim  Anstich  eines  neuen  Fasses,  und  da 
zum  Anstechen  wohl  immer  besondere  Beamten  verwendet 
wurden  —  gewöhnlich  waren  sie  Küfer  —  so  erhielten  die» 
Beamteten  —  der  Gemeinden  —  in  allen  Weingegenden,  so 
auch  in Strassburg,  den  Namen  «Weinstiche r».  Sie  gehörten 
somit  zu  den  Geschworenen  des  Marktes  ;  nichts  lag  dann  näher, 
als  dass  eben  darum  die  Weinsticher  auch  die  Verkäufe  zwischen 
Käufer  und  Eigentümer  vermittelten.  Sie  gestalteten  sich  somit 
recht  bald  zu  einer  ganz  eigentümlichen  Mäklerschaft,  die  zu- 
gleich auch  die  untergeordneten  Zollbeamten  zur  Ueberwa<^ung 
der  Marktabschlüsse  stellte.  Als  Gemeindebeamte  waren  sie 
beeidigt  und  ihre  Mitwirkung  war  bei  den  Verkaufen  too 
Bechtswegen  gefordert,  durch  sie  erhielt  der  Käufer  die  Sicher- 
heit für  Echtheit  und  Güte  des  Weines,  der  Verkäufer  einen 
zuverlässigen  Zeugen,  dessen  Aussage  oder  schriftliche  Aufzeich- 
nungen —  früher  in  Bezug  auf  Quantität  des  verladenen  Weines 
immer  auf  Kerbholz  gemacht  —  vor  Gericht  allein  Gültigkeit 
hatten  und  in  Streitsachen  den  Ausschlag  gaben.  So  wardeo 
die  Jurati  des  alten  Bechls  die  Weinsticher  des  Mittelalters 
und  aus  diesen  entstanden  die  Weinverkaufsvermittler  der 
Jetztzeit,  welche  immer  noch  die  alte  Bezeichnung  Weinsticher 
führen. 

IL 

In  einer  alten  Dorfordnung  von  Ottersweiler  bei  Maars- 
münster sehen  wir,  dass  das  Weinsticheramt  zu  Gunsten  der 
Gemeindekasse  auf  ein  Jahr  an  den  Meistbietenden  versteigert 
wurde.  Jährlich  am  Montag  nach  Martini  wurde  das  Amt  an- 
geboten; die  an  der  Steigerung  Teilnehmenden  durften  nicht 
mit  mehr  als  einem  Schilling  draufbieten  und  derjenige^  welchem 
das  Amt  verblieb,  musste  der  Gemeinde  Burgschaft  stellen  und 
drei  Hilfs  weinst  icher  zu  sich  heranziehen.  Kam  ein  Fremder 
in's  Dorf,  um  Wein  zu  kaufen,  so  musste  ihn  der  erste  Wein- 
sticher, zu  dem  er  gelangte,  in  den  Kellern  herumführen,  sollte 
aber  nicht  mit  ihm  in  seine  eigenen  Kellereien  gehen,  bevor 
er  in  drei  anderen  gewesen  war.  Der  Weinsticher  sollte  sich 
nicht  ohne  Erlaubnis  des  Schultheissen  aus  dem  Banne  ent- 
fernen,   nicht  weiter  gehen  als  des  Glöckleins  Buf  hinschallle, 


—    213    — 

der  die  Weinsticher  und  die  Weinläder,  die  im  Felde  waren, 
benachrichtigte^  dass  ein  Weinwagen  angekommen  sei.  Beim 
Weinsticher  mussten  auch  die  Wirthe  der  Mark  Maursmunster 
sowie  ihres  Dorfes  kaufen ;  so  lange  noch  Wein  im  Dorfe  zu 
haben  war,  sollte  nicht  auswärts  gekauft  werden. 

Um  grössere  Gewährschaft  zu  leisten  hinsichtlich  des  Masses, 
durften  die  Weinwagen  nur  auf  einem  besonders  dazu  bestimm- 
ten Platze,  auf  der  «Sinne»,  durch  geschworene  Läder  (von 
«laden»)  verladen  werden.  Kam  der  Wein  in  einer  Stadt  auf 
dem  Markte  zuni  Verkauf,  so  bildete  das  Zeugnis  des  Wein- 
stichers  oder  der  dabei  beteiligt  gewesenen  Läder  die  Urkunde 
einer  amtlichen  Aichung. 

Die  Weinsticherordnung  des  «Sultzmatter  Thal- 
buches» enthält  ebenfalls  recht  bemerkenswerthe  Vorschriften 
über  das  Weinsticheramt  und  das  der  Weinläder.  Hier  tritt 
der  gleichzeitige  Charakter  der  Weinsticher  als  Mäkler  und  als 
Zollbeamte  recht  deutlich  hervor. 

Der  Weinsticher  hatte  bei  seinem  leiblichen  Eide  die  Ver- 
pflichtung, einem  Jeden  im  Thal  «weyb  und  man,  arm  und  reich» 
in  Treue  zum  Verkaufe  des  Weines  zu  verhelfen,  «Ihm  daz 
Best  zu  rodtende»,  die  Verkäufer  des  Besten  zu  berathen,  sie 
der  geschehenen  Verkäufe  und  der  Preise  der  Weine  richtig 
zu  unterweisen,  «niemandt  seinen  weyn  zu  lutzlen  (schlecht 
machen)  oder  verachten >.  Wo  aber  ein  Mangel,  ein  Fehler 
an  einem  Weine  wahrzunehmen  ist,  «sol  der  Weinsticher  dem 
heimlichen  sagen  dem  der  Wein  gehört»;  nicht  aber  dem  Gaste, 
dem  Käufer,  soll  er  es  mittheilen,  es  sei  denn  dass  dieser  spe- 
ziell ihn  darüber  befrage,  den  Fehler  somit  auch  bemerkt  habe. 

Jeden  Käufer  soll  der  Weinsticher  so  lange  im  Dorfe  her- 
umfähren, «bis  er  zu  kauff  kumpt,»  er  soll  auch  darauf  Acht 
haben,  ob  niemand  mit  dem  Weine  Betrügereien  begehe  oder 
begangen  habe,  nachdem  der  Gast  gekauft  hat;  wo  dies  geschähe, 
soll  er's  beim  Schultheissen  vorbringen  und  rügen.  Keinen 
Keller  soll  er  «scheuen»,  unbesucht  lassen,  hierin  soll  er  keinem 
zu  Liebe  noch  zu  Feindschaft  handeln.  Er  soll  auch  seine  Kerb- 
hölzer, woran  der  Fassinhalt  durch  die  Läder  oder  den  Wein- 
sticher eingeschnitten  war,  gut  aufbewahren,  «daz  man  den  zoll 
mit  den  Ledern  meinem  Herren  (dem  Bischöfe  von  Strassburg) 
gerechen  kund.»  Das  Stichgeld  betrug  hier  vom  Fuder  Wein 
(24  Ohmen  =  42  Hektoliter)  2  Schilling;  der  dritte  Theil  des 
Stichgeldes  gehörte  dem  Schultheissen. 

Auch  sollte  der  Weinsticher  die  Weinläder  gut  überwachen, 
damit  diese  keine  Betrügereien  begingen;  er  sollte  ungeheissen 
in  keinen  Keller  kommen,  auch  durfte  er  vom  geladenen  Wein 
nicht  mehr  als  ein  Mass  zu  Stichwein  für  sich  nehmen;  über 


—    214    — 

drei  Tage  sollte  er  das  Weingeld  des  Käufers  nicht  in  seiner 
Behausung  behalten,  altem  die  Weinsticher  sollen  sich  auchauff 
die  Strassen  fuegen  um  nach  irem  vermögen  Gast  harin  zu 
pringen» ;  sie  sollen  auch  ihren  Gästen  nicht  zu  grosse  Rech- 
nungen für  die  Mahlzeiten  aufstellen.  Sonstige  Bewirthschaf- 
tung  oder  Ausschenken  von  Wein  war  ihnen  strenge  verboten. 
Soviel  über  Weinsticher  auf  den  Dörfern.  Besonders  wollen  wir 
noch  hervorheben,  dass  die  Dorfweinsticher  nicht  zünftig  waren. 
Sie  bildeten  nicht  eine  Körperschaft,  wie  vielfach  angenommen 
worden  ist,  sondern  sie  waren  direct  der  Gemeindebehörde 
unterworfen,  ebenso  wie  die  Weinläder. 


III. 


Anders  war  dies  aber  in  Strassburg  der  Fall.  Diese  Stad 
war  im  ganzen  Mittelalter  ein  wichtiges  Emporium  für  den  ober- 
rheinischen Weinhandel,  der  die  Weine  des  Elsasses  und  des 
Breisgaues  auf  Schiffen  weithin  den  Rhein  hinunter  spedierte. 
Diese  Weine  wurden  ehemals  bis  nach  Holland  und  England 
exportiert.  In  Strassburg  waren  zwei  grosse  Weinmärkte,  zahl- 
reich kamen  die  Weinladungen  zu  Land  und  zu  Wasser  dort- 
hin, viele  Weinsticher  waren  da  von  nöthen,  um  die  Märkte 
zu  überwachen  und  die  Verkäufe  zu  vermitteln  oder  zu  beur- 
kunden. Hier  waren  diese  Weinmäkler  ZUENFTIG  — 
denn  Weinmäkler  waren  sie  trotz  ihres  Charakters  von  Ge- 
meindebeamten und  sogar  von  Polizeiorganen,  denen  die  Ueber- 
wachung  der  Märkte  zufiel,  um  die  Zollunterschlagungen  zu  ver- 
hindern und  die  etwa  vorkommenden  Betrugereien  im  Handels- 
geschäfte zu  rügen.  Die  Strassburger  Weinsticher 
bildeten  eine  eigene  Zunft,  mit  den  cWein  messe  rn» 
und  den  «Weinrufern»  sind  sie  seit  1455  vereint.  (Stadt- 
Archiv  zu  Strassburg.  Grewölb  unter  der  Pfalz,  12  Nr.  22. 
Ferner  Ratsprotokolle  von  1463,  Band  28,  Fol.  165.) 

Die  ältesten  Vorschriften  über  den  Weinhandel  ünden  wir 
bereits  im  zweiten  Strassburger  Stadtrecht,  das  etwa  um  das  Jahr 
1214  kodifiziert  ward.  (Siehe  Urkuodeabuch  der  Stadt  Strassburg 
I.  Band.)  Da  lesen  wir :  «Es  ist  verholten,  das  man  den  veiIeD 
win  in  den  schiffen  uf  der  Brusch  noch  uf  den  wagenen  vor 
deme  müastere  nicht  verköffen  noch  stechen  sol  vor  primen.» 
Dieser  Text  entstammt  der  deutschen  Fassung  des  Art.  37  aus 
dem  zweiten  lateinisch  verfassten  Stadtrecht  in  dem  IV^  Stadt- 
recht, das  gegen  1270  verfasst  wurde.  Hier  wiixi  zwar  voo 
den  Weinstichern  nicht,  sondern  nur  vom  Weinanstechen  ge- 
sprochen.   Dies  geschah  aber  durch  und  in  Gegenwart  von  Le- 


—    245    — 

sonderen  Marktbeamten,  die  eben  wegen  ihrer  Arbeit  die  Wein« 
sticher  genannt  wurden.  Dieselbe  Vorschrift  Gnden  wir  in 
spateren  Aufzeichnungen  und  zwar  mit  besonderer  Erwähnung 
der  «Weinstiche r.ji  Aus  dieser  ältesten  Vorschrift  ersieht 
man  auch,  dass  noch  um  1270  der  Weinmarkt  für  die  auf 
dem  Wagen  hereingebrachten  Weine  auf  dem  Münslerplatze 
sich  befand.  Im  Stadtrecht  V,  vor  1311,  (Urkundenbuch  der 
Stadt  Strassburg,  IV.  Band,  zweite  Hälfte,)  sind  die  Bestim- 
mungen über  den  Weinhandel  schon  zahlreicher,  und  hier 
zum  ersten  Male  in  den  Stadtrechtsammlungen  tritt  die  Bezeich- 
nung «Weinsticher»  auf. 

Es    seien     hier     dieselben     auszüglich    mitgeteilt :     Kein 
Weineigentumer   sollte    vor  seiner  Hausthür  Wein   verkaufen, 
ohne  einen    Weinrufer    herbeizuziehen.     Zum    erslenmale    er- 
scheinen  hier  die  Weinrufer,  auch  diese   gehörten  später  zur 
Weinsticherzunft,  wie  wir  bereits  erwähnten.    Art.  41 :    «Kein 
Weinsticher  sollte  für  eigene  Rechnung  Wein  kaufen,  sei's  im 
Schiff  an  der  Breusch,  sei's   auf  dem  Wagen  am  Weinmarkte«. 
War  doch   der  Markt    dazu  bestimmt,  zu  allererst  die  Bedürf- 
nisse der  Bürgerschaft  zu  decken  ;   wenn  die  Weinsticher  und 
.sonstigen  Weinleute  Wein    nach   Belieben   kaufen   durften,   so 
konnten  sie  leicht  in  Versuchung  geraten,  davon  bei  günstiger 
Befahrung   des  Marktes   grosse  Mengen  aufzukaufen,  um  dann 
nach  dem  Markte  die  Weinpreise  nach  Gutdünken  zu  steigern. 
Spekulationskäufe  waren  dazumal  kurzweg  verboten,  und  zwar 
nicht    nur   für    die  Weinsticher,  sondern   auch   für  alle  Leute, 
welche  Weine  auf  cMehrschatz»,  also  zum  Wiederverkaufe  an- 
legten.   Die  Landleute,   die   nicht  Stadtbörger   waren,   durften 
keine  Weine  stechen.    Diese  Vorschrift  müssen  wir  dahin  ver- 
stehen,   dass  nur  Bürger   der  Stadt  Weine  zum  Verkauf  an- 
stechen durften,  also  Weinsticher  sein  konnten.  Auf  der  Breusch 
im  Schiffe  und    auf  dem  Wagen,  bevor  die  Weine  ausgeladen 
waren,  durfte  niemand  «gaste  wyn>,  das  heisst  von  den  Fremden 
(die  früher  vielfach    als  Gäste  bezeichnet  wurden)  eingeführten 
Wein  kaufen,   «er   si   burgfr  oder  winsticher».    Zuvor  mussten 
die  Weine  ausgeladen  und  an  einem  bestimmten  Orte  gelagert 
worden  sein,  wo  sie  durch   die  Weinsticher  angestochen  und 
mit  Hilfe  der    «Wein kieser»    gekostet  und  geschätzt  wurden. 
Die  Stadtrechte  von  Strassburg  enthalten  dann  noch  eine  Menge 
von  Bestimmungen  über  den  Weinhandel,  die  wir  hier  jedoch 
nicht  eingehender  mitteilen  wollen,  weil  sie  mit  unserem  Gegen- 
stande direkt  nichts  zu  thun  haben ;    die  Weinsticher  mussten 
ihr  Augenmerk  darauf  richten,  dass   diese  Handelsvorschriften 
genau  eingehalten  wurden. 

Im   VI.   Sladtrecht   von   1322   wird   der  Weinsticherzunft 


—    216    — 

immer  noch  nicht  Erwähnung  gethan,  ebensowenig  spricht  von 
ihr  das  Bui^grafenweistum  (von  1332—1395).  Das  Gndet  seine 
Erklärung  in  dem  Umstände,  dass  vor  1332  die  Weinsticher 
kein  Handwerk  bildeten;  erst  nach  der  Staatsumwälzung  \t>n 
1332  hat  man  eine  Reihe  neuer  Handwerke  zu  Zünften  ge- 
macht, um  auf  diese  Weise  die  Zahl  der  Handwerksleute  im 
Stadtrate  auf  die  gewünschte  Höhe  zu  bringen.  Wir  wollen  hier 
über  die  Verfassung  der  Weinsticherzunft  keine  Worte  ver- 
lieren, für  alle  Zünfte  war  ja  dieselbe  Verfassung  in  Krafl^  und 
würde  es  uns  zu  weit  führen,  wenn  wir  uns  dabei  aufhalten 
wollten.  In  Folgendem  werden  wir  nur  noch  die  Zunflvor- 
Schriften  über  die  Ausübung  des  Handwerkes  darzustellen  ver- 
suchen. 

In  früheren  Zeiten  war  die  Weinsticherzunft  die  Unter- 
käuferzunft genannt;  Unterkäufer  bedeutet  soviel  wie  Mäkler, 
Zwischenhändler ;  somit  haben  wir  hier  in  Strassburg  das  Bei- 
spiel einer  zünfllerisch  organisierten  Zwischenhändler-  oder 
Mäklerkörperschaft.  Diese  Strassburger  Weinsticher  sind  wohl 
das  einzige  Beispiel  einer  Mäklerzunft.  Die  Zunftsiube  der 
Weinsticher  war  in  früheren  Zeiten  in  der  Barbaragasse  Nr.  10, 
wurde  aber  nach  Heitz,  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts,  in 
die  Blauwolkengasse  Nr.  22  (das  ehemalige  Wiiishaus  zur 
Weinsticherstube)  verlegt.  Viel  später,  nach  der  Gründung  der 
eigentlichen  Zunft,  erst  im  17.  Jahrhundert,  wurden  derselben 
auch  die  Perrücken macher  und  Fnseure  beigesellt,  wahrschein- 
lich weil  bei  abnehmendem  Weinhandel  in  Strassburg  ihre  Zahl 
stark  abgenommen  hatte,  ja  in  den  letzten  Zeiten  dienten  nur 
die  zwei  letztgenannten  Handwerke  in  der  Weinsticherzunft, 
darunter  befanden  sich  nur  noch  zwei  geschworene  W^ein- 
sticher  und  zwei  Weinkieser  oder  Weinschröter.  Wir  glauben 
darin  einen  Beweis  dafür  zu  finden,  dass  der  Strassburger 
Weinhandel  mit  der  Zeit  sehr  an  Bedeutung  verloren  hatle; 
noch  im  16.  Jahrhundert  ßnden  wir  urkundlich  mehr  Wein- 
sticher erwähnt,  so  dass  wir  diesen  Niedergang  fuglich  mit  den 
Folgen  des  Dreissigjährigen  Krieges  in  Verbindung  zu  bringen 
berechtigt  sind.  Mehr  noch  aber  muss  eingewirkt  haben  die 
französische  Annexion,  durch  welche  natürlich  die  alten  Handels- 
beziehungen mit  dem  übrigen  Deutschland  und  mit  Holland, 
sowie  auch  mit  England  sehr  fühlbare  Einbusse  erlitten.  Nach 
dem  Dreissigjährigen  Kriege  hatte  man  übrigens  so  viel  zu 
thun,  um  das  entvölkerte  und  ausgehungerte  Land  wieder 
emporzurichten,  dass  an  einen  Exporthandel  nicht  zu  denken 
war,  wie  ihn  die  früheren,  glücklicheren  Jahrhunderte  gesehen 
halten.  Als  später  das  Land  wieder  reicher  geworden  war, 
waren  die  Handelsbeziehungen   mit  dem  Niederrhein  dank  der 


—    217    — 

politischen  Aenderungen  in  Vergessenheit  geraten  ;  nur  die 
Schweiz  war  dann  noch  die  Hauptabnehmerin  unserer  elsas- 
sischen Weine. 

Von  dem  AugenbHcke  an,  wo  die  Weinslicher  eine  Zunft 
geworden  (1333),  fliessen  die  Urkundenquellen  über  Zünfte  und 
Zunftwesen  viel  reichlicher  als  vorher.  Von  Zeit  zu  Zeit  er- 
scheinen die  einzelnen  Ratsbeschl risse  und  Zunftordnungen  er- 
neuert, verbessert,  wohl  auch  vermehrt,  je  nach  den  erfordernden 
Umständen.  Die  oft  wiederholten  Handwerkerordnungen  be- 
weisen, dass,  ungeachtet  derselben,  sich  immer  neue  Miss- 
brauche  einzuschleichen  wussten,  Missbräuche^  die  sich  von 
Geschlecht  zu  Geschlecht  zu  vererben  schienen,  Missbräuche, 
die  man  eben  heute  noch  so  gut  wie  damals  in  der  Hand- 
werkerwelt entdecken  kann.  So  sind  gerade  die  Weinmarkts- 
und Weinhandelsordnungen  im  Laufe  der  Jahrhunderte  ausser- 
ordentlich zahlreich. 

Die  ältesten  Ordnungen  und  Artikel  der  Weinsticher  sind 
von  1355,  seither  sind  sie  mit  unwesentlichen  Umänderungen 
wiederholt  worden.  Eine  eingehendere  Darstellung  derselben 
wird  hier  am  Platze  sein. 

IV. 

Es  gab  zu  Strassburg  zweierlei  Weinslicher :  die  Wein- 
markts weinslicher  und  die  Keller-  oder  ßürgerweinsticher. 
Wir  ihr  Name  andeutet,  fanden  die  ersteren  ihre  ausschliess- 
liche Beschäftigung  auf  den  zwei  Weinmärkten,  am  Krahn  für 
die  Weine,  welche  zu  Schiü'  in  die  Stadt,  und  auf  dem  Markt- 
platz, wohin  vom  Lande  die  Weinfuhren  kamen.  Die  Keller- 
weinsticher  dagegen  hatten  allein  das  Recht  cDie  frembden 
Fuohrleuth  und  WeinkeüfTer  Inn  die  Keller  zu  füehren,  wo- 
gegen die  Spanner  (Leute,  welche  die  Fässer  auf  den  Wagen 
befestigten)  sich  dessen  enthalten  sollen»  ferner  das  Recht,  Jass 
sie  als  Lohn,  «cwie  bisher  vom  Enger  zween  Schilling  Pfenning 
empfahen  mögen.» 

Die  Marktweinsticher  standen  unter  der  Ueberwachung 
der  Sammler,  das  heisst  von  eigens  durch  die  Zunft  bestell- 
ten Beamten,  welche  an  den  Markttagen  —  Freitags  war  Wein- 
markt  in  Strassburg  —  alles  durch  die  Weinsticher  verdiente 
Stichgeld  sammelten,  denn  der  einzelne  Weinsticher  behielt 
das  Geld,  dass  er  auf  dem  Markte  erhielt,  nicht  sogleich  für 
sich,  sonlern  das  Stichgeld  wurde  zu  bestimmter  Zeit  gleich- 
massig  unter  alle  Weinsticher  verteilt.  Jedes  Jahr  am  nächsten 
Sonntag  nach  Michseli  wurden  durch  die  Herren  Schöffen  und 
Gericht  der  Zunft^  «vier  erbare  Mann   zue  Sambiern])  erwählt, 


—    248    — 

deren  jeder  eine  Büchse  haben  sollle.  Diese  Sammler  mussten 
dann  an  den  Markttagen  jedem  Weinsticher,  der  auf  den  Markt 
kam,  ein  Wortzeichen  geben,  wir  würden  heute  sagen:  eine 
Legitimationskarte  ausstellen.  Von  diesen  vier  Sammlern  sollte 
einer  mit  den  dazu  nötigen  Unterkäufem  und  Weinstichem 
sich  auf  den  Rossmarkt  (jetzigen  Broglieplatz)  einer  an  den 
Krahn  am  Wasser  und  die  übrigen  zwei  mit  den  übrigen 
Markt  weinstichem  auf  den  grossen  Weinmarkt  begeben.  Das 
Geld,  das  den  Sammlern  durch  die  Weinsticher  oder  Unter- 
käufer  überantwortet  wurde,  csollten  diese  all  straekhs  inn 
angesicht  der  Persohnen»  1n  ihre  Büchse  stossen«  cUnd  auch 
der  Märckht  getrewlich  wartten,  und  ahm  nechsten  Sonntag, 
nach  dem  Merckhtage,  Jeder  sein  böchse  mit  dem  geltt,  uff  die 
Stube  tragen,  und  also  uff  der  vier  buchten  das  verdiente  Gelt, 
den  Jenigen  so  ufT  dem  Märckht  gewesen  seyndt,  und  Ihr 
Wortzeichen  genommen  hent.  Jeglichen  sein  Geltt,  so  Ihme 
zugehört  erbarlichen  geben  und  gleich  theylenn,  einer  habe  für 
sein  Persohn  vil  oder  wenig  verdienet  u  igefohrlich.i  Dagegen 
mussten  alle  die  auf  den  Markt  gingen  «Weinstechen  n» 
oder  «cUnderkauff»  treiben  « uiT  dem  Rossmarckh, •  schwören 
und  geloben,  cder  Märckht  Stich  und  UnderkheuflT»  ehrlich  zu 
warten.  Ohne  Erlaubnis  eines  Sammlers  durften  sich  die 
Weinsticher  vom  Wein  markte  und  die  Unterkäufer  vom  Ross- 
markte nicht  entfernen. 

Auf  den  Weinmärkten  hatte  jedes  Weinland  einen  Platz 
angewiesen,  an  keinem  andern  Platze  durften  die  Weine  an- 
gestochen und  ausgeboten  werden ;  Weinsticher  und  Unter- 
käufer waren  streng  angewiesen,  dass  dies  Gebot  nicht  über- 
schritten wurde.  Unserer  Meinung  nach  waren  dies  recht  weise 
Massregeln,  die  von  vornherein  verhüteten,  dass  ein  Wein  aus 
einer  minder  guten  Gegend  für  einen  solchen  aus  berühmterem 
Weinlande  feilgeboten  und  gehalten  werden  konnte.  Durch  den 
blosen  Ueberblick  der  Weinmärkte  sollte  der  Kauflustige  sofort 
Auskunft  haben  über  die  verschiedenen  Qualitäten,  soweit  diese 
durch  das  Ursprungsland  des  feilgebotenen  Gewächses  dargelhan 
und  bedingt  wurden. 

Alle  Weine,  die  diesseits  des  Rheines  auf  Wagen  hergeführt 
wurden,  sollten  nur  auf  den  Weinmarkt  gefahren  werden,  und 
zwar  sollten  die,  welche  Eigengewächs  zu  Markte  brachten,  am 
Alten  Weinmarkt  vor  der  Elend enherberge,  «in  der  gassen 
gegen  dem  Alten  Sanct  Peter  hinauffi»  sich  aufstellen ;  die 
Weineigenlümer  aus  dem  Zornthale  standen  auf  dem  Platze 
am  Speierthor.  Furkäufer,  Leute  welche  nicht  Eigengewächs 
einführten,  aber  gemeine  Land  weine  brachten,  sollten  hinter 
der  Elendenherberg,  dem  Rossgarten  zu,  ihre  Weine  feilbieten; 


—    219    — 

die  Fürkäufer  ab  der  Zorn  sollten  die  Weine  in  derselben 
Gasse  von  vorgemeldelem  Platze  an,  auf  welche  die  Zorneigen- 
tümer  zu  Markt  stehen,  bis  an  den  Brunnen  gegen  den  Ross- 
garten feilhalten. 

Die  Breisgauer  und  Oberländer  Weine,  so  man  zu  Wasser 
an  den  Krahn  brachte,  sollten  nicht  in  den  Schiffen  angestochen 
oder  verkauft  werden.  Auch  diese  hatten  bestimmte  Lagerplätze 
angewiesen.  Oberländer  mit  eigenem  Gewächse  :  zwischen  dem 
alten  Krahn  und  dem  Kaufhause,  «uff  den  dreyen  Ligerlingen 
(Lägeringen,  Lagerhölzer  zur  Aufnahme  der  Fässer)  den  nechsien 
am  Wasser:»,  die  Breisgauer  Eigen  Verkäufer  :  auf  demselben 
Platze  «rbey  den  Oberländischen  Weynen,  uff  dem  vierten 
Ligerling». 

Die  Fürkäufer  «Wein  Keuffer»  —  die  Grossweinhändler  — 
mit  oberelsässischen  und  breisgauer  Weinen,  sollten  cufT  dem 
Platz  zwischen  dem  newen  Krahn  und  Sankt  Claus  Bruckhen 
feil  halten».  Ob  der  Wein  Eigen  wein  sei,  musste  jeder  Ver- 
frachter bei  seinen  Treuen  und  Ehren  angeben,  damit  ihm  von 
den  Weinstichern  oder  sonstigen  Marktknechten  der  gebührende 
Platz  angewiesen  ward.  Zuwiderhandelnde  zahlten  von  jedem 
Fass  Wein  dreissig  Schilling  Busse.  «Und  sollen  es  auch  des 
Krans  verwantten  Weinsticher,  und  andere  Knecht,  so  des 
Markts  hielten,  bey  Ihrenn  Eydten,  den  Ungeltern  rüegen  und 
angeben.}» 

Kein  Weinsticher  soIUe  einem  Verkäufer  seinen  Wein  an- 
stechen, er  hielte  denn  am  vorgeschriebenen  Orte.  Auch  durften 
die  Weinsticher  und  anderen  Krahnbeamtete  «keines  fürkeüflers 
—  also  keines,  der  nicht  Eigengewächs  verkaufte  —  nachbott 
sein]»,  sie  sollten  sich  nicht  damit  abgeben,  demselben  seinen 
Wein  zu  verkaufen,  noch  auf  einen  Wein  bieten,  auf  welchen 
die  Furkäufer  schon  ein  Gebot  gemacht  hatten.  Zuwider- 
handelnde bussten  mit  fünf  Pfund  Pfennig.  Wenn  einer  am 
Freitag  seinen  Wein  am  Weinmarkt  nicht  verkaufen  konnte,  so 
konnte  er  denselben  nach  zwölf  Uhr  Mittags,  altem  Gebrauch 
nach,  an  den  Krahn  führen  und  daselbst  verkaufen. 

Hier  begegnet  uns  wieder  die  altbekannte  Vorschrift,  dass 
vor  dem  Morgenläuten  kein  Wein  angestochen  und  verkauft 
werden  durfte,  «und  sollen  sich  die  Weinsticher  mit  dem  an- 
stechen fürdern,  und  uff  den  Markhten  darafTler  theylen,  auch 
den  leutten,  mit  Ihrem  Khauffen  und  Verkhauffen  zum  besten 
beholfTen  und  berahtten  sein,  damit  Ihrenthalben  nicht  zit  ver- 
saumbt  werde».  An  jedem  Fuder  Weines,  das  einer  gekauft 
hatte,  sollte  immer  für  die  Hefe  ein  Ohmen  in  Abzug  gebracht 
werden ;  «darunder  und  darüber»  sollte  dieser  Abzug  nach 
Margzahl  berechnet  werden,  cdamit  Jedermann  recht  bestehe». 


—    220    — 

Der  Weinverkauf  sollte  in  der  Stadt  nur  nach  Fudermass  ge- 
schehen ;  nur  kleinere  Fässlein  durften  auf  den  Ohmen  be- 
rechnet werden  und  sollen  wiederum  «alle  Weinsticher,  ünder- 
kheüffer  und  Knechtt^  die  der  Marckht  hietten,  bey  Ihren  Eydeni 
Zuwiderhandelnde  bei  den  Beamten  des  Ungeltes  rügen. 

Kein  Weinhändler,  Fürkäufer,  keiner  der  Weine  auf 
Mehrschatz  einlegen  wollte,  durfte  ferner  auf  dem  Weinmarkte 
Wein  oder  Trinkwein  —  Tresterwein,  wie  er  im  Elsass  überall 
noch  bereitet  wird  —  von  Donnerstags  mittags  an  bis  Samstags 
nachmittags  einkaufen,  auf  dass  «kein  gefehrlicher  Uffschlag 
oder  Theurung  dardurch  gemacht  werde».  Strafe  darauf  war 
fünf  Pfund  Pfennige.  Die  Weinsticher  und  Marktbeamteten 
sollten  auch  hier  wiederum  darauf  sorgsam  bedacht  sein,  Zu- 
widerhandlungen zu  entdecken  und  zu  rügen. 

Wenn  durch  Vermittelung  eines  Küfers  in  einem  Burger- 
keller ein  Wein  verkauft  wurde,  so  durfte  dieser  nicht  gefasst. 
vermessen  werden  ohne  Beisein  eines  der  geschworenen  Kelier- 
weinsticher,  «der  solchen  verkhaufften  Wein  anschnitte»,  das 
heisst  am  Kerbholz  Einschnitte  mache  zum  Zählen  der  gefassten 
Ohmen.  Dieser  Kellerweinsticher  sollte  dann  mit  dem  Käufer 
des  Weines  ans  Ungelt  gehen,  um  den  Kauf  anzuzeigen  und 
den  Wein  auf  Grund  des  Kerbholzzeugnisses  zu  verungelten, 
zu  versteuern.  Nichtsdestoweniger  sollten  die  Kellerweinsticher 
von  diesem  ohne  sie  verkauften  Wein  ihr  Stichgeld  doch  er- 
halten, «als  ob  sie  den  Kauf  selber  betten  machen  helifen». 

Auch  kam  es  damals  schon  vor,  dass  die  Kellerweinsiicfaer 
gewisser  Leute  Keiler  vernachlässigten,  dass  sie  «unvleissig» 
aufwarteten,  «etwan  kaum  oder  gar  langsamb  zu  fünden»  waren, 
dass  sie  hie  und  da  von  Bürgern  angesprochen  wurden,  ihren 
Wein  zu  verkaufen,  «deren  Sie  aber  gar  nicht  gedenckhen», 
und  dass,  wofern  diesen  die  Küfer  nicht  dazu  verhülfen,  ihret- 
halben die  Weine  liegen  blieben.  Darum  sollten  die  Küfer  auch 
das  Recht  haben,  Verkäufe  zu  vermitteln.  Verboten  war  allen 
Weinstichern,  sowohl  Keller-  als  Marktweinstichern,  Geschenke 
anzunehmen  !  «schenckh  und  müett  (Miete)  zu  nemmen»  sollten 
sie  sich  «vermög  der  Ordnung»  enthalten.  Nach  einer  der  ver- 
schiedenen Kellerweinsticherordnungen  sollten  nur  sechs  Keller- 
weinsticher in  Strassburg  fungieren,  die  je  zwei  und  zwei  zu 
Keller  gingen ;  in  ihrem  Eide  versprachen  sie,  ihren  Geschäften 
mit  Fleiss  und  Ernst  nachzukommen.  Von  diesen  sechs  hatten 
immer  vier  die  Woche,  während  die  anderen  zwei  sie  wenn 
nötig  vertreten  sollten,  und  so  einer  dieser  Weinsticher  einen 
Monat  oder  noch  längere  Zeit  krank  war,  so  erhielt  er  seinen 
Lohn  doch,  als  wäre  er  beschäftigt  gewesen.  Alle  Vierteljahr 
sollte  einer   derselben   abgehen   und    vom  Zunflgericht   durch 


einen  andern  ersetzt  werden,  damit  es  doch  immer  sechse  ge- 
wesen seien.  Alle  Fronfasten  sollte  das  in  ihrer  Buchse  hefind- 
liehe  Geld  durch  den  Zunftmeister  unier  sie  geteilt  werden, 
nach  Ahzug  des  zehnten  Pfennigs,  der  in  die  gemeinschaftliche 
Zunftkasse  floss.  Eine  spätere  Ordnung  derselben,  aus  dem 
Jahre  1506,  änderte  diese  Bestimmung  ab,  so  dass  von  da  an 
ein  jeder  des  gemeinen  Handwerks  zu  Keller  gehen  möge,  dem 
es  beliebt,  doch  wird  ihnen  wiederum  eingeschärft,  besonders 
keine  «schenckhe  noch  müetei»  zu  nehmen,  und  dass  «Ihrer 
nie  mehr  dann  zwei  miteinander  gemein  haben  sollten»,  dass 
sie  ferner  keinen  «fremden  Wein  im  Lande  kauffen  sollend!  >. 
Sie  sollten  keinen  Gast,  keinen  Käufer  ausserhalb  der  Stadt 
aufs  Land  begleiten,  um  dort  ihm  Wein  kaufen  zu  helfen ;  sie 
sollten  nur  für  die  Bürger  der  Stadt  Weinsticher  sein,  darum 
hiessen  sie  ja  auch  «Bürgerweinsticher>.  Femer  sollten  sie  mit 
niemandem,  der  Wein  zum  Verkauf  ausbot,  theil  und  gemein 
halten.  Kein  Küfer^  der  seines  Handwerkes  fleissig  ging,  durfte 
Kellerweinsticher  sein. 

Auf  den  Märkten  sollten  die  Weinsticher  auch  noch  Ach- 
tung geben,  dass  keiner  einem  anderen  in  den  Kauf  trete,  da 
oft  dadurch  viel  «Unrahtl»  entstehe,  wie  dies  die  Urkunde 
ausdruckt.  Man  hielt  also  daran,  dass  wenn  ein  Käufer  in  Unter- 
handlung war  wegen  eines  Weines,  ein  Zweiter  nicht,  während 
diese  noch  währte,  durch  Annahme  des  Angebots  die  Unter- 
handlung unterbreche  und  so  den  ersten  Liebhaber  des  betreffen- 
den Gewächses  merklich  schädigte,  indem  dieser  dann  schon 
wieder  mehr  bieten  musste,  wenn  er  daran  hielt  den  Wein  zu 
haben;  der  Markt  sollte  mit  nichten  den  Charakter  einer  Ver- 
steigerung erhalten.  Aus  ruhiger  Erwägung  des  begehrten 
Preises  und  der  Qualität  zwischen  dem  Eigner  des  Weines  und 
dem  Käufer  sollte  der  Kauf  hervorgehen,  und  nicht  aus  einem 
fieberhaften  Haschen,  wo  einer  dem  andern  die  Ware  gleich- 
sam abzulaufen  trachtete. 

Den  Sammlern  war  befohlen  —  durch  Zunftbeschluss  des 
Jahres  1575  —  dass  sie  fernerhin  keine  Kellerweinsticher  mehr 
mit  sich  auf  die  Weinmärkte  nehmen  sollten,  wie  dies  früher 
geschehen  zu  sein  scheint;  doch  hatten  die  Kellerweinsticher 
das  Recht,  auch  Zeichen  zu  nehmen,  um  des  Marktes  zu  war- 
ten, dann  mussten  sie  aber  in  allem  dem  Sammler  am  Krahn 
gehorsam  sein,  und  «auch  wie  Andere  helffen  stechen,  und  des 
Marckhts  vleissig  wartten,  und  ohne  des  Samlers  erlaubnus 
nicht  hinweg  gehen,  that  einer  dies  dessen  ungeachtet,  so  be- 
kam er  am  Sonntag  keinen  Lohn,  er  sollte  seinen  Antheyl  ver- 
loren und  verwurckht  haben.»  Auch  die  cSinner»  —  Weinge- 
fassaichungsbeamte  —  konnten  als  Marktweinsticher  ihr  Wort- 


—    222    - 

zeichen  begehren,  und  wofern  sie  dies  gethan  hatten,  konnte 
man  sie  des  Freitags,  als  am  Markttage,  nicht  zum  tSinnen» 
heranziehen,  sie  sollten  dessen,  cunverbunden  sein>,  ohne  Er- 
laubnis des  Sammlers  sollten  auch  sie  sich  nicht  entfernen, 
wenn  sie  nicht  ihren  Lohnantheil  verwirken  wollten. 

Auch    die  Weinmesser  —  städtische   Beamte  welche  bei 
den    Wirthen   beim   Weinzapfen  das  Mass  führten  —  falls  sie 
ohne   ihr   Verschulden   ausser   Dienstes  gekommen   waren  und 
keine  Beschäftigung  hatten,  konnten  als  Weinsticher  ihr  Wort- 
zeichen begehren  und  erhalten.  Nur  wenn  diese  böswillig  ihren 
Meister  verlassen  und  ihre  Zeit  nicht  ausgehalten  hatten,  konnte 
ihnen  die  Erlaubnis  zur  Ausübung  der  Weinsticherei  verweigeii 
werden,    so    lange  als  ihr  Vertrag  mit  ihrem  früheren  Dienst- 
herren noch  zu  dauern  gehabt  hätte;  dieser  Dienstvertrag  konnte 
übrigens  nur  auf  ein  halbes  Jahr  abgeschlossen  werden.     Was 
den     Kellerweinstichern    nach    geschehenem    Kaufe    geschenkt 
ward,  mussten  diese  ebenfalls  in  die  Büchse  einschliessen  :  cumb 
fridt  und  einigkeit  willen.»  Vor  dem  Kaufe  durften  die  Keller- 
weinsticher   kein   Geschenk  annehmen;    nach   einer   diesbezüg- 
lichen Ermahnung  an  die  Weinsticher  hielten  sie  aber  oft  eine 
Extrabüchse,  um  Schenk  und  Miethe  zu  bergen,  auf  dass  .sie  diese 
nicht  mit  der  gemeinen  Zunft  zu  theilen  brauchten.  Interessant 
ist  noch  folgende   Vorschrift  aus  dem  Zunftartikel  buch,  die  wir 
wörtlich   mittheilen :     «Wegen   der  Verordtneten  (Weinsticher) 
in    der  Mess,  wardt  von  den  Messherren  angezeigt  worden,  es 
giengen  etliche  dem  Allmusen  nach,  etliche  giengen  an  steckhen, 
man    sollte  dasselb  verbessern  oder  unsere  herren  wurden  ver- 
ursacht  dasselbige    abzuschaffen».     «Item  füehren   ettliche  mit 
Kärchen  und  wartten  des  Marckhs  nicht  abe :  Wardt  berichtet 
daz  nicht  Jeder  alle  tage  zugegen  seyn  müeste,  sondern  es  werde 
von  tage  zu  tage  abgeteilt,    allso  das  einer  einen  tag  den  Un- 
derkaulT   ufTheben,    und    den  andern  tage  lahren  könnte;    was 
die  Akten  beienget  so  an  steckhen  gehen,  werden  dieselben  nicht 
uff  den  Rossmarckht,  da  es  bissweilen  gefahr  gibtt,  sondern  uff 
den  Weinmarckht  gebraucht.     Das  betteln  belanget,    soll  billig 
abgeschafft   werden,    bey   denen   so  Zeichen  nemmen  wollen». 
«Und   wenn  die   Altten  abgeschafft  soltten  werdenn,    so  soltte 
man  denselben  nicht  2  flf  Pfennig  für  das  handwerckh  abnem- 
men,  sonsten  würden  dieselbigen  beschwert.» 

Diese  Vorschrift  gibt  uns  eine  genaue  Vorstellung  von  dem 
sozialen  Range,  den  die  Weinsticher,  Weinrufer,  Weinmesser 
und  Unterkäufer  eingenommen  haben.  Ihr  Gewerbe  war  ein  Ge- 
werbe, das  sich  in  Bezug  auf  Erträgnisse  in  sehr  kleinlichen  und 
bescheidenen  Massen  und  Grenzen  bewegte.  Ausserdem  war  in 
der  Zunflverfassung  schon  dafür  gesorgt,  dass  keiner  der  Ange- 


-^    223    - 

hörigen  des  Handwerkerstandes  zur  kapitalistischen  Ausbeutung 
des  Gewerbes  übergehen  konnte.  Zweck  derselben  war  gerade, 
diesen  kleingewerblichen  Chankter  der  Handwerker  zu  erhal- 
ten, über  das  Handwerk  hinaus  sollte  es  keiner  bringen.  Zu- 
dem bezweckte  die  Stadt  durch  solche  Ordnungen  und  Waren- 
taxen die  Verkaufspreise  zu  Gunsten  der  Konsumenten  kaum 
merklich  über  die  Erzeugungskosten  der  Waren  steigen  zu- 
lassen. Dies  konnte  aber  nur  wirksam  erreicht  werden,  indem 
man  den  Zwischenhandel,  der  so  schnell  zur  kapitalistischen 
Ausbeutung  der  Konsumenten  ausarten  kann,  einfach  unter- 
drückte, dafür  ein  anderes  Organ,  das  Institut  der  Unterkäufer 
und  Warenmäkler  einsetzte.  Der  Konsument  ist  sehr  oft 
nicht  im  Stande  —  und  damals  wie  heute  war  dies  der  Fall  — 
die  Waren  deren  er  bedarf,  gut  einzukaufen,  weil  er  sich  selbst 
über  deren  Werth  nicht  aufklären,  sich  vor  Uebervortheilung 
nicht  schützen  kann,  darum  ist  ein  Zwischenhändler  sehr  oft 
nothwendig,  um  den  Produzent  und  den  Konsument  zusammen- 
zuführen. Dazu  eignete  sich  aber  während  des  ganzen  Mittel- 
alters niemand  besser  als  der  «Gesch  worene»,  darnach 
damaliger  Rechtsüberzeugung  die  Güte  der  angebotenen  Ware 
prüfen  musste,  so  sich  eine  Kenntnis  der  Waren  aneignete,  wie 
sie  kein  Käufer,  am  allerwenigsten  der  städtische  Bürger  und 
Handwerksmann  haben  konnte.  So  wurde  denn  der  frühere  ein- 
fache Marktbeamtete  zum  Mäkler,  zum  Unterkäufer  und  zum 
Weinsticher ;  nicht  aber  durfte  er  Fürkäufer  sein  und  werden. 
Hat  die  Stadt  Strassburg  dies  Ziel  in  Bezug  auf  die  Wein- 
sticher erreicht?  Vorderhand  können  wir  diese  Frage  nicht 
ganz  bestimmt  beantworten ;  aber  wir  möchten  glauben,  dass 
wenn  trotz  jener  Vorschriften  die  Weinsticher  im  17.  Jahr- 
hundert bis  auf  die  oben  angegebene  geringe  Zahl  herunter 
sanken,  eben  das  Aufblühen  eines  kapitalitischen  Weingross- 
handels im  16.  Jahrhundert  mehr  noch  Schuld  daran  war,  als 
die  Nachwehen  verheerender  Kriegsläufte. 

V. 

Es  bleibt  uns  noch  übrig,  das  Verfahren  kennen  zu  lernen, 
welches  bei  Vermutung  oder  zur  Entdeckung  einer  etwaigen 
Weinfalschung  eingehalten  ward,  um  die  gesamte  Thätigkeit 
der  Weinsticher  zu  überblicken.  Wenn  jemand  an  einem  Weine, 
den  er  versuchte,  einen  Fehl  oder  Makel  vermutete,  so  sollte 
er  dies  dem  anwesenden  Sammler  melden,  dieser  sollte  alsdann 
noch  zwei  Weinsticher  heranziehen,  um  den  Wein  mit  ihnen 
zu.sammen  zu  probieren,  auch  in  dem  Falle,  dass  der  Wein 
bereits  unterdessen  verkauft  worden  wäre.  Wenn  sie  durch  ein 


—    224    — 

Geständnis  des  Verkäufers  oder  durch  ihr  eigenes  Verkosten 
zur  Ansicht  gelangten ,  dass  der  Wein  nicht  Kaufmannsgut  sei, 
csolien  sie  das  Vass,  durch  den  Visierer,  so  zug^en,  mit  der 
Statt  Schutt  am  fordern  Boden  zeichen,  und  dessen  Nahmen, 
dem  der  Wein  zu  verschenckhen  (verkaufen)  stehet,  darzu- 
schreihen  lossen.»  Bis  Mittag  zwölf  Uhr  sollte  dieser  Wein 
alsdann  auf  dem  Markte  unberührt  stehen  bleiben  oder  am 
Krahne  liegen  bleiben,  und  von  da  auf  einen  eigens  hierzu  be- 
stimmten Platz  gefuhrt  werden,  cdamit  menniglichen  s^ien 
und  wissen  möge,  daz  solcher  Wein  nicht  gut  und  gerecht  seye». 
Nachmittags  sollte  der  Verkäufer  mit  den  Weinkiesem  — 
Sammler  und  zwei  Weinsticher  —  am  Ungeltamte  erscheinen, 
hier  sollten  die|Weinkieser  c beneben  den  Ungelttem  und  Visie^ 
rern  den  Verkeuffer,  jenach  gestalt  der  Sachen,  und  nach  be- 
fundenem Betrüge,  entweder  mit  Konfiszirung  der  Ware,  oder 
sonsten  mit  Ernst  und  zum  geringsten  umb  Dreyssig  Schil- 
ling straffen  lassen,   und    die  besserung   nicht  fahren  lassen». 

In  ihrem  Urteile  sollten  die  erwähnten  Personen,  «niemandt 
zu  lieb  noch  zu  leide,  aus  Gunst  oder  Ungunst,  sondern  wie 
Sie  den  Wein  an  Ihme  selbst  befunden,  urteilen  und  darüber 
erkennen,  auch  desswegen  weder  schenkh  noch  müefhwohn  von 
einichem  Verkäufer  oder  von  seinetwegen  nicht  nemmen,  bey 
den  Eydten  ohn  alle  gefehrde». 

So  wurde  durch  den  Stadtrat  den  Handwerkern  und  be- 
sondei*s  den  im  Amtscharakter  stehenden  Personen  Ehrlichkeit 
und  Gewissenhaftigkeit  aufs  dringlichste  zur  Pflicht  gemacht 
und  empfohlen,  zugleich  wurde  die  Nichtbefolgung  dieser  Vor- 
schriften mit  wirksamer  Strafe  geahndet.  Dass  dies  notwendig 
war  und  nötig  erschien,  zeigt  aber  auch,  dass  es  mit  der  alt- 
gerühmten  Ehrlichkeit  nicht  so  weit  her  ist,  als  manche  oft 
dafür  halten.  Damals  gab  es,  ebenso  wie  heute,  vielleicht  noch 
mehr  eine  oft  recht  ungemütliche  Brutalität  im  Kampfe  um 
den  Gewinn,  dies  beweisen  die  erwähnten  Urkunden  recht 
drastisch. 

Wir  übergehen  hier  Mitteilungen  über  inneres  Zunftleben, 
da  dies  für  alle  Zünfte  dasselbe  war  und  schon  zur  Genüge 
dargestellt  worden  ist.  Unser  Zweck  ist  erreicht.  Wir  hoffeD 
gezeigt  zu  haben,  wie  in  Sirassburg  eine  Beamtenkategorie  zu 
Mäklern  sich  umgebildet  hat,  und  wie  diese  Mäkler  zur  Zunft 
sich  zusammengeschlossen  haben.  Dass  sie  dies  thun  konnten,  und 
zwar  Anfangs  ohne  Zuziehung  eines  anderen  Handwerks,  bew«st 
ihre  Wichtigkeit,  ihre  Bedeutung  sowohl  in  handelsrechtlicher, 
als  auch  in  rein  stadi politischer  Hinsicht;  denn  die  ZunAe 
waren  doch  nur  die  Rahmen,  innerhalb  welcher  das  politische 
und    militärische  Bild    einer  mittelalterlichen  Stadt   sich  zeigte. 


—    225    — 

Diese  Darstellung  konnte  die  gesamte  Gestaltung  eines  der 
wichtigsten  Nahrungsmittelgewerbe  des  Mittelalters,  des  Wein- 
handels im  Elsass  auf  dem  Lande  und  in  der  Stadt  ^bstver- 
siändlich  nicht  ins  Auge  fassen,  nur  einen  geringen  Bruchteil 
davon,  soweit  er  die  Weinsticherzunft  allein  betraf;  nicht  be- 
rührten wir  die  Ordnung  der  Weinwirte  und  anderer  Grewerb- 
treibenden«  welche  sich  mit  dem  Weinverkaufe  abgaben.  Wenn 
aus  dem  über  die  Weinsticher  mitgeteilten  Materiale  der  Regali- 
tätscharakler  des  Wein  handeis  in  sehr  früher  Zeit  hervorzugehen 
scheint,  so  wird  dies  noch  deutlicher  der  Fall  sein  für  die 
Weinwirte.  Wir  gedenken  dies  in  einer  einschlagigen  spätem 
Untersuchung  über  die  Weinwirte  im  Elsass  und  in  der  Stadt 
Strassburg  ganz  besonders  an  der  Hand  von  Angaben  über  den 
Weinbann  der  Grundherren  und  des  Bischofs  von  Strassburg 
darzuthun.  In  Anbetracht  der  hohen  wirtschaftlichen  Wichtigkeit 
des  Weinbaues  und  des  Weinhandels  für  unser  Land  glauben 
wir,  dass  solche  Untersuchungen,  wie  die  angedeuteten,  keine 
massigen  sind,  sondern  als  besch,eidene  Beiträge  zur  Wirtschafts- 
geschichte des  Elsasses  einigen  Wert  haben  dürften. 


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XVI. 


Das  Hildebrandslied. 


In  freier  Nachbildung. 


Von 

Adolf  Stöbor. 


Vorerinnerung. 

^tjLiildebrandslied»,  so  bezeichnet  die  deutsche  Litemtur- 
l^eschichte  die  älteste  ostgothische,  also  urdeutsche  Heidensage, 
die  von  Vater  Hildebrand  und  dessen  Sohne  Hadubrand.  Den 
handschriftlichen,  leider  nur  noch  lückenhaft  und  ohne  Ab$chlus> 
vorhandenen  Urtext  brachten  zum  Abdruck  die  Germanisten 
Wilh.  Grimm,  Wilh.  Wackerna^el  (Altdeutsches  Lesebuch, 
2.  Aufl.  S.  (>3— 67)  und  neuestens  Wilh.  Jordan  (Episteln  und 
Vorträge,  1891,  S.  471—474).  Letzterer  gibt  auf  S.  363-^« 
eine  möglichst  genaue  Uebersetzung  in*8  Hochdeutsche.  Mit 
Recht  nahm  Kaspar  v.  der  Ron  im  15.  Jahrhundert  die  Hikle- 
brandsage  unter  dem  Titel  «Der  Vater  mit  dem  Sohne»  in  sein 
Heldenbuch  auf,  nur  schade,  dass  er  sie  in  wesentlich  ver- 
änderter, nicht  aber  verbesserter  Fassung  gab. 

Das  Hildebrandslied  ist  um  seines  inneren  Wertes  willea 
so  hoch  zu  schätzen,  dass  es  nicht  allein  den  Gelehrten,  sondera 
auch  unserm  gesammten  Volke  bekannt  zu  werden  verdient,  ab 
kräftiger  Antrieb  zu  patriotischer  Regeisterung  und  Nacheifenmg. 
Weht  doch  mächtig  in  diesem  Licde  der  Geist  todesmutiger 
Vaterlandsliebe  und  treuen  Familiensinnes.  £cht  dranaatisdi 
ergreifend  und  spannend  ist  der  Dialog  zwischen  beiden,  die 
anfangs   einander    nicht    kennen,    zwischen    Vater    und    Sobn. 


—    !227    — 

Des  Letztern  Ausfälle  erinnern  sehr  an  die  Weise  homerischer 
Helden,  welche  vor  ihrem  Schwerterzweikampf  erst  einen  heraus- 
fordernden Zungenzweikampf  inszenieren.  In  hetrefT  der  Form 
bewegt  sich  das  Hildebrandslied  in  freien  Rhythmen  ohne 
Strophen  noch  Reime,  jedoch  mit  hin  und  wieder  eingestreuten 
Alliterationen.  Da  nun  aber  der  heutige  poetische  Geschmack 
ein  längeres  Lied  kaum  anders  als  in  Strophen  nebst  Reimen 
sich  denken  mag^  so  iolg^e  hier  der  Versuch  einer  in  diese 
Formen  gefassten  und  mit  versöhnendem  Abschluss  versehenen 
freien  Nachbildung. 

Hildebrand  und  Hadubrand. 

Aas  nideutsch  gothischer  Vorzeit  Tagen 

Hört  ich  von  hohen  Helden  sagen, 

Von  Hildebrand  und  Hadnbrand, 

Von  Vater  nnd  Sohne,  die  zornentbrannt 

Die  Schwerter  schwangen,  des  Stamms  vergassen 

Und  sich  in  blutigem  Zweikampf  massen. 

Gefolgt  von  ihrer  Mannen  Trosse, 
Spornen  sie  beide  die  feurigen  Rosse^ 
Sie  rüsten  rührig  ihr  WafFengerät, ' 
Panzer  und  Degen  zu  tapferer  Fehd. 
Doch  eh*  die  gekreuzten  Klingen  entbrennen, 
Will  näher  ein  Kämpe  den  andern  erkennen. 

Der  ältere  Hildebrand  hebt  an  zu  fragen: 

Wie  heisst  denn  dein  Vater  ?  Das  wolle  mir  sagen ; 

Sobald  ich  nur  einen  Namen  webs 

Aus  dieses  Königreichs  heimischem  Kreis, 

Erkenn  ich  sofort,  was  für  Feinde  mir  wehren, 

In*s  alte  Vaterland  heimzukehren. 

Und  Hadubrand,  Hildebrands  Heldensprosse, 
Nicht  kennend  den  Greis  auf  streitbarem  Rosse, 
Erwiedert  ihm:  «Bin  eines  Recken  Sohn, 
Das  bezeugten  dem  Kind  unsre  Leute  schon. 
Mein  Vater  hat  Hildebrand  geheissen. 
Ich,  Hadubrand,  darf  seinen  Sohn  mich  preisen. 

Vor  vielen  Jahren  zog  er  von  dannen, 

Den  Feind  zu  bekämpfen,  mit  Dietrichs  Mannen. 

Gen  Osten  zog  er  und  liess  im  Saal 

In  Trauer  sitzen  sein  junges  Gemahl, 

Sammt  einem  Söhnchen,  das  kaum  geboren 

Schon  seinen  Beschützer  und  Vater  verloren. 


—    228    - 

Aach  König  Dietrich  masste  mit  Traaem 
Den  frohen  Tod  meines  Vaten  bedauecn, 
Der  auf  Odoakeri  Beeiegong  sann, 
Bis  der  Tod  hinraffte  den  kühnsten  Mann. 
Dmm  hielt  ihn  auch  Dietrich  hoch  Tor  allen, 
Als  tapfersten  seiner  tapfem  Vasallen. 

Stets  fahrt*  er  des  Volkes  Torderste  Reihen, 
Dem  heissesten  Kampfe  sein  Schwert  zn  weihen. 
Hoch  klang  sein  Name  Ton  Mund  zu  Mnnd, 
War  weithin  den  wackersten  M&nnem  kund. 
So  hat  er,  wie  sichere  Znngen  melden. 
Sich  selbst  geopfert  im  Tod  der  Helden.» 

Nnn  Hildebrand,  Heribrands  Sohn,  entgegnet: 

<Dn  irrst:  bei  Qott,  der  Yom  Himmel  dich  segnet, 

Dein  Vater  bin  ich,  den  du  forderst  heraus, 

Und  siegreich  komm*  ich  vom  Schlachtfeld  nach  Hans,» 

Nun  zieht  er  Tom  Arm  eine  goldene  Spange, 

Dass  der  Sohn  ein  Trenpfand  von  ihm  empCsnge. 

«Nimm  hin  diese  Spende,  mir  ward  sie  Terliehen 

Vom  König  der  Hannen,  mit  dem  wir  ziehen. 

Für  todesmutige  Kampfbegier 

Zum  Preise  gab  er  mir  diese  Zier; 

Nun  geh*  ich  sie  wieder  zum  Ehrenlohne 

Dir,  wie  ich  seh,  meinem  würdigen  Sohno 

cNein,  donnert  Hadubrand,  Hildebrands  Sprosse, 
Erkämpfen  will  ich  als  Zweikampfsgenosse 
Die  goldene  Beute  ritterlich  mir; 
Zu  trauen  ist  nicht,  alter  Hunne,  dir; 
Versuch  ich's,  dass  dein  Geschenk  ich  empfange, 
So  wirfst  du  die  Lanze  mir  zu,  statt  der  Spange. 

Nein,  nein,  eure  Worte  so  glatt  wie  Schlangen, 
Sie  Sielen  mich  nimmer  mit  Arglist  fangen. 
Euch  Hunnen  kennen  wir  hier  zu  Land, 
Ihr  treibet  Fabchheit  wie  leichten  Tand; 
Auch  dir,  dem  Greise,  dess  Haare  grauen. 
Sei  Widerstand  nur  und  kein  Vertrauen.» 

Drauf  spricht  der  Vater,  im  Herzen  verwundet : 

«Nun,  wenn  dir  Beute  vom  Zweikampf  mxmdet, 

So  fordere  doch  fremde  K&mpen  heraus, 

Nicht  aber  das  Haupt  ?on  deinem  Haus. 

Noch  einmal  beschwör  ich^s  beim  höchsten  Namen: 

Dein  Vater  Hildebrand  bin  ich,  Amenl» 


—    229    -. 

«Das  hast  da,  alter  Hanne,  gelogen, 
Bricht  Hadabrand  aas,  von  Wat  überwogen. 
Da  fürchtest  dich  bloss  Tor  meinem  Speer, 
Dram  greifst  da  zar  Aasflacht  statt  zur  Wehr. 
Nein,  alter  Feigling,  dein  Leben  za  fristen, 
Lässt  Hadabrand  nimmer  sich  überlisten. 

Wie?  Du  mein  Vater?  längst  ist  er  verschollen. 

Langst  schläft  er  anter  des  Schlachtfelds  Schollen. 

So  haben  von  frühester  Kindheit  an 

Mir  sicherste  Zeugen  kundgethan, 

So  aach  meine  Matter  im  Witwenschleier, 

Die  traaemd  verschmäht  hat  jeglichen  Freier. 

Nein,  Hadabrand  lässt  sich  nimmer  berücken, 
Anf,  auf,  die  Lanze,  das  Schwert  za  zücken!» 
«Weh,  wehe !  seufzt  noch  einmal  Hildebrand, 
So  wird  das  Schwerste  nicht  abgewandt : 
Mein  einziges  Kind  soll  den  Vater  tödten, 
Oder  ich  meinen  Stahl  in  des  Sohns  Blut  röten! 

Und  muss  es  denn  sein,  dein  frevelndes  Wagen, 
Mit  dem  Vater  auf  Leben  und  Tod  dich  zu  schlagen, 
Wohlan  denn!  Hildebrand,  Heribrands  Sohn,» 
Erträgt  nicht  des  Feiglings  bittersten  Hohn. 
«Qenug  der  Worte,  zur  That  geschritten!» 
So  rufend  kommt  Hadabrand  näher  geritten. 

Sie  schwingen  die  Lanzen,  sie  kreuzen  die  Degen, 

Der  ältere  Kämpe  bleibt  überlegen; 

Nur  leicht  verwundet  der  Vater  den  Sohn, 

Fährt  säuberlich  fein  mit  dem  Absalon, 

Bis  diesem  die  Lanzenspitze  zerbrochen 

Und  des  Heldengreises  Ehre  gerochen. 

Er  führt  den  Besiegten,  der  nun  sich  bekehret. 

Sich  beugt  und  das  Gottesgericht  an  sich  ehret, 

Den  wiedergewonnenen  Sohn  nach  Haus. 

Da  bricht  bei  der  Mutter  der  Jubel  aus: 

Sie  ist  nicht  mehr  Witwe,  der  Sohn  nicht  mehr  Waise, 

Der  Himmel  kehrt  ein  im  Familienkreise! 

0  Hildebrandslied,  o  herrliche  Sage 
Der  Gothen,  der  Deutschen  frühester  Tage! 
Seht,  welch  ein  Spiegel  von  Tugendsinn! 
Den  stellt  unserm  Volke  vor's  Auge  hin, 
Dass  Vaterlandslieb  und  Familientreue 
Noch  heute,  wie  ureinst,  erblüh  aufs  neue! 


—    230    — 


Meisenlockerstreich  geg^en  den  Franzosenkönig 

Anno  1551. 

Strassburger  Mandart 

Wer  sinn  die  Meiselocker  denn?  ihr  fröne,  liewi  Lit? 
D'Strossbnrjer  nennt  mer  spasshaft  so.  Ton  Alters  her  bis  hit 
Worum?  for^s  hiesi  Barjerskind  isch's  halt  e  Hanptpläsir, 
Im  Winter  in  der  Stubb  ze  henn  e  Meis,  diss  losti  Tier. 

Drum  stelle  sie  znem  Meisefang  im  Herbst  nff  d^Banm  e  Fall 
Mit  gspaltne  frische  Nasse  gepickt,  die  locke  d^Vöjel  ball; 
Unn  wenn  do  eins  de  Nnsskem  pickt,  se  fallt  der  Deckel  zne, 
Unn  uwer^s  gfange  Meisel  jnchst  vor  Frenden  unser  Bne. 

De  Winter  durch  TersoTJt  er  aa*s  Kostgängerle  getreu 

Unn  reicht  em  in  de  Käfi  nin  sin  tägli  Brod  uff  s  neu. 

Unn  horch,  wie  frisch  unn  fröhli  singt^s  Blöumeisel  wie  znem  Dank: 

Yergelt's  der  Gott,  du  gnetes  Kind,  für  Wohnung,  Spis'  an  Trank! 

Und   wenn  au's  Landvolk   rings   um  d'Stat   d^Strossbuijer  desshalb 

neckt 
Als  Meiselocker,  's  isch  nur  Spass,  in  dem  kein  Stachel  steckt: 
Drum  fahren  unsri  Kinder  fürt  getrost  unn  froh  noch  hit 
Mit  Meisefang  unn  Meisezucht,  wie  in  der  alte  Zit  — 

Vor  Alters  awer,  passen  ufF  ihr  Buijer,  hdre  still» 

Was  unsrer  Stadt  zue  Ehr  unn  Rnehm  ich  jetz  erzahle  will : 

Vor  Alters  het  sie  Johrelang  im  Züghüs  ufFbewahrt 

E  grossi  Meis  von  Erz  unn  Stahl,  von  ganz  aparter  Art. 

E  Feldschlang,  e  Kanon^  isch's  gsinn,  mer  saat:  sechs  Meter  lang. 
Die  het  gepfiffe  geje  dTind  mit  furchtbar  hellem  Klang. 
Zuer  Wehr  het  Strossbuij  sie  gebracht,  als  dütschi  Reichsstadt  frei, 
Unn  het  sie  drum  au  gefüettert  guet  mit  Pulver  unn  mit  Blei. 

Vor  dreimol  hundert  Johre  het  an  eim  Oktowertaa 
E  Kinni  zue  sim  Schrecke  ghört  de  MeisepfifF  unn  -Schlaa: 
's  isch  der  Franzosekinni  gsinn,  der  zweit  FiLrst  Heinerich, 
Der  mdcht's  schön  Elsass  risse  los  vom  alte  dtitsche  Rieh. 

Er  kommt  mit  grossem  Riterheer  de  Zawrer  Stej  erab, 
Voll  Raublust  unn  voll  Uewermut,  im  allersch&rfste  Trabb. 
Jetz  isch  er  ze  Hüsbeije  schunn  unn  sieht  im  Sunneschien 
D'Stadt  Strossburj  unn  de  Münsterthurm  unn  denkt:  0  wars  schunn 

min! 


—    234     — 

Er  kämmt  mit  wälscher  Hinterlist,  als  kam  er  nar  zuem  Schatz, 
Der  freie  Stadt  znr  Bnndeshilf,  dem  Kaiser  Karl  zam  Trutz. 
Er  meint:  D^Strossbnrjer  merke's  nit.  im  Spootjohrsnewel  just 
Sinn  sie  jo  ganz  Tor  Ifer  blind  in  Meiselockerslast. 

Doch  unsri  Bnrjer,  allzit  wach,  henn  Knndschaft  schnnn  vom  Find, 
Unn  schicke  heim  de  schlöoe  Fachs,  der  sich  verstellt  als  Frind. 
En  andrer  V6jel  thaet  jetz  not,  •  Meis  mit  Dannerschall : 
Sie  hole's  Oschatz  vom  Züghas  gschwind  unn  pflanze's  uff  de  Wall. 

Grad  uff  Hüsberje  richte  sie's  ann  ziele  uff  e  Zelt, 
In  dem  der  Kinni  ann  sin  Stab  zam  Kriejsrot  sich  henn  gstellt. 
Die  Herre  sinn  gar  wohlgemaet  am  Tisch  in  gneter  Raeh, 
ünn  trinke  manch  Champagnerglas  enander  frindli  zae. 

Uff  einmol  awer  —  bamm!  o  weh  —  was  isch  diss  fürr  e  Knall? 
's   isch  d'Meis*,   wo  pfift  ann  d'Köjel  wirft  von  Strossbarj  her,    Yom 

Wall. 
Erschossen  isch  kein  Mann  zaem  Qluck,  doch  d'üniform  voll  Glanz 
Isch  waest  vom  affgeworfne  Sand,  die  maess  mer  bürste  ganz. 

Die  Herre  sinn  vor  Schrecke  blass :  vor  solchem  If eisegsang. 

Vor  solchem  Meisalockerstreich  iseh  ihne  doch  jetz  bang. 

D'  Trampeter  blose  Retirad  ann  Alli  sattle  gschwind, 

Uff  unn  dervon  mit  Sack  unn  Pack  geht's  heim  wie  mit  em  Wind. 

Sie  rite,  wie  sie  kämme  sinn,  de  Zawrer  Stej  erab. 
Vom  Elsass  in  ihr  Frankrich  nin  im  allerschärfste  Trabb. 
Sie  denke  wohl  wie  zeller  Fachs,  dem  d'  TrÜwel  stehn  ze  hoch: 
Was  kümmerts  mich?  sie  sinn  jo  doch  noch  sür,  anziti  noch.»^ 


1  Merkwürdig  ist  folgende,  kaum  ein  paar  Jahrzehnte  früher 
gesprochene  Aeasserang  Melanchthons  :  «Es  ist  eine  sehr  alte 
Prophezey,  dass  der  König  von  Frankreich  für  (vor)  Strassbarg  soll 
geschlagen  werden  and  ist  der  Wahrheit  ähnlich  (wahrscheinlich) : 
denn  diese  Statt  liegt  an  der  Gräntz.>  Siehe:  Lathers  Tischreden. 
Eisleben  1566.  Kap.  77.  fol.  602a. 


XVII. 


Chronik  für  1891. 


8.  März:  ,Die  Rose  von  Strassbiii^S  Oper  von  Nessler, 
wird  in  Strassburg  zum  ersten  Male  aufgeführt. 

15.  April :  stirbt  Eduard  Reuss,  Professor  an  der  Univer- 
sität Strassburg  (geb.  18.  Juli  1804). 

25.  A.pril  :  EnifTnung  des  Ersteiner  Hochwasserkanals. 

17. — 18.  Mai :  I.  Elsass-Lothriugisches  Sängerbundesfest 
zu  Strassburg. 

21.  Mai:  stirbt  Gustav  Bergmann,  Staatsrat  (von  ihm  die 
Fischartbüste  an  dem  Züricherbrunnen  modelliert). 

7.  Juni :  Generalversammlung  des  Vogesenclubs  in  Höh- 
wald  und  Einweihung  des  Chlodwigsteines. 

15.  Juni :  stirbt  Professor  Anton  Birlinger  in  Bonn,  Heraus- 
geber der  , Alemannia ^ 

15.  Juni  :  Der  deutsche  Verein  von  Gas-  und  Wasferfach- 
männern  hält  seine  XXXI.  Versammlung  in  Strassburg. 

24.  Juni  :  stirbt  Graf  Ferdinand  Eckbrecht  von  Dürckbeiin 
im  Schloss  Edla  in  Oesterreich  (irrtümlich  schon  in  der  Chro- 
nik zum  29.  Januar  1888  tot  gesagt). 

11.  Okt.:  Einweihung  des  Aussichtsturmes  auf  dem  Faud^ 
bei  Schnierlach  durch  die  Sectiun  Kaysersberg  des  V,-C 

11.  Nov.  :  Vierhunderijähriger  Geburtstag  Martin  Butlers 
(geb.  zu  Schlettstadt,  gest.  zu  Cambridge  28.  Febr.  1551)  am 
1.  Nov.  in  den  beiden  protestantischen  Landeskirchen  gefeiert. 


—    233    — 

21.  Nov.  :    Die   Eisenbahn  Walburg- Wörth  wird    eröffnet. 

9.  Dez. :  Grosser  Brand  in  Schlettstadt. 

17.  Dez. :  Die  Eisenbahn  Saarburg-Lörchingen-Albersch- 
weiler  wird  eröffnet. 

22.  Dez.  :  Die  Eisenbahn  Allkirch-Pfirt  wird  eröffnet. 

27.  Dez.  :  Generalvikar  Joseph  Alexander  Straub,  Vor- 
sitzender der  Gesellschaft  für  die  Erhaltung  der  historischen 
Denkmäler  des  Elsasses,  stirbt  in  Strassburg. 


xvin. 


Sitzuiigsprotokolle. 


Yorstaudssitzuiig. 


15.  November  1891  im  germanistischen  Seminar  der  Universität. 


Anweseod :  die  Herren  Barack,  Deecke,  Harbordt,  Hering, 
Martin,  Mündel,  Schricker  und  Wiegand.  Ihr  Ausbleiben  haben 
entschuldigt  die  Herren   Erichson,  Franke  und   Schlumberger. 

Der  Vorsitzende,  Prof.  Martin,  teilt  mit,  dass  S.  Durch- 
laucht der  Kaiserliche  Herr  Statthalter  eine  einmalige  Unter- 
stützung von  300  Mark  für  das  Jahrbuch  bewilligt  habe,  her 
sich  anschliessende  Antrag  des  Mitglieiis  Schricker,  beim  K. 
Ministerium  um  eine  teste  jährliche  Subvention  voi'stellig  zu 
werden,  wird  angenommen. 

Von  dem  Protokoll  des  Gesammt- Vereins  der  deutschen 
Altertums-  und  Geschichtsvereine  über  die  Generalversammluog 
zu  Sigmaringen  sollen  8  Exemplare  bestellt  werden. 

Nach  der  Mitteilung  von  Prof.  ßarack  sind  weitere  4  Ge- 
sellschatlen  und  Vereine  in  Schrittenaustausch  mit  dem  Zwei»,'- 
verein  getreten,  so  dass  die  Zahl  der  Tauschexemplare  jetzt  auf 
104  gestiegen  ist. 

Mitglied  Mündel  berichtet  über  den  Personall)eätand  und 
die  Kassenlage.  Die  Mitgliederzahl  des  Zweigvereins  ist  auf 
1012  gestiegen,  die  Kassenrechnung  schloss  ab  mit  einem  Uelwr- 
schusse  von  Jf  47,81. 

Einzelne  für  das  Jahrbuch  1892  bereits  eingelaufene  Arbeiten 
werden  Ijesprochen  und  zur  IJ<rirhter  stattung  verteilt. 


—    235    — 


Es  l'olj^t  die 


Allgemeine  Sitzung. 

Prof.  Martin  eröifnet  die  Sitzung  mit  dem  Rechenschafts- 
bericht über  die  Entwickelung  des  Zweigvereins  im  abgelaufenen 
Jahre. 

Der  Kassenbericht  des  Herrn  Mündel  wird  durch  zwei 
Mitglieder  der  Versammlung,  die  Herren  ßechstein  und  Lien- 
hart,  geprüft  und  richtig  befunden. 

Der  bisherige  Vorstand  wird  dui*ch  Acclamation  wiedei-ge- 
wählt. 

Zum  Schluss  hält  Prof.  Martin  einen  Vortrag  über  Arnolds 
Pfingstmontag  und  die  Elsassische  Dialektpoesie. 

Vorstandssitzung. 

23.  März  1892  im  Bezirks- Archiv. 

Anwesend :  Die  Herren  Barack,  Franke^  Harbordt^  Martin, 
Mündel  und  Wiegand;  ihr  Ausbleiben  haben  entschuldigt  die 
HeiTen  Deecke,  Erichson,  Rathgeber  und  Schricker. 

Der  Vorsitzende,  Prof.  Martin,  teilt  mit,  dass  auf  die  ge- 
mäss dem  Beschlüsse  der  letzten  Vorstandssitzung  gefertigte 
Eingabe  vom  30.  November  v.  J.  Seine  Excellenz  der  Herr 
Staatssekretär  unterm  30.  Dezember  seine  Vermittlung  für  die 
Bewilligung  eines  jährlichen  Zuschusses  an  den  Zweigverein 
gütigst  in  Aussicht  gestellt  habe.  Prof.  Martin  wünscht,  dass 
künflighin  alle  Anträge  von  Vorstandsmitgliedern,  wenn  sie  nicht 
in  der  (Geschäftsordnung  bereits  vorgesehen  sind,  einige  Zeit 
vor  der  Sitzung  dem  Vorsitzenden  bekannt  gegeben  werden 
mögen. 

Die  für  das  Jahrbuch  1892  eingegangenen  Beiträge  werden 
vorgelegt,  besprochen  und  zur  Berichterstattung  verteilt. 

[Die  wissenschaftliche  Verantwortung  für  die  Einzelheiten 
der  Aufsätze  fallt  den  Verfassern  zu.  E.  M.] 


OCT  3  1    1940