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VON DEM
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DES
VOGESEN-CLUBS.
V. JAHRGANG.
STRASSBURG
J. H. ED. HEITZ (HEITZ & MÜNDEL)
1889.
THE NEW YORK
füBUC LIBRARY
1T8SI8
AÖTOU, L€NOX AND
TILDEN FOUNDATION«.
" 19C6 L
Strassburg, Druck von J. U. E«l. Hi»ilz (Heilz u. Mündel).
Inhalt.
Seite
1. Günthers von Pairis Historia Constantinopolitana oder die
Erobenmg Constantinopels 1205 Yon wo, unter anderen
Reliquien, ein grosses Stück des heiligen Kreuzes
nach Deutschland gebracht worden ist. Deutsch Ton
Theodor Yulpinus l
n. Das Elsass bei dem Ausbruch der französischen Revo-
lution, von J. Rathgeber 57
IIL Landsknechte und Hofleute in elsässischen Dramen des
16. Jahrhunderts, Auszüge von E. Martin . . . . 90
IV. Die zwei Schlösser Bilstein, von Ed. Ensfelder . . 107
V. «Das Vateininser so im Elsass anno 1610 ist gebetet worden
von den Bauem,> von Alcuin Hollaender . . 112
VI Gedichte, von Adolf Stöber 115
VII. Münsterthäler Anekdoten, von J. Spie s er 127
Vin. Zillinger Sprachproben, von J. Spie s er 133
IX. Drei Mitforschern zum Gedächtnis, von £. M a r t i n . . 141
X. Volkstümliche Feste, Sitten und Gebräuche in Elsass-
Lothringen 1888 151
XI. Chronik für 1888 161
XII. Sitzungsprotokolle . . ' 162
/
I.
Günthers von Pairis
Historia Constantinopolitana
oder
Die Eroberung Gonstantinopels 1205
von "WO, unter anderen Reliquien,
ein enrosses Stück des heiligen Kreuzes nach
Deutschland gebracht worden ist.
Deutsch Yon
Theodor Vulpinus.
Vorwort.
Um das Jahr 1216 trat in die berühmte Cistercienserabtei
Pairis bei (Jrbeis (Kreis Rappoltsweiler) ein Mann ein, der die
Blute der Jahre längst hinter sich hatte und in der Stille des
Klosters Trost suchte für manche Enttäuschung des Lebens. Er
nannte sich Günther (Guntherus)^ stammte aus dem Elsass
oder doch aus den oberrheinischen Landen und war in seiner
Jugend Weltgeistlicher und Schulmann^ ja Prinzenerzieher
gewesen.
Um 1185 hatte er sein lateinisches Erstlingsgedicht ge-
schrieben ; es trug den Titel «Solimarius» (das Buch von
Jeioisalem)^ schilderte den ersten Kreuzzug und war seinem
fürstlichen Zögling K o n r a d, dem vierten Solme Kaiser Rot-
barts, gewidmet. Von diesem Gedichte sind nur 232 Verse
erhalten; Wattenbach hat sie 1876 in der Bibliothek des
Gynmasiums zu Köln entdeckt ; vorher galt das Werk als ver-
1
— 2 —
loren. Dagegen ist das Hauptiverk Günthers, der Ligurinus
(das Buch von Ligurien=Oberitalien), ein Epos in 10 Büchern,
welches (dem Kaiser Friedrich und seinen fünf Söhnen
zugeeignet) die Thaten Barbarossas in den Jahren 1152 bis 1160
feiert und schon fünf Monate nach dem Solimarius vollendet
war, bereits 1507 von dem Humanisten Konrad Geltis in dem
fränkischen Kloster Ebrach aufgefunden und seitdem wieder-
holt herausgegeben worden. Dieses Buch hat die merkwürdigsten
Schicksale durchgemacht ; in der Blütezeit des Humanismus
wurde es wegen seines dichterischen Wertes und um des
vaterländischen Stoffes willen hoch gepriesen und in allen
gelehrten Schulen gelesen ; bald stritt man dann um Namen
und Heimat des Verfassers und kam schliesslich dahin, es als
— eine Fälschung des Geltis zu erklären. Erst in unserer Zeit
ist das Buch wieder zu Ehren gekommen ; Dr. Pannenborg in
Göttingen hat anerkannt siegreich seine Echtheit und die
Verfasserschaft Günthers nachgewiesen, i
Aber zu seinen Lebzeiten hatte der arme Günther offenbar
keinen Pannenborg, der ihn zu Ehren gebracht hätte. Der
Kaiser scheint sich um den Dichter nicht gekümmert und
auch der «Alumnus» Konrad den Lehrer seiner Jugend ver-
gessen zu haben. Ob Günther vielleicht selbst schuld daran
war, muss dahingestellt bleiben. In seiner letzten Schrift («: de
oratione, jejunio et elemosyna » : vom Beten, Fasten und
Almosengeben, um 1222) erzählt er, dass ihn schon zehn Jahre
vor dem Eintritt ins Kloster (also um 1206) der heilige Geist
ermahnt habe, die Welt zu verlassen. Wo er von 1186 bis 1216
gewesen, und was er in dieser Zeit geschrieben hat, wissen
wir nicht. Es werden für ihn wohl zum Teil Jahre allmäh-
lichen Verzichtes auf weltliche Ehren und dichterischen Ruhm
gewesen sein.
Auch das nachstehend ins Deutsche übertragene Werk
Günthers, seine «historia Gonstantinopolitana»,
ist, wie das eben erwähnte « de oratione etc. » bereits im
Kloster entstanden und zwar um das Jahr 1218. Es wurde
zuerst 1604 von Ganisius herausgegeben, aber ohne die zu
jedem Abschnitte gehörigen Verse, welche zumeist gereimte,
sogar oft mehrfach gereimte Hexameter sind. Eine voll-
ständige Ausgabe verdanken wir dem Grafen P, Riant (1875),
i Eine deutsche metrische Uebersetzang des Ligorinas wird
demnächst im Verlag von Heitz and Mündel erscheinen. — Eine
zusammenfassende Darstellung des gelehrten Streites über den Ligu-
rinus giebt Wattenbach im zweiten Bande von « Deutschlands Ge-
schichtsquellen im Mittelalter », S. 2ö6 £F.
k •* * • «> b b
•• • • ».* ►
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— 3 —
der dazu drei Handschriften benützte : 1. eine Münchener
(ohne die Verse : die Vorlage des Canisius), 2. eine gleichfalls
auf der K. Bibliothek in München befindliche^ die sich als
Abschrift eines dem Kloster Pairis selbst gehörigen Codex giebt,
und 3. die der C o l m a r e r Stadtbibliothek (beendigt am
3. September 1460).
Mit der Sprache des Ligurinus verglichen ist die historia
Gonstantinopolitana das Werk eines alten Mannes ; auch die
Verse zeigen meist mehr Künstlichkeit als Kunst, und in der
Verherrhchung des Abtes Martinas ist ohne Zweifel des Guten
zu viel gethan. Aber das Buch gilt als eine der besten Quellen
der Geschichte des vierten Kreuzzuges und wird
von den Freunden dieser Blätter als ein ehrwürdiges Alsaticum
gewiss mit Anteil gelesen werden. Mich selbst hat die Beschäf-
tigung mit ihm ausserordentlich angesprochen. Es war mir
dabei zu Mute wie einem Maler etwa^ der ein gutes alt-
deutsches Bild fand und nun kunstbehaglich es nachmalt.
Ueberdies hatte ich in meinem Berufe oft genug den Boden
des alten Pairis besucht und fühlte mich dadurch gewisser-
uiassen als einen conf rater Günthers^ nicht freilich des Mönches^
sondern des weiland <!Cscholasticus9.
In seiner Schrift de oratione klagt Günther sehr über
Kränklichkeit und Gebrechen des Alters. Er wird auch schwer-
lich das Jahr 1222 lange überlebt haben. Sein Todesjahr ist
nioht zu ermitteln. In einem auf dem Colmarer Bezirks-
archiv befindlichen Totenbuch der Abtei Pairis (tabulae mor-
tuorum Parisiensium Christi fidelium a Fr. Bernardino
Abbat. Mulbr. et Parisiensi, 1650), welches die Namen der
verstorbenen Wohlthäter des Klosters, darunter auch die einiger
einfacher Mönche, enthält, steht der Name Günthers nicht
verzeichnet. Er scheint also zu den unbemittelten Brüdern
gehört zu haben und als solcher gestorben zu sein. Th. V.
I.
Alles, was in der Krafl Gottes geschieht, verdient volle
Bewunderung; doch muss es wunderbar sein, wenn wir es
als göttlich anerkennen sollen. Namentlich pflegen wir Helden-
tbaten zu bewundein, welche die Kraft Gottes durch demü-
tige Personen zu offenbaren geruht, durch Menschen, die
in sich selbst tief demütig sind und bei den anderen als
weniger geeignet gelten für grosse Dinge. Deshalb ist es auch
weit wunderbarer, dass die Kinder Israel durch Moses, den
stillen, demütigen Mann, der die Schafe seines Schwiegervaters
— 4 —
Jethro weidete, aus der Tyrannei Pharaos und dem eisernen
Schmelztiegel der ägyptischen Knechtschaft erlöst wurden, als
wenn das Volk durch einen tapferen König mit starker Hand
und vielen tausend Gewappneten gerettet worden wäre. Ebenso
erfasst uns grösseres Staunen, dass die Welt durch thörichte
Leute und arme, ungebildete Fischer den ganz neuen, unbe-
kannten christlichen Glauben empfing, als wenn durch das
Ansehen des Kaisers Augustus oder die Wissenschaft P 1 a t o s
oder die Beredsamkeit eines Demosthenes und Cicero
die christliche Religion die Greister gewonnen und sich fortge-
pflanzt hätte. Je weniger Platz eben die Werke Gottes der
menschlichen Kraft einräumen, um so herrlicher strahlt aus
ihnen die Erhabenheit göttlicher Macht hervor. Eben darum
möge es auch gestattet sein, in anspruchslos einfacher Schreib-
weise, in gleichsam handgreiflicher Sprache Heldenthaten zu
schildern, welche Grott in unseren Tagen durch einen beschei-
denen, demütigen Mann zu vollbringen geruhte, zum Lob und
Preis seines heiligen Namens, zum frommen Gedächtnis eben
jenes Mannes, zum ewigen Heil unseres Klosters, zur Ehre und
Freude der ganzen deutschen Nation oder — was noch mehr
sagen will — zum Trost und Schutz der gesamten abendlän-
dischen Kirche. Und dies Buch unserer Erzählung soll nichts
enthalten, was falsch oder auch nur unsicher wäre, sondern
dem wahrhaftigen und verbürgten Gang der Ereignisse folgen,
ganz so, wie uns der Mann, von welchem wir so viel zu sagen
haben werden, bescheiden und ehrwürdig zugleich, die Ge-
schichte lauter und einfach erzählt hat. Wir wagen es nicht,
das Lob und den Ruhm dieses Mannes so zu schildern, wie er
es verdiente; denn er, der Alles nur Gott zuschreibt und
nichts sucht, was seiner eigenen Person zugeschrieben werden
könnte, würde durch solche Lobeserhebungen sich gekränkt
fühlen. Und doch werden wir nicht alles verschweigen können,
weil wir uns sonst offenbar an Gott versündigten, durch dessen
Wirkung ja die Thaten vollbracht worden sind und der seine
Demütigen zu erhöhen pflegt. Deshalb wollen wir nach beiden
Richtungen hin unserer Feder Mass gebieten und darauf be-
dacht sein, dass einerseits die Grossthaten Gottes, die durch
unseren Helden geschehen sind, offenbar werden, und anderer-
seits dieser selbst in seiner Demut ungekränkt bleibe. — Wem
also dies Büchlein in die Hand und unter die Augen kommt,
der möge es eifrig lesen und den Ereignissen, von denen es
handelt und die man genau betrachten muss, ein geschicktes,
empfangliches Herz entgegenbringen. Er wird grosse, herrliche
Dinge darinnen finden, die nur auf göttliches Geheiss und auf
keine andere Weise vollbracht werden oder sich zutragen konnten.
— 5 —
Eben deshalb wollen wir auch den Leser zum voraus er-
mahnen, wenn er hier und dort auf Seiten unseres Volkes
Thaten erschauen wird, die gegen die Frömmigkeit sind, trotz-
dem nicht zu zweifeln, dass auch derartiges mit dem Willen
Gottes geschehen ist, der doch immer ein gerechter Wille bleibt.
Männiglich höre die Fülle der Frende, die jetzt ich enthülle ;
Möge zur Ehre allein Gottes die Arbeit gedeihen!
Herrliche Gottesgeschenke, Trophäen des Himmels, ich denke,
Freude benenn* ichsmitFng, dass man nach Pairis sie trag! —
Von dir ward es vollendet, du hast das Gelingen gespendet,
Dir, nach deinem Geheiss, sagen, o Christas, wir Preis!
HeOger Erinnerung Zeichen vom Kreuz, du lässt sie ans reichen
Und hast jeglicher Zeit Altes ans Neuen bereit!
Was vor Jahren geschehen, wie neu stets sollen wir's sehen,
Und kein Dunkel der Nacht hülle, was hell du vollbracht!
Unsere Zeit darf sagen : «Was kein Jahrhundert getragen,
Und kein kommendes trägt, ward in den Schoss mir gelegt!»
Glücklich, fürwahr, ist hienieden der Mann, dem zu schauen
beschieden,
Was hier, lauter bewährt, unseren Augen bescheert!
Unsere Herzen erbeben und dürfen in Wonne doch schweben.
Fröhlichen Lichtglanz schauen mitten in heiligem Grauen ! — '
Nicht grossartig zu schreiben es gilt, doch, redlich zu bleiben
Nor auf der Wahrheit Bahn, wie ich es immer gethan !
Sei die erhabene Stärke der Wahrheit günstig dem Werke,
Und der Alles verlieh, lasse verkünden mich sie!
IL
Um die Zeit, als der berühmte Prediger F u 1 k o aus Paris 12(X)
alle Völker der Franken und ganz Flandern, die Normandie
und Biitannien und die übrigen Provinzen durch seine Predigten
anfeuerte, dem heiligen Land und der herrlichen Stadt Jeru-
salem, die schon lange im Besitz der Heiden war, zur Hilfe
zukommen, lebte in Oberdeutschland ein Mann, namens Mar-
tinus, der Abt eines Cistercienserklosters, das im Bistum
Basel liegt und Paris heisst. So schien also die Sache gleich
von vornherein etwas Wunderbares zu haben : beide Männer,
jener, der das Kreuz bereits öffentlich predigte, und dieser, der
bald darauf ein Prediger desselben werden sollte, trugen, wie
sie des gleichen Amtes warteten, so auch die gleiche Bezeich-
nung cParisienses}», der eine vom Namen der Stadt, aus der
er dem Fleische nach abstammte, der andere von dem Kloster,
dem er, wie gesagt, als geistlicher Vater vorstand. Denn beide
Orte, das ebengenannte Kloster, wie die berühmte Stadt der
Franken, heissen ja P a r i s , ein Name, der in der gallischen
Sprache seine eigene Ableitung hat, in der deutschen aber daher
— 6 —
zu kommen scheint, dass die ersten Mönche, welche vom Kloster
L ü t z e i * zur Urbarmachung der Gegend abgesandt worden
waren, nichts fanden als einen öden, kalten Ort, das ccbaare
Eis» (= Bareis, Paris). Jetzt aber steht dort durch die Gnade
Gottes, der seine Armen erhöht und vorwärts bringt, eine be-
rühmte Kirche, mit Besitzungen und Lehen begabt, von schmucken
Gebäuden umgeben und, was wichtiger ist als dies alles, Tag
und Nacht dem göttlichen Dienste geweiht. — Der genannte
Abt war ein Mann von gereifter Gesinnung, aber freundlichem
Antlitz, klug im Rat, leutsehg im Umgang, anmutig beredt,
mild und demütig unter seinen Mitbrüdern, so dass er ihnen
allen, wie auch den Laien, bei denen er in hohem Ansehen
stand, lieb und wert galt. Von dem Papst Innocenz, der
damals als der dritte dieses Namens auf dem heiligen Stuhle
sass, erhielt er den Auftrag, unverzüglich selbst das Zeichen
des Kreuzes zu nehmen und es auch den Leuten jener Gegend
öffentlich zu predigen. Er kam diesem doppelten päpstlichen
Auftrag nach und ergriff das Wort unverdrossen und voll Ver-
trauens, zur allgemeinen Verwunderung, weil er für einen
Mann von zarter Körperbeschaffenheit galt, der so grossen An-
strengungen nicht gewachsen sei. So hielt er auch in seiner
Vaterstadt Basel (ein griechischer Name, zu deutsch: die
Königsstadt) in der berühmten Kirche der allerseligsten Jungfrau
Maria eine Rede an Klerus und Volk. Eine grosse Menge,
Geistliche und Laien, war dort zusammengeströmt, aufgeregt
durch die umlaufenden Neuigkeiten. Sie hatten zwar längst
gehört, dass in den anderen Landen umher das Volk durch
häufige Predigten zum Kriegsdienst für Christus ermuntert
werde ; aber in diesen Gegenden hatte noch niemand die Sache
in die Hand genommen, weshalb eben Unzählige, die innerlich
bereit waren, den Fahnen Christi zu folgen, voll Sehnsucht auf
eine Kreuzpredigt warteten. So standen sie denn alle gespannten
Ohres, den Blick auf den Redner geheftet, und harrten begierig,
was er in der Sache verlangen oder ermahnen, und was er
den Willigen von der göttlichen Gnade versprechen werde.
Als er gewahrte das Volk in der Kirche, die zahllose Menge,
Priester und Lai^n, in dem heiligen Baum ein dichtes Gedränge,
Ward es ihm fröhlich zu Mat, als ob er die Sichel «chon schwänge
Goss er sich ans in Gebet und Gelübden, dass alles gelänge,
Was er als nötig erkannt, und der Herr die Gemüter ihm zwänge.
Dann Hess gleiten die Augen er rings mild, wie sich gebührte,
Ueber die ganze, vom Wunsch, ihn zu hören, hieher nur geführte
' Im Kreise Altkirch Lützel war das Mutterkloster von Pairis.
— 7 -
Tapfre Versammlung, die, lauschend gespannt, nun Verlangen ver-
spürte,
fleisses Verlangen, wie Durst, und zum Labquell ihn sich erkürte,
Der doch im Antlitz die Freude verbarg, die den Büsen ihm rührte,
und jetzt, wägend im Qeiste der Zukunft sichere Zeichen,
Hoffaungen hegend im Herzen, vor denen die Sorgen erbleichen,
Fühlt durchflammt er sich gänzlich von Glut, mit der Sonn^ zu
vergleichen,
Und, von dem Wunsehe beseelt, dass dem Herrn sie sich geben zu eigen.
Ruft ihn herzlich er an, dem als Führer sie sollen sich neigen.
Dann, nachfolgend dem Meister, der einst mit freundlichem Munde
Weise die Zungen der Stummen gelöst, der den Blöden die Kunde
Göttlichen Willens gepredigt und wirkt bis zur heutigen Stunde,
Sagte dem Vater er Dank und sprach, mit Christus im Bunde,
Seiner Erhörung gewiss, etwa so zu dem Volk in der Runde:
III.
Kich soll das Wort an euch richten, hocheille Herren, ge-
liebte Bruder I Ich soll das Wort an euch richten, doch nicht
ich rede, sondern Christus! E r ist der Urheber der Worte,
ich bin sein schwaches Werkzeug; Christus selbst redet zu
euch in dieser Stunde durch meinen Mund und klagt euch sein
Unrecht. Vertrieben ist Christus aus seinem Heiligtum, aus
seinem Wohnhaus, Verstössen aus jener Stadt, die er selbst
geweiht hat durch sein Blut ! Welch ein Jammer ! Dort, wo
einstens der Sohn Cottes, seine Zukunft im Fleisch, von den
heiligen Propheten geweissagt worden, wo er geboren ward und
als Kindlein sich darstellen Hess im Tempel, wo er wandelte
und predigte und lehrte und Wunder that, wo er mit seinen
Jüngern zu Tische sass und das Sakrament einsetzte seines hei-
ligen Leibes und Blutes, wo er litt und starb und begraben
lag und auferstanden ist nach dreien Tagen, wo er gen Himmel
fuhr vor den Augen seiner Junger und am zehnten Tage her-
nach den heiligen Geist über sie ausgoss in feurigen Zungen,
dort herrscht heute die Roheit eines unheiligen Volkes ! Welch
Elend ! welch Herzeleid ! Welch ein Abgrund des Unglücks !
Das heilige Land, das Christi Fösse betraten, wo er die Kranken
heilte, die Blinden sehend, die Aussätzigen rein machte, die
Toten erweckte, es ist in die Hand der Gottlosen gegeben ;
zerstört sind die Kirchen, besudelt das Allerheiligste, Haus und
Ehre des Himmelreichs den Heiden anheimgefallen ! Das hoch-
heilige, anbetungswürdige Holz des Kreuzes, das Christi Blut
in sich gesogen, wird schmählich verborgen gehalten von Men-
schen, denen das Wort vom Kreuz eine Thorheit ist, und kein
Christ mag wissen, was damit geschehen ist oder wo man es
suchen soll ! Unsere Glaubensbrüder, die in jenem Lande
- 8 —
heimisch waren, sind nahezu ausgetilgt, teils durch das Schwert
des Feindes, teils durch lange Gefangenschaft ! Die wenigen ,
welche dem Blutbad zu entrinnen vermochten, haben bei A k k o
oder in anderen festen Plätzen eine Zuflucht gefunden und
erdulden dort fortwährende Einfalle der Heiden ! Das ist die
Notlage Christi, das zwingt ihn, heut euch um Beistand an zu
flehen durch meinen Mund ! Auf also, ihr tapferen Krieger,
helft dem Herrn Christus, weiht eure Namen dem christlichen
Waffendienst, eilet in Haufen zum Lager des Heiles! Euch
vertraue ich heute die Sache Christi, euch gebe ich, so zu
sagen, ihn selbst in die Hände, dass ihr ihn wieder einsetzen
sollt in sein Erbe, daraus er grausam Verstössen ward ! Und
damit ihr nicht erschreckt vor der Ue hermacht heidnischer
Wut in unseren Tagen, lasst mich euch erinnern an die Ver-
gangenheit ! In der Zeit, da der berühmte Heereszug stattfand
unter der Führung Gottfrieds und anderer Fürsten aus
Frankreich und Deutschland, hatte das Volk der Ungläubigen,
just so wie heute, nach der Ermordung oder Einkerkerung
sämtlicher Christen das ganze Land in seiner Gewalt und die
heilige Stadt Jerusalem und Tyrus und Sidon und Antiochien
und andere feste Städte, ja das sämtliche Land bis Konstan-
tinopel in ungestörtem Besitz seit vierzig Jahren ! Und doch
wurde das alles damals nach dem Willen des Herrn in kürzester
Frist, gleichsam im Vorbeigehn, wiedergewonnen durch jenes
Heer, Nicäa, Ikonium, Antiochien, Tripolis und die anderen
Städte erobert, ja Jerusalem selbst, die Hauptstadt des Reiches,
unserem Volke zurückgegeben ! Heute dagegen, obgleich ja das
gottlose Gesindel die Hauptstadt und den grössten Teil des
Landes mit Zähigkeit festhält, ist doch A k k o unser, ist An-
tiochien unser, sind ausserdem unser etliche wohlbefestigte
Plätze, und mit ihrer Hilfe, mit Gottes Gnade und unserer
eigenen Kraft, ihr rühmlichen Helden, muss es möglich sein,
auch die heilige Stadt samt allen übrigen wieder in unsere
Gewalt zu bringen ! Wenn ihr aber fragt, welch sicheren Lohn
ihr von Gott erwarten dürft für so grosse Leistung, so höret,
was ich fest euch verheisse : Wer das Zeichen des Kreuzes
genommen und aufrichtig gebeichtet hat, soll alsobald rein sein
von aller Sunde und empfangen das ewige Leben, gleichviel
wo und wann und wie er das zeitliche verlieren wird ! — Nicht
will ich jetzt davon reden, dass dies Land, nach dem ihr ver-
langt, bei weitem reicher und fruchtbarer ist als das hiesige.
Gar mancher unter euch könnte dort also auch in irdischen
Dingen ein günstigeres Glück finden, als er hier erfahren, so
weit er zurückdenkt ! Wollel daraus erkennen, liebe Brüder,
wie herrlich die Aussichten sind auf dieser W^allfahrt : nicht
— 9 —
nur die feste Verheissung, den Himmel zu erben, sondern auch
steigende Hoffnung auf zeitliches G<^eiben ! Ich selbst gelobe,
mit euch zu ziehen und, wie es Gott gefallt, Glück und Un-
glück mit euch zu teilen. Kommt, liebe Brüder, und nehmet
mit fröhlichem Herzen das siegreiche Zeichen des Kreuzes !
Führet die Sache Christi treulich zum Ziele, damit ihr für
kurze und kleine Mühsal grossen und ewigen Lohn empfangt!»
So sprach der ehrwürdige Mann, und wer zugegen war,
fühlte sich mächtig erschüttert. Auf seinem Antlitz, wie auf
aller Wangen sah man Ströme von Thränen; Seufzen und
Schluchzen vernahm man und andere Merkmale gewaltiger
innerer Erregung. Wir aber haben diese Rede des Abtes des-
halb so soi^faltig wiedergegeben, weil wir nun, obgleich er. ja
später noch oft zu diesen und jenen mannhaft gesprochen hat,'
keine seiner Predigten mehr mitteilen werden. Wolle man des-
halb aus dieser einen Probe ermessen, wie tüchtig er sich
auch bei anderer Gelegenheit gezeigt haben wird.
Als nun der heilige Mann stillschwieg mit geschlossenem Munde
Stürzte die Menge heran yoU freudigem Ernst aus der Runde,.
Alle bereit, zu empfangen das Kreuz und darunter zu streiten
Willig für den, der gehangen am Kreuz, uns zum Himmel zu leiten !
Alle begehren, zu schmücken sich jetzt mit dem heiligen Zeichen
Beides : die Brust und den Rücken; es schien e i n Kreuz nicht
zu reichen. —
Sehet, ein tieferer Sinn, ein verborgener, lag dem zu Grunde;
Weil unterrichtet ich bin, so vernehmt von der Sache die Kunde :
«Wer's auf der Brust nur trägt, nach der Heimkehr steht ihm
der Willen,
«Wer auf dem Rücken nur, hegt just eben die Hoffnung im Stillen.»
Das war damals der Grund. Nur Wenige wissen es heute.
Wie der Gebrauch entstand; der Vergessenheit fiel es zur Beute
Früher, bevor man gewusst die Bedeutung, von welcher wir sagen.
Pflegte man bald auf der Brust, bald hinten das Zeichen zu
tragen. —
Und nun wurde verliehen dem Dienstmann Christi die Ehre,
Selbst an der Spitze zu ziehen, ein Führer und Vater dem Heere.
Schweren Beruf zu verwalten im Zuge: die Sorge der Seelen,
Hatte er Weisung erhalten vom Papst schon in eignen Befehlen.
Aber es war ihm im Stillen doch lieb auch die doppelte Bürde,
Mehr um der Arbeit willen des Amtes, als wegen der Würde.
IV.
Unser Held gab zuletzt den an ihn gerichteten Bitten nach 1200-1202
und übernahm, nachdem ihm, wie erwähnt, der oberste Bischof
schon die Pflicht der Seel sorge zugewiesen hatte, nun auch
noch das Amt der weltlichen Fuhrunsr. Dann ermunterte und
— 10 —
stärkte er die Mannen im Glauben an Christus, zu dessen
Dienst sie sich gelobt hatten, und setzte den Zeitpunkt fest, an
welchem sie alle nach Ordnung ihrer häuslichen Angelegen-
heiten sich hier wieder um ihn scharen und mit ihm den
Weg der heiligen Pilgerfahrt antreten sollten. Auch ermahnte
er die Heimkehrenden noch eindringlich, mittlerweile keusch
und unbefleckt zu leben und sich als taugliche Streiter Christi
zu zeigen, der die Reinheit lieb hat in allen Stücken. Er
selbst aber zog mit erlesener Begleitung in den grössten und
volkreichsten Orten des Landes umher^ machte häufig Halt,
um zu predigen, und bekehrte eine grosse Zahl zum Waffen-
dienst Christi. Auch diesen schärfte er ein, wenn irgend
möglich zu der angegebenen Zeit mit den anderen am Sammel-
platz zusammen zu treffen, um miteinander aufzubrechen ;
wer aber wegen der Kurze der Zeit sich von seinen Geschäften
nicht losmachen könne, der solle, so schnell als möglich, den
übrigen nachfolgen. — Als nun die Zeit des Aufbruchs nahe
war, wünschte M a r t i n u s , obgleich er ja schon durch das
Ansehen eines päpstlichen Auftrages unantastbar dastand, doch
noch seiner Achtung vor der Ordenspflicht gebührenden Aus-
druck zu geben. Deshalb zog er nach Citeaux, in das
Stammhaus der Cistercienser, und kehrte erst, nachdem er vom
dortigen Abt und etlichen anderen hervorragenden Aebten die
Zustimmung und den Segen zur Pilgerfahrt erhalten hatte,
noch seinem Kloster zurück. Auch hier empfahl er sich dann
dem Gebet seiner Mitbrüder, übergab sie als in Liebe verbunden
veilrauensvoll der göttlichen Barmherzigkeit und eilte gen
Basel, wo bereits eine grosse Menge Kreuzfahrer zusammen-
gekommen war, von denen er mit Jubel empfangen wurde.
Wiederum hielt er daselbst eine aufmunternde Predigt und
empfahl sich und die Genossen der allerseligsten Jungfrau,
demütig flehend, sie möge selbst das neue Heer ihrem Sohne
versöhnen. Dann nahm er Abschied von Klerus und Volk
dieser Stadt, wo er überaus geliebt wurde, und trat, heiteren
Antlitzes und unerschrockenen Mutes, mit den Gefährten die
Mühsal des heiligen Zuges an. Hieraus können wir wohl
schliessen, dass der Mann Gottes schon damals irgend etwas
Grosses im Sinn getragen und mit sicherem Seherblick voraus-
geschaut hat, was Gott durch ihn thun wollte.
Volk nnd Führer sodann, erst nen, doch treulich verbunden,
Traten die Pilgerschaft an, ernst, wie die Gesichter bekunden,
Schreitend im Kreuzheerbann. Du hättest, sie zähletid, gefunden
Rund zwölfhundert Mann, die bedächtigen Marsches die Stunden
Zogen des Weges voran, und die Mannszucht niemals geschwunden.
Mutig ein Rösslein schritt, an der Spitze des Zugs zu gewahren.
— 41 —
Welches Martinas ritt; dann kamen die Andern gefahren,
Hier, wie bei Pilgern es Sitt^, fasswandelnd die ärmeren Scharen,
Dort, wo der Beatel es litt, aach Reiter. Doch neidisch Gebahren
Zog in dem Heer nicht mit, weil alle zufrieden sie waren
Da ward Keinem es bang, kein Klagwort hörte man fallen,
Sondern nar frohen Gesang in des Heilands Namen erschallen.
Da, Herr, wolltest den Gang, der da Weg and Führer ans allen.
Da, Herr, schafest den Drang des Gelübdes in heiligen Hallen,
Nähmest es selbst in Empfang and siehst jetzt gläabig sie wallen l
Hofbiang erqaicket das Herz der Gefährten and stärket die Glieder,
Treibt aas den Seelen den Schmerz and belebt die Ermatteten wieder.
Alles begehrt vorwärts in den heiligen Kampf nar, and Lieder
Tönen and manterer Scherz in den Reihen. Hoch spüret and Nieder
Farchtfrei schlagen das Herz; denn der Lohn winkt wieder and
wieder. —
V.
Als das Kreuzheer von der Stadt Basel aufgebrochen
war, schlug es, alle anderen Wege bei Seite lassend, die
Strasse ein, welche durch die Engen des Thaies von Trient
nach Verona führt, weniger Mühsal bot und darum die
zwecknoässigste schien. Es war aber das Gerücht vorausgeeilt
und hatte so viel Gutes und Schönes von den Pilgern verbreitet,
dass ihnen die Leute nicht bloss, wo sie durchzogen, sondern
auch aus anderen Städten und Dörfern in Scharen entgegen-
kamen, sie mit der grössten Freundlichkeit aufnahmen und zu
billigen Preisen den nötigen Unterhalt lieferten. Vor allen
bewunderten .sie Mart inus : ein Mann in Ordenstracht, ein
Mann von geistlichem Berufe an der Spitze eines bewaffneten
Heeres, der sich selbst tapfer einem so mühseligen Amt unter-
zogen hatte ! Deshalb führten sie auch seinen Namen am
häußgsten im Mund und nannten ihn, da auch eine gewis^'e
Aehnlichkeit mitspielte, nach dem berühmten Manne von Tou r s,
der im Verzeichnis der heiligen Bekenner fast den ersten und
hervorragendsten Platz einnimmt, den zweiten heiligen
Mart in US. Und in der That, wenn man genauer zusieht,
die beiden sind sich, wenn nicht in vielen, so doch in einigen
Punkten ähnlich. Gleichwie jener Heilige vor Zeiten ein Kriegs-
mann war und als solcher (wie von ihm geschrieben steht)
derart fromm und tugendhaft lebte, dass man ihn schon damals
mehr für einen Mönch als für einen Ritter hielt, so führte
auch unser Martinus als wirklicher Mönch, ja als ein Vater
von Mönchen, ein Heer in das Feld und gestaltete unter den
Kriegsleuten sein Leben so, dass er sich nicht das Mindeste
nachliess von der Strenge der Ordensregel, soweit es die
Mühsal des Marsches und die Sorge des ihm aufgebürdeten
— 12 —
Amtes gestatteten. Ferner, wie jener voll herzlichen Erbarmens
lar die Bedürftigen war, so dass er einmal bei grimmiger
Kälte seinen einzigen Mantel für einen nackten Armen zer-
schnitt, so teilte auch dieser von dem, was er bei sich
trug oder später durch Gottes Fugung reichlich erwarb, mit
vollen Händen seinen bedürftigen (Gefährten aus. (Einmal z. B.
gab er an zwei Tagen grossmütig 120 Mark Silber zu solchem
Zweck her und am dritten Tag 70 Mark.) Und endlich, wie
jener aus einem Mönch Bischof wurde und trotzdem allezeit
demütig im Stande der Armut verblieb, so zeigte auch dieser
die gleiche Gesinnung, als er (wir wissen das aus bester
Quelle) ein Bistum oder, je nach Wunsch, andere kirchliche
Würden, ja ungeheure Geldsummen angeboten erhielt. Aus
Liebe zum Orden und zu seinem Kloster, dem Gott durch ihn
und er durch (Jottes Gnade hervorragend wohlzuthun
gedachten, wies er das Anerbieten ab und kehrte nach voll-
endeter Pilgerfahrt zu seinen Mitbrüdem zurück, arm an hoch-
fliegenden Gedanken, aber reich, überreich an Gaben des
himmlischen Schatzes. So könnte man wohl noch manchen
anderen ähnlichen Zug an den beiden Männern entdecken,
aber wir möchten dem weniger geneigten Leser gegenüber
den Anschein vermeiden, als wollten wir einen der heiligsten
Ordensmänner über Gebuhr herabdrücken, um dadurch unseren
Helden steigen zu lassen. Deshalb geziemt es uns einfach,
beiden das schuldige Mass unserer Ehrfurcht zu zollen,
jenem als der Seele eines vollendeten Heiligen, der bereits
die Gemeinschaft der Engel geniesst, diesem als einem
Manne voll Weisheit, der, annoch im Fleische wandelnd, bei
Gott und den Menschen nach Verdienst geschätzt wird und
sicher dereinst, durch Gottes Gnade, hier wie dort noch
grössere Gnaden erlangen soll. Dabei aber glauben wir doch,
nicht verschweigen zu dürfen, dass eben am Geburtstage des
heiligen Martinus auch unser Martinus zur Welt geboren und
'deshalb Martinus genannt wurde.
Jedem der beiden Martine gebührt, dass man ehrend ihm diene,
Wenn auch der zweite vielleicht ganz nicht den ersten erreicht.
Beide, von Menschen gelobet, in herrUchen Thaten erprobet,
Beide auch teuer, sofern richtig ich sehe, dem Herrn !
Ootte nur lebte der Eine; der Andre auch brachte das Seine,
Grosses, von göttlicher Hand liebend gesegnet, zu Stand.
Mag jetzt kleiner er scheinen; dereinst (das dürfen wir meinen),
lATenn er geendet den Lauf, steigt zu den Grossen er aaf !
Trefflichste müssen ja sterben, am wachsenden Rahm za er-
werben,
Während im Leben sie schon fanden gebührenden Lohn.
— 43 —
So auch einstens in Falle, wenn ab er gestreifet die Hülle,
Wachset Martinas an Ehr^ droben je länger, je mehr;
Wächst, and gewaltiger immer, in hundertfach hellerem Schimmer^
Als er hienieden erschien, glänzet der Namen Martin !
Jetzt mag nicht er es leiden, dem Selbstlob gram und bescheiden,
Dass in der Welt man ihn preist, und er verbirgt sich im Geist.
Würdig, geheissen za werden ein Dematsmuster auf Erden,
Steigt, wenn beschlossen der Lauf, selig gen Himmel er auf. —
Zieh* ihn, Christus, wir bitten, empor in die ewigen Hütten,
Dass ihm falle das Los lieblich in Abrahams Schoss!
VI.
Bei ihrer Ankunft in Verona wurden die kriegerischen
Pilger samt ihrem Führer von den Bürgern der Stadt sowie
von einer sehr grossen Anzahl anderer Kreuzfahrer, welche
dort aus verschiedenen Himmelsgegenden früher angelangt
waren, auf das fröhlichste empfangen. Auch der Bischof der
Stadt zeigte sich sehr entgegenkommend ; er nahm Martinus
mit aller Ehrfurcht in sein Haus auf und bestritt ihm freund-
lichst schier acht Wochen lang die Kosten des Aufenthalts.
Dann nahmen sie Abschied und zogen gen Venedig. Dort
wollte man zu Schiff steigen und geraden Weges* rasch nach
Alexandria fahren, der Stadt in Aegypten. Es war nämlich
in den anderen Ländern jenseits des Meeres eben Waffen-
stillstand zwischen Christen und Heiden, und diesen durften
die Unsrigen um der Vertragstreue willen nicht einseitig
brechen. Im Heere der Kreuzfahrer befanden sich viele be-
rühmte und mächtige Männer, geistliche und weltliche Herren,
unter welchen Graf Bai du in von Flandern und der Mark-
graf Bonifacius von Mo ntf errat durch Ansehen, Kraft
und Einsicht am meisten hervorragten. Diese alle waren ein-
hellig überein gekommen, dass man nach Alexandria fahren
und die Stadt tapfer belagern müsse, nicht um das Kriegs-
glück zu versuchen, sondern um thatsächlich die Macht der
Kraft Gottes zu erfahren. Man durfte nämlich bei der Aus-
führung dieses Planes die Hoffnung hegen, nicht nur die
prächtige Stadt selbst, sondern auch den grössten Teil des
ägyptischen Landes mit geringer Mühe in die Gewall zu be-
kommen. Die Bevölkerung war von einer Hungersnot schier
aufgerieben und lebte in bitterstem Mangel ; das Land trug keine
Frucht mehr, weil ihm der Nil, der es sonst zu bewässern
pflegt, seit fünf Jahren, wie es hiess, seine Segensfluten ent-
zogen hatte. — Aber dieser lobenswerte Gedanke unserer
Fürsten wurde verhindert, und zwar durch die Hinterlist und
Schlechtigkeit der Venetianer, welche, gewissermassen als
— 14 —
Herren der Schiffahrt und Gebieler des Adriatischen Meeies,
den Unsrigen jedes Fahrzeug versagten, wenn man nicht vorher
mit ihnen die berühmte dalmatinische Stadt Zara erobere,
die aber zu Ungarn gehörte. Sie versicherten nämlich, diese
Stadt sei von jeher feindseUg auf Venedigs Schaden bedacht
gewesen ; ja häufig hätten sogar Bürger von Zara venetianische
HandelsschifTe wie Seeräuber überfallen und ausgeplündert.
Unseren Fürsten aber, die Gott fürchteten, schien die Sache
unerhört frevelhaft zu sein, einmal, weil die Stadt ja von
christlichem Volke bewohnt war, und dann, weil sie dem
König von Ungarn gehörte, welcher auch das Kreuz genomaien
und dadurch selbstverständlich sich und das Seine unter den
Schutz des heiligen Stuhles gestellt hatte. Während nun die
Venetianer immer dringlicher wurden, die Unsrigen aber ebenso
hartnäckig sich weigerten, verstrich die beste Zeit unter Hader
und Zwietracht. Die Kreuzfahrer blieben fest bei ihrer Ansicht,
dass es abscheulich und vom christlichen Standpunkt aus un-
erlaubt sei, als Streiter des Kreuzes Christi gegen andere
Christenmenschen mit Schwert, Raub und Brand zu wüten,
wie bei der Erstürmung von Städten zu geschehen pflegt. In-
folge dessen traten auch viele Arme, welche das Wenige, das
sie mitgenommen, aufgezehrt hatten und nun kein weiteres
Weggeld besassen, die Heimreise an ; aber auch etliche vor-
nehme und reiche Männer, die keineswegs Mangel litten, sondern
sich nur durch solch schändliche Zumutungen abgeschreckt
fühlten, kehrten unwirsch und mit wideretrebenden Empfin-
dungen der Sache den Rücken. Einige davon gingen nach
Rom und konnten nur mit Mühe vom heiligen Vater die Er-
laubnis zur Heimkehr erlangen, unter der ausdrücklichen Be-
dingung jedoch, ein paar Jahre spater das Gelübde ihrer Kreuz-
fahrt einzulösen. Diese Umkehr von Pilgern verursachte dem
Heere der Unsrigen manche empfindliche Lücke, und ausserdem
wurde dadurch auch bei vielen, welche in Deutschland und
anderwärts sich schon zur Nachfolge angeschickt hatten, die
ursprüngliche Glut der Begeisterung gedämpft, so dass sie sich
nicht mehr vom Platze regten. — Um diese Zeit wurde ein
Kardinal, Petrus von Gapua, zu unserem Heere gesandt
mit der ausdrücklichen Weisung des heiligen Vaters, jenen
Streit beizulegen und die Venetianer zu bestimmen, dass sie
die Einschiffung und schleunige Ueberfahrt nach Alexandria in
so heiliger Sache den Kämpfern Christi gewährten. Weil aber
auch er auf keine Weise ihnen das abnötigen konnte, wenn
nicht die Unsrigen die auferlegte Bedingung erfüllt hätten,
dünkte es sie endlich verzeihlicher und weniger verwerflich,
ein grosses Gut durch ein kleines Uel»el zu erkaufen, als ihr
— 45 —
Kreuzfahrt^elübde unerfüllt zu lassen, die Schiitte heimwärts
zu lenken und den Ihrigen Sünde und Schande zurückzubringen.
Sie gelobten daher, thun zu wollen, was die Venetianer so
dringend begehrten, nahmen ihnen dabei aber das bestimmte
Versprechen ab, dass dann auch sie nach Alexandria fahren,
d. h. die Unsrigen mit Kriegsmacht dorthin begleiten würden.
Und wie verhielt sich dabei unser Martinus? Als er erkannte,
dass man der Sache des Kreuzes nicht nur Verzögerung bereite,
sondern nun auch unserem Heere die Notwendigkeit sich auf-
dränge, Christenblut zu vergiessen, wusste er nicht wohin sich
wenden und was anfangen ! Ein wahres Entsetzen erfasste ihn,
und von mehreren Wegen, deren keinen er doch billigen konnte,
wählte er endlich einen, der ihm in diesem Falle noch der
beste schien. Er ging zu dem genannten Kardinal und flehte
fussfaUig, man möge ihm die Lösung des Gelübdes erwirken
und die Rückkehr zu der gewohnten Ruhe klösterlichen Lebens
gestatten. Dieser aber schlug ihm die Heimreise rundweg ab,
er habe denn zuvor seine Pilgerfahrt vollbracht, ja legte ihm
sogar im Namen des heiligen Vaters noch eine grössere Last
auf, indem er ihm alle Deutschen zuwies, nicht nur die bisher
von ihm geführten, sondern auch die, welche er in Venedig
vorgefunden hatte und solche, die noch später zu dem Heere
slossen würden. Auch machte er es ihm und etlichen anderen
Ordensgeistlichen, die zugegen waren, zur heiligen Pflicht, unter
allen Umstanden den Wallfahrtsgenossen zu folgen und sie,
soweit es irgend möglich, von der Vergiessung christlichen
Blutes abzuhalten.
Kann ich es sagen, wie bitter beklagen Martinus es musste,
Als er, in Ehren nach Hause zu kehren, verhindert sich wusste?
Zweifelhaft stand er, und bitter empfand er im frommen Gewissen,
Dass ihm das Schwanken im Zwang der Gedanken die Seele zer-
rissen !
Denn ihn verzehrten auch für die Gefährten die Sorgen ; der Gute
Sah sie — o Schrecken ! — bereits sich beflecken mit christlichem
Blute !
Doch er gehorchte, was bang er besorgte, verhehlend mit Schmerzen ;
War er erbötig, geschah^s, weil es nötig, doch nimmer von Herzen.
So, als Begleiter der heimischen Streiter, als Führer der Mannen
Deutschen Geblütes, die tapfren Gemütes auf Rühmliches sannen,
Ging er zu Meere. Denn jeder im Heere vom deutschen Geschlechte
Musste ja wilhg ihm folgen, wie billig nach göttlichem Rechte,
Seit der Gesandte des Papsts ihn ernannte, sowohl wer zu Haus ihm
Schon sich verbunden, als die er gefunden, geeilet voraus ihm.
Stärker die Scharen, als früher sie waren, um vieles, bereiten
Jetzt sich die Frommen, woher sie auch kommen, das Meer zu
beschreiten,
- J6 —
Und, nach dem Winde sich richtend, geschwinde bepflügen sie
wacker,
Folgend der Regel, mit Ruder und Segel den wogenden Acker.
Was sie nicht wollten, worüber sie grollten als nutzlos, die meisten,
Hatten beschlossen die frommen Genossen nun willig zu leisten.
VII.
Als nun die Flotte über das Adriatische Meer gesetzt war 1202-11
(man nennt es auch das dalmatinische ; der eine Name kommt
von der Stadt Adria oder, nach der Sage, von Adriana, der
Tochter des Minos, der andere von Dalmatien, dessen Ufer
von ihm bespult werden), nahmen unsere Krieger in schnellem
Anlauf, aber zögernden und betrübten Gemütes, die Venedig
gegenüberliegende Küste in Besitz, schlössen die erwähnte Stadt,
um sich bei dem verhassten und verabscheuten Geschäft nicht
lange aufzuhalten, mit grossem Lärm und Nachdruck ein und
zwangen sie schon nach zwei Tagen, weniger durch Feind-
seligkeiten als durch Drohungen, ohne alles Blutvergiessen zur
Uebergabe. Aber kaum hatte die Stadt sich ergeben, so kamen
die Venetianer und zerstörten sie in ihrem unauslöschlichen
Hasse von Grund aus. Nach dem allen schwebte das Gericht
der Exkommunikation über den Häuptern der Unsrigen; denn
sie hatten ja die Hand an eine Besitzung des Königs von Un-
garn gelegt, der, als er das Kreuz nahm, sein Eigentum unter
den Schutz des heiligen Petrus und des obersten Pontifex ge-
stellt hatte. Deshalb dünkte es sie zweckmässig, Boten an diesen
abzusenden, dass er ihnen in gütiger Erwägung der Zwangs-
lage^ in welcher sie gesündigt, die Strafe der Exkommunika-
tion erlassen möge. Man suchte geeignete Persönlichkeiten zur
Uebemahme dieser Gesandtschaft und erwählte in erster Linie
den Abt Martinus, sodann den Bischof von S o i s s o n s, einen
sehr frommen und beredsamen Mann, und als dritten den
Magister Johannes von Paris, der ein geborener Franzose war,
eine vornehme Erziehung genossen hatte und gleichfalls vor-
trefflich zu sprechen verstand. Durch das Erscheinen dieser
Männer sollte unsere an sich schon günstig stehende Sache
bei dem heiligen Vater noch besonders kräftig unterstützt
werden. Als die drei nach Rom gekommen und vorgelassen 1203
worden waren, setzten sie ihr Anliegen redlich auseinander
und baten den Papst aufs demütigste, er möge den not-
gedrungenen Fi^vel, welchen unsere Krieger gegen Christen
(und doch zur Ehre Christi !) begangen hatten, gnädig verzeihen
und nach sorgfaltiger Prüfung des Sachverhaltes die Strafe der
Exkommunikation nicht über sie aussprechen. Und wirkUch
Hess der heilige Vater den Entschuldigungsgrund gelten, der aus
J
— i7 —
der Zwangslage hergeleitet wurde. Auch die demütige Bitte
unseres Heeres, sowie das Ansehen und das edle Auftreten der
Gesandten mussten ihn rühren, und so gewährte er denn, nach-
dem er mit sich zu Rate gegangen, wohlwollend die erbetene
Nachsicht und befahl eine formliche schriftliche Lossprechung
auszufertigen und unserem Heere zuzustellen. Er war nämlich
ein Mann von ausnehmender Urteilskraft und huldreichem
Wesen, zwar noch jung an Jahren, aber klug wie ein Alter,
von gereifter Gesinnung, durch und durch ein Ehrenmann, von
berühmtem Geschlecht, auch äusserlich eine stattliche Er-
scheinung, ein Freund alles Rechten und Guten, ein Feind
dagegen der Bosheit und Niedertracht, so dass er mit vollem
Recht, nicht etwa bloss zufallig, den Namen Innocentius
trug:
Innocenz war, was er hiess, voUwürdig des Namens, mit dem er
Ahnimgalos nennen sich liess : Innocenz war, was er hiess !
Böses, er kannte es nie; so lange die Qabe des Lebens
Göttliche Hald ihm verlieh : Böses, er kannte es nie !
Er, der zum Vater bestellt, hat doch sich — o liebliches Schau-
spiel ! —
Brüdern als Bruder gesellt : er, der zum Vater bestellt !
Lauter und ohne Betrug, von den Priestern und Laien als echter
Hirte gepriesen mit Fug: laater nnd ohne Betrug!
Immer zum Quten bereit und geneigt, wenn er spendete Qntes,
Reich es zu thun allzeit: immer zum Guten bereit! —
Lob und Verehrung in steter Vermehrung als Bischof geniessend,
Fleckenlos wandelnd, nur väterlich handelnd, die Bösen ver-
driessend,
Ganz ohne Tadel, erlaucht auch von Adel, ein tapferer Streiter
Gottes im Glauben, nicht lassend sich rauben die Hoffnung und
heiter.
Weil er nach oben zum Kreuze gehoben die liebenden Blicke,
War er ein wilPger Beschützer der Pilger und ihrer Geschicke.
Er, der so heilig, erklärte verzeihlich, was Gott nur zur Ehre
Hatten gesündigt und reuig verkündigt die christlichen Heere.
Freundlich erbötig, zu spenden, was nötig, erschloss er die Pfade
Ihnen, die bange gefolgt nur dem Zwange, zur himmlischen
Gnade.
VIII.
Während unsere Gesandten noch am päpstlichen Hofe
verweilten^ trat mit immer grösserer Bestimmtheit das Gerücht
aQf, es sei der junge Alexis ins Lager gekommen, ein
griechischer Prinz, der Sohn I s a a k s , des Herrschers von
KoDstantinopel. Der deutsche König Philipp habe ihn
geischickt mit ausführlichen Schrifstucken, in welchen er das
2
— 18 — .
Kreuzheer dringend ersuchte, den jungen Mann mit allen
Kräften wieder in sein Reich einzusetzen. — Wenn von einer
so verwickelten, grässlichen Geschichte überhaupt eine geordnete
Darstellung gegeben werden kann, so verhält sich die Sache
etwa wie folgt : Als der eben genannte I s a a k über die
Griechen herrschte, stürzte sein Bruder Alexis, der Oheim des
ei-wähnten jüngeren Alexis, auf den Rat einiger Bösewichte,
besonders eines ihm verwandten, arglistigen Edelmannes,
namens Murcifl o (d. h. Herzblum'), seinen Bruder Isaak vom
Thron, riss das Reich an sich und warf seinen Neffen, unseren
Alexis, den Sohn Isaaks, in strenges Gewahrsam. Der aber
entwischte bei günstiger Gelegenheit und eilte in schleuniger,
heimlicher Flucht nach Deutschland. So kam er zu König
Philipp, der eine Schwester von ihm zur Gemahlin hatte,
und klagte ihm seine und seines Vaters Not und die Grausam-
keit des Oheims. Der König nahm den Jüngling ehrenvoll auf,
behielt ihn längere Zeit mit herzlicher Zuneigung bei sich und
verseifte ihn freigebig und reichlich mit fürstlichem Unter-
halt. Als er aber hörte, dass unser Heer nach der Einnahme
von Zara an den Grenzen Griechenlands stehe, schickte er
den Jüngling mit schriftlicher Botschaft an die Fürsten, sie
möchten sich, wenn es ii^end thunlich, bemühen, ihn in sein
väterliches Reich zurückzuführen. Besonders nachdrücklich l^te
er die Sache den Deutschen als seinen Unterthanen ans Herz.
Seinen Vetter, den Markgrafen, erinnerte er an ihr gegen-
seitiges verwandtschaftliches Band; ebenso beschwor er die
Flamländer und Franzosen und Venetianer, indem er dabei in
feste Aussicht stellte, wenn erst Alexis mit ihrer Hilfe auf
dem Thron sitze, würden alle Pilger sowohl durch Deutschland
als durch Griechenland immerdar freien und sicheren Weg
haben. Dazu kam noch, dass der junge Prinz feierlich zusagte,
ihnen miteinander nach seiner Wiedereinsetzung 300,000 Mark
Silber zu geben. Alle diese Ursachen wirkten zusammen, und
schon begann der grössere Teil unseres Heeres dem Prinzen
zuzuneigen. Einige aber, welche mehr um den Ausgang des
Kreuzzuges sich kümmerten, rieten hartnäckig ab, indem .sie
(was ja auch das Wahrscheinlichste war) darauf hinwiesen,
dass der Prinz keinesfalls ohne Gewalt und Blutvergiessen
wieder eingesetzt werden könne. Es däuchte sie thöricht und
sündhaft, wenn eine Hand voll Pilger ohne sicheren Rückhalt
ein heiliges Vorhaben aufgebe, um sich für fremden Nutzen in
gewisse Gefahr zu stürzen und einer grossen, mächtigen, volk-
reichen Stadt einen Kri^ anzukünden, der ohne Zweifel einem
Teil oder beiden grosse Verluste bringen müsste. — Aber
wir wollen von der Geschichte der Wiedereinsetzung jenes
— 19 —
Prinzen zur Zeit noch schweigen ; in der Folj^e werden wir
des weiteren darauf zu sprechen kommen.
Als, wie oben erzählt, das Gerücht von der Sache in
Rom umging, erschrak der heilige Vater heftig und mit ihm
sein Klerus und unsere Gesandten und andere Kreise. Denn
er fürchtete, die Eifersucht der boshaften Feinde werde bei
dieser Gelegenheit unserem gesamten Heere den Untergang
bereiten oder doch die Sache des Kreuzes aufhatten. Der Papst,
wie schon seine Vorgänger, hasste die Stadt Konstantinopel
seit alter Zeit ; denn sie war lange schon der römischen Kirche
g^enüber aufrührerisch gesinnt und wich in einigen Glaubens-
sätzen, z. B. vom Ausgang des heiligen Geistes, den die
Griechen nicht vom Sohn ausgehen lassen wollen, und in der
Art des Messopfers, das sie mit ungesäuertem Brot begehen,
vom katholischen Glauben ab. Deshalb hatte der Papst einmal
einen Kardinal zu ihrer Bekehrung und Unterweisung
abgeschickt, aber sie knüpften ihn auf, mit den Füssen nach
oben und dem Kopfe nach unten, bis er, St. Petro im Märtyrer*
tum gleich, den Geist aufgab. Der Papst hasste also die Stadt
und hätte wohl gewünscht, dass katholisches Volk ohne Blut-
\ergiessen sie eroberte, wenn er das für möglich gehalten.
Aber für unser Heer fürchtete er eben eine Niederlage ; er
konnte nicht hoffen, dass die Unsrigen das erreichen würden ;
er sagte sich, dass Konstantinopel schon allein mit
seinen Fischerbooten unserer ganzen Flotte überlegen wäre.
Die Stadt hatte nämlich 600 solche Fahrzeuge, deren jedes im
Jahr auf vierzehn Tage der Kasse des Herrschers eine Gold-
münze zahlte, welche man Perpera heisst, im Werte eines
ferto, d. i. einer Viertelmark. Kriegs- und Handelsschiffe aber
besass sie in ungezählter Menge und dazu einen stark
befestigten Hafen. Es war daher der Rat und die Meinung
des heiligen Vaters, welchen die Sache des Kreuzes aufs
höchste beunruhigte, dass die Unsrigen geraden Weges nach
Aiexandria schiffen sollten. Er erlaubte ihnen auch, an den
Seeplätzen der Romagna, welche das Adriatische Meer bespult,
in bescheidenem Mass unentgeltlich Lebensmittel aufzunehmen,
mit denen sie auf ein halbes Jahr ausreichen könnten. Er
fürchtete gar sehr, sein Rat möchte nicht beachtet und der
Foilgang des Kreuzzuges durch Unternehmungen in Europa ge-
hemmt werden, und deshalb wurde sowohl er selbst als alle
anderen durch die neuen Gerüchte lebhaft aufgeregt.
Jetzt auch wiederam flehte Martinas in traaUcher Rede
Brünstig den heiligen Vater um Heimkehr. «Höre mich», bat er,
«Da hast einst mir gespendet das Amt, aaf die Fahrt mich gesendet;
«Heisse, meii^ Bisdiof, in Ehren den Abt nach Hanse nan kehren!»
— 20 —
Schmerzlicher immer bedrückte den Frommen es, dass er erblickte
So viel gottloses Treiben, dass dauernd verloren nun bleiben
Sollte die Stadt, in der weiland auf Erden gelehret der Heiland,
Dass Fortschritte nicht mache des Kreuzzugs heilige Sache,
Sie, die aus Kleinem entsprungen, verzögert nun oder misslungen t
Will auf die Schulter man legen, hellenischer Könige wegen,
Lasten dem christlichen Heere von kaum zu ertragender Schwere ?
Werden darunter nicht alle die Pilger geraten zu Falle,
Oder, wenn's besser beschlossen, doch mindestens seufzen ver-
drossen ?
Selbst, wenn beschieden das Beste, so gilt es doch immer, das feste
Konstantinopel mit Strömen des edelsten Blutes zu nehmen !
Denn wer zweifelt, dass heftig es wehren sich wird, dass es kräftig
Erst um den Sieg wird ringen, bevor wir das arge bezwingen?
All dies sagte sich leise Martinus im Busen, der Weise.
Weil er mit sorgendem Blicke voraussah schwere Geschicke,
Nichts, was sicher sie wehrte, mit Fug er nach Hause begehrte.
IX.
Es flehte also unser Abt mit allem Nachdruck um die
Erlaubnis zur Heimkehr, indem er samtliche angeführte
Ursachen und noch andere dazu dem heiligen Vater vor Augen
stellte. Aber dieser schlug ihm die Bitte rundweg ab ; er dürfe
erst an die Rückkehr denken, wenn er das heilige Land, nach
welchem ihm sein Gelübde weise, betreten habe. So ging denn
Martinus mit den Genossen vom päpstlichen Hofe weg,
nachdem er zuvor den apostolischen Segen empfangen hatte.
Auch nahm er ein Schreiben mit für das Heer, das die förm-
liche Lossprechung desselben enthielt. Er reiste nach B e n e-
v e n t und fand dort den schon oben erwähnten Petrus
von Gapua, der sich mit dem Wunsche trug, geraden
Weges nach Akko hinüberzuschiffen. Martinus schloss sich
ihm an, schickte den papstlichen Brief durch seine Reise-
begleiter an das Heer und Hess sich auch durch sie hei den
deutschen Scharen, die er bisher geführt hatte, entschuldigen
und ihnen Lebewohl sagen (am 4. April). Dann schifften sie
sich bei Sipontumi ein und kamen (am 25. April) nach langer
Fahrt im Hafen von Akko an, wo sie von allen aufs faer-
liebste empfangen wurden. Es waren dort auch zahlreiche
Deutsche und darunter einige vornehme und mächtige Männer,
welche Martinus schon in Deutschland gekannt und geliebt
hatten. Diese nahmen ihn mit besonderer Ehrfurcht auf.
Petrus von Gapua aber übergab ihm im Auftrage des Papstes
1 Heute : Maria de Siponto in Apulien.
— 21 —
die Fürsorge für alle Deutschen, die schon in Akko waren,
oder auf deren Ankunft man noch hoffte. Leider brach dort
in diesem Sommer um die sogenannten Hundstage eine schwere
Pest aus, welche derartig unter den Menschen wütete, dass
an Einem Tage mehr als 2000 Leichen begraben worden sein
sollen. So plötzlich und unerwartet trat diese Seuche auf, dass
man in drei Tagen sicher dem Tod entgegensah, wenn man
einmal daran erkrankt war. Viele nun, die von der Krankheit
ei^riffen worden, Hessen den Abt rufen, da sie nicht mehr
über ihre Habe verfügen konnten, und übergaben ihm alles,
sei es zu eigenem Besitz, sei es zur Verteilung an dürftige
ilefahrten, wobei er einen beliebigen Teil für sich zurück-
behalten sollte. Diese Angelegenheiten führte Martinus so treu-
lich aus, dass er, wie schon oben erwähnt, einmal in zwei
Tagen 120 Mark Silber zu solchem Zwecke ausgab und am
dritten 70 Mark. Auch kaufte er einigen Tapferen, welche in
der Not ihre Waffen verpfändet hatten, dieselben zurück,
gleichfalls ganz uneigennützig ohne das mindeste Entgelt. Vor
allem aber ging er mit tapferer Frömmigkeit zu den Kranken,
versorgle sie freundlich mit Rat und That, ermahnte sie zu
aufrichtiger Beichte und tröstete sie mit der Hoffnung der
Ewigkeit, dass sie den kurzen Augenblick des Todes nicht
fürchten möchten, sie, die ja hernach ein Leben ohne Ende
empfangen würden ! Auch die Gesunden vermahnte er männ-
lich, sich durch dieses kurze und vorübergehende Ungemach
nicht erschrecken zu lassen, sondern gefassten Herzens auf
beides bereit zu sein : sowohl dies zeitliche Leben zur Ehre
Gottes noch länger zu führen, als auch, wie die voraus-
gegangenen Gefährten, in kurzer Frist das Glück des ewigen
zu erlangen.
Hier in den Unglückstagen, von Kümmernis niedergeschlagen.
Fühlte Martinas den Racken die Last des Geschickes so drücken,
Dass antragliche Zeichen des Grams wahrnahm auf dem bleichen
Antlitze, wer ihn gesehen za Haas and öffentlich gehen.
Denn, was die Brüder beschwerte, mitdaldend als treuer Gefährte.
Trag er der anderen Schmerzen, wie eignen, im liebenden Herzen.
Männlich sich selber vergessend, mit jedem an Tagend sich messend,
War er für alle ein Vater, ein Helfer in Not, ein Berater,
Klag and bedächtig in Reden, ein zärtlicher Bruder für jeden !
Hierhin und dorthin getrieben, die Werke der Liebe zu üben,
Geht er herum bei den Kranken. Bekannte wie Fremde verdanken
Ihm, der sie ärztlich beraten, auch freundliche Hilfe mit T h a t e n !
Wie mit Geschwistern verkehrt er ; die irrenden Geister belehrt er ;
Keiner verschliesst ihm die Seele ; ein jeder bekennt, was ihn quäle^
Willig zu völliger Beichte, da Gott ihm die Herzen erweichte.
Alles dem Herreu zu weihen bei Zeiten, ermahnt er die Reihen
— '2H —
Der von der Seuche Gefassten, damit, wenn sie Todes erblassteiiy
Dran sich anch hielten gebunden die übrig gebliebenen Gesunden.
Gleiches empfahl er den Zagen, die Furcht Tor der Pest zu ver-
jagen,
Stark sie zu machen im Leiden und willig, von hinnen zu scheiden.
X.
Während der langen Herrschaft der Pest in der Stadt und
ihrer Umgebung wurde die Mehrzahl der Einwohner und der
dort verweilenden Fremden von der Ansteckung ergriffen und
hingerafft. Auch von den 46 Personen, welche in der Herberge
des Abtes wohnten, entrannen nur vier, darunter er selbst,
dem Tode ; alle übrigen erlagen der Gefahr. Und wer mit dem
Leben davongekommen war, hatte doch schon den Ruf des
Todes vernommen und erwartete ihn matt und blutleer als
unausbleiblich jeden Augenblick. Dazu kam noch ein anderer
Uebelstand : die zwischen den Unsrigen und den Heiden feier-
lich abgeschlossene Waffenruhe wurde nämlich von den letzteren
mit niederträchtiger Arglist gebrochen, indem sie zwei deutsche
Schiffe wegnahmen und ihrer sämtlichen Fracht beraubten.
Zwar vergalten die Unsrigen tapfer und schnell diese Unbill.
Sechs grosse feindliche Schiffe mit Lebensmitteln, Waren und
sonstiger Fracht wurden auf dem Meere gekapert, mit der %er
samten Ladung als gute Prise erklärt und also durch Gottes
und eigene Kraft die Heimtücke der Heiden kräftig gerächt.
Aber der Krieg war eben damit erneuert, und die Wut der
Feinde richtete sich heftiger als bisher gegen die Unsrigen,
weil sie in der Zahl der Mannschaft uns überl^en und zudem
der Meinung waren, auch die Uebriggebliebenen seien durch
die beständige Nähe des Todes schwach und kraftlos geworden.
Deshalb däuchte es die Angesehensten unter den Christen gut,
an das Pilgerheer, welches dem Vernehmen nach noch in
Griechenland verweilte, Botschaft zu senden, man möge doch
der Stadt Akko, jenem Hafen des heiligen Landes, welchen
die Unsrigen bisher mit grösster Anstrengung und Gefahr fest-
hielten, schleunigst zur Hilfe kommen, da er sonst schwerUch
länger verteidigt werden könne. Auch diese Gesandtschaft
übernahm Abt Martinus auf Ansuchen und mit ihm ein
anderer, Konrad nämlich, der Vogt von Schwarzenberg.
(Diesem Manne stellt der Abt das Zeugnis der grössten Ehr-
lichkeit aus; er, Konrad, habe die Gewohnheit gehabt, för
jede im Scherz oder Ernst oder unwissentlich ausgesprochene
Unwahrheit, deren er sich erinnerte, im Beichtstuhl besondere
Absolution zu verlangen, woraus wohl zur Genüge erhellt, dass
ein Mann, der schon in kleinen Dingen, auf die fast alUe
— 23 —
andern kein Gewicht legen, so gewissenhaft war, auch in
grossen durchaus nichts vernachlässigt haben wird.) Drei Tage
vor Martini schifften sich die beiden ein und landeten am Tag
der Beschneidung Christi bei Konstantinopel. Dort stand l. Janaar
damals das Kreuzheer^ aber in nicht sehr fröhlicher Stimmung ; 1204
denn es hatte sich in fremde Händel eingelassen und war
dabei in grosse Fährlichkeit geraten. Freilich man muss |den
Glauben festhalten, dass Gott alles so gefügt hat: Jene grosse
und mächtige Stadt, die schon lange dem römischen Stuhl
abtrünnig geworden, sollte durch die Tapferkeit der Unseren
und einen unverhofften Sieg der Einheit der Kirche zurück-
gewonnen werden. — Als nun die Boten der Christen von
jenseits des Meeres ankamen, wurden sie von allen ehrerbietig
und freundlich aufgenommen, insonderheit von den Deutschen,
welche der Abt früher angeführt hatte. Allein nachdem sie
die Ursache ihrer Ankunft auseinandergesetzt, erfuhren sie
zwar die lebhafteste Teilnahme, Aussicht aber auf Bat oder
Beistand wurde ihnen nicht gemacht, da eben die Unsrigen
augenscheinlich sich selbst kaum genügend helfen konnten.
Sie waren damals gerade in der äussersten Bedrängnis. Wegen
der gar nicht zu schätzenden Menge des feindlichen Griechen-
volkes hatten sie in der Umgebung der Stadt nirgends Ruhe,
und andererseits konnten sie ohne die grösste Gefahr auch nicht
von der Stadt wegrücken wegen der zahllosen Schiffe, mit
denen der Feind sie im Falle des Abzuges zu verfolgen und zu
vernichten dachte. So war es gekommen, was gewiss selten zu
geschehen pflegt, dass die Unsrigen sich auf die Belagerung
einer Stadt gefasst machten, von der sie nicht wegzufliehen
wagten I Um diese Sachlage ganz klar zu verstehen, ist es der
Mühe wert auf die Darlegung zurückzukommen,, welche wir,
wie erinnerlich, weiter oben einstweilen bei Seite gelassen.
Wer hier fleissig aufmerkt, der wird die verborgenen Gerichte
Gottes und die stillen Ursachen der kommenden Ereignisse mit
Händen greifen können.
Haltet den Atbem nnd passet! Ach, Schreckliches^ dass ihr erblasset,
Hab ich zu schildern ! So lasset geschehen es, dass Zorn mich erfasset !
Merkt wohl, was wir berichten ! Verbargt ists ! Glanbet mit nichten,
Dass wir im Stand, zu erdichten so brandmalwürdge Geschichten !
Lasst ench richtig bescheiden : Ihr spart euch Mühen nnd Leiden,
Wenn ihr es lernt, wie die Heiden, wie Narren, die Griechen zu
meiden !
Wahrheit ist, was ich singe ; doch fragt nach dem Qmnd ihr der Dinge :
Minder das Volk, das geringe — die Grossen verdienen die Schlinge!
Hefe der Hefe ! Sie schänden den griechischen Namen ! Es enden
Qriechische Könige von Händen, die schnöde sie würgen und blenden !
— 24 —
Konstantinopel, verrachtes, nicht wert, dass die Sonne besucht es !
Volk voll List, da verflachtes, nur fleissig, wenn Arges versucht es.
Wie es zam Aufstand hetze, gehorsam keinem Gesetze,
Wie es, was heilig, verletze, den eigenen Herrscher entsetze!
Feiges Gesindel, so träge, doch Könige zu plagen, so rege!
Nest des Betrugs allwege, wo Nahrung er findet und Pflege!
Doch bald wird es erfahren die Strafe für gottlos Gebahren,
Zitternd die Sieger gewahren in kleinen, doch tapferen Scharen,
Wie durch die Thore sie brechen und grausam in blutigen Bächen
Unter den Bürgern, den frechen, den Tod des Alexius rächen !
XL
1203 Wie die Unsrigen nach und nach in solche Bedrängnis
geraten waren, lässt sich, wie folgt, zusammenfassen : Als der
oben erwähnte junge Alexis mit Botschaft und Briefen von
König Philipp ins Lager gekommen war und durch seine
Bitten und weitgehende Versprechungen die Anfuhrer des
Heeres in nicht geringe Aufregung versetzt hatte, fingen, wie
gesagt, mit der Zeit alle an, ihm und der Beschüfzung seiner
Sache geneigt zu werden. Und das aus verschiedenen Ursachen.
In erster Linie wirkte die Empfehlung König Philipps,
welcher sich so angelegentlich für ihn verwendete ; dann dünkte
es auch sie selbst ein löbliches Werk, den grausam gestürzten
rechtmässigen Thronerben wieder in seine Hauptstadt zurück-
zubringen, wenn es nur irgend ausführbar sei, und zudem
wurden sie eben auch gerührt durch die Bitten und Ver-
sprechungen des jungen Prinzen, der für den Fall seiner
Wiedereinsetzung allen Pilgern jetzt und zukünftig den um-
fassendsten Beistand verhiess. Dazu kam noch die Erwägung,
dass die Stadt Konstantinopel bekanntermassen der rö-
mischen Kirche gegenüber aufrührerisch und feindlich gesinnt
war, weshalb man wohl annehmen durfte, ihre Demütigung
werde dem heiligen Vater, ja Gott selbst, nicht gerade sehr
missfallen. Auch die Venetianer, deren Schiffe man ja benutzte,
trieben eifrigst zu dem Unternehmen, teils in der Hoffnung auf
den versprochenen Gewinn — denn dieses Volk ist immer
heisshungrig nach Greld ! — , teils auch, weil Konstantinopel im
Vertrauen auf die Grösse seiner Flotte sich die Hauptherrschafl
in jenen Gewässern anmasste. Durch das Zusammenwirken all
dieser und vielleicht noch anderer Umstände kam es dahin, dass die
Pilger insgesamt und einmütig dem Prinzen ihr Herz zuwandten
und Hilfe versprachen. Es gab aber, wie ich glaube, noch eine
andere Ursache, die viel tiefer lag und mächtiger wirkte als
alle die genannten, der Ratschi uss nämlich der göttlichen Liebe,
welche es fügte, dass jenes im Ueberfluss üppig gewordene
— 25 —
Volk von seiner Hochmutshöhe gestürzt und in der Folge zu
Frieden und Eintracht mit der allgemeinen heiligen Kirche
zurückgerufen wurde. Auch war es offenbar nur in der Ord-
nung^ dass die Griechen, welche aut andere Weise doch nicht
gebessert werden konnten, durch Verlust einiges Blutes und
der zeitlichen Güter, die sie so übermütig gemacht hatten,
gezüchtigt wurden. Das Volk der Pilger konnte sich dann an
der Beute der Stolzen bereichern, das ganze Land ging in
unsere Gewalt über, und die abendländische Kirche durfte sich
immerdar des Lichtes der heiligen Reliquien freuen, deren sich
jene unwürdig gemacht hatten. Aber auch ein anderer wich-
tiger Punkt ist nicht zu vergessen. Die oftgenannte Stadt, die
sich den Pilgern gegenüber allezeit treulos bewiesen hatte,
sollte nach dem Willen Gottes durch den Wechsel der Be-
völkerung treu und einträchtig werden und uns zum Kampf
mit den Heiden und zur Eroberung und Festhaltung des hei-
ligen Landes desto wertvollere Hilfe leisten, je günstiger sie
gelegen war. Aus alledem wäre aber nichts geworden, wenn die
Griechen durch ein Volk anderen Glaubens, durch Heiden
oder Ketzer, überwunden worden wären oder gar, im schlimmsten
Fall, deren Irrlehre angenommen hätten. Diese Ursachen,
meine ich, haben bei Gott vorgewogen, uns zwar verborgen,
aber ihm, der alles voraussieht, offenbar; und deshalb gelangten
die grossen und wunderbaren Ereignisse, von denen wir reden
werden, sicher, aber geheimnisvoll zu ihrem Endziel.
Tief in der Gottheit Schosse verborgne, verändemngslose
Gründe der ewigen Liebe bestehen im irdischen Getriebe,
Die die Geschichte der Zeiten so ruhig bestimmen und leiten,
Dass nichts hier auf der Erden gemacht kann irgendwie werden,
Was nicht Form und Gestaltung empfinge von höherer Waltung,
Was nicht trüge die volle Besieglung, dass Gott es so wolle,
Wo es und wann es und wie es geschehe, dass Zögernng nie es
Hemmet und hindert und wendet ! Wie Gott will, wird es geendet!
Ja, es besteht in dem Reiche der ewigen Schöpfung das gleiche
Göttliche Leben und Weben, wovon ich geredet soeben.
- Weisheit ohne Beginnen und Aufhören waltet darinnen:
AUeB, was lebt und sich reget, von sicherer Ordnung beweget,
Jahre und Tage und Stunden an ew'ge Gesetze gebunden,
Die die Ereignisse leiten und, was zu verschiedenen Zeiten
Zu sich getragen, verbinden ! Der Mensch kann nimmer sie finden,
Sondern es kennt sie nur Einer, dess Rat zu erforschen noch Keiner,
Der bei Vernunft, unternommen, da nicht es gestattet den Frommen !
Alle Gelehrten bekennen : Wie Licht sich und Finsternis trennen,
Mangelnd gemeinsamer Baude, so bleibt auch dem schärfsten Ver-
stände,
Menschlichem Sinnen und Sorgen, des Himmels Geheimnis verborgen.
— 26
xn.
Also aus diesem verborgenen und unerforschlichen InbegrilT
des göttlichen Geistes, der aller Dinge Gestaltung umfasst,
den die Zahl weder des Sandes am Ufer, noch der Tropfen im
Meer, noch der Blätter im Walde zu täuschen vermag, geht
alles hervor, was in der Zeit zu geschehen oder einzutreffen
pflegt, und zwar auf sicherem Pfade und in unabänderlichem
Laufe. Die griechischen Philosophen lieben, das «Architypus»,
d. h. der Dinge Urbild, zu nennen, Johannes aber in seinem
Evangelium bezeichnet es als das aLeben}), wenn er sagt:
cWas entstanden ist, hat in ihm das Leben, und das Leben
war das Licht der Menschen.:» Wie nämlich in dem Geiste des
sterblichen Menschen jene Dinge gewissermassen leben, die er
in der Gegenwart denkt, mögen sie nun schon gegenwärtig
sein oder erst als zukünftig gehofft werden, so, nur noch in
viel höherem Grade, leben in dem göttlichen Geiste, den die
Griechen vooc nennen, der durch und durch Leben oder viel-
mehr das Leben selbst ist, der nichts nicht wissen oder ver-
gessen kann, alle Dinge, ja lebten in ihm, schon ehe sie
entstanden waren, mögen sie nun später noch erschaffen worden
sein oder von heute an bis zum jüngsten Tag noch erschaffen
werden. Wenn also der göttliche Geist die Ideen, d.i. die
Gestaltung aller Dinge, auch der kleinsten, in sich trägt, um
wie viel mehr hat er dann auch von Ewigkeit her dieses so
grosse, so neue, so wunderbare Ereignis umfasst, von dem wir
reden wollen I Ja, aus einer unabwendbaren Fügung Gottes
(das muss man glauben I) geschah es, dass unser Heer, welches
bald nach der Einnahme Z aras Alexandria zu erreichen strebte,
den Vorsatz änderte, dem mächtigen Konstantinopel den
Krieg erklärte, mit den Schiffen feindlich an den griechischen
Ufern landete und nicht weit von den Mauern der Stadt kampf-
gerüstet sein Lager schlug. — Alexis, der unrechtmässige
Herrscher, der seines Bruders Thron geraubt hatte, zog mit
grosser bewaffneter Macht den Unsrigen entgegen, musste aber
nach kurzem Kampf ihre Tapferkeit spüren und wendete sich
bald, seiner eigenen Sache und der Treue der Seinigen miss-
trauend, schimpflich zur Flucht!
Scbwächling, was machst dn nun? König, des Königtums würdig
so wenig,
Da, der Gesetze Verrücker, des Rechtes der KÖn'ge Bedrücker,
Uns, wie den künftigen Zeiten ein Name, der frevelbereiten.
Schändlichen Mann ankündigt, was machst du nun, der so ge-
sündigt ?
— 27 —
Das ist der Name, der rechte, für dich: «Alexis!» ^ Das Schlechte,.
Dm man nicht ans kann sprechen, bedeutet er, schnödes Ver-
brechen,
Ond so ermahnet er jeden, von dir nicht fürder zn reden.
Wie es auch billig and Fng ist, da voll du von List und Betrug bist f
Keiner von uns soll kennen so teuflischen Mann und ihn nennen,
Jeder auch künftig sich schämen, dich nur auf die Lippen zu nehmen,.
Dich, der den Frevel begangen, den eigenen Bruder zu fangen.
Blenden ihn liess und zum Lohne der Schandthat raubte die Krone l
Elender, also du fliehest? du wendest den Rücken, du ziehest,
Kaum dass den Feind du gefunden, zurück dich, von Furcht über-
wunden ?
Kaum dass den Feind du gespüret, bevor dich ein Hieb nur be-
rühret,
Elender, lässt du dich schlagen und fahren den Thron mit Verzagen^
Da dir doch jüngst nicht graute, wie Frevel zum Lohn ihn sich.
baute?
XIII.
Durch die Flucht des Königs wurden die Bürger der
mächtigen Stadt gewaltig erschreckt. Die meisten hatten ihn
wegen seiner Schandthaten schon vorher nicht sehr geliebt^
and da gleichzeitig Boten des jüngeren Alexis mit
vielen Versprechungen und Bitten sie bestürmten, und die
Unsrigen so ganz gegen alles Erwarten die Stadt mit Verderben
bedrohten, falls man nicht den rechtmässigen Thronerben al&
König annähme, so öffneten die Griechen die Thore und Hessen
Alexis mit dem ganzen Herr friedlich in die Mauern. Alsbald
wurde der junge Fürst mit den königlichen Gewändern
geschmückt und, wie sich gebührte^ auf den Thron gesetzt.
Gütig und freigebig Hess er auch sofort die Hälfte des ver-
sprochenen Geldes unseren Heerführern auszahlen, in der Hoff-
nung, den Rest in kürzester Frist folgen lassen zu können.
Deshalb blieben die Unsrigen noch einige Tage in der Stadt,
machten von der Willfährigkeit des neuen Königs wie der
Bärger nur massig Gebrauch und hüteten sich sorgfältig,,
irgendwie als lästige Gäste empfunden zu werden. Aber die
Stadt, obwohl gross und prächtig, konnte zwei Völkern mit
so verschiedenen Sprachen und Sitten und ohne rechte gegen-
seitige Zuneigung, sowie überhaupt einer so grossen Menge
Menschen und Pferde auf die Dauer nicht recht genügen. Man
beschloss darura^ sie zu verlassen, auf einem weiten, aus-
gedehnten Felde ein Lager zu schlagen und dort die Erfüllung
1 Alexis = äXexTOc : unaussprechHch ; was man nicht aus-
sprechen kann oder darf.
— 28 —
■des königlichen Versprechens mit mehr Behagen abzuwarten.
Kaum war der Auszug erfolgt, so regte sich in der Stadt der
Anfang heimlichen Aufruhrs gegen den König. Die Mehrzahl
murrte, dass er diese Pilger, landfremde Leute, so ausser-
ordentlich begünstige; schon habe er fast das ganze Vermögen
Griechenlands an sie ausgeliefert und gedenke nun, noch
einmal ebenso viel oder vielleicht auch noch mehr unter
Beraubung seines Reiches an sie zu verschenken. Als zuletzt
schier alle in diese Klage einstimmten, wagten sie es sogar,
den König öffentlich zu beschuldigen ; es sei unstatthaft
und müsse verhindert werden, dass er sein Land zum Vorteil
der Fremden beraube, ja den Mangel der Seinigen noch
anderen zur Beute gebe ; vielmehr sei es seine Pflicht, die
Pilger als nach fremdem Gut gierige Eindringlinge mit ihnen
zu verfolgen und zu verderben ! Dieser Aufruhr erschreckte
den neuen König aufs heftigste teils wegen der Treulosigkeit
«einer Bürger, die ihn allerdings nur gezwungen aufgenommen
hatten, teils wegen der Liebe, die er für uns hegte, und
wegen des Eides betreffs der Auszahlung, den er in voller
Aufrichtigkeit geleistet hatte. Man kann sich vorstellen, wie
schwer und ängstlich ihm zu Mute war in der Mitte gleich-
kam zwischen der Niedertracht der Seinigen und der Liebe zu
uns und dem Dank gegen König Philipp, welchen er
schwer zu beleidigen fürchtete, falls er die Unsrigen täuschte
oder ihnen ein Leid zufügte. Weil er also hierzu nicht leicht
gebracht werden konnte, so legte jener M u r c i f 1 o , von dem
oben die Rede war, der schon den Vater des Alexis geblendet
und ihn selbst in den Kerker geworfen hatte, die Hand an
1204 den König, erdrosselte ihn und sagte, dass man diesen
Herrscher aus dem Leben geschafft, sei ein kleineres Uebel,
als wenn durch seine Thorheit das Vermögen von ganz
Griechenland an einige Unbekannte ausgehefert würde. Nach-
dem so Ale xi s aus dem Wege geräumt war, setzte Mu reif lo,
wie ein Prinz von Geblüt, wie ein Verwandter des königlichen
Hauses, sich selbst den Stirnreif auf, machte sich, kühn und
frech zugleich, auf dem Throne breit und begann, blutige
Gedanken zu hegen. Grausam wollte er regieren und nament-
lich die Unsrigen verderben. Voll Abscheu vor der Gottlosigkeit
dieses Mannes rufen wir unwillkürlich aus :
0 des Tyrannen ! 0 Lag, o Wut eines neuen Barbaren,
Wie ihn der Erdball trug noch niemals in früheren Jahren!
Wo ist das Volk und das Land und die Zeit, die Thaten gesehen,
Welche vor Gott und Verstand als verrucht nur können bestehen ?
Wütet so grausam ein Tier mit dem Bruder? Wer möchte das
glauben ?
— 29 —
Wird es in blutiger Gier grundlos sein Leben ihm rauben ?
Nein, was die Griechen gethan, kein Tier mocht's thun an den
Seinen !
Weh dem abscheulichen Mann, der Königen, schuldlosen reinen^
Brachte Verderben und Not, der den Vater geblendet, dem Sohne
Meuchlings gegeben den Tod und so nah doch gestanden dem-
Throne I
Aber er büsst es und schwer ! Der Tyrann soll, will sich gebühren,.
Bald, was gesündiget er, an dem eigenen Leibe verspüren !
Schimpflich gestossen yom Thron wird fahren er lassen die Beute,
Allen verhasst, und den Hohn nur schmecken der eigenen Leute t
Arm, in Verbannung geschickt, landflüchtig, die Augen geblendet,
Kummergebeugt und verzagt, für die ünsern ein Schuft, von dem
Sein'gen
Ebenso bitter verklagt, wird Lachen und Schelten ihn pein'gen,^
Bis in gemeinsamem Zorn auf den Fels ihn sie führen und zwingen
Dort mit dem Kopfe nach vorn in den Tod durch die Lüfte zu
springen !
Ja, die Gerechtigkeit fand hart strafend der Sünder, den schweren r
Blutend besudelt den Sand sein Leib, den die Geier verzehren !
Welche so grausam geblickt, — wird Spott nur nach ihm gesendet t
XIV.
Als nun der grausame Mörder nach der Erdrosselung de&
jungen Fürsten den Thron erstiegen, befahl er, die Nachricht
von seiner Frevelthat noch einige Zeit hintanzuhalten und zu
untei-drücken, damit sie nicht den Unsrigen im Lager draussea
zu Ohren komme, bevor er noch eine andere Arglist erprobt
habe. Fortwährend schickte er nämlich unter dem Namen des
Alexis Boten an die Fürsten unseres Heeres mit der Einladung^
sie möchten doch aus dem Lager zu ihm kommen, um das-
versprochene Geld und noch reichere Geschenke der königlichen
Freigebigkeit in Empfang zu nehmen. Als diese das hörten^
trafen sie, als Männer von christlicher Einfalt und keinerlei
Betrug ahnend, eiligst Anstalt, in die Stadt zu gehen. Fürch-
teten sie doch nichts weniger, als dass der neue König, den
sie selbst erhoben hatten, schon in so kurzer Frist aus dem
W^ geschafft, sein könnte I Es war aber ein sehr kluger Mann
unter ihnen, der Anführer der Venetianer, blind, doch hell-
sichtigen Geistes, bei dem Kraft des Gemütes und Klugheit
das fehlende Augenlicht reichlich ersetzten. Die anderen
pflegten ihn immer bei bedenklichen Dingen sorgfaltigst um
Rat zu fragen und in den gemeinsamen Angelegenheiten nach
seinen Weisungen vorzugehen. Als sie ihn nun nach ihrer
Gewohnheit auch diesmal befragten, was er von der Sache
halte, riet er ihnen ab, sich aus Liebe zum Geld der Hinterlist
— 30 —
<ler Griechen preiszugeben. Er fürchte sehr (und das war ja
inzwischen eingelroften I)^ dass der junge Alexis von seinen
Landsleuten schon ermordet worden sei, oder dass er, durch
:sie verführt, als echter Grieche, im Vereine mit ihnen auf
unser Verderben sinne. Während also die Fürsten hierüber
-eingehend beratschlagten, die Gesandten aus der Stadt dagegen
immer dringender sie einluden, kam das Gerücht von dem
«Geschehenen ins Lager und erfüllte das ganze Heer mit gewal-
tigem Schrecken. Sah man sich doch jetzt recht eigentlich in
Feindesland, inmitten eines niedertrachtigen Volkes und den
Mann aus dem Leben gerissen, den man soeben mit starker
Hand und Furcht verbreitend als König eingesetzt hatte, der,
-wenn er noch lebte, allein den Wahnsinn der Griechen dämpfen
und den Unsrigen eine kräftige Stütze sein konnte, der sie
«icher und wohlbehalten aus seinem Reich an das Ziel ihrer
Pilgerfahrt zu befördern vermochte ! All das sahen sie jetzt
vereitelt ; von dem neuen König und seinen Unterthanen
konnten sie mit vollster Gewissheit nur den Tod erwarten!
Was sollten sie nun beginnen ? Was konnten die Pilger hoffen
in solcher verzweifelten Lage, zumal sie nicht den geringsten
Zufluchtsort hatten, um auch nur für eine Stunde von einem
feindlichen AngrilT sich zu erholen ? Sollten sie an die Griechen
•den Krieg erklären und dadurch versteckte Feinde, als welche
■sie dieselben längst kannten, zu offener Feindseligkeit heraus-
ibrdern? Ach, die Zahl der Griechen war unermesslich und
konnte noch täglich wachsen, da sie im eigenen Lande waren
•und alles ihnen reichlich zu Gebote stand ! Die Unsrigen
•dagegen waren schwach an Zahl und ohne Hilfsmittel mitten
•unter Feinden, von denen sie, so zu sagen, nur erwarten
konnten, was sie ihnen mit der Schärfe des Schwertes aus
•dem Leibe schnitten ! Dazu drückte sie noch besonders der
<jedanke nieder, dass das versprochene Geld zum grossen Teil
verloren war ! In der Hoffnung auf dasselbe hatten sie ihren
Abzug verzögert und die eigentliche Kasse des Pilgerzuges zu
anderen Zwecken angegriffen. Trotzdem fassten sie den Ent-
^chluss (und das schien unter solchen Umständen das Beste),
ihre Furcht, die sie doch nicht los werden konnten, zu ver-
hehlen, den Feinden mit einer Belagerung zu drohen und zur
Rächung des erwürgten Königs die Uebergabe der Stadt zu
verlangen samt allen Bürgern und jenem verabscheuungs-
^ürdigen Mörder, auf dass sie gedemütigt werde und die
Schuldigen mit dem Tode bestraft. Durch diese trotzige
Forderung wurde den Griechen ein solcher Schrecken einge-
jagt, dass sie sich kaum aus ihren Mauern wagten, namentlich
aus Angst vor unseren Schleudermaschinen, deren Wirkung
— 31 —
ihnen um so fürchterlicher und verderblicher schien, je weniger
sie selbst die Handhabung kannten. Mittlerweile hatten die
Unsrigen ihren Mut gestärkt und waren auf beides gefasst :
entweder sich zurückzuziehen, wenn sich eine ehrenvolle«
geeignete Gelegenheit böte, oder die Feinde anzugreifen und
durch sie und mit ihnen den Tod zu erleiden, falls sie doch
es wagten, aus ihren Mauern zum iKampfe auszufallen. Denn
auf Sieg über eine solche Uebermacht oder auf die Erstürmung
der Stadt durften sie nicht hoffen ; dazu war diese zu stark,
und andererseits wuchs die Zahl der Feinde tagtäglich in
unberechenbarem Masse. Aber je eifriger unser Heer einen
Zusammenstoss wünschte, um mit den Feinden den Tod zu
finden, desto beharrlicher scheuten sich diese, den Sieg mit
ihrem Leben zu bezahlen, zumal sie voraussahen, ' dass die
Pilger in dem feindlichen Land bald Mangel leiden würden,
während sie selbst in ihrer Stadt in Ueberfluss schwelgten.
Höret, nan will ich euch singen von nenen, erstannlichen Dingen;
Bücher der Vorzeit bringen von nirgends ein solches Gelingen!
Oder wer hätte vernommen, dass viele vor wenigen Frommen,
Statt ans den Mauern zu kommen, sich bargen, von Aengsten be-
klommen ?
'Wenige Tapfere wagen mit tansenden, ohne zu zagen.
Sich bis zum Tode zu schlagen, um Tod in die Feinde zu tragen !
Furcht mag keinen entfärben! Im Blutbad wollen sie sterben,
Bieten die Brust dem Verderben und Heil nicht fliehend erwerben !
yfas auch das Schicksal beschlossen, der Kranz muss ihnen doch
sprossen,
Wenn für das Blut der Genossen sie griechisches reichUch ver-
flossen !
Kann sie ein Bangen bethören ? 0 nein, fest stehen sie und schwören,
Stürmend die Stadt zu zerstören, obgleich sie dem Tod schon ge-
hören !
Hat dann der Kampf sich entsponnen, so bleiben sie kühn und
besonnen,
Selbst wenn zu zweifeln begonnen das Herz, ob die Schlacht sie
gewonnen !
Tapferen ist es ja eigen, wenn auf die Besorgnisse steigen,
Heimliche Furcht zu verschweigen und fröhliche Mienen zu zeigen !
Oft dann wird es geschehen, dass wunderbar, kaum zu verstehen.
Wieder das Glück aufgehen die ganz schon Verzweifelten sehen!
So isf s hier auch gekommen : denn just als die Hoffnung ver-
glommen,
Hat das Geschick für die Frommen noch günstige Wendung ge-
nonunen.
— 32 —
XV.
Unser Heer hatte sich also, wie gesagt, vor der königlichen
Hauptstadt gelagert, aber ohne auch nur einen Schimmer von
Hoffnung, sie einzunehmen. Zahllose Burger virohnten in ihr,
und an allen Schätzen herrschte Ueberfluss. Zudem war sie so
stark befestigt, dass sie schon von einer handvoll Leute gegen
zahlreiche Feinde verteidigt werden konnte. Die Stadt bildet
nämlich ein Dreieck, wie diejenigen versichern, die sie gesehen
haben. Jede Seite ist eine Meile lanj?. Nach dem Lande zu ist
sie von einem mächtigen Wall und einer dreifachen festen
Mauer umschlossen; rings herum entragen derselben starke
Türme, die so nahe beisammen liegen, dass ein siebenjähriger
Knabe von einem Turm zum andern einen Apfel werfen kann.
Die Bauart der Gebäude im Innern der Stadt aber, nämlich an
den Kirchen, den Türmen und den Häusern der VornehmeD
kann kaum ein Mensch beschreiben, und wer sie beschriebe^
würde nicht Glauben finden. Das muss man mit eigenen Augen
gesehen haben ! Auf der Seeseite, da wo der Hellespont, der
Asien von Europa trennt, die Stadt bespült und an einigen
Stellen so schmal wird, dass der Blick von Ufer zu Ufer reicht,
auf der Seeseite, sage ich, wo wegen des belebten Hafens, der
zu den sichersten und berühmtesten gehört, kein Wall her-
gestellt werden konnte, sind die Mauern von ganz erstaunlicher
Dicke, imd die Türme, dicht nebeneinander, in einer Höhe
aufgeführt, dass jedermann davor zurückschreckt« den Blick
nach ihrer Spitze zu erheben ! Aber nicht von Anfang an hatte
die Stadt die gegenwärtige Festigkeit und Schönheit. Vor Altei^
war sie wie alle anderen Städte und hiess mit ihrem griechi-
schen Namen Byzanz, weshalb auch die Goldmünzen, welche
man dort zu schlagen pflegte, heutzutage Byzanzer genannt
werden. Erst später gelangte sie zu der jetzigen Pracht und
Herrlichkeit, und zwar aus Anlass eines Gesichtes im Königs-
schloss, wovon wir noch sprechen werden. Obschon dieses Ge-
sicht nur kurz währte und unbedeutend scheint, war es doch,
wie die Folge zeigte, der Vorbote einer wichtigen Sache. Wie
nämlich zuweilen kleine Ereignisse durch grosse Gesichte an-
gedeutet werden (man denke nur an den Traum Josephs, wo
die Sonne, der Mond und elf Sterne seinen Vater, seine Mutter
und die elf Brüder bezeichnen), so finden wir auch manchmal
durch unbedeutende Gesichte grosse und wichtige Dinge ange-
deutet, wie bei dem Gesichte Daniels, wo, wie wir lesen, durch
einige Tiere die mächtigsten Weltreiche dargestellt werden.
Deshalb täuschen sich auch diejenigen, welche glauben, es sei
— 33 —
kein Unterschied unter den Erscheinungen, die sie im Schlafe
zu sehen meinen, all das sei Blendwerk und enthalte nicht das
mindeste Geheimnis.
Glaube mir: häufig enthalten im Schlammer geschante Gestalten
Wahres far künftige Zeiten. Das soll kein Mensch mir bestreiten !
Wahres verkünden die Tränme ; nicht jedesmal nennen wir Schäume,
Was wir, yom Schlaf überwunden, im Bild so deutlich empfunden.
Joseph mag es bezeugen : der Traum, wo die Garben sich beugen,
Ob man in Blut eintauchte das Kleid und die Lüge gebrauchte,
Dass er Ton Tieren zerrissen, erfüllte sich doch, wie wir vrissen !
Er, der die fruchtbaren Tage, wie Hunger und Teuerungsplage
unter den « sieben > Aehren voraussah, kann es bewähren!
Nebukadnezar desgleichen, erkennend die Träume für Zeichen
Seines Verderbens und zagend um Deutung den Daniel fragend,
Kann es lebendig bezeugen. Den Gott, dem die Himmel sich beugen,
Den er verachtet, bekannte der Knecht nun, an den er sich
wandte! —
Schreitet die Nacht auf den Wegen, so tritt manch Bild uns ent-
gegen.
Schauen im Traum wir Gestalten, die tief aus dem Blut uns ent-
wallten.
Manchmal sind es nur wilde, verworren gedachte Gebilde,
Welche Phantasmen benennen die Griechen ; doch wo zu erkennen
Mehr als luftige Schäume, da heisst man Gesichte die Träume.
Solchergestalt ist gewesen das Bild auch, von dem ich gelesen
Oft mit bedächtigen Mienen, dass einst es dem König erschienen.
XVI.
Jenes Gesicht also, das, yfie gesagt, den Anlass zu der Schön-
heit und dem Ruhme dieser Stadt gegeben hat, wird auf
folgende Weise erzählt und auch in Büchern geschildert:
Konstantin, der Kaiser der Griechen und Romer, über-
liess nach der berühmten Schenkung, durch welche er zum
Dank für die wunderbare Wiederherstellung seiner Gesundheit
und die Vertreibung des Aussatzes, Christum selbst als seinen
Helfer und Heiland, und die beiden seligen Apostel Petrus und
Paulus sowie den damals regierenden Papst Sylvester, ja
die ganze christliche Kirche königlich geehrt hatte, seine
bisherige Hauptstadt Rom dem heiligen Petrus, zog nach
Griechenland und erwählte vor allen anderen Städten Byzanz
zu seinem Wohnsitze. Als er nun dort eines Nachts auf
seinem königlichen Lager schlafend ruhte, sah er im Traume
eine uralte tote Frauengestalt und den heiligen Papst Sylvester,
welcher zu ihm sagte: «Du kannst und sollst sie ins Leben
zurückrufen!» Der Kaiser folgte dem Wort, erweckte sie, und
3
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— JM —
sah eine ^wunderschöne Jungfrau vor sich, deren keuscher Lieb-
reiz seinen Augen so wohlgeGel, dass er ihr ein königlich Ge-
wand anlt^gte und auf ihr Haupt seinen Slirnreif setzte. In
diesem Augenblicke erschien auch seine Mutter Helena und
sprach zu ihm : cDiese Jungfrau, mein Sohn, wirst du als Ge*
mahlin besitzen bis an das Ende der Zeiten, und ihre Schönheit
wird nicht aufhören h — Der Kaiser erzählte dieses Gesicht
verschiedenen Personen, und da ihm der eine diese, der an-
dere jene Auslegung gab, so beschloss er, ununterbrochen zu
fasten, bis ihm Christus durch seinen Knecht Sylvester die Be-
deutung erklären würde. Als er nun sieben Tage gefastet hatte^
erschien ihm in der siebenten Nacht der heilige Sylvester im
Traum und sagte : cDie alte Frau, die du geschaut hast, ist
diese Stadt, welche, heruntergekommen und gleichsam schon
tot vor Alter, durch dich zu solcher Pracht erneuert werden
soll, dass sie die Königin aller Städte Griechenlands genannt
wird.» Der König, durch dieses Gesicht mehr erfreut als er-
schreckt, rief sofort aus dem ganzen Lande Maurer und Zimmer-
leute herbei, welche die Stadt vergrössern, mit Mauern und
Türmen befestigen und mit Kirchen und anderen Gebäuden
ausschmücken mussten , bis sie sich zu der gegenwärtigen
Schönheit verjüngt hatte, und, wie man sagt, Rom ähnlich ge-
worden war. Deshalb ist die Stadt auch zuweilen ein zweites
Rom genannt worden, und das umliegende Land heisst heute
noch Romania. Damit aber auch nicht die geringste Spur von
Alter zurückbleibe, liess der Kaiser den früheren Namen, der
die Leute an den ehemaligen niederen Zustand erinnern konnte,
gänzlich unterdrücken und ordnete an, dass sie K 6 n s t a n t i no-
polis heisse, nach seinem eigenen Namen und dem griechi-
schen Worte «polis)», welches Stadt bedeutet. — Diese Stadt also
belagerten die Unsrigen, wie gesagt, von der Landseite, mehr
freilich durch die Umstände dazu gedrängt (denn sie durften
ja aus den mitgeteilten Ursachen nichts anderes zu thun wagen)
als in der Hoffnung auf einen siegreichen Ausgang, zumal die
Stadt für uneinnehmbar galt. Und als sie auf der Landseite
1204 keinen oder nur geringen Erfolg hatten, entschlossen sie sich,
auf der anderen, der Seeseite, nicht sowohl das Glück als
vielmehr unter grosser Gefahr die Macht göttlicher Hilfe zu
erproben, ohne welche, wie sie wussten, doch nichts vollbracht
werden konnte. Sie stiegen also auf ihre Schiffe, gaben sich
zum Schrecken der Feinde den Anschein zornigen Ungestüms,
setzten über die Meerenge, nahmen heldenmütig am Ufer der
Stadt gegenüber Stellung und begannen eingehend zu beraten,
wie nun nach dieser Aenderung des ursprunglichen Planes die
Sache zum Tod oder zum Sieg hinauszuführen sei.
— 35 —
Aber was than? wo finden sie Bat, wo greifbare Ziele?
Baben sie Macht, und zu hoifen ein Becht selbst nur auf den Zufall,
Sie, die an Zahl so gering, ein Häuflein wehrloser Pilger,
Fussvolk meistens, ein Heer, das weder mit Helmen bewal&iet,
l^och mit Panzer und Schild, das alles entbehrt, was der Krieger
Braucht, wenn er Städte bestftrmt, um das Steinegeschleuder Yon
oben
Und der Geschosse Gewitter mit kräftigem Arm zu empfangen
Und zu verscheuchen den Tod, so oft im Gesphoss er herabsanst?
ZahUose Schiffe dagegen am starken, befestigten Ufer,
Beichlich bemannt mit tapfren Matrosen und griechischen Truppen,
Sehen sie vor sich, bereit, auf der See zu bedrohen die Pilger !
Hoch auf den Zinnen der Türme, dem Bande der ragenden Mauer
Stehen die Bürger in Haufen, die Hände gerüstet, um herzhaft
Steine herunter zu werfen und Balken und Lanzen und Pfeile,
Oder die Schiffe des Feinds zu verbrennen mit griechischem Feuert
Gegen so viele Gefahren des Todes vermochten die Unsren
Nirgends sich recht zu behaupten, nachdem sie verlassen das Fest-
land;
BuheloB stets auf schwankendem Kiel von den Fluten geschaukelt,
Konnten sie auch die Belagerungsgeräte, die Schleudermaschinen
Nicht aufstellen und bringen in Gang auf sicherem Boden.
xvu.
Aus den zahllosen feindlichen Schiffen brachen von Zeit
zu Zeit einige besonders leichte und schnelle hervor, um die
Unsrigen zu reizen und ihre Tapferkeit durch solch plötzlichen
Ueberfall auf die Probe zu stellen. Aber man fuhr ihnen ent-
gegen und trieb sie mit Spiessen und Pfeilen und namentlich
durch den Schreck der Wurfmaschinen ohne grosse Mühe
zurück« Da fragten die Unseren wieder jenen blinden, aber
scharfsichtigen Mann, den oben erwähnten Anführer der Vene-
tianer, um seine Meinung und erhielten von ihm den Rat, auf
jedem ScfaiiT in der Nähe des Mastes noch andere hohe, starke
Bäume aufzurichten, sie fest in den Schüfsrumpf einzufügen
und dann mit dem Mastbaum selbst und unter sich durch
Taue stark zu verbinden, dass sie ihnen gewissermassen wie
Holztürme, wie Schanzwerke zum Schutze dienten. An diesen
Bäumen, die in einer gewissen Entfernung von einander auf-
zustellen seien, sollten sie dann auch eine Art von Stufen an-
bringen, auf denen je vier oder sechs beherzte Männer zur
Verteidigung der Schiffe imd um die Femde von oben herab
zu bekämpfen, schnell auf- und absteigen könnten. Das geschah
denn nun auch, und jene Türme, oder, wenn du lieber willst,
jene Treppen wurden in einer Höhe ausgeführt, dass sie zum
grössten Teil alle Türme und Vorrichtungen der Griechen über-
— 36 —
ragten. Auch befestigte man sie und die Schiffe auf allen Seiten
mit solcher Kunst, dass die Unsrigen fortan weder Geschosse
noch Steine, weder das gewöhnliche noch das sogenannte
griechische Feuer zu furchten hatten. Nachdem sie die Schifie
so ausgerüstet, fuhren sie näher an die Stadt heran und be-
schlossen, zunächst in der Eroberung des Hafens und der feind-
lichen Flotte die Gunst Gottes zu erproben, damit sie sich, auf
dieser Seite einmal erst gesichert, desto getroster und leichter
an den Sturm auf die Mauern und Türme machen könnten.
Dieser Hafen war aber an sich schon ein sicherer Zufluchtsort
und überdies noch durch eiserne Ketten von ausserordentlicher
Grösse abgesperrt, die von einem Ende zum andern liefen und
samtliche Schiffe sozusagen unter gemeinsamem Verschluss
hielten. Die Unsrigen durchbrachen diese Ketten mit vieler
Mühe; die Griechen aber ergriff, namentlich vor den Wurf-
maschinen, die sie nicht aushalten konnten, ein solcher Schreck,
dass sie flohen und ihre Schiffe den Siegern zurückliessen,
welche dieselben natürlich sofort als willkommene Kjriegsbeute
in eigenen Gebrauch nahmen. Dann wurden die Turmschiffe
so weit als möglich an die Mauer herangebracht, und während
schon etliche Tapfere auf Leitern hinaufkletterten, verkündeten
Heroldsrufe, dass, wer zuerst die feindliche Mauer ersteige,
100 Mark als Siegerlohn erhalten sollte. 0, wie eifrig begehrten
da alle, was doch nur einem zu teil werden konnte, nicht
sowohl aus Verlangen nach dem verheissenen Gelde, als zur
Ehre Gottes, zum Nutzen der gemeinsamen Sache, zum Gewinn
des begonnenen Werkes I Während die einen schon auf den
obersten Sprossen standen und dort sich behaupteten, kletterten
die anderen so hastig nach, als wollten sie die obersten mitten
unter die Feinde treiben und selbst ihnen nachstürzen! Und
nun kriegen sie von oben den Feind unter sich und über-
schütten ihn mit einem furchtbaren Hagel von Lanzen, Wurf-
spiessen und Pfeilen, so dass er von Unruhe und Schreck nicht
weisS; was dagegen anfangen, und in grosse Bedrängnis gerät*
Die Furcht vor den Wurfmaschinen und das Ungestüm der
Angreifer lähmte die meisten förmlich, zumal dies Volk schon
von Natur feig ist! Und als nun einer sich zeigte, der als
erster auf die Mauer sprang, als andere blitzschnell ihm folgten,
da fasste die Bürger unaufhaltsam bleiches Entsetzen ! Schon
sehen sie den Feind in ihren Reihen, laufen allenthalben die
Mauer entlang auseinander und stürzen in wilder Flucht davon,
als ob sie nach dem Verlust der Mauern in ihrer Stadt, die
sie unter dem Schutz derselben nicht hatten verteidigen können,
noch Sicherheit zu finden vermöchten ! Die Unsrigen aber ver-
teilten sich rasch auf die Mauer und machten sich an die Be-
— 37 —
Setzung der Türme. Schon waren ihrer fünfzehn oder mehr
eingedrungen, als die Feinde gleichsam Atem schöpften und
teils von Scham, teils von der augenscheinlichen Gefahr ange-
spornt, wieder einigen Mut zu fassen hegannen. Sie ermunterten
sich gegenseitig und drangen zugleich mit Greschrei und einem
Hagel von Geschossen aller Art auf die Stürmenden ein. Das
ersah ein deutscher Graf und gab sofort den Befehl, die Stadt
auf einer Seite in Brand zu stecken, damit die Griechen unter
der doppelten Bedrängnis des Kampfes und der Feuersbrunst
leichter überwältigt würden. Das geschah und that seine Wir-
kung. Durch die Klugheit dieses Mannes besiegt, wandte sich
der Feind jetzt völlig zur Flucht, während diejenigen der Un-
seren, welche schon innerhalb der Mauern Fuss gefasst hatten,
die von den Griechen durch Steine und Gebälk sorgfältig ver-
rammelten Thore frei machten, sie aufschlugen oder aufbrachen
und so den noch auf den SchiiTen befindlichen Gefährten den
ersehnten Zugang eröffneten. Das geschah am Palmsonntag; 12. April
Gott hatte es so gefügt: das Heer Christi sollte siegreich in
die treulose Stadt eindringen just an dem Tage, an welchem
Christus zum Triumph seines Leidens in die heilige Stadt
Einzug gehalten.
Dringet hinein, ihr heisst jetzt Christi heilige Streiter,
Dringet hinein in die Stadt, die Christas gegeben dem Sieger!
Malt ench Christam vor Angen, den König des Friedens, der heute
Fröhlichen Blickes voran euch zieht, sein Eselein reitend;
Ihr schlagt Christi Kriege, vollendet, was Christas als Richter
Strafend verhangt, and es schwebt sein Wille vor eueren Waffen!
Dringet hinein mit Drohen auf die Feigen, und treibt sie zu Paaren,
Donnert den Schlachtruf, schwinget das Schwert, doch kargt mit
dem Blute!
Stürzt sie in Angst, doch denket dabei, dass Bruder es seien,
Die ihr bedrängt, obgleich sie^s verdient durch lange Verschal-
dang!
Each will Christas begaben mit ihren, der Schuldigen, Gütern,
Dass kein heidnisches Volk im Triumph sie künftig beraube !
Siehe, Geb&ade mit strotzenden Kammern, sie stehen euch offen;
Manch uralter Besitz wird neue Besitzer bekommen.
Aber bezähmt einstweilen den Sinn und zugelt die Hände,
Schiebet die Stande hinaus and verschmäht jetzt Beate zu
machen !
Stürzt in den zagenden Feind und bedrängt die Geschlagenen
furchtbar,
Lasst sie zu Atem nicht kommen, nicht wiederum Kräfte gewinnen !
Erst wenn ganz aus der Stadt ihr verjagt habt sämtliche Feinde
Wird für die Beute dem Sieger erscheinen die richtige Stande !
— 38 —
XVIII.
So standen also die Thore offen, und von den Schiffen drangen
die Unseren herein mit lautem Freudengeschrei! Welch ein
Schreck für die Feinde, als ihnen nun Lanzen, Schwerter, Wurf-
maschinen, Pfeile und Geschosse jeder Art Tod und Verderben
zu bringen schienen, während die Pilger im Grund gar nicht
die Absicht hatten, blindlings Blut zu vergiessen. Trieben sie
doch das Volk wie zerstreute Schafe durch alle Strassen der
Stadt vor sich her ! In solcher Masse floh es, dass selbst die
grosse Breite der Strassen kaum ausreichte, den Flüchtigen
Raum zu gewähren. Furchtbar und ungestüm war der Feind
auf ihren Fersen ; er Hess sie weder Atem holen, noch einen
Blick zurückwerfen I Aber obgleich die Unseren den Feinden
eine Niederlage bereiteten, grosser, als sie jemals zu hoffen
gewagt, fielen von ihnen selbst doch nur sehr wenige. Auch
übten sie möglichste Schonung im Kampf, da sie ja von den
Greistlichen im Kreuzheer, von Martinus nämlich und den
anderen, häufig ermahnt worden waren, ihre Hände, soweit es
angehe, von Blutvergiessen fern zu halten. Gleichwohl blieben
an diesem Tag etwa 2000 Bürger, aber nicht durch das Schwert
der Unseren, sondern durch eine Anzahl Franzosen, Italiener^
Venetianer, Deutsche und Leute anderer Nationen, welche
vorher in der Stadt gewohnt, aber in der Zeit der Belagerung
als des Verrates verdächtig ausgewiesen worden waren und
sich den Unsrigen angeschlossen hatten. Diese gedachten der
ihnen widerfahrenen Unbill und nahmen an den Griechen
grausame, fürchterhche Rache ! Von den Unsrigen ist über-
haupt eigentlich nur ein Mann gefallen, ein berühmter Ritter
von edelstem Blut, der die Feinde zu hitzig verfolgte, dabei
unvorsichtigerweise mit seinem Rosse in eine Grube stürzte
und von allen Gefährten mitten in der Siegesfreude herzlichst
bedauert wurde. Als nun die Feinde sämtlich besiegt und
elendiglich aus der ganzen Stadt vertrieben waien, wurden die
Thore wieder sorgfaltig geschlossen, und jetzt erst erlaubten
sich die Sieger nach Beute zu schauen. Es war ihnen nämlich
bei Todesstrafe verboten gewesen, ehe der Sieg völlig gesichert
sei, an Beute zu denken. Da fanden sie nun bei jedem Schritt
Gold- und Silbergeld in Haufen, einen blinkenden Schatz von
Edelsteinen und Gewändern, einen Ueberfluss an kostbaren
Waren, eine Fülle von Nahrungsmitteln und so herrliche, mit
allem Wohlleben ausgestattete Häuser, dass sie mit einem Schlag
aus armen Ankömmlingen reiche Bürger wurden ! Inzwischen
aber hatte die Feuersbrunst fast ein Drittel der Stadt verwüstet,
da Einwohner wie Fremde, durch nähere Gefahr beschäftigt,.
— 39 —
an das Loschen der ungehindert um sich greifenden Flammen
nicht hatten denken können. Weiber und Kinder und gebrech-
liche Greise, welche, unfähig zur Flucht, in der Stadt zurück-
geblieben waren, legten, wo sie die Unsrigen trafen, zwei
Finger in Kreuzform und sangen dazu ganz kläglich : « Aiios
phasileos marchio!» d. h. «heiliger König und Markgraf.» Sie
thaten das, weil die Griechen von den Unsrigen den Mark-
^fen noch am meisten kannten und ihn deshalb für den
höchsten Fürsten hielten, der ohne Zweifel der künftige König
der eroberten Stadt sein werde. Aber Gott hatte es anders be-
.schlossen.
Hier mag klar man erkennen, dass Glück ein Spiel nur zu nennen ;
Wertlos sind nnd geringe dem Schicksal menschliche Dinge !
Nichts kann bleiben ja; schnelle verändert noch immer die Stelle
Irdischen Glückstems Prangen, nach dem wir geschaut mit Ver-
langen !
Wen in die Höhe geschnellet das Glück, wird wieder zerschellet;
Hente zermalmt ihn der Wagen, der gestern noch stolz ihn ge>
tragen !
Diesen ans ärmlichem Leben zn Reichtum wird es erheben,
Jenen aus schimmernden Schätzen in dürftige Lage versetzen!
Weder die Furcht wirds quälen, in Willkür immer zu fehlen,
Noch ein erbarmend Bedenken, was mein i^t, dir zu verschenken ! —
Barren des gelben Metalles (das Galliern geht über alles!),
Silber der Ahnen, verstecktes, vom Blut der Verteidiger beflecktes,
Musste dereinst den Argivem das glänzende Ilium liefern,
Als es von ihnen geschlagen, und all das wurde getragen
Dann nach B y z a n z , aus der alten die stolzere Stadt zu entfalten
Mit dem veränderten Namen, dem bessere Schicksale kamen.
Hellas, das reiche, bescheerte die Bürger ihr, weithin geehrte,
Und die gesammelte Beute des Ruhmes von früher und heute :
Schätze, geraubet dem Mute der Troer, bespritzt noch vom Blute,
Alles (wer kann es ermessen?), was Köstliches Friam besessen.
Alte Gefässe von Golde, von Silber, so schwer man es wollte,
Perlen nnd herrlich Geschmeide und Kleider von Sammet und Seide !
Sehet, so hat, wie ich glaube, bereichert mit zahllosem Raube
Konstantinopel vor Zeiten der Herr, um geheim zu bereiten,
Dass einst fröhliche Sieger, auf ihn nur trauende Krieger,
Dorten den Raubschatz fänden, gesammelt von früheren Händen.
Zukunftsmächtig in Stille regiei*t so der göttliche Wille;
Gott hat alles versehen ; wie Er will, muss es geschehen.
XIX.
Während nun die Sieger die eroberte Stadt, die sie nach
Kriegsrecht jetzt als ihr Eigentum betrachten konnten, fröhlich
plünderten, fing auch der Abt Martinus an seine Beute zu
denken an und beschloss, um nicht leer auszugehen, ^o sich
— 40 —
alle anderen bereicherten, seine geweihten Hände gleichfalls
nach Raub auszustrecken. Dabei hielt er es aber für unwürdig,
mit solchen Händen gemeine, weltliche Beute zu berühren, und
richtete deshalb sein Augenmerk darauf, einen Teil von Re-
liquien der Heiligen zusammenzubringen, wovon, wie er
wusste, in der Stadt eine grosse Menge vorhanden war. Von
einem seiner beiden Kaplane begleitet, schritt er in der Vor-
ahnung grosser Dinge auf eine Kirche zu, die in besonderer
Verehrung stand, weil die Mutter des berühmten Kaisers
E m a n u e 1 ihre fürstliche Gruft darinnen hatte. Den Griechen
galt diese Statte für höchst wichtig, den Unseren dagegen war
sie an sich ganz gleichgiltig. Aber es wurde in ihr aus der gesamten
Umgegend eine Menge Gold aufbewahrt, sowie kostbare Re-
liquien, die man in der vergebUchen Hoffnung, sie hier gesichert
zu wissen, aus den benachbarten Kirchen und Klöstern in diesem
Gotteshause aufgespeichert hatte, was vor der Eroberung der
Stadt den Unsrigen von den durch die Griechen Vertriebenen
mitgeteilt worden war. V\rährend nun viele Pilger auf einmal
in diese Kirche eindrangen und jeder mit der Erbeutung \von
Gold und Silber und anderen Schätzen eifrig beschäftigt war,
hielt es Martinus für unwürdig, Kirchenraub zu begehen,
ausser in heiligem Dienste, und suchte deshalb einen verborgenen
Raum auf, der gleichsam schon durch seinen religiösen Hauch
zu versprechen schien, dass man hier finden könne, was er so
heiss begehrte. Bald stiess er auch auf einen Greis von
schönem Angesicht mit langem grauen Bart. Es war ein
Priester, aber seiner ganzen äusseren Erscheinung nach mit
unseren Priestern nicht im entferntesten zu vergleichen. Der
Abt hielt ihn daher auch für einen Laien und fuhr ihn, obgleich
innerlich milde gesinnt, mit barscher, furchterregender Stimme
an. «He da,]» rief er, a:du treuloser alter Grieche, zeige mir
die vornehmsten Reliquien, die du verwahrst; wenn nicht,
so wisse, dass dein letztes Stündlein geschlagen hat!)» Dieser
aber, mehr durch die Heftigkeit des Klanges als durch die
Worte selbst erschreckt (denn er vernahm nur den Klang,
konnte aber den Sinn nicht verstehen und wusste auch nicht,
dass der Abt im stände sei, sich griechisch auszudrücken), be-
gann in lateinischer Sprache, die er einigermassen konnte, deo
Fremden zu beruhigen und seinen Zorn, der im Grunde gar
nicht vorhanden war, durch Höflichkeit zu besänftigen. Jetzt
aber brachte es der Abt nur mit Mühe dahin, dem Alten in
der nämlichen Sprache begreiflich zu machen, was er von ihm
verlange. Der Grieche betrachtete sich Gesicht und Aussehen
des Fremden, erwog, wie viel weniger anstössig es sei, wenn
ein Geistlicher mit frommer Ehrfurcht die heiligen Reliquien
— 41 —
an sich nehme, als wenn vielleicht Laienhände sie mit Blut
befleckten, schloss darum endlich die eiserne Truhe auf und
leigfte den begehrenswerten Schatz, welcher dem Abte M ar-
tin us lieber und erwünschter däuchtc als alle Herrlichkeiten
Griechenlands. Ihn schauen und mit beiden Händen begierig
IQ den Schrein greifen, war bei dem Abte das Werk eines
Augenblickes. Rasch entschlossen, wie es seine Art war, füllte
er sich die Taschen mit dem heiligen Kirchenraub (das Gleiche
Ikat sein Kaplan), verbarg wohlweislich, was ihm das wert-
vollste schien, und ging mit schnellen Schritten hinaus. Was
für Reliquien es waren, die der heilige Mann auf diese
Weise erbeutete, und wie grossen Wert für die Andacht sie
haben, darüber wird am Schluss dieses Büchleins das Nötige
gesagt werden. Als er nun (wenn ich so sagen darf) solcher-
gestalt ausgestopft nach den Schiffen eilte, sahen ihn Freunde
und Bekannte, die just von den Schiffen zur Beute liefen, und
forschten ihn scherzhaft aus, ob er etwa selbst geplündert habe
und mit was für Dingen belastet er da des Weges komme. Er
aber sagte mit seinem gewöhnlichen heiteren Ausdruck freund-
lich die Worte : a; Uns ist es gut ergangen ! » Und als man ihm
ein «Gott sei Dank» zur Antwort gab, schritt er schleunigst
weiter, weil ihm jeder Aufenthalt lästig war, kehrte in sein
Schiff zurück und stellte die geliebte Kriegsbeute dort einstweilen
ab in seinem keuschen, reinlichen Schlafraume, bis sich der laute
Lärm in der Stadt legen würde. Auf dem Schiffe verharrte er
dann noch drei Tage in eifriger Andacht, ohne dass jemand
in die Sache eingeweiht war, ausser dem Kaplan und dem Greise,
der ihm die Heiligtümer übergeben hatte und sich nun vertraut
an ihn anschloss, da er sah, dass er es mit einem wohlwollenden
und freigebigen Manne zu thun habe. Ebenderselbe besorgte
ihm auch dienstfei'tig bei einer der Kirchen der Stadt mittler-
weile eine anständige und bequeme, seinem Stand angemessene
Wohnung. Und als dann die Ruhe wiederhergestellt war,
siedelte der Abt mit jenem Kaplan und dem heiligen Geheimnis
in dieses Quartier über und verweilte darin den ganzen
Sommer, die Reliquien in ununterbrochener Inbrunst hegend
mit einer Verehrung, die zwar heimlich, aber desto andächtiger
war und durch die Innigkeit ihrer Hingabe die öffentliche
Anbetung ersetzte. Und er blieb gerne noch in Konstantinopel.
Denn er hatte vernommen, dass der von den Heiden verletzte
Waffenstillstand erneut worden sei. Auch war infolge der
grossen Umgestaltung der Verhältnisse die Schiffahrt in den
dortigen Meeren noch nicht recht sicher, ganz abgesehen davon,
dass ihn auch die Liebe zu seinen Gefährten fesselte, und er
überhaupt doch die endgiltige Entscheidung über Stadt und
tu
— 42 —
Land abwarten wollte, um in der Heimat denen, die ihn ge-
schickt hatten, bestimmte Nachricht über den Gang der Ereig-
nisse bringen zu können. — So war denn nun die berühm*
teste Stadt Griechenlands, die Hauptstadt des Reiches, ia
kürzester Zeit erobert, geplündert und von den Siegern in
Besitz genommen worden. M^en andere zusehen, welche Be-
deutung sie dieser Thatsache beilegen; ich für meine Person
bekenne, in allen Büchern der Geschichtsschreiber und Dichter
nichts Aehnliches oder gleich Grossartiges gelesen zu haben*
Ich glaube auch nicht, dass es ohne ein handgreifliches Wunder
der göttlichen Gnade einer so kleinen Schar möglich gewesen
wäre, diese starke Stadt, der ganz Griechenland zu Diensten
stand, so plötzlich und leicht am hellen Tag in die Hand zu
bekommen. Man bedenke nur, dass hier sozusagen in einem
Augenblick wenige Helden mehr gethan haben, als die alten
Dichter ihren ungezählten Tausenden vor Troja in zehn Jahren
zuschreiben.
Fabelnde Dichtkunst soll hier nicht Leichtgläubige hänseln,
Nicht Platz greifen erlogene Mär' wie bei Sängern der Vorzeit!
Kein Homer und Virgil soll täuschen die Griechen und Römer,
Beide geschickt, wie bekannt, in die Wahrheit Dichtung zu
mischen.
Einfache Wahrheit singen wir nur; was unseren Zeiten
Grosses geglückt, wir schreiben es auf in genauester Folge.
Wenn wir so fein nicht schreiben wie jene, so sicherlich
wahrer,
Und Alltägliches färben wir nicht mit täuschender Schminke.
Gleichwohl bringen in wahrem Bericht wir grössere Dinge,
Als die Poeten, so hoch man sie preise, zusammengefabelt!
Welcher Atride vermag sich zu messen mit unsem Triumphen,
Welcher der tausend trojanischen Siege des griechischen Volkes?
Schiffe besassen sie viele, gewiss zwölfhundert, und dennoch
Brachten sie Troja zu Fall kaum, als neun Jahre verflossen !
Wir hingegen errichteten kühn auf wenigen Schiffen
Ragende Türme und nahmen sogleich in der ersten Berennung
Eine bevölkerte Stadt, wie Asiens Erde nur wenig
Andere kennt, auch Afrika nicht, noch unser Europa !
Jene bewog ein Weib zu dem Kampf — Schmach ihrem Ge-
dächtnis ! —
Aber die Unsren die Pflicht, den ermordeten König zn rächen.
Ilium brachte das Pferd und des Sinon Betrug um die Mauern.
Aber der Tapferkeit nur ist Konstantinopel gefallen.
Jene verschlang auf der Heimkehr noch schier alle die Meerflut,
Aber die Unsem beherrschten die Stadt, die eroberte, fröhlich.
Also nur fort mit der Fabel, der alten, vom troischen Kriege;
Neue, berühmtere Thaten erzählt und grössre Triumphe !
— 43 —
XX.
Als nun die Stadt erobert und geplündert und jedes^
Gebäude an einen neuen Bürger verteilt war, wurde, damit
man doch nicht ohne Haupt bliebe, allmählich die Frage der
Einsetzung eines Königs in Erwägung gezogen. Es waren zwei
Männer in unserem Heere, beide sehr angesehen und berühmt,
der Harkgraf Bonifa eins von Monferrat und der Graf
Balduin von Flandern. Nur einer von diesen beiden
konnte zum König erwählt werden. Das leuchtete von selbst
an und fand den Beifall des gesamten Heeres. Weil aber
jeder von ihnen auf die Gunst und die Stimmen vieler Anhänger
zählen und doch der Eine dem Anderen nicht wohl vorgezogen
werden konnte (beide galten eben für gleich tüchtig), so schiea
es allen das Geeignetste, die Sorge der entscheidenden Wahl
auf 12 Männer zu übertragen, welche vor allen anderen im
Rufe besonderer Unabhängigkeit und hervorragender Klugheit
standen. Nach langer Ueberlegung ernannten dieselben den
Grafen von Flandern, der dann auch auf den Königsthron
gesetzt und mit dem Stirnreif gekrönt wurde. Die Provinzen
aber seines Reiches teilte man in drei Teile ; der eine stand
unmittelbar unter der Botmässigkeit des Königs, den zweiten
nahmen die Venetianer in Besitz, und der dritte, der aus-
gedehnteste von allen, Thes.salonien nämlich, wurde dem Mark-
grafen übergeben. Dieser, wie wir aus sicherster Quelle wissen,,
wollte auch unseren Martinus bei sich behalten und zum
Kschof machen. Aber der Abt, seiner Gelübde eingedenk, lehnte
das unter Danksagung ab und zog vor, wenn es Gottes Wille-
wäre, als bescheidener Privatmann zu seinen Brüdern zurück -
zakehren. — Hierauf wurden die kleineren Erwerbungen, wie
Burgen, Städte, Dörfer und dergleichen, unter die geeigneten.
Personen verteilt. Gesetze und Rechte aber und die übrigen
Einrichtungen, welche von alters her in Stadt und Land
herrschend waren, Hess man bestehen, so weit man sie löblich
fand; was dagegen verwerflich schien, wurde entweder ver-
bessert oder ganz abgeschafft. Während sich das in der Stadt
zutrug, hatte sich der Schurke M u r c i f 1 o , der schnöde-
Verbrecher, der Eintagskaiser, zu dem älteren Alexis begeben.
Im Bewusstsein seiner Schuld und aus Furcht vor der Strafe
war er schon vor der Eroberung aus der Stadt geflohen, ohne
lu wissen, wohin er sich wenden sollte, oder wo und an wem
er noch eine Stütze finden könnte. Dem Alexis hatten unsere
Fürsten, obgleich er auch ein schlechter Mensch war, mit
Rücksicht auf sein königliches Blut einen kleinen Teil des-
— 44 —
Landes zum Besitz überlassen. Als dieser nun den frevel-
belasteten Mann zu sich kommen sab, konnten ihn die Seinigen,
obwohl er selbst dem Bösewicht nicht sehr unähnlich war,
jiur mit Mühe davon abhalten, ihn mit dem Tod zu bestrafen.
Doch Hess er ihn blenden und über die Schwelle jagen, als
den Urheber so mancher Blutthat, der ihm geraten, den Bruder
2u blenden, den Neffen in den Kerker zu werfen und beide
<ies Thrones zu berauben, der dann zuletzt noch, um den Frevel
auf die Spitze zu treiben, eben diesen Neffen mit eigener Hand
erwürgt hatte! Arm und elend, allen ein Gegenstand des
Hasses, schleppte der schimpflich Hinausgestossene^ der schon
lange geistig verblendet gewesen war und sich nun auch des
leiblichen Augenlichtes beraubt fühlte, ein jammervolles Dasein
hin, heimatlos im Lande umherirrend. Als das die Unsrigen
iiörten, schickten sie Leute ab, ihn zu greifen und herzubringen.
Das war schnell geschehen ; und nun begannen sowohl die
Unseren als die in der Stadt zurückgebliebenen Griechen, den
Elenden mit Vorwürfen, Scheltworten und Schmähungen zu
ilberhäufen, ihn einen Brudermörder, einen Staatsverderber,
ein todeswördiges Scheusal zu nennen ! Darüber, dass er sterben
müsse, herrschte volle Einstimmigkeit; aber über die Art
seines Todes gab es die verschiedensten Meinungen. Die einen
:sagten, man müsse ihn mit einem Strick erdrosseln, ganz wie
er selbst seinen Herrn ermordet, andere wollten ihn lebendig
ins Feuer werfen, oder ins Meer mit einem angebundenen
Stein, oder in die Erde eingraben, oder ihm die Haut abziehen,
oder seine sämtlichen Glieder abschlagen und was man sonst
noch an entsetzlicher Strafe für einen verworfenen Menschen
aussinnen kann! Wie mag es dem Elenden zu Mute gewesen
:sein, als er so ausführlich über seinen Tod verhandeln hörte,
wenn auch der Schmerz über das verlorene Augenlicht die
Furcht vor dem nahen Tod linderte. Endlich beschlossen die
Fürsten, da der Bösewicht doch von vornehmer Geburt sei,
solle man ihn auf eine hohe Pyramide führen, dort an eine
lange Stange binden und kopfüber hinabwerfen, damit der
Mann, welcher aus königlicher Höhe plötzlich heruntergestürzt
sei, nun auch von oben in den Tod falle, auf zwar jämmer-
liche, jedoch nicht entehrende Weise. Das geschah denn auch,
und mit zerschmettertem Leib, in Schmerz und Elend, hauchte
er seinen unseligen Geist aus I
Flieg und zerbrich das Genick, da Verblendeter, würdig zu schmecken
Kreuzigung, Rad oder Strick! Flieg und zerbrich das Genick!
Hätte man doch dich verbrannt ! Wert bist du^s, gebraten zn werden;
M&nniglich hat es erkannt! Hätte man doch dich verbrannt!
Oder geflochten aufs Rad ! Wert bist dn's, geschunden zu werden !
— 45 —
Boss' auf der Folter die That oder, geflochten anfs Rad!
Stürzt über Kopf ihn ins Meer! Werft hin ihn zum Frasse den
Tieren !
Sagt ihn in Stücke vorher ! Stürzt über Kopf ihn ins Meer !
Haat ihm die Glieder vom Rumpf! Wert bist dn's, zu sterben in
Schande,
Elend im eigenen Sumpf! Haut ihm die Glieder vom Rnmpf!
Mensch mit dem Herzen von Stein, dn Scheusal, das nicht gebebet^
Mörder des Königs zu sein, Mensch mit dem Herzen von Stein l
Dich und die mit dir im Bund, sollt^ lebend begraben man ! Abscheu
Füllt mich ; ich hasse von Grund dich und die mit dir im Bund l
Schänder des Heiligsten du^ des Gesetzes Verächter, dem König
Schnürtest die Kehle du zu, Schänder des Heiligsten du !
Siehe, noch giebt es ein Recht! Schnell stürzte der Mörder, der
gleissend
Hoch sich zu steigen erfrecht! Siehe, noch giebt es ein Recht!
Fahr^ in die Hölle hinab, eidbrüchiger Räuber ! Im Abgrund
Gähnt dir ein würdiges Grab ! Fahr in die Hölle hinab !
XXI.
üeber jene Pyramide aber, von der M u r c i f 1 o herab-
gestürzt wurde (man nennt sie gewöhnlich schlechtweg «die
Säule»), kann manches Merkwürdige erzählt werden. Sie ist
aus ungeheuren Steinen erbaut, die durch Eisenklammern fest
miteinander verbunden sind ; unten fangt sie in grosser Breite
an und spitzt sich allmählich in unerm essliche Höhe zu. In der
obersten Spitze soll ein Einsiedler seine Zelle gehabt haben,
der sich eine Wohnung auf dem Erdboden versagt hatte und
nun, ohne doch den Himmel erreicht zu haben, gleichsam
zwischen beiden mitten im belebtesten Teil der Stadt Klausner
geworden war. Uralte Zeichen und Bilder sind in die Säule
eingemeisselt, welche die Weissagungen der Sibylle und
namentlich frühere Königsgestalten ^ darstellen sollen. Auch
Schiffe waren darauf abgebildet und Sturmleitern auf Schiffen
und bewaffnete Männer, welche darauf eine gleichfalls dar-
gestellte Stadt zu erobern schienen. Die Griechen hatten bisher
wenig lauf diese Sculpturen gegeben ; denn sie hielten es ja
für ganz unmöglich, dass einer Stadt, wie der ihrigen, der-
gleichen widerfahren könne. Als sie aber sahen, wie auf unseren
Schiffen Sturmleitern errichtet wurden, fingen sie endlich an,
jener Bilderschrift zu gedenken und ernsthaft zu fürchten,
was sie lange verachtet hatten. Infolge dessen zerschlugen
1 Die Stelle ist verdorben. Ich lese : snperiores regni= reges.
In der Colmarer Handschrift fehlen die Worte : «et maxime snpe-
riorem regno variis djcnntnr fignris > überhaupt.
— 46 —
^ie die Bilder mit Steinen und eisernen Hämmern und hatten
'^v^'irklich, in dem Wahne, die üble Vorbedeutung dadurch auf
uns zu kehren, die meisten derselben vollständig verdorhen.
Diese Hoffnung ging dann freilich in Trümmer, und der
Ausgang zeigte deutlich, wie richtig das Bildwerk geweissagt
«hatte. — Nach diesen Ereignissen war eine geraume Zeit ver-
flossen. Martinus erkannte, dass unser Heer ganz in den
borgen um das neue Reich aufgehe und so noch nicht im
•Stande sei, die unternommene Pilgerfahrt fortzusetzen. Der
ursprüngliche Hauptzweck, die Sache des Kreuzes, erlitt aus
verschiedensten Gründen Aufschub. Deshalb dachte er mit allen
Kräften seines Geistes nur noch daran, zu seinen Brüdern heim-
.zukehren und sich wieder der klösterlichen Regel zu unter-
werfen, die er in der Unruhe der Zeiten nicht so, wie er es
wünschte, hatte beobachten können. Obgleich er aber von
seinem augenblicklichen Aufenthaltsorte aus mit geringen
Kosten nach Venedig hätte überfahren können, wollte er
•doch mit dem, was ihm Grott beschert hatte, lieber zu den
Gefährten nach A k k o zurückkehren, um ihnen, die ihn ja
-ausgesandt, über die Verhältnisse des neuen Reiches und über
Dilles, was er personlich gesehen und gehört hatte, sichere
Nachricht zu bringen. Dann erst gedachte er allen Lebewohl
2u sagen und dem Gelübde gemäss vom heiligen Lande aus
.glücklich die Heimreise anzutreten.
Sieh', wie so fest er sich zeigt, o Leser, in allem wie standhaft!
Wie er die Dinge bedenkt, jedes nach seinem Gewicht!
Sieh'; er verschmäht der Gelegenheit Gunst, zn verkürzen die Reise;
Will übernommene Pflicht treulich erfüllen zuvor;
W^endet die Segel zurück, wünscht wieder zu seh'n die Gefährten,
Und, das geschenkte Vertrauen nie zu verletzen gewillt,
•Scheut er sich nicht, aufs neue zu trotzen den Mühen der Seefahrt,
Sondern erträgt sie mit ganz ruhig gefasstem Gemüt !
Eins nur fürchtet der Held, dass ein Zufall wieder ihm raube,
Was Gott selbst ihm geschenkt: seiner Reliquien Schatz.
Aber es blieb in der frommen Besorgnis doch stark auch die
Hoffnung,
Dass nicht Trug noch Gewalt nehmen ihm können den Schatz.
Wollte verlieren ihn lassen der Herr, was er selbst doch verliehen,
Müsste man fragen mit Fug: «Warum verlieh er es dann?»
Oder verlieh er die heiligen Trophäen dem wehrlosen Manne
Mitten im Kampfesgewühl, dass man ihm raube sie bald?
Hoffnung beseligt das Herz, und es stärkt ihn der Glaube; das
Fahrzeug
Däucht durch die heilige Fracht ihm vor Gefahren gefeit I
Hat hier Raum die Besorgnis, es könnten die Tücken des Meeres
Bringen Verderben dem Kiel, welcher so Heiliges birgt?
— 47 —
XXII.
So stieg denn Martinus — an Maria Geburt — zu Schiffe 8. Sept
mit geteilten Empfindungen, sicher und doch besorgt (denn
ganz konnte er ja Furcht und Besorgnis nicht bannen), und
landete am 1. Oktober bei Akko, wo er von seinen Gefährten,
namentlich von den Deutschen, die ihn besonders lieb hatten,
aufs freudigste aufgenommen wurde, und aber den Zustand
Griechenlands und alles, was er selbst erlebt und gehört hatte,
getreuen Bericht erstattete. Sein Geheimnis aber wollte er
niemand offenbaren, ausser einem der ehrenwertesten und
t;ipfersten Männer, Namens Wernher, welcher Deutscher
von Geburt und zwar Elsa sse r war, aus edlem Blute stammte
und, was die Hauptsache ist, durch hervorleuchtende Tugend
in der ganzen Gegend sich so hohes Ansehen erworben hatte,
das sogar die Pläne des Königs zum grossen Teil auf ihn
zurückgeführt wurden. Er war unserem Abte immer nahe ge*
standen; dieser hatte ihn schon in der Heimat gekannt und
geliebt und hegte für ihn mehr Zuneigung als für fast alle
übrigen. Als ihm nun Martinus die mitgebrachten göttlichen
Schätze zeigte, erschrak der Gute vor Freude und Furcht und
brach über die Gnade, die Gott seinem Knechte erzeigt hatte,
in laute Bewunderung aus. Und wie er nun weiter hörte, dass
der Abt die Heimkehr beschlossen habe, mahnte er mit grösstem
Eifer davon ab. Es sei kaum möglich, versicherte er, dass
solche Schätze durch die tausenderlei Gefahren zu Wasser und
zu Land, durch Seeräuber und Wegelagerer, durch all die all-
täglichen Unglücksfalle hindurch unberaubt nach Deutschland
gelangten. Deshalb ermahnte er den Abt, diese Schätze fromm
und demütig dem heiligen Lande zu weihen und selbst bei
ihnen zu bleiben. Der König und die übrigen Fürsten würden
ihm dann ein Bistum oder jede andere kirchliche Würde ver-
leiben, die er wünsche, und das dürfe er nicht ausschlagen.
Ziehe er dagegen ein stilleres, mehr klösterliches Leben vor,
so könne er, Wernher, bei dem Konig (dem er sehr nahe
stand) auch das in Aussicht stellen, ganz nach dem Wunsche
des Abtes. Es liegt nämlich in jener Gegend eine Landschaft,
die heute noch, wie schon bei den alten Schriftstellern, das
Oebii^r Karmel heisst, ein überaus fruchtbarer Strich, reich an
<ietreide und edelsten Reben, mit Oelbäumen und anderem
Holz prächtig bepflanzt und strotzend auch von üppigen Weiden.
Auf diesem Gebirge befinden sich drei Mönchsklöster, unab-
hängig von einander und jedes mit weitem Grundbesitz. Man
könne sie getrennt lassen, wie bisher, meinte Wernher, oder
vereinigen; aber jedenfalls müsse Martinus ihr Abt
— 48 —
und Oberherr werden. Und habe er lieber Bruder seines
Ordens unter sich, als fremde, so könne man ja die jetzigen
Klosterleute ganz gut anderswohin verpflanzen, der Abi aber
Männer seines Ordens in beliebiger Zahl heranziehen und das
ganze Gebirgsland für sich und seine Nachfolger in dauernden
freien Besitz nehmen. Und schliesslich, wenn er das alles aus-
schlüge, würde er von dem König und den Fürsten mindestens
Gold und Silber in einer Menge erhalten, die alles überstiege^
was er oder seine Nachfolger hoffen könnten. Dieses Geld lasse
sich dann bequemer mitnehmen und besser verbergen; auch
könne er damit auf die einfachste Art seine Kirche daheim
bereichem. Aber der Abt lehnte das alles ab und erklärte, er
habe keinen anderen Wunsch, als die Heiligtümer, die ihm
Gott verliehen^ getreulich in sein Kloster zu bringen. Trotzdem
vei*wahrte W e r n h e r als ein treuer Mann das Geheimnis und
1205 begleitete ihn mit einigen anderen Herren in gebührender
Hochachtung zu dem Schiffe, das reisefertig im Hafen lag. Als
Marti nus dasselbe bestiqj^en und man gegenseitig liebevollen
Abschied genommen hatte, kehrten die Begleiter um. Mar-
tinus aber trat (drei Tage vor Palmsonntag) mit vollen Segeln
die ersehnte Seereise an. Es sei mir gestattet, an dieser Stelle
meiner Erzählung einen Zwischenfall einzufügen, der, wenn
alles andere fehlte, schon allein hinreichend darlegen wurde,
dass die bisher gemeldeten Thaten Martini und was wir noch
weiter von ihm zu berichten haben, durchaus das Siegel gött-
licher Fügung trugen. In der dritten Nacht nämlich vor dem
Antritt der Heimreise erblickte ein ihm befreundeter Geistlicher
namens Egidius, ein geborener Böhme, dessen Sprache der
Abt nicht verstand, mit dem er also nur lateinisch verkehren
konnte und der mit ihm auf dem nämlichen Schiff zurück-
kehren wollte, nicht im Schlaf, sondern, wie er ausdrücklich
versicherte, in wachendem Zustand ganz deutlich zwei Engels^
gestalten an dem Platz, wo die heiligen Reliquien aufbewahrt
wurden. Dort hatten beide, der Abt und der Böhme, ihre ge-
wöhnliche Lagerstätte, jener, um die Heiligtümer treu zu
bewahren, dieser aber, ohne das mindeste von ihrem Dasein
zu wissen. Die Engel schienen um den ^Schrein, in welchem
die heiligen Gottesgaben verschlossen lagen, in verklärter An-
dacht zu schweben und inbrünstig Gott zu lobpreisen, dass er
sie seinem Knechte verliehen habe. Und nachdem sie ihre An-
dacht vollendet, flehten sie um die Wette eindringlich zu Gott^
er möge den Mann, dem er solche Schätze geschenkt, und alle
seine Getreuen in gnädigen Schutz nehmen. Am Morgen
erzählte Egidius dem Abt dieses Gesicht als sichere Thatsadie
und brach mitten in seinen Worten aus tiefster Gemütserschal-
r
— 49 —
terun^ in Tliränen aus. «Ich weiss nicht ^) sagte er, «wer du
bist oder woher du kommst oder was du hütest in deinem
Schrein hier; aber das weiss ich gewiss, dass Gott mit dir
ifill Deshalh will ich auf dieser Ueberfahrt nicht von deiner
heiligen Seite weichen in der gewissen Zuversicht, dass mir
auf dem Schiffe, das dich trägt, kein Unfall zustossen kann I »
Der Abt, durch das Wunder dieses heiligen Gesichtes lebhaft
bewegt, zumal er den Mann als zuverlässig, fromm und wahr-
haftig kannte, erzählte nun auch seinerseits von einem Gesicht,
das er in der nämlichen Nacht im Schlafe gehabt hatte. Es
däuchte ihm nämlich, von Akko an bis nach Sigolsheim,
der nächsten Stadt bei seinem Kloster, sei nichts als Meer, aber
ein so sanftes und sicheres, dass auch das winzigste Fahrzeug
keinen Schiffbruch zu befürchten hätte. Zudem schwebte von
Akko bis zu der genannten Stadt eine Art Schutzdach vom
Himmel, so dass nicht Wind noch Regen noch eine andere
Unbill des Meeres oder des Wetters ihm in seinem Schifflein
zu schaden vermochte. Dieses Gesicht des Abtes können wir
nur dahin deuten, dass er von Akko bis zu seinem Kloster,
wenngleich unter vielen Gefahren zu Wasser und zu Land,
durch göttlichen Schutz eine sichere Heimreise haben sollte,
und dass die Einwohner Sigolsheims, Männer und Weiber, als
die ersten von allen beim Kloster Pairis den heiligen Re-
liquien entgegenziehen würden, wie es sich auch in der That
nachher, die Wahrheit dieser Auslegung beweisend, zuge-
tragen hat.
Nnn gilVs fromm zu geloben und völlig die Kraft zu erproben !
Falt^ zum Gebete die Hände, Martinas, und bis an das Ende
Müh* dich mit treuem Verlangen, vom Himmel die Hnld zu empfangen,
Dass mit dem besten Geschenke von oben dich jetzt er bedenke,
Fälle der Lust dir bereite : dich sicher nach Hanse geleite 1
So viel Länder und Meere durchirrst du, dem Herren zur Ehre;
Feindlich gesinnte Gewalten in Menge, die wider dich halten,
Masst du bestehen und tausend Gefahren, im Meer dich nmbransend
Oder dich drängend zu Lande — wer ist sie zu zählen im stände?
Da giebt^s Winde, die blasen daher mit entsetzlichem Rasen;
Da giebt's mächtige Wogen, die haushoch kommen gezogen,
Wenn der Orkan sie, der wilde, bewegt in ein schwankend Gebilde !
Da drohen heimliche Riffe und offene Klippen dem Schiffe,
Oder des Kampfes Gefahren auf einmal mit grausen Korsaren !
Erst, auf dem Meere, Piraten, entschlossen zu schaadlichen Thaten,
Dann, auf dem Lande, Banditen und Völker mit räubrischen Sitten l
Aber was kühn du begonnen, du hast dir ein Pfand auch gewonnen,
Dass du*s beendest in Frieden : den Schatz, den Gott dir beschieden.
Ihn sollst sicher du bringen zur Heimat, und nach dem Gelingen
Dankbar den Herrn lobpreisen ; das kann ich prophetisch verheissen !
4
— 50 —
XXIII.
£s ist nicht leicht, alle Unfälle und Gefahren zu erwähnen,
vor denen der Abt und seine Schilfsgenossen, ach, nur zu
häufig erzittern mussten, e r freilich um so heftiger, je mehr
er den Schatz liebte, den er zu verlieren bangte. Aber in aller
Angst und Not gewährte ihm der Herr die Gnade seines
Schutzes in höherem Masse^ als er es zu hoffen gewagt. Oft
begegneten ihm Seeräuber ; sie kamen vielleicht eben von der
Plünderung anderer Schiffe ; aber auch, wenn sie noch aus-
lugten nach Raub, wurden sie plötzlich mild beim Anhlick
seines Fahrzeuges, grüssten es friedlich mit aller Ehrfurcht
und Hessen es unangefochten vorübersegeln oder richtiger :
mussten es vorüberlassen. Denn es war ja Gottes Kraft, die
sie bändigte und das SchifTlein sicheren Laufes zum Hafen
führte. So gelangte das Boot des M a r t i n u s oder vielmehr
Gottes und der heiligen Reliquien, nach vielen Mühen
28. Mai und einer Reihe von Gefahren in der Nactit vor Pfingsten auf
die Rhede von Venedig. Der Abt legte dort an und er-
kundigte sich im Stillen nach den Zuständen im Lande. Da
erfuhr er denn, dass ihm hier ebenso viel Angst und Gefahr
bevorstehe, als er schon auf dem Meere durchgemacht : ganz
Italien, auch der Teil, durch den er ziehen musste, lodere in
Kampfesglut und schalle von Kriegsgetümmel. Aber er wusste
ja, dass auf dem Meer und auf dem Lande der nämliche Gott
waltet, dass der Herr, der ihn auf dem Meere beschützt hatte,
auch auf dem Lande ihn beschützen konnte, und so trat er
denn voll Vertrauen, wenn auch nicht ganz ohne Furcht und
Besorgnis, mit allem Gepäck auf Pferden die Reise nach den
Alpen an. Häufig begegneten ihm bewaffnete Banden, die
augenscheinlich nur zu Raub und Plünderung ausgezogen
waren, aber immer schreckten sie, von plötzlicher Furcht
erschüttert, von der unschätzbaren Beute zurück, als fühlten
sie mit Zagen ihre Unwürdigkeit, und gewährten dem Saum-
ross, das den Schrein mit den heiligen Reliquien trug, ungefähr-
deten Durchzug. So wanderte unser M a r t i n u s mitten durch
Italien, überschritt die rauhen Pässe der Alpen und fand auch
diesseits noch manche gefährliche Gegend voll Raubgesindel,
bis er endlich freudigen Herzens in Basel einzog, wo er
einst seine Pilgerreise angetreten hatte. Sein erster Gang dort-
selbst war in die Kirche der heiligen Jungfrau ; in ihren
Schutz hatte er sich empfohlen, als er ausfuhr, und nun
brachte er ihr seinen Dank dar, so warm er's vermochte, dass
sie ihn bei ihrem lieben Sohn durch die Reliquien eben
ihres Sohnes so hoch begnadet, ihn aus grossen Gefahre
— 51 —
errettet und froh und heil zurückgeführt hahe. Deshalb schmückte
er dann auch ihren gefeiertsten Altar in der Kirche mit einem
herrlichen Tuche. Ebenso gab er Herrn L u t h o 1 d , dem
Bischof von Basel, und einigen anderen Personen und Kirchen
der Stadt reichliche Weihegeschenke. Aber er hielt sich nur
wenige Tage auf, bis seine Brüder, die schon seine Rückkehr
Temommen hatten, ihm ehrfürchtig, vfie sich gebührte, ent-
gegenkamen. Mit ihnen und einigen anderen Männern aus der
Stadt, die ihm dankbar nachfolgten, begab er sich dann in
stattlichem Aufzug, aber auch voll demütiger Andacht, nach
dem Kloster P a i r i s. Dort erwartete ihn der ganze Konvent
am Thore der Kirche. Alle traten vor ihm und den heiligen
Reliquien, die er trug, demütig zur Seite (es war am 24. Juni
Tag der Geburt St. Johannis des Täufers um 3 Uhr Nach-
mittag); alle Herzen frohlockten, alle Zungen priesen Gott,
als er nun in die Kirche hineinschritt mit der heiligen Sieges-
beute und sie in tiefster Ehrfurcht auf dem Hochaltar
aufstellte.
Freu* dich, Martinas, nun hast du bestanden die Mühsal, nun
fasst da
Glücklich das Ziel mit den Händen, geschützt in den eigenen Wänden !
Hier kannst fröhlich da haasen, vorüber die Furcht and das Grausen,
Ledig der nagenden Sorgen dich ausruhen, sieber geborgen!
Jetzt wird endlich es allen bewiesen, dass Gott es gefallen,
Durch dich grade, den Schlichten, ein w^nnderbar Werk za ver-
richten !
Yiel mübsehge Tage durchlebtest da, Sorgen und Plage,
Welche den Sinn dir betrübten, obgleich in Geduld sie dich übten !
Bangtest vor Stürmen and Wellen, vor Kampf mit entmenschten
Gesellen,
Die dir mit Seeraab drohten, vor mancher mordlastig verrohten,
Beategierigen Bande, den Weg dir vertretend za Lande!
Siehe, nun darfst, ein Befreiter, den kösthchen Schatz an geweihter
Statte zur Schau du stellen den Brüdern der heimischen Zellen!
Siehe die Schar, einhellig, ein Schauspiel, Christo gefällig !
Höre, du Reiner, sie loben in Psalmen den Helfer von oben!
Siehe, nun darfst du vertrauen den Augen und wieder sie schauen,
Die da za schauen verzagtest, als fern in der Fremde du klagtest!
Aach sie, deine Getreuen, wie können genug sie sich freuen,
Dass sie dich sicher nun wissen, den längst sie sich glaubten entrissen
Dass sich erfallt ihr Flehen, auf Erden dich wieder zu sehen !
Lebe nun stille, du Guter, wie früher, als würdigster Bruder,
Sei der Begleiter der Deinen, ein Master des Guten und Reinen,
Halte die Brüder in Frieden, ihr Stern und Erleuchter hienieden!
Ströme dich aus in Gebeten, beglückt, vor die Schätze zu treten,
Die da gebracht, und verehre das Kreuzholz Christi, das hehre,
Welches dich heim ja geleitet und Ruhm nun dem Kloster bereitet !
— 52 —
XXIV.
Ja, gelobt sei Gott, der allein Wunder thut, der in unaus-
sprechlicher Güte und Barmherzigkeit die Kirche von Pairis
angesehen und verherrlicht hat durch jene Greschenke seiner
Gnade, weiche der ehrwürdige. Abt Martinus zu uns herüber-
bringen durfte! Die Kirche jubelt über solchen Besitz, und
jede gläubige Seele findet dadurch bei Gott Hilfe und För-
derung ! Damit aber der Leser in seinem Glauben befestigt
werde, meine ich hier ein Verzeichnis der Reli-
quien geben zu müssen.
Das erste und wichtigste, der allgemeinen Verehrung
würdigste Stuck ist :
Ein Tropfen vom Blut unseres Herrn Jesu
Christi, das vergossen worden zur Erlösung des ganzen
menschlichen Geschlechtes ; sodann :
Das Kreuzholz des Herrn, auf welchem der Sohn
des Vaters für uns geopfert, als zweiter Adam die Schuld des
ersten gesühnt hat ; drittens :
Ein nicht unbeträchtliches Stück von St, Johannes,
dem Vorläufer des Herrn.
Viertens : ein Arm des heiligen Apostels J a k o b u s , dessen
Gedächtnis in der ganzen Kirche hoch in Ehren gehalten wird.
Dann folgen Reliquien anderer Heiligen, nämlich :
Des Märtyrers Christophorus,
Des Märtyrers Georg ins.
Des Märtyrers Theodorus,
Ein Fuss des Märtyrers St. K o s m a s.
Ein Teil vom Haupt des Märtyrers C y p r i a n.
Ein Zahn des heiligen Laurentius, sowie
Des Märtyrers Demetrius,
Des ersten Märtyrers Stephanus,
Des Vincentius, des Adjutus, des Mauritius
und seiner Gefährten,
Der Märtyrer Crisantius und D a r i u s.
Der Märtyrer Gervasius und Protasins,
Des Märtyrers Primus,
Der Märtyrer Sergius und Bacchus,
Des Märtyrers Protus,
Der^ Märtyrer Johannes und Paulus. — Ferner :
Vom Ort der Geburt des Herrn,
Vom Calvarienberg,
Von dem abgewälzten Grabstein,
\^om Orte der Himmelfahrt,
— 53 —
Vom Stein, auf dem Johannes stand, als er den
Herrn taufte,
Vom Orty wo Christus den Lazarus auferweckt hat,
Von dem Stein, über welchem Christus im Tempel
dargestellt worden ist,
Von dem Stein, auf welchem Jakob geschlafen,
YoD dem Stein, bei welchem Christus gefastet,
Von dem Stein, wo Er gebetet.
Von dem Tisch, an dem Er gespeist hat.
Von dem Ort, wo sie Ihn gefangen genommen.
Von dem Ort, wo die Mutter des Herrn heim-
gegangen ist,
Von ihrem Grabe,
Vom Grabe des heiligen Apostels Petrus,
Von den heiligen Aposteln Andreas und Philippus,
Von dem Ort, wo der Herr dem Moses das Gesetz
gegeben hat,
Von den heiligen Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob,
Von dem heiligen Bischof Nikolaus,
Von dem Bischof A d e l a 1 i u s.
Von dem Bischof Agritius,
Von Johannes Chrisostomus,
Von Johannes, dem Almosengeber,
Von der Milch der Mutter Gottes, sowie
Der Jungfrau Margaretha,
Der Jungfrau Perpetua,
Der Jungfrau Agatha,
Der Jungfrau Agnes,
Der Jungfrau Lucia,
Der Jungfrau Cäcilia und
Der Jungfrauen Adelgunda und Euphemia.
Dieses hat sich zugetragen im Jahre 1205 der Mensch-
werdung Gottes unter der Regierung Kaiser Philipps, da
Innocenz als oberster Priester der heiligen römischen Kirche
vorstand, unter den Bischöfen Luthold von Basel und
Heinrich von Strassburg. Kein Gläubiger darf also im
mindesten zweifeln, dass Gottes Gnade es fügte, wenn so viele
und grosse und gefeierte Reliquien trotz zahlloser Hindernisse
durch einen Mann, der in sich selbst allzeit die Demut
bewahrte, an unsere Kirche gelangen konnten. Fühlte sich
doch, wie ich glaube, ganz Deutschland bei ihrer Ankunft
innerlich froher ! Gewann es doch durch sie an Ruhm auch
nach aussen, ja an Glück selbst in Gottes Augen ! Niemand
urteile deshalb, dies alles sei, wie manches Andere, nur
zufallig gekommen ; denn das hiesse geradezu die herrlichen
— 54 —
h a ten Gottes verleumderisch ihres Glanzes berauhen ! Wenn
wir nämlich die unglaublich schnelle Eroberung jener grossen
Hauptstadt, aus ivelcher unsere Reliquien stammen, vrenn
vf\r die Kette der vorhergegangenen Ursachen, die gefahrvolle
Heimreise des Abtes Martinus zu Wasser und zu Land und
wie er allenthalben durch Gottes Schutz unversehrt blieb, auf-
merksam betrachten, so wird es aufs klarste ans Licht treten,
dass dies alles wahrhaftig kein Spiel des Zufalles, sondern
göttliches Gnadengeschenk war. Wer immer deshalb unsere
Kleinode sieht oder diese Geschichte hört, muss darin überall
die Hand Gottes erblicken und anbeten und von ihm den
Lohn erwarten seines Glaubens und seiner Andacht.
Alles, was hier ich berichte, was selbst wir gesehen, die Geschichte,
Die nach den sichersten Quellen als wahr vor den Leser wir stellen,
Spielte sich nicht im Geleise des Alltags ab, in dem Kreise,
Drinnen der Zufall waltet nnd eitle Gebilde gestaltet!
Nicht zufällige Wahrheit erzähV ich; in himmlischer Klarheit
Seh' ich den Vater der Zeiten den Gang der Ereignisse leiten!
Eine vom Neide zernagte, verstandlose Seele nur wagte
Dreist zn behaupten die Lüge, dass Zufall solcherlei füge !
Zufall will man es nennen! Anstatt, was wahr, zu bekennen,
Tauscht man ein Wort, zu vereinen das Göttliche mit dem Gemeinen !
Ja, wer mit solchen Gedanken sich trägt, ist übel im Wanken
Und im Gemüte geschieden von mir! Wo gäb^ es hienieden
Klar ein Gesetz, zu begründen so Grosses, wie wir euch verkünden?
Grosses fürwahr! Beim Erzählen ergreift schon Staunen die Seelen:
Zahllose feindliche Scharen, die trefflich gerüstet auch waren,
Mussten vor wenigen Frommen, die weit aus der Feme gekommen,
Hinter den Mauern sich lassen belagern — wer möchte das fassen ?
Hier eine Handvoll Helden (ja, wahr ist, was wir euch melden !)
Dort dicht wimmelnde Haufen von Bürgern ! Es mocht* sich belaufen
Reichlich die Zahl an die hundertmal höher; und dennoch (wer
wundert
Nicht sich der Märe?) gewannen die Stadt so wenige Mannen,
Jagten das Volk aus den Thoren und herrschen, vom Himmel er-
koren,
Fröhlich der herrlichen Beute, daselbst als Sieger noch heute!
Und hier hat sich^s begeben, bei dieser Eroberung eben,
Dass ein Mann im Gewände der Mönche, mit scharfem Verstände,
Unser Martinus, besonnen, nicht Gold und Silber gewonnen.
Sondern zu bleibender Ehre den Erbschatz frommer Altäre!
Und die errungene Beute, den Raub, der den Himmel erfreute,
Wollte herüber er bringen zu uns, und es musst^ ihm geUngen
Trotz viel tausend Gefahren, da Gott ihn wollte bewahren!
Viel zwar hat er ertragen, der Leib war müde der Plagen,
Aber der Geist blieb munter, ihm sanken die Kräfte nicht unter,
Und so gelang es! Der Gute um Christi willen nicht ruhte,
Bis er an heiligem Platze die Stätte bereitet dem Schatze!
— 55 —
XXV.
Von diesen Geschenken der himmlischen Gnade aber,
welche der Herr so reichlich seinem getreuen Diener, dem
Abte Martin US, und durch ihn der Kirche von Pairis
verliehen hatte, gab diese Kirche zur Ehre Gottes und des
ganzen römischen Reiches ein ansehnliches Stück an den
erhabenen Kaiser, Herrn Philipp, ein Bild nämlich von
schier unschätzbarem Werte, das mit Gold und Edelsteinen
aufs kunstvollste geschmückt war und sehr viele, bisher sorg-
faltig verborgene heilige Reliquien enthielt, die noch weit kost-
barer waren als das Gold und die Edelsteine. Dieses Bild
hatte der griechische Kaiser bei festlichen Gelegenheiten, gleich-
sam als sicheres Pfand seiner Herrschaft, an goldener Kette
am Halse getragen. Unter allen den Edelsteinen und dem Gold
funkelte besonders ein Jaspis von erstaunlicher Grösse, in
welchem der Herr am Kreuz und daneben die allerseligste
Jungfrau und der Evangelist Johannes geschnitten waren. Des-
gleichen ein Saphir von ebenfalls ausserordentlicher Schwere
mit dem Bilde Gottvaters, so kunstvoll geschnitten, als es bei
einem Gegenstand möglich ist, der eigentlich überhaupt bildlich
nicht dargestellt werden kann. Der glorreiche König Philipp,
zwar noch ein junger Mann, aber reif in der Furcht Gottes
und sittlichem Wandel, nahm dieses Geschenk mit grösstem
Wohlwollen an und bewies seinen Dank dadurch, dass er die
Kirche Pairis mit all ihrem Zubehör unter seinen Schutz
stellte, und ihr alle übrigen Reliquien, die M a r t i n u s gebracht
hatte, durch kaiserliche Urkunde als ewiges Eigentum bestätigte.
1 Diese Geschichte aber hat der Magister Günther
geschrieben, der damals Mönch, früher jedoch Schulmann war
und eine umfassende Bildung genossen hat. Er hing mit ganzer
Seele an seinem Gregenstand und führte die Feder in dem
zuversichtlichen Glauben, dass er von Gott, der so Grosses
durch seine Getreuen hat vollbringen lassen, als der Erzähler
göttlicher Thaten das ewige Leben empfangen werde.
Ja, so ist es geschehen: Yen Hellas mit Siegestrophäen
Kam ein Mann uns gezogen, dem sämtliche Gate gewogen !
Aber vom herrlichen Preise der Glück ihm bringenden Reise,
Nimmer ermüdend in Treue, sie kräftig bewährend aafs nene,
Wollt\ sein Lob zu vermehren, das köstlichste Stück er verehren,
Ein schier kronreifgleiches, Philippns, dem König des Reiches !
1 Diese Schlnssworte (bis « empfangen werde >) rühren jeden-
falls von einem der Abschreiber her.
— 56 —
0 der erlesenen Gabe! das Frankstück forstlicher Habe,
Griechischer Könige Bestes, der Haaptschmuck höfischen Festes,
Wie zu Byzanz kein zweiter! Ein Jaspis daran, ein geweihter,
Herrlichster Art, der nm Hänfen von Gold nicht wäre zu kanfen,
Oder getauscht möcht^ werden für zahllose Güter der Erden,
Sondern so lieb mnss gelten, als edel er ist und als selten!
Und dem solches gelangen, Martinas, er hat aach errangen,
Seit sein Schifflein berührte den Hafen, was wohl ihm gebührte:
Dass er mit voUestem Rechte dem Volke von deatschem Geschlechte,
Fürsten and Priestern und Laien, ob fern oder nahe sie seien,
Ganz wie den Brüdern im Orden, ein teuerer Liebling geworden!
Werde vor Christi Throne dereinst ihm Gleiches zum Lohne
Mit dem erwähleten Samen! Wer^s liest, der 8pff«eke awi Amen!
Möchte auch dieser Geschichte Verfasser bestehen im Gerichte,
Möchte von Günther desgleichen, was hier er gesündiget, weichen,
Dass er zum Herrn eingehe ! Wer's liest, der Sprech^ : Es geschehe! —
II.
Das Elsass
bei dem Ausbruch der französischen Revolution
geschichtliche Studie
von
Julius Rathgeber.
Jtlundert Jahre sind seit dem Ausbruch der französischen
Revolution verflossen. Aus diesem Anlass dürfte eine über-
sichtliche Darstellung der politischen, bürgerlichen, religiösen
und gesellschaftlichen Zustände des Elsass im Jahre 1789 von
Interesse sein und von manchem Leser willkommen geheissen
werden. Ein anderer Umstand noch ist für den Verfasser dieser
Skizze massgebend gewesen, nämlich die selbst in gebildeten
Kreisen herrschende Unkenntnis der elsässischen Verhältnisse
vor der französischen Revolution. Eine sachliche, unparteiische
Schilderung derselben dürfte daher wohl zeitgemäss sein.
Die Hauptquellen, aus welchen der Verfasser bei dieser
Arbeit geschöpft hat, sind die von dem Strassburger Alter-
tumsforscher, dem gelehrten Professor Jeremias Jakob
Ob erlin herausgegebenen wertvollen, aber selten gewordenen
Almanachs d'Alsace, die von 1780 an bis 1792 erschienen sind,
ferner der « Bürgerfreund » (2 Bände) und der e Patriotische
Elsässer», von dem bescheidenen, aber verdienstvollen Diakonus
— 58 —
Sigisniund Billing aus Colmar herausgegeben (2 Bände),
sodann die gründliche und äusserst massvoll gehaltene Denk-
schrift des Strassburger Abgeordneten bei der französischen
Nationalversammlung, des Barons Johann von Turckheira.
Er schrieb sie infolge der Abschaffung des Lehenswesens und
aller adeligen Vorrechte in Frankreich durch den Beschluss der
Nationalversammlung in jener denkwürdigen Nachtsitzung vom
4. August 1789. Die Türckheimsche Schrift, welche zuerst fran-
zösisch, dann in deutscher Uebersetzung erschien, ist betitelt:
«Abhandlung das Staatswesen der Stadt Strassburg und des
Elsasses überhaupt betreffend». Strassburg, gedruckt bei Philipp
Jakob Dannbach. 4789. Ferner das Werk von Krug- Basse: L'AI-
sace avant 4789. i
Die vorliegende Arbeit zerfallt in folgende Abschnitte : Terri-
torialverhältnisse, Verwaltung, Justiz, Kultus, Unterrichtswesen,
Armen- und Krankenpflege, Ackerbau und Gewerbe, Militär-
verwaltung, Steuer- und Finanzwesen, Verkehrsleben und Ge-
selligkeit.
Territorial Verhältnisse .
Durch den Westfälischen Frieden hatte der deutsche Kaiser
alle dem Hause Habsburg im Elsass zukommenden Rechte, so-
wie die Oberhoheit über die elsassischen Reichsstädte dem König
von Frankreich überlassen. Nach deutscher Auffassung war
letzterer als Souverän des Ober- Elsass, des Sundgaus und
der Grafschaft Pfirt, welche das frühere Territorium des elsas-
sischen Vorder-Oesterreichs bildeten, anerkannt, war aber nicht
Souverän, sondern bloss Protektor der zehn reichsunmittel-
baren elsäss;schen Städte. Allein Ludwig XIV. beanspruchte bald
die vollen Souveränetätsrechte über letztere und brach im August
4673 mit gewaltthätigen Mitteln und in willkürlicher Weise
deren Widerstand; besonders die Städte Colmar und Schlett-
stadt fühlten seine harte Hand und erfuhren eine mira meta-
morphosis. Colmar wurde aus einer festen Stadt ein «offenes
Dorf», wie die zeitgenössischen Chronisten schreiben. Schlett-
stadt wurde wie eine feindliche Stadt behandelt. Von dieser
Zeit an wurde die französische Regierung, wenn auch unter
ohnmächtigen Protesten der elsässischen Reichsstädte und wir-
kungslosen Appellationen an den Reichstag von Regensburg, im
Elsass allgemein anerkannt, und deren Befehle erlangten, be-
1 Dieser Aufsatz war bereits vor dem Erscheinen der gründ-
lichen nnd gehaltvollen Schrift von Hermann Lndwig, «Strass-
bnrg vor hundert Jahren > geschrieben, auf welche wir die Leser des
Jahrbuchs besonders aufmerksam machen möchten.
— 59 —
sonders nach der Kapitulation von Strassburg (30. September
1681), Gesetzeskraft im ganzen Lande.
An der Spitze der Civilverwaltung stand ein Intendant d'Al-
sace. Diese Würde bekleidete im Jahre 1789 der Baron von Chau-
mont de la Galaizi^re, kurzweg mit letzterem Namen benannt.
Das Gouvernementshotel befand ^ich im früheren Endingenschen,
späteren markgraflichen Hofe «zum Drachen» in der Drachen-
gasse. An der Seite des Intendanten stand ein Generalgouverneur,
der in der Blauwolkengasse, im heutigen Jnstizgebaude, seinen
Sitz hatte. Im Jahre 1789 bekleidete der Herzog von Aiguillon
dieses Amt.
Ausser den Landesteilen, in welchen der König von Frank-
reich die unumschränkte Gewalt ausübte, gab es im Elsass noch
eine Anzahl von Territorien, deren Herren eine gewisse Selb*
ständigkeit besassen und nur die französische Oberhoheit aner-
kannten. Es waren dies : die Grafschaft H a n a u-L ichtenberg,.
das sog. «Hanauer Land:», welches seit 1736 den Landgrafen
von Hessen-Darmstadt gehörte, deren Hotel, der Darmstädter
(früher Hanauer) Hof zu Strassburg in der Brandgasse sich
erhob. Es ist das heutige Stadthaus. Ferner die Z w e i b r ü c k i-
sehen Besitzungen, die Stadt und Herrschaft Bischweiler
(das birkenfeldische Erbe) und die Grafschaft Rappoltstein (das
rappoltsteinische Erbe). Die Herzoge von Zweibrücken residierten
seit 1770 in dem von ihnen erbauten Zweibrücker Hof (dem
heutigen Generalkommandogebäude) in der Brandgasse. Die
Herzoge von Württemberg besassen im Ober-Elsass die Graf-
schaft Horburg und die Herrschaft Reichenweyer. Die Mark-
grafen von Baden-Du rlach und die Grafen von Nassau-
Weilburg, Saarbrücken und Saarwerden besassen
ebenfalls Gebiete im Elsass und im Saarthale. Die pfälzi sehen
Kurfürsten hatten die Grafschaft Lützelstein im sog. Westreicb^
dem gebirgigen Grenzstrich zwischen Elsass und Deutsch-Loth-
ringen, inne.
Die Fürsti)ischöfe von Basel, Strassburg und Speyer
übten gleichfalls Territorialrechte aus; das Bistum Strassburg
besass im Ober-Elsass das obere Mundat (die Gegend von Rufach),
im Unter-Elsass acht Aemter und über dem Rheine zwei, Renchen
und Ettenheim. Der Fürstbischof von Strassburg, Ludwig Re-
oatus Eduard Kardinal von Rohan, hatte zwei prachtvolle Resi-
denzen im Elsass, das bischöfliche Schloss zu Strassburg und
den herrlichen Palast zu Zabern; beide Prachtgebäude hatten
die Rohan erbaut. Das Zaberner Schloss mit seinen Gärten,
Bassins, Park- und Waldanlagen war ein kleines Versailles.
Im Ober-Elsass war nur ein kleiner selbständiger Freistaat^
nämlich die Republik Mülhausen (Stadt und zwei Dörfer,
— 60 —
Illzach und Modenheim), welche eine schweizerische Enclave,
aber ohne Zusammenhang mit der Eidgenossenschaft bildete
und der Annexion an Frankreich naturgemäss anheimfallen
musste.
Ausser diesen Herrschaften gab es noch, namentlich im
untern Elsass, eine grosse Anzahl von ritterschaftlichen Gebieten,
deren ansehnlichste die Grafschaft L e i n i n g e n-W esterburg
und die Herrschaft Fleckenstein waren. Die Herren derselben
übten die obere und untere Gerichtsbarkeit in ihren Besitzungen
aus, ernannten die Richter und Amtleute und zogen die Straf-
gelder ein; auch besassen sie meistens das Patronatsrecht in
den Kirchen. Sie hatten noch andere Privilegien, wie die Frei-
heit des Salzkaufes, das Fronrecht, das Ohm- und Weingeld,
den Zehnten, die den Juden auferlegten Abgaben u. dgl. m.
Die unterelsässische Ritterschaft war durch ein sog. Di«
rektorium, das aus zehn Mitgliedern, nämlich sieben Direk-
toren und drei Assessoren zusammengesetzt war, vertreten. Dieses
Direktorium hielt seine Sitzungen im sog. « Ritterhause > auf
dem Stephansplatze (dem heutigen Hause Petiti). Das Direktorium
der unterelsässischen Ritterschaft bildete eine Art Zwischen-
gericht, dessen Mitglieder durch periodische Wahlen erneuert
wurden und von dessen Urteilssprüchen man an das Gonseil
Souverain von Colmar appellieren konnte. Der oberelsässische
Adel war viel weniger zahlreich als derjenige des Unter-Elsass ; er
war teils ausgestorben, teils ausgewandert, und die wenigen
übrig gebliebenen standen ganz imter des Königs von Frank-
reich Botmässigkeit.
Das waren die Territorialverhältnisse im Elsass, dessen Be-
völkerung im Jahre 1789 auf 650,000 Seelen sich belief. In-
folge derselben besassen eine Reihe von deutschen Fürsten noch
fürstliche Landesrechte und Privilegien, wenn auch unter franzö-
sischer Oberhoheit.
Landesverwaltung.
In Bezug auf die innere Verwaltung hatte die französische
Regierung den Magistraten der Städte ihre frühere Selbständigkeit
unter gewissen Beschränkungen gelassen. Die Strassburger Ver-
fassung, die von 1482 bis zur Revolution beinahe unverändert
fortbestand, ist zur Genüge bekannt. Die Stadtverwaltung be-
stand aus einem bürgerlichen, jedes Jahr am Schwörtag ernannten
Ammeister und vier adeligen Stättmeistern, wovon die
Hälfte alle zwei Jahre austrat. Jeder Stättmeisler versah der
Reihe nach ein Vierteljahr lang das Amt eines Kanzlers und
hatte das Stadtsiegel in Händen. Der Magistrat selbst bestand aiis
— 61 —
einem Grossen und aus einem Kleinen Rat. Der ersiere
wurde von den 300 Schöffen ernannt und zahlte dreissig Mit-
glieder» zwanzig bürgerliche und zehn adelige» welche c Constoffler »
genannt wurden. Der regierende Ammeister führte den Vorsitz
im Grossen Rat. Neben demselben fungierten drei Kammern,
die Dreizehner (XIII)» welchen die Führung der auswärtigen
Geschäfte anvertraut war, die Fünfzehn er (XV), welche die
inneren Angelegenheiten leiteten, und die Ein undzwanziger
(XXI) oder die «alten Herren»^ welche aus überschüssigen Rats-
herren bestand, die bald dem einen, bald dem anderen Kollegium
beigesellt wurden. Dieselben bildeten das sog. beständige
Regiment. Der Kleine Rat bestand aus sechs Adeligen und
zwölf bürgerlichen Mitgliedern und hatte die kleineren Rechts-
händel und die PoHzeisachen unter sich. Die Bürgerschaft war in
zwanzig Zünfte eingeteilt, deren jede vierzehn Schöffen nebst einem
ans dem beständigen Regiment ernannten Oberherren zum
Vorsteher hatte. Der Schöffenrat, auch Schöffenversammlung ge-
heissen (300 Mitglieder an der Zahl), hatte das Recht, die Be-
schlüsse des Magistrats zu prüfen und dieselben zu genehmigen
oder zu verwerfen. Ferner gab es in Strassburg noch Polizei-,
Ehe-, Schirm- und Vogteigerichte. An letzterem war beispiels-
weise der bekannte Aktuar S a 1 z m a n n, Goethes Tischgenosse
und älterer Freund angestellt.
Alle diese Einrichtungen stammten noch aus der allen
reichsstadtischen Zeit und bestanden bis zum Jahre 1789 fort.
In 0>lmar stand an der Spitze des Rats einObristmeister,
der alle Jahre am iO. August (am Laurentiustage) für ein Jahr
gewählt wurde. In den übrigen ehemaligen Reichsstädten waren
Bürgermeister, die unter ähnlichen Bedingungen jährlich ge-
wählt wurden, an der Spitze des Rats. Um ihre Regalien zu
wahren, hatte die französische Regierung in jeder elsässischen
Stadt, die einen selbständigen Rat besass, seit 1685 einen
königlichen Kommissar ernannt^ welcher den Namen Prätor
tmg. Derselbe hatte Sitz und Stimme im Rat und konnte sein
Velo einlegen, wenn er glaubte, dass die französischen Inter-
essen gefährdet wären.
Im Jahre 1789 war zu Strassburg Ammeister Herr Johann
Lemp, ein bekannter Rechtsgelehrter, der in der Schildsgasse
(im nachmaligen Zimmerschen, jetzt Körtgeschen Hause) wohnte.
Die vier Stättmeister waren die Barone: Franz Joseph
Haffner von Wasselnheim, Obrist des Regiments von
Anhalt und Ritter des St. Ludwigsordens, Franz Maternus
Ludwig Zorn von Bulach, Mitglied des Direktoriums der
unterelsässischen Ritterschaft und Maltesern t1 er, Friedrich
Ludwig RenatusWurmser von Vendenheim, Mestre
— 62 —
-de Camp, Grosskreuz des französischen Ordens des Militar-
verdienstes (für Protestanten, die nicht Ludwigsrilter wegen
ihrer Religion werden konnten) und des badischen Hausordeos
der Treue, und Philipp Jakob Renatus von Berste tt^
Offizier im Regiment Nassau-Saarbrücken, der Vater des badi-
schen Staatsministers. Der letzte königliche Prätor von Strass-
bürg war AI exa n der Kon r ad vonG6rard. Da derselbe
ieidend war, delegierte Ludwig XVI. im Monat Juli 1789 als
liöniglichen Kommissar den Baron Friedrich von Diet-
rich nach Strassburg, um daselbst die Gemüter der Bürger-
schaft zu beschwichtigen.
Justiz.
Der höchste Gerichtshof im Elsass war der 1698 von d^r
s«g. ((Strohstadt» Neu-Breisach nach Golmar verlegte Ck>nseil
Souverain d*Alsace, welcher die Stelle eines königlichen Par-
laments im Lande einnahm und zugleich den obersten Appellhof
der Provinz bildete. Die meisten Gonseillers waren Vollblut-
franzosen. .Unter den Advokaten, die an demselben thätig waren,
ist der bekannteste das nachmalige Konvents- und Direktoriums-
mitglied Johann Baptist Reubel^ der bis zum Ausbruch
-der Revolution die Interessen der im Elsass possessionierten deut-
lichen Fürsten vertrat und ihre Rechte verteidigte. Der Colmarer
hohe Gerichtshof trug nicht wenig zur allmählichen Untergrabung
der alten Verfassung Strassburgs und der übrigen ehemaligen
-elsässischen Reichsstädte bei, indem er die Vermischung des
IVanzösischen mit dem deutschen Rechtswesen veranlasste und
oft Machtsprüche wider alte deutsche Landesrechte und Frei-
heiten aussprach. Das Conseil Souverain d'Alsace bestand aus zwei
Kammern. Die erste lallte Beschlüsse über die sog. Regalien,
welche die königliche Souveränetät und königliche Domänen be-
trafen, ferner über Appellationen, Givilsachen, kirchliche An-
gelegenheiten und Prozesssachen des elsässischen Adels. Die
zweite Kammer hatte hauptsächlich Kriminalfalle unter sich. Der
hohe königliche Gerichtshof veröffentlichte auch Polizeimandate,
die Gesetzeskraft hatten, und übte Aufsicht über die Verwaltung
der geistlichen Güter aus; er überwachte auch die Verwaltung
der Spitäler und Kirchenkassen (sog. Fabrik- und Kirchengüter),
übte das Aufsichtsrecht über die Güter der toten Hand und
war die oberste Verwaltungsbehörde im Elsass, Der Gerichtshof
bestand aus zwei Präsidenten und zweiundzwanzig Ratsherren
(Gonseillers), davon zwei Geistliche (conseillers-clercs). Ausser-
dem waren vier adelige Ehrenratsherren (gonseillers d'honneur
d'epee) und zwei geistüche Ehren Würdenträger (conseillers d'bon-
— 63 —
neur d'eglise). Ferner fungierten ein Generalprokurator, zwei
Generaladvokaten und zwei Stellvertreter derselben (Substituts)
am Gerichtshofe. Im Jahre 4789 waren 61 Advokaten am Conseil
Souverain thätig.
Ein Präsident des hohen Gerichtshofes von Golraar, Franz
Heinrich vonBoug, mit dem Zunamen Boug von Orsch-
Weiler, gab im Jahre 1775 die bereits von seinem Vorganger
von Corberon begonnene wertvolle Sammlung der «Or-
donnances et Arrets du Conseil Souverain d'Alsacej» heraus. Bei
dem Ausbruch der französischen Revolution bekleidete der Baron
Franz Nikolaus von Spon das Amt eines ersten Präsidenten.
Die übrigen Gerichtshöfe im Elsass waren : die Regierungen
von Z a b e r n und von Buchsweiler, das Direktorium der
reichsunmittelbaren Ritterschaft des Unler-Elsass, die Rats-
kollegien der Stadt Strassburg und die unteren Gerichte der
zehn ehemaligen freien Reichsstädte des Elsass.
Die bischöfliche Regierung von Zabern war ein Appellgericht
für die Unterlhai.en des Bistums. Diese Regierung war zu-
gleich, wie diejenige von Buchs wei 1er, eine Verwaltungs- und
eine Gerichtsbehörde. Es standen unter ihrer Botmässigkeit die
zehn Städte und die 110 Dörfer, die der Fürstbischof von Strass-
barg im Elsass besass, desgleichen die beiden überrheinischen
Aemter Renchen und Ettenheim. Sie durfte in Prozessen biä zu
einer Summe von 1500 Livres entscheiden. Dann ging die Ange-
legenheit an den hohen königlichen Gerichtshof von Colmar über.
Die bischöfliche Regierung bez. Gerichtsbarkeit bestand aus einem
Viztum (Vicedoift), der den Vorsitz führte, einem Vize-Kanzler
und Siegelbew^ahrer, aus sieben Ratsherren, davon ein adeliger,
aus einem bischöflichen Fiskal und zwei Stellvertretern, einem
Gerichlsschreiber und zwei Registratoren.
Die Buchsweiler Regierung bestand aus einem Regierungs-
präsidenten, sechs Räten, einem Fiskal und einem Gerichts-
schreiber. Ihr waren unterthan die 92 Städte und Dörfer der
neun hanau-lichtenbergischen, seit 1736 fürstlich hessischen
Äemler, die eine Bevölkerung von 100,000 Seelen zählten.
Durch eine besondere Vergünstigung des Königs von Frankreich
durften die Mitglieder der hanau-lichtenbergischen Regierung
sowie die Schulzen, « Stabhalter » genannt, der lutherischen Reli-
gion angehören.
Das Direktorium der unterelsässischen Ritterschaft durfte
als Gerichtshof seine Entscheidungen bis zu einer Summe von
500 Livres fällen. Es entschied auch in allen Rechtsfallen der
Adeligen unter einander und der Unterthanen mit ihren Herren.
Es bildete gleichfalls den Appellhof für die zehn ritterschaftlichen
Amteyen (auch Kellereyen genannt) des Elsass.
— 64 —
Durch die Kapitulation von 1681 hatte die Stadt Strassburg
den Fortbestand ihrer städtischen Verfassung und Gerichtsbarkeit
zugesichert erhalten. Die Kammer der Dreizebner war die oberste
Gerichtsbehörde. Sie durfte in Civilprozessen bis zu einer Summe
von 1000 Livres entscheiden. Sieben Beisitzer waren nötig,
damit die Urteile rechtskraftig wurden. Das Amt eines Staats-
anwalts bekleidete einer der Generaladvokaten der Stadt. Der
«Grosse Rati war der Appellhof für die Gerichtssachen, über
welche der «Kleine Ratj» in erster Instanz entschieden hatte.
Auch die vier Aemter^ der Stadt waren dieser Crerichtsbarkeit
unterworfen.
In Weissenburg bestand bis 1789 das sog. «Staffelgericht >,
auch « Mundatgericht B genannt, welches sich mit Entscheidung
von Erbschafts- und Schuldscheinstreitigkeiten sowie mit kirch-
lichen Angelegenheiten abgab. Es stand dieses Gericht unter
dem Stadtvogt; einer der Schöffen leitete den Geschäftsgang.
Unter der Gerichtsbarkeit des Landvogts von Hagenau (bailli
royal de la pr^fecture de Haguenau) standen die sog. € fünfzig
Reichsdörfer Ji», die einst zur kaiserlichen Landvogtei gehörten.
Kultus.
An der Spitze des Bistums Strassburg stand im Jahre
1789 der durch seine Prachtliebe und die unglückselige Hals-
bandgeschichte bekannte KardinalLud wigRenatus Eduard
von Rohan-Guem^n^e, der den Titel eines Fürstbischofs
von Strassburg, Landgrafen von Elsass und Fürsten des h.
römischen Reiches führte. In Strassburg waren vier geistliche
Stifte; das Hohe Stift am Münster, das zwei Abteilungen
hatte, das adelige Domkapitel der 24 Grafen; die Mitglieder
desselben mussten sechzehn Adelsstufen aufweisen und gehörten
den ältesten Adelsgeschlechtern Deutschlands und Frankreichs an-
Wir begegnen unter ihnen den Namen von Hohenlohe, Truch.
sess, Croy, Königseck, Salm, La Tr^mouille, Rochefort und an-
deren. Ferner das sog. Hohe Chor, das bloss aus Domherren
bürgerlicher Abkunft bestand. Die drei anderen Strassburger
Stiftskirchen waren Alt- und Jung-St. Peter und Allerheiligen.
In Elsass bestanden seit aller Zeit zahlreiche Klöster. Die
Hauptorden waren diejenigen der Benediktiner, Bernhardiner,
Dominikaner, Johanniter, Augustiner, Franziskaner, Jesuiten
und Kapuziner. Auch Nonnenklöster waren vorhanden; das be-
rühmteste darunter war das Kloster Unterlinden in Colmar,
^ Diese vier strassburgischen Aemter waren : Barr, Wasselnheini,
Marlenheim und Illkirch.
— 65 —
im Mittelalter ein Sitz des Mystizismus. Im Jahre 1789 gab es
im Elsass nicht weniger als 47 Klöster, die im ganzen Lande
zerstreut waren. Namentlich erhoben sich viele davon im Ha-
genauer Forste, der vor Alters der «c heilige Forst i> genannt war.
Im Elsass gab es ausser den städtischen und herrschaft-
lichen katholischen Pfarrstellen auch viele sog. c Königs -Pfar-
reien y, welche der König Ludwig XIV. zur Ausbreitung der
katholischen Religion im Lande in neuerrichteten katholischen
Gemeinden gegründet hatte und deren Inhaber aus des Königs
Schatulle besoldet wurden. Auch das Simultanen m, d. h.
der Mitgebrauch und Mitbesitz einer Kirche seitens beider Konfes-
sionen, ist eine Einrichtung Ludwigs XIV., die sich aber nichts
weniger als segensreich erwies und oft eine Ursache des Streites
und Haders wurde. Die Simultankirchen waren bei dem Aus-
bruch der französischen Revolution, welche die Glaubensfreiheit
für alle Böiger aufstellte, im Elsass äusserst zahlreich vorhanden.
Die Zahl der Lutheraner erhob sich im Elsass im
Jahre 1789 auf etwa 200,000 Seelen, welche in 160 Pfarreien
sich verteilten. Eine einheitliche evangelische Kirche gab es
vor einem Jahrhundert im Elsass nicht, sondern eine Menge
von Territorialkirchen, von welchen die meisten teils die strass-
burgische, teils die hanauische, oder auch die colmarische,
die württembergische, oder die nassauische Kirchenordnung an-
genommen hatten. An der Spitze der lutherischen Kirche von
Strassburg stand unter der Aufsicht des Magistrats der Kirchen-
konvent und das Kollegium der 21 Oberkirchen-
pfleger. Buchsweiler war der Sitz eines Generalkonsisto-
riums; in Reichenweyer war ein Superintendent, in Colmar
und in anderen protestantischen Städten des Elsass ein Geist-
liches Ministerium ; diese alle bildeten eigene geschlossene kirch-
liche Korporationen. Aus diesem Grunde kommt es, um dies
^gelegentlich zu erwähnen, dass im Elsass in Bezug auf kirch-
liche Gebrauche und liturgische Ordnungen eine grosse Mannig-
faltigkeit herrscht und verschiedenartige Kirchenbücher, Gesang-
bücher, Katechismen und andere kirchliche Lehr- und Erbau-
ungsbucher in dem kleinen Lande vorhanden waren und noch
sind.
Die Zahl der Reformierten war im Elsass im Jahre 1789
eine verhältnismässig geringe. Die meisten derselben bewohnten
Mülhausen, Markirc h, wo eine deutsche und eine franzö-
sische Gemeinde bestand, Bischweiler, die Umgegend von
S a a r-U n i o n und von Weiesenburg, wo zweibruckische
ond kurpfalzische Gebietsteile sich befanden. Einige reformierte
Gemeinden waren auch von französischen R^fugi^s gegründet
worden. In Strassburg durften die Reformierten erst im Jahre
5
^
— 66 —
1788 ein bescheidenes Gotteshaus, doch nicht an der Strasse
und ohne Glockenturm, in der Schildsgasse erbauen. Vorher
mussten sie Sonntags nach dem hanauischen Dorfe Wolfisheim
pilgern, wo ihnen gestattet war, ihren Gottesdienst zu halten.
Selbst als der berühmte Zürcher Theologe Diakonus Johann
Kaspar Lavater im Jahre 1779 durch Strassburg reiste,
konnte er — so strenge waren damals noch die lutherischen
Anschauungen — keine Kanzel in der Stadt besteigen, und seine
zahlreichen Verehrer mussten nach Wolfisheim ziehen, um den
berühmten Mann predigen zu hören.
Wiedertäufer gab es seit dem Westfälischen Frieden,
wo sie namentlich aus der Schweiz gekommen waren, eine
nicht unbeträchtliche Anzahl im Elsass. Sie wohnten meist auf
einsamen Meierhöfen in Gebirgsgegenden und konnten ihi^
Zusammenkünfte wegen der weiten Entfernungen nur unter
grossen Schwierigkeiten halten. Die Hauptorte, wo sie zusammen-
kamen, waren Markirch im Ober- Elsass und das Dorf Onenheim
im Unter-Elsass.
Die Juden waren bis zum Ausbruch der Revolution im
Elsass mehr oder weniger geduldet und lebten im Lande
umher zerstreut, da wo man sie eben litt. Die wenigsten
Israeliten hatten eigenen Grund- oder Häuserbesitz. Sie waren
gehalten, dem König Schutzgeld zu zahlen und den Landes-
herrschaften gewisse gesetzlich bestimmte Abgaben, den sog.
€ Judenzoll » zu entrichten. Einige Rabbiner, z. B. in E 1 1 e n-
dorf, wo die unterelsässischen Juden ihren Begräbnisort
hatten, in Mutzig, in Buchsweiler, Ingweiler und anderen
Orten, im Ober-Elsass in Winzenheim und Jungholz bei
Gebweiier, versahen die religiösen Amtshandlungen bei ihren
Glaubensgenossen. Sie trieben meist Trödel- und Krämer-
handel oder waren Pferde- und Viehhändler. Nur wenige
betrieben ein Gewerbe. In Strassburg duldete man seit der
grossen Judenverfolgung im Jahre 1339 keine Juden mehr;
ausnahmsweise nur hatte der Magistrat um das Jahr 1770 dem
Pferdehändler Cerf-Beer aus Medelsheim gestattet, ein Haus
im Finkweiler, den sog. <k Rappoltsteiner Hof» der seit jener
Zeit den Namen « Judenhof » erhielt (heute erhebt sich dort
die St. Ludwigsschule), zu kaufen und zu bewohnen. Bis zum
Jahre 1790, wo sie emanzipiert wurden, durften die Juden in
Strassburg nicht einmal übernachten.
Unterrichtswesen.
Das Elsass besass bei dem Ausbruch der französischen
Revolution zwei Universitäten, eine protestantische und eine
katholische. Die Lehrmethode an beiden war grundverschieden.
— 67 —
Dies war auch der Fall bei dem gewöhnlichen Schulunterricht.
In den protestantischen Lehranstalten war die deutsche Methode
vorherrschend, und das Studium der französischen Sprache
wurde als Nebensache betrachtet ; in den katholischen Unter-
richtsanstalten wurde die in Frankreich übliche Lehrart befolgt.
Die protestantische Hochschule, die Schöpfung des Slätt-
meisters Jakob Sturm von Sturmeck und des Rektors
Johann Sturm aus Schieiden, war im Jahre 4538 als
Gymnasium errichtet worden ; 1566 erhob sie Kaiser
MaximiHan L zu einer Akademie mit den vier Fakultäten, und
im Jahre 1621, als die Stadt Strassburg durch den Vertrag
von AschafTenburg aus der Evangelischen Union austrat, erhielt
sie von Ferdinand II. die Privilegien einer vollsländigen Univer-
sität. Durch die Einziehung der Güter einiger säkularisierten
Klöster, namentlich des Thomasstifts, ward es dem Magistrat
möglich, die Besoldung der Professoren an derselben zu
erhöhen und dadurch tüchtige Lehrkräfte für die Hochschule
zu gewinnen.
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wirkten
an derselben besonders Johann Daniel Schöpf! in,
der berühmte Geschichts- und Altertumsforscher, dessen Ruf
viele auswärtige Studenten, worunter Goethe, Herder, Jung-
Stilling, Lenz und andere, nach Strassburg lockte. Schöpflin
lebte in den achtziger Jahren nicht mehr, allein namhafte
Gelehrte wie Jeremias Jakob Oberlin, der Bruder
des Pfarrers aus dem Steinthal, Christoph Wilhelm
Koch, Johann Michael Lorentz auf dem Gebiete
der Geschichts- und Altertumskunde, die Hellenisten Johann
Schweighäuser und Richard Franz Philipp
Brunck, die Mediziner Johann Reinbold Spiel-
mann und Johann Friedrich Lobstein, der Natur-
forscher Johann Friedrich Herrmann, der Gründer
des Strassburger Naturalienkabinets, die Theologen Johann
Lorenz Blessig und Isaak Haffner wirkten an
derselben und dienten ihr zur Zierde. Die protestantische
Universität von Strassburg war bis zum Jahre 1789 der
geistige Mittelpunkt und zugleich die Pflanzstätte deutscher
Wissenschaft und Sitte im Elsass. Durch die protestantische
Hochschule wurde in der Strassburger Bürgerschaft die Liebe
zum deutschen Stammlande, mit welchem das Elsass noch so
viele Beziehungen unterhielt, erhalten. ^
Die katholische Universität, welche seit 1701 in Strassburg
im ehemaligen Bruderhofe bestand, verdankte ihre Entstehung
der Berufung der Jesuiten in das Elsass durch Bischof Johann
von Manderscheid. Derselbe hatte ihnen im Jahre 1580 erlaubt,.
— 68 —
eine höhere Lehranstalt in Molsheim zu gründen, welche
1617 zu einer katholischen Universität erhoben wurde. Diese
Universität diente lediglich zur Heranbildung von Priestern für
die bischöfliche Diözese des Elsass. Superior derselben war
bei dem Ausbruch der Revolution der gelehrte und verdienst-
volle Abb6 Jean-Jean, der zugleich ein beredter Kanzel-
redner war.
Ausser den beiden Universitäten bestand im Elsass eine
ansehnliche Reihe von höheren Lehranstalten. Protestantischer-
seits nennen wir : das Strassburger Gymnasium
(1538 gegründet), das Gymnasium von Co 1 mar (1604) und
dasjenige von Buchsweiler (1612). Der in diesen Anstalten
herrschende Geist war der ernst wissenschaftliche deutsche
Geist. Katholischerseits befand sich der höhere Unterricht im
Elsass gänzlich in den Händen der Jesuiten, welche eine
Anzahl von Colleges im Land errichtet hatten ; die besuchtesten
waren diejenigen von Strassburg (College royal, das heutige
Lyzeum), Hagenau, Molsheim, Zabern, Schiet t-
stadt, Colmar (das spätere Lyzeum), Ensisheimu. a. m.
Seit dem Westfälischen Friedensschluss hatten die deutschen
Jesuiten mit der österreichischen Herrschaft das Land veriassen
müssen und waren durch französische Jesuiten aus der Provinz
Champagne ersetzt worden.
Durch ihre feinen Weltformen, ihr gewandtes Wesen, ihre
gefallige, hauptsächlich den Ehrgeiz anspornende Lehrmethode
und die glänzenden, freilich mehr oberflächlichen als grund-
lichen Fortschritte ihrer Schüler gewannen die Patres der Gesell-
schaft Jesu allmählich das Vertrauen der höheren Gesellschafts-
kreise des Elsass, welche ihnen ihre Söhne zur Erziehung
anvertrauten. Namentlich der Adel — und auch der prote-
stantische — übergab ihnen seine Kinder zur Ausbildung. Dieser
Umstand und dann die von den Jesuiten begünstigte Schlies-
sung gemischter Ehen, bei denen der weibliche Teil meist
katholisch war und wo darauf gedrungen wurde, dass die
Kinder in der katholischen Religion erzogen würden, erklärt
die grosse Zahl adeliger Uebertritte zum Katholizismus im
17. und 18. Jahrhundert. Der Einfluss der Jesuiten war in
Folge dessen ein viel grösserer auf die höheren Kreise im
Lande als derjenige des weltlichen Klerus, auf welchen sie
übrigens, da sie ihn heranbilden halfen, ebenfalls stark
einwirkten.
Das untere Schulwesen war bei dem Ausbruch der französi-
schen Revolution im Elsass nicht vernachlässigt. In den Städten
bestanden beinahe überall und besonders bei den Evangelischen
Rog. «Pfarrschulen», desgleichen katholische « Stifts »- und «Klo-
— 69 —
sterschuien», welche aus kirchlichen Mitteln gegründet waren
und durch Geistliche geleitet wurden. Daneben gab es viel
Privatschulen, in welchen Schullehrer, auch Lehrerinnen (Schul-
meister und Lehrfrauen) den Unterricht erteilten. Auf dem
Lande, namentlich in der fürstlich hessischen ehemaligen Graf-
schaft Hanau-Lichtenberg, hatten die Herrschaften überall
Schulen errichtet, welche — da der Schulzwang nicht bestand
— mehr im Winter als zur Sommerszeit besucht wurden. Die
Zahl der Schulstunden betrug taglich vier. Ausserdem gab es
im Lande, besonders in einsamen Gebirgsgegenden, sog. c Wander-
lehrer», welche sechs bis acht Wochen im Winter in einem
Bauernhofe verweilten und die Kinder des Hauses sowie die liebe
Jugend der umliegenden Meierhöfe während dieser Zeit not-
dürftig unterrichteten. Diese Wanderlehrer waren meistens ehe-
malige Soldaten (Invaliden), oder auch Weber, Schneider und
sonstige Handwerksleute, welche neben den Unterrichtsstunden
nocn sonstige Arbeiten im Hause verrichteten und dafür von
den Bauersleuten verköstigt und beherbergt wurden und noch
einige Thaler Lohn erhielten. Lesen, Schreiben, Rechnen,
Katechismus, etliche geistliche Kernlieder und eine Anzahl
biblischer Geschichten und Spräche konnten die meisten Leute
im Elsass im Jahre 1789, und das genügte für die damalige
Zeit im grossen und ganzen für das Volk. In Bezug auf Volks-
bildung stand jedoch das Elsass vor dem Ausbruch der französi-
schen Revolution auf einer viel höheren Stufe als in den übrigen
Provinzen des französischen Reiches.
Armen- und Krankenpflege.
Von altersher war das Elsass an wohlthätigen Anstalten
und an Werken der Barmherzigkeit reich. In M o 1 s h e i m,
Buchsweiler, Hagenau, Zabern, Golmar und anderen
Städten gab es «Elenden Herbergen» und Spitaler, in welchen
Kranke gepflegt und Verlassene und Hilflose unterstützt wurden.
In der Nähe von B r u m a t h erhob sich Stephansfelde n,
ein ehemaliges Spitalhaus des heiligen Geistes regulierter Chor-
herren Augustiner-Ordens, welches im 13. Jahrhundert von den
elsässischen Landgrafen von Werd zur Verpflegung der Armen
und zur Versorgung der Findelkinder errichtet worden war.
Im Jahre 1775 ward es säkularisiert und seiner ursprünglichen
Bestimmung näher gebracht.
Die Stadt Strassburg war besonders reich an solchen An-
stalten. Schon im Mittelalter besass sie eine «Elenden Her-
berge», worin arme Reisende einen Zehrpfennig erhielten,
ein Siechenhaus für Aussätzige bei der Roten Kirche vor dem
Steinthor, zu den <ic Guten Leuten» geheissen (woher der Name
— 70 —
«
des nahe dabei gelegenen Gottesackers St. Helenen noch heute
in der Strassburger Mundart <Gk)tlite» heisst)^ ein Lazarett
für verwundete Krieger vor dem Spitalthor, ein Blatternhaus
u. s. w. Im Jahre 4789 waren in Strassburg zwei Spitäler, der
durch die Bischöfe der Stadt gegriindete, 1482 auf dem Spital-
platz errichtete, 1716 durch einen grossen Brand zerstörte und
1720 in seiner jetzigen Gestalt aufgebaute sog. € Mehrere» (d. h.
Grössere) Bürgerspital, dem viele Bürger der Stadt reiche
Stiftungen zuwandten, und der sog. «welsche Spital », das heutige
Militärlazarett. Dasselbe wurde im Jahr 1692 auf Befehl Lud-
wigs XIV. errichtet und diente ausschliesslich der französischen
Garnison der Stadt. Mit dem Bürgerspital war auch ein anato-
misches Theater und eine Hebammenschule in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts verbunden.
In Bezug auf das Armenwesen bestand zu Strassburg im
Jahre 1789 vor allem die St. Marx-Stiftung, deren Ein-
kommen zumeist aus eingegangenen Klöstern, namentlich von
St. Marx, St. Arbogast, St. Barbara und anderen bestanden.
Dieses Einkommen reichte damals zur Unterstützung der städti-
schen Armen aus. Mit der St. Marx-Anstalt war auch eine
Bäckerei verbunden, welche bedürftigen Strassburger Familien
das sog. St. Marx-Brot verabreichte. Ferner gab es zu Strass-
burg ein Waisenhaus, welches seit der Beformationszeit in
den Räumen des früheren Klosters zu den Reuerinnen (Mag-
dalenenkloster), unweit der St. Katharinenkirche sich erhob.
Auch ein Findelhaus war seit 1748 in dem ehemaligen
Wilhelmerkloster errichtet worden.
Die Privatwohlthätigkeit entfaltete auch in Strassburg
ihre segensreiche Wirksamkeit. Die armen Studenten zogen
noch im vorigen Jahrhundert als Currendeschüler in den
Strassen umher und wurden unterstützt ; bei feierlichen Gelegen-
heiten, namentlich bei Leichenbegängnissen reicher und
angesehener Bürger, sangen sie geistliche Lieder. Auch war die
Sitt2 allgemein verbreitet, begabten jungen Leuten, die arm
waren, einen sog. «Freitisch» zu gewähren. Fromme Stiftungen
mancher Art und zahlreiche Stipendien kamen der studierenden
Jugend zu gut, und mancher talentvolle Jüngling, der sonst
verkümmert wäre, konnte mittelst dieser Unterstützungen
seine Studien machen, sein Ziel erreichen und eine geachtele
Stellung in der menschlichen (Jesellschaft erlangen. Für die
Armen und Notleidenden war vor dem Ausbruch der
französischen Revolution, welche das allgemeine Elend mehrte
und die unteren Volksschichten dreister und anmassender
machte, nicht nur in Strassburg, sondern auch im übngen
Elsass in ausgiebiger W^eise gesorgt.
— 71 —
Ackerbau, Handel und Gewerbe.
Der Ackerbau stand in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts in hoher Blüte im Elsass. Der Adel besass im Lande,
besonders im Unter-Elsass, grossen Grundbesitz, und das war
in mancher Hinsicht ein wahrer Segen für das Landvolk, in
dessen Mitte die adelige Herrschaft den Sommer über in ihren
Schlössern wohnte. Die adeligen Gutsbesitzer konnten, da sie
die Mittel dazu reichlich besassen, manche Verbesserung in
der Landwirtschaft einführen, manche segensreiche Einrich-
tung zum Wohl der ländlichen Bevölkerung ins Werk setzen;
letztere war ihnen auch meist treu ergeben und legte von ihrer
guten Gesinnung in der Revolutionszeit auch zahlreiche Beweise
ab. Der Grundbesitz im Elsass war lange nicht so zerstückelt
wie heutzutage, und der Landmann konnte die Früchte seiner
redlichen Arbeit im Frieden und bei guter Ruhe geniessen.
Wohl hatten die Bauern auch drückende Lasten zu tragen,
wie den Zehnten und die mannigfaltigen Fronden, allein es
herrschte doch mehr Wohlstand unter ihnen und sie waren
nicht so verschuldet und den Wucherern, die sie aussaugten,
preisgegeben wie nach der Revolution. Viele Landleute besassen
Haus und Hof und hatten dazu noch Aecker und Wiesen und
in Rebgegenden auch Weinberge. Andere waren herrschaftliche
Pächter und besassen ihr reichliches Auskommen. Auch in
Strassburg und Golmar gab es eine ackerbautreibende Klasse,
die cGartner» genannt. Der Landmann im Elsass hing zäh
an den alten Bräuchen und Sitten, ebenso an der Sprache und
einfachen Lebensweise der Väter. Die französische Herrschaft
hatte auf dem Lande keine tiefen Spuren zurückgelassen. Einen
grossen Einfluss auf den Bauernstand übte die Geistlichkeit
aus; auch die Amtleute und Dorfschulzen, oder wie man sie
im Hanauischen nannte, die «c Stabhalter», waren einflussreiche
Persönlichkeiten.
In den letzten Jahren vor der Revolution hatte die Land-
wirtschaft im Elsass bedeutende Fortschritte gemacht. Nament-
lich der Tabakbau hatte im Lande sehr zugenommen
und warf für den Pflanzer einen reichen Ertrag ab. In den
Jahren 1760 bis 1770 wurden 50,000 Gentner Tabakblätter ein-
geheimst. Infolge des amerikanischen Freiheitskrieges, wo
die Tabaksendungen aus Amerika ausblieben, nahm der Bau
dieser Pflanze im Elsass ungemein zu und betrug in den acht-
ziger Jahren des vorigen Säculums 120,000 Gentner, welche
dem Lande eine Einnahme von 2,400,000 Livres einbrachten,
b Strassburg allein waren im Jahre 1789 14 Tabakfabriken
in Thätigkeit ; dieselben beschäftigten hunderte von Arbeitern.
— 72 —
Der Boden im Elsass erwies sich für die Tabakkultur sehr
günstig, indem die Pflanze daselbst keinen Bodengeschmack
hatte. Es wurde daher der elsässische Tabak auswärts sehr
gesucht und viel davon nach der Schweiz, nach Baden, nach
der Pfalz und nach Holland ausgeführt.
Auch Weizen wurde viel gepflanzt, desgleichen Färbe-
röte (garance), die für Militärzwecke verwendet wurde. Auch
die Kultur der von Ludwig XVI. begünstigten Kartoffel
wurde im Elsass rasch verbreitet, besonders im rauhen Stein-
thale, dank den Eemühungen des menschenfreundhchen und
eifrigen Pfarrers Johann Friedrich Oberlin. Auch im
Hagenauer Forst, dessen Sandboden für den Kartoffelbau sich
sehr günstig erwies, wurde die Kultur derselben rasch ver-
breitet, desgleichen diejenige der Hopfenpflanze. Auch
der R e b b a u erfuhr, namentlich im Ober-Elsass, mehr Aus-
dehnung und manche Verbesserung. Die oberelsässischen
Weine wurden besonders nach der Schweiz ausgeführt. Die
Berge waren mit dichten Waldungen bedeckt, die in bestem
Zustande sich befanden ; die Viehzucht hatte durch die
Einführung von fremden Rassen merkliche Fortschritte gemacht,
desgleichen die Veredlung der Pferdezucht, durch Anlage
eines königlichen Gestüthauses (Haras royal) in Strassburg.
Auch die Geflügelzucht und die schon vor der Revolution
vorhandene Industrie der Gänsleberpasteten wafen in
Aufschwung. Das Elsass gewährte vor einem Jahrhundert den
Anblick eines fruchtbaren, reich von Gott begabten und geseg-
neten Landes, für dessen gedeihliche Entwicklung der Ausbruch
der französischen Revolution und deren sich überstürzende,
alles bisher bestehende von Grund aus zerstörende Neuerungen
durchaus keine Notwendigkeit war.
Auch Handel und Gewerbe befanden sich im
Elsass in einem blühenden Zustande um das Jahr 4789. Zwar
war die Grenze gegen Frankreich zu gesperrt, denn das Elsass
war als eine province ^trangöre angesehen und behandelt, aber
desto zahlreicher waren die Beziehungen zu Deutschland und
der Schweiz. Die Rheinschiffahrt und derTransi.t-
handel blühten besonders in Strassburg. Dadurch wuchs der
Wohlstand der Bürgerschaft, und mit demselben verfeinerten
sich auch Geschmack, Sitten und Manieren. Letjctere nahmen
immer mehr den französischen Anstrich an, was schon Goethe
in seinen Jugendeindrücken und in seinen Erinnerungen an
das schöne Elsass auffiel, und was er in seinem Meislerwerke
«Wahrheit und Dichtung» hervorhob. In Strassburg
gab es mehrere grosse Speditionsgeschäfte, die zugleich Bank-
häuser waren. Die namhaftesten derselben waren vor der
— 73 —
Revolution die Häuser von Türckheim und von Dietrich
auf dem Broglieplatz ; von F r a n c k hinter der Klauskirche
(das spätere Haus Renouard de Bussiere) und der
Gebrüder O 1 1 m a n n im ehemaligen « Schif! » bei dem
Kaufhause.
Im Gewerbewesen herrschte noch der Zwang der
Zünfte und Innungen, welcher 2 war die Freiheit des
Einzelnen hemmte und ein Hemmschuh für die Konkunenz
war, aber dennoch eine heilsame Schranke bildete und die
Wahrheit des alten Sprichworts bestätigte: «Handwerk hat
einen goldenen Boden. » Denn nicht der erste Beste durfte
Meister sein und ohne weiteres in Strassburg und den anderen
Städten sich niederlassen; sondern er musste die Probe seiner
Kunst ablegen und das Bürgerrecht sowie die Meisterschaft
durch Kunst, Geschicklichkeit, Fleiss und längeren Aufenthalt
in der « wunderschönen » Stadt sich allmählich erwerben.
Kunst und Wissenschaft, namentlich Musik,
blühten gleichfalls im Elsass, besonders in Strassburg, wo sie
reichliche Unterstützung und Anregung mancher Art fanden.
Die Einfuhrung französischer Modeartikel, Kleider und Haus-
geräte verfeinerte den Geschmack und diente zur Entwicklung
der Industrie. Das Elsass besäss hauptsächlich in Strassburg
(Gerbergraben), Barr, Wasselnheim, Zabern und anderen
Städten ansehnliche Gerbereien. Auch Buchdruckereien,
besonders in Strassburg, Eisenschmelzhütten (Niederbronn und
Umgegend) und Waffenfabriken (Klingenthal und Mutzig) waren
vorhanden. Strassburg war auch von altersher durch seine
Pergamentfabriken (Pergamentergasse) und Glockengiessereien
(davon die älteste die seit dem 47. Jahrhundert bestehende von
Edel war) bekannt. In Mülhausen war seit der Mitte des
vorigen Jahrhunderts die Fabrikation von Indienne- und Baum-
wollartikeln entstanden und im Aufschwung begriffen, und der
Anschluss des kleinen schweizerischen Freistaates an Frankreich
legte ein Jahrzehnt nach dem Ausbruch der Revolution (1798)
den Grund zur nachherigen Entwicklung der Stadt und war
für Mülhausen ein Akt der politischen Notwendigkeit.
Die Strassburger Messe, namentlich die Johannismesse, zog
viele fremde Kaufleute an und dauerte vierzehn Tage lange ;
sie war die bedeutendste im ganzen Elsass. Auch für die Buch-
handlung war sie, wenn auch in viel kleinerem Massstabe als
die Leipziger und die Frankfurter Messe, wichtig. Der Sammel-
platz der Buchhändler, Antiquare und Bibliophilen in Strass-
burg war im sog. ccKolajm» (Kollegium), dem alten Kloster-
gange der einstigen P rediger kirche auf dem Neuen Markt (ehe-
maligen Predigerkirchhof). Gutenbergs edle Kunst blühte in
— 74 —
Sirassburg; die bekanntesten Buchdrucker vor der Revolution
waren Heitz, Levrault und Leroux, Auch an Buch-
handlungen zählte die Stadt grössere Firmen ; die namhaftesten
waren diejenigen von Lorentz und Schuler, Pfähler
(nachmals Treuttel und Würtz), Friedrich Rudolf
S a 1 z m a n n (Akademische Buchhandlung in der Schlosser-
gasse, wo seit 1788 die « Privilegirte Politische Strasburgische
Zeitung » erschien) und andere. So herrschte auf allen Gebieten
der menschlichen Thätigkeit^ den materiellen wie den geistigen,
im Elsass überall ein reges Leben.
Von hohem Interesse ist die Schilderung, die ein Zeit-
genosse, der bekannte Staatsmann Johannvon Türckheim,
in seiner merkwürdigen Denkschrift über die landwirtschaft-
lichen Zustände und die Handels- und Industrieverhältnisse
im Elsass im Jahre 1789 entwarft. Derselbe sagt darüber :
cDie Provinz Elsass ist durch eine Kette von Bergen, den
(( Wasgau und den Jura, vom übrigen Reich getrennt ; ihr wirk-
« liches Handelsverhältnis mit den französischen Provinzen ist
cc nichtbeträchtlich; durch die Schiifarth auf dem Rhein
((und durch die Strassen, die ihnen von Strassburg weg in's
« teutsche Reich offen stehen, werden die meisten von ihren Pn>-
«cdukten abgesetzt, und die Fremden verzehren ihren Tausch
« in der Waaren-Niederlage von Strassburg. Einer Seits brauchen
((die italiänischen und Schweizerwaaren, anderer Seits die aus
«Holland und anderen nördlichen Ländern die Strassen der
ü Provinz, und diese Durchfuhr bringt viel Geld herbei, erleichtert
((den Ck)mmissionnairs den einzelnen Absatz der Landeswaaren>
« beschäftigt die Handwerker und unterhält zu Strassburg ein
«Corps von sehr erfahrenen Schiffern, welche deni Staat oft
((nützliche Dienste geleistet haben, und sein stark gehendes Fuhr-
« wesen, das durch seine Zehrungen sehr einträglich ist. Diese
«Industrie kann nur so lange vor dem Wetteifer der Fremden
«gesichert sein, als sie beschützt wird. In dieser Ueberzeugung
« Hess Ludwig XIV. durch Colbert bald nach der Eroberung des
«Elsasses einen besonderen Tarif für die Domänen des obern
«Elsasses verfertigen, die auf ihre Consumirung und den Gang
«des Handels gelegt wurde. Dieser Tarif sollte das Elsass auf
«immer von der Finanz- Herrschaft der fünf grossen Pachten
«(fermes) befreyen.
«Als die Stadt Strassburg sich mit Frankreich vereinigte,
« erhielt sie durch ihre Capitulation die Beybehallung der Rechte
« und Immunitäten, die sie schon in der Provinz genossen, und
«ihrer Handelsfreyheiten insbesondere. Sie wurde sogar von
«Colbert durch die bestimmte Bedingung begünstigt, dass alle
«nach Strassburg gehenden Waaren und alles ausgehende Gut
— 75 —
«an den Büreaux des untern Elsasses von allen Gebühren frey
cseyn sollten; an den ober-elsassischen Büreaux^ mvo die Erz-
cherzöge immer einen Zoll eingezogen hatten, mussten sie eine
< massige Gebühr von 8 Sols vom Centner entrichten.
c Diese Vergünstigung musste den Ackerbau der Provinz
«blühend machen und ihren Handel mächtig heben. Unter dem
c Schutze dieser Verfassung war die Provinz immer in einem
c vortrefflichen Zustand.
€ Folgende sind die Haupterzeugnisse des Elsasses: Zum
fersten der Tabak. Vor der Vereinigung dieser Provinz mit
«Frankreich bis zum Jahre 1749 hatte der Bau und dieFabrizi-
crung das Tabaks jährlich grosse Summen in's Elsass gebracht;
<es versorgte damit die Schweiz, einen Theil von Deutschland
cund sogar von Italien. Im Monat Mai 1749 brachte die General-
€ Pacht (ferme g^n^rale), in der Absicht das Verschicken des
«Tabaks in das Innere der Provinzen, die ihrer Verwaltung
conterworfen waren, zu verhindern, die französische Regierung
«zu dem Entschluss, eine königliche Erklärung zu erlassen,
«durch welche auf jedes Pfund fremden Tabaks, der in da»
c Elsass kam, eine Gebühr von 30 Sols zu erheben sey. Da aber
«der elsässische Tabak nicht wohl verführt werden konnte,
«wenn er nicht zuvor entweder mit Virginischera Tabak oder
«mit Pfalzen Blättern vermischt ist, so kam die Auflage vonr
«30 Sous einem Verbot des fremden Tabaks gleich. Mehrere
«fremde Manufakturen, so die bekannte Firma Lotzbeck in
«Lahr, errichteten Manufakturen in der Markgrafschaft Baden ^
«im bischöflich Speyerischen Gebiet und in der Pfalz. Das
«Elsass empfand diesen Verlust auf das Lebhafteste. Die Pro-
«vinz bemühte sich lange Zeit, aber vergebens, den Widerruf
«der Erklärung (Ordonnance royale) von 1749 zu erlangen ;
<erst im Jahre 1774 erhielt sie von der französischen Regierung
«die Verordnung, dass Alles, was diesen Artikel betrifft, wieder
«auf den alten Fuss gesetzt werden sollte.
cSeit diesem Zeitpunkt bis zum Ausbruch der Revolution
«brachte der Tabakbau im Elsass in gewöhnlichen Jahren
«etwa 120,000 Blätter hervor, wovon der mittlere Preis zu 12
«Uvres der Gentner, eine Einnahme von 1,440,000 Livres für
«die tabakbauende Landbev ölkerung betrug.
«Diese 120,000 Gentner zu 12 Livres der Centner, werde»
«fabriziert in Carotten, die zu 26 Livres der Centner, in Mehl zu 20
«Livres und in Rollen zum Rauchen zu 17 Livres verkauft werden.
^In Hinsicht auf die Menge eines jeden dieser drei Fabrikate
«kann man einen mittlem Preis von 20 Livres für den Centner
«rechnen. Die 120,000 Centner Rohtabak bringen also zu diesem
«Preis gerechnet, eine runde Summe von 2,400,000 Livres her-
— 76 —
«vor, wovon 1,440,000 Livres dem Bauern und 960,000 Livres
ordern Handelsmann für die Bearbeitung und den Handelsgewinn
< zufallen.
«Während des amerikanischen Krieges wurde der Tabak-
«bau im Elsass um ein Drittel vermehrt, und der mittlere Preis
< stieg auf 30 Livres der Centner.
« Die übrigen Zweige des Ackerbaues im Elsass vor der
-«Revolution waren: der Hanfbau. Der Ankauf desselben
•« auf beiden Seiten des Rheins Mäuft sich auf 40,000 Centner,
-« welche etwa 1,400,000 Livres auswerfen. Er wird im Elsass
« verarbeitet und dann auswärts verkauft. Femer die Lei n-
■«wand. In der kalten Jahreszeit wurde überall auf dem Lande
< gesponnen und das Garn in den Dörfern selbst gewoben.
«Der elsüssische Ackersmann und Weber hatte einen erkleck-
« liehen Gewinn vom Bau und von der Verarbeitung des Hanfs;
•«die elsässische Leinwand fand in der Schweiz, in Frankreich,
«wo die Zölle an den Barrieres aber stark waren, und meist in
< Deutschland , einen grossen Absatz. Auch Magsamen,
«Rübsamen und N u s s ö 1 wurden in Elsass viel fabrizirt
« und mit Vortheil verkauft und unterhielt viele kleine Oelmühlen
«im Lande. Neben denselben bestanden viele grössere Mahl-
« mühlen an den vielen Bächen, welche die Provinz durch-
« strömen und im Gebirg, wo die Waldungen noch dichter
«waren, fand man, namentlich in der Umgegend von Nieder-
«bronn noch viele Meiler, welche die Kohlen- und Eisen-
« industrie der Barone von Dietrich unterhielt. Die übrigen In-
«dustrien, Indiennefabriken, Baumwollwebereien und Spin-
«nereien, deren Ausgangspunkt Mülhausen in Ober-Elsass ist,
«sind noch einer grossen Entwicklung fähig.
«Der elsässische Weinbau war ebenfalls blühend. Die
« meisten Weine der Provinz, besonders in Ober-Elsass, werden
« von den Schweizern aufgekauft und concurriren mit den Mark-
«gräfler und Pfalzer Weinen.»
So weit der sachkundige und zuverlässige Baron Johann
Yon Türckheim.
Militärverwaltung,
Vor der französischen Besitznahme des Elsass im Jahre
d648 gab es am Oberrhein drei Hauptfestungen, welche den
Schlüssel zum Elsass bildeten: Breisach, Strassburg
und Philippsburg. Breisach und Philippsburg fielen an
das deutsche Reich zurück, und als Ludwig XIV. sich der Stadt
Strassburg bemächtigt hatte, Hess er sofort eine Anzahl von
i)efestigten Plätzen anlegen, um sich den Besitz des Elsass zu
— 77 —
sichern. Die französischen, sämtlich vonVauban nach dem-
selben Plane erbauten Rheinfestungen waren: Hüningen^
Neu-Breisach , Schlettstadt , Strassburg mit der
Citadelle, Fort -Louis und Lauterburg. Weiter im
Lande waren : H a g e n a u , das eine Ringmauer und einige
Vorwerke hatte, Weissen bürg und Landau. Die festen
Mauern und Türme von Colmar und Zabern waren i^lS-
und d677 abgebrochen und durch das Pulver gesprengt worden.
Es blieben davon nur schwache Ueberreste. Ferner gab es-
noch im Elsass vier Gebirgsfestungen, nämlich das feste Beifort
und die Schlösser von Landskron im Juragebirge, Lichten-
berg und Lützelstein in den Vogesen. In diesen festen
Plätzen waren die französischen Truppen, deren es im Jahre
1789 24,000 im Elsass gab, in Garnison. Es waren ferner etwa
500 Mann Gendarmerie (Mar^chauss^e), die in 17 Brigaden ein-
geteilt waren, im Lande und einige Invalidencompagnieen, die
in den kleinen Bei*gfesten lagen.
Der kommandierende Befehlshaber der Provinz, der den
Titel eines Commandant en chef führte, war bis 1788 der bekannte
Marschall von Contades, dem zu Ehren eine Promenade
vor der Stadt den Namen c Contades x» erhielt. Das Hotel des^
Oberkommandanten befand sich in der Blauwolkengasse, es war
das heutige Landgerichtsgebäude.
Der Nachfolger von Contades war der Marschall de Stain-
ville, der aber bald darauf starb. Im Jahre 1789 war der Graf
VCD Rochambeau, Lafayettes WafTengefahrte und Freund,
Oberbefehlshaber der Provinz Elsass. Unter dem oberkomman-
dierenden General standen drei General lieutenants (lieutenant.s
g^D^raux) und zwei Königslieutenants (lieutenants de roi, auch
marechaux de camp genannt).
Da das Elsass Frankreich gegenüber bis zum Ausbruch
der Revolution als eine auswärtige Provinz angesehen wurde,,
so lagen auch viele fremde, sogenannte deutsche und Schweizer-
regimenter im Lande. Die bekanntesten elsässisch-deutschen
R^menter waren : Royal- Alsace, Royal-Deux-Ponts, Royal -
Hesse, La Marck, Strasbourg-Artillerie, Hussards de Conflans
(früher Hussards de Saxe- Weimar), Royal-Allemand, Nassau-
Saarbrück, Chasseurs de Chamborant, Royal-Nassau (Husaren)^
Rosen (Cavallerie). Diese Regimenter waren aus den lieber-
bleibsein des ehemaligen Weimarischen Heeres, einer der best-
geschulten Armeen in Europa während des dreissigjährigen
Krieges, entstanden. Nach dem Tode des Herzogs Bernhard
von Sachsen -Weimar war bekanntlich dessen Heer, durch die
Bemühungen des Generals von Erlach, der durch französische»
Gold gewonnen war, in der Festung Breisach in den Dienst
— 78 -
Frankreichs getreten. Nach dem Westtalischen Frieden wurde
«in Teil der weimarischen Truppen entlassen; die übrigen Re-
:gimenter wurden neugestaltet und erhielten andere Benennun-
.^en und Uniformen. Wenige rein französische Regimenter waren,
mit Ausnahme von Beifort, bei dem Ausbruch der französischen
Revolution im Elsass in Garnison.
In jeder elsässischen Festung oder Garnisonsstadt war ein
Platzkommandant mit seinem Stab (ötat major). Derselbe
bezog von der Stadt freie Wohnung und Brennholz und hatte
das Jagdrecht im Weichbilde derselben. Auch mussten, da
wo keine oder ungenügende Kasernen vorhanden waren, die
Bürger häufig Einquartierung sich gefallen lassen. Bessere
Bürger mussten ein Zimmer für Offiziere stets in Bereitschaft
halten; dasselbe nannte man: la chambre de l'ofQcier. Die
Stadtbehörden waren auch angehalten die Wachlhäuser (corps
de garde) beleuchten und heizen zu lassen.
Folgendes Verzeichnis wird dem geneigten Leser eine
Uebersicht über den französischen Truppenstand im Elsass im
Jahre 1789 geben:
Bei fort. Besatzung: Zwei Bataillone Royal-Marine und
vier Schwadronen Dragons de Lorraine. In letzterem Kavallerie-
regiment diente als Unteroffizier der nachmalige König von
Schw^eden, ßernadotte. Gleichzeitig lebte mit ihm in Beifort
in den achtziger Jahren als Baumeister sein Waffengefahrte
Kleber aus Strassburg.
Hüningen. Garnison: Zwei Bataillone des Regiments
•de Bourgogne.
C 0 1 m a r. Diese unbefestigte Stadt hatte nur eine Kavallerie-
besatzung; es lagen in derselben vier Escadrons der Dragons
^e Monsieur.
Neu-Breisach. Garnison: Zwei Bataillone des deutschen
Regiments Zweibrücken, dessen Inhaber der Herzog von Pfalz-
2weibrücken war, und vier Schwadronen der Chasseurs d'Al-
5ace. Im Fort-Mortier lag eine Invaliden compagnie.
Schlettstadt. Garnison: Zwei Bataillone des Regiments
La Marck und vier Schwadronen der Chasseurs de Champagne.
Der Oberst letzteren Regimentes war der Graf von Lezay-Ma^
Jiesia, ein allerer Bruder des unvergesslichen Prafekten des
niederrheinischen Departements.
Strassburg. Die Besatzung der Stadt Strassburg, in
welcher sich eine Artillerieschule und eine Kanonengiesserei
befand, bestand im Jahre 1789 aus folgenden Truppen: Zwei
Bataillone des Regiments Royal-Infanterie, zwei Bataillone des
Regiments Royal-Alsace, dessen Oberst der bekannte und volk»-
iümliche Prinz Max war; zwei Bataillone des Regiments
— 79 —
Royal-Hesse- Darmstadt, dessen Oberst der Erbprinz Ludwig,
Landgraf von Hessen-Darmstadt, war. Ferner lagen vier Schwa-
dronen des Regiments Royal-Cavallerie und vier Escadrons des
Regiments Artois daselbst in Garnison. Endlich war noch das
Regiment St rasboui^- Artillerie dort in Garnison ; in demselben
dienten viele junge Strassburger.
Hagenau. In dieser offenen Stadt lagen vier Schwadronen
der Hussards de Gonflans. Die Kavalleriekaserne, die durch
Ludwig XrV. erbaut worden war, stand auf der Stätte, wo einst
die alte Hohenstaufenburg sich erhob, die im Jahre 1677 mit
dem grössten Teil der Stadt Hagenau, durch den Parteigänger
La Brosse zerstört, in Flammen aufging.
Fort-Louis. In dieser Festung befanden sich 200 Mann
des Regiments de Beauvoisis, die von Weissenburg hin deta-
chiert waren.
Weissenburg. Garnison : Zwei Bataillone des Regiments
von Beauvoisis.
Landau. Diese Stadt, die bis zum Jahre 1814 zum El-
sass gehörte, besass eine durch Vauban erbaute starke Festung,
in welcher bei dem Ausbruche der Revolution zwei Bataillone
Infanterie vom Regimente de Neustrie und zwei Schwadronen
des Husarenregiments de Chamboran (auch Chamborant) lagen.
— In Pfalzburg, dem «Schlüssel» zur Zaberner Steige, lagen
zwei Bataillone des Regiments La Marck und vier Escadrons
der Chasseurs de Champagne in Garnison.
In den kleinen Gebirgsfesten Landskron (unweit Basel),
Lichtenberg und Lützelstein, auch im Schlosse zu Beifort und
im Fort-Mortier bei Neu-Breisach lagen Invalidencompagnieen.
Ausser dieser stehenden Armee hatte der Marschall von
Contades im Jahre 1762 eine Miliz (garde bourgeoise) in allen
eisässischen Städten, mit Ausnahme von Strassburg, ins Leben
jrerufen. In Colmar z. B. waren drei Gompagnieen Bürgermiliz,
die von der Farbe ihrer Uniformen die bl aue, die rote und
die graue hiessen. In Strassburg bildeten die reichen Bürger-
söhne bei festlichen Gelegenheiten eine reitende Ehrengarde.
Die Milizen hatten den inneren Dienst in den Städten, Wachen,
Xachtrunden^ Patrouillen u. s. w. zu versehen.
Steuer^vesen und Finanzen.
Die Finanzlage im Elsass vor dem Ausbruch der franzö-
sischen Revolution war keine ungünstige, obwohl die Last der
Abgaben seit der Vereinigung mit Frankreich bedeutend zuge-
nommen hatte. Es gab zweierlei Steuern, herrschaftliche
und k ö n i g 1 i c h e. Zu den ersten gehörte der Zehnten, die
— 80 —
Fronsteuer, das Ohmgeld oder die Weinsteuer, die Gerichts-
gebiihren und die Strafgelder, endlich die Begräbnissteuern*
Was die königlichen Abgaben betrifift, so bestanden dieselben
in der Entrichtung der beider Zwanzigsten (deux vingtiämes),
die sich jährlich auf 740,000 Livres belief, aus der Kopfsteuer,
die 500,000 Livres betrug, und aus dem Chausseegeld, welches
sich auf 400,000 Livres belief. Ausser diesen Auflagen lasteten
noch manche indirekte Steuern auf dem elsässischen Volk.
Wir nennen darunter das Mar^chausseegeld, die Abgaben zur
Abschaffung des sog. « Beth t» im strassburgisch-bischöfüchen
Gebiete, die Steuern für die Rheineindämmung, die Abgaben
für den Sold der Milizen und den Bau und Unterhalt der Ka-
sernen, die Auflagen für die Fütterung der Kavalleriepferde
u. a. m. Die ausserordentlichen Abgaben beliefen sich auf unge-
fähr 1,400,000 Livres. Dazu kamen noch die Kosten für ein-
zelne Gemeinden, welche die Höhe von 800,000 Livres erreichten.
Dagegen war das Elsass als auswärtige Provinz von der
lästigen Salzsteuer (gabelle) befreit, welche bei dem französischen
Volk so unbeliebt war, femer von den Abgaben auf Lebens-
mitteln und Waren (aides), und hatte nur das Ohmgeld oder
die Weinsteuer zu zahlen. Statt der Grundsteuer (taille) be-
zahlte das Elsass eine Geldsumme, die ursprünglich sich auf
99,000 Livres belief, aber mit der Zeit die Höhe von 300,000
Livres erreichte. Diese letztere Auflage, von welcher die (Jeist-
lichkeit und der Adel befreit waren, nahm bei der in Frankreich
zunehmenden Finanzzerrüttung derartig zu, dass sie im Jahre
1789 die Summe von nahezu 9 Million Livres erreichte.
Das Elsass zahlte im Jahre 1789 über 5 Millionen Livres
Abgaben, von denen etwa 2 Millionen in den königlichen Schatz
(Tresor du roi) flössen. Die herrschaftlichen Steuern, Zehnten,
Fronden, Beth u. s. w. betrugen etwa 1 Million Livres ; die
indirekten Steuern 2 Millionen.
Was die Stadt Strassburg anlangt, so war sie laut des
6. Artikels der Kapitulation von 1681 von allen Kontributionen
und Auflagen befreit, und Seine Majestät überliess der Stadt
alle ihre gewöhnlichen und aussergewöhnlichen Einnahmen, um
dieselben zu deren Unterhalt zu gebrauchen. Trotz dieser Immu-
nität entrichtete die Stadt dem König eine Menge sog. freiwilliger
Geschenke (dons gratuits), die man als indirekte Abgaben an-
sehen .konnte, und musste sich vielen Dienstleistungen unter-
ziehen. So entrichtete sie eine Hilfssteuer (subside) von 60,000
Livres für den Unterhalt der elsässischen Festungen, eine Summe
\on 38,000 Livres für das Mobiliar in den öffentlichen Gebäu-
den, die an den Generalstab (Etat major) der Stadt und der
Citadelle und an den Intendanten der Provinz abgegeben wurden»
— 81 —
einea Beitrag von 72,000 Livres für Lieferung von Brennholz
und Wellen an die franzosischen Stabsoffiziere und an die
Militärverwaltung. Ferner zahlte der Magistrat jährlich 80,000
Livres für den Unterhalt der Kasernen und 20,000 Livres für
denjenigen des Vaubanschen (heutigen Breusch-) Kanals. End-
lich lasteten noch auf der Stadt die Kopfsteuer, die zwei Zwanzig-
sten oder die 4 Sous vom Livre und die Beisteuer zu den Be-
sddungsgebuhren des Conseil Sou verain d'Alsace. Zur Be-
streitung dieser drei Auflagen musste der Strassburger Rat
jä)irlich eine Summe von 250,000 Livres aufbringen. Im ganzen
hatte die Stadt Strassburg an Frankreich bei dem Ausbruch
der Revolution eine Totalsumme von 1,039,600 Livres Steuern
zu bezahlen, bei einem städtischen Einkommen von 1,582,482
Livres. Die Schuld der Stadt belief sich im Jahre 1789 auf
etwa 2 Millionen Livres.
Verkehrsleben und Geselligkeit.
Strassburg war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
eine von Fremden viel besuchte Stadt. Ausser den auslän-
dischen Studenten, namentlich aus der Schweiz, Süddeutschland,
Oesterreich und den russischen Ostseeprovinzen, welche, durch
Schöpflins europäischen Ruf angezogen, nach der dortigen
Universität strömten, um neben den Wissenschaften die franzö-
sische Sprache zu erlernen, war der Handelsverkehr mit Deutsch-
land, Frankreich und der Schweiz ein sehr reger. Drei Post-
wagen gingen jede Woche nach Paris ab ; diese <c Diligencen >
wie man sie nannte, nahmen ihren Weg über Wasselnheim,
die Zaberner Steige, Pfalzburg, Nancy, Lothringen und die
Champagne. Auch mit dem Ober-Elsass, mit Hochbuigund
(Franche-Comt^), Lyon und dem südlichen Frankreich hatten
die Strassburger Handelsleute zahlreiche Geschäftsverbindungen.
Drei Postwagen gingen ferner wöchentlich nach der Schweiz ab,
und der Verkehr mit Deutschland war ein viel häufigerer noch,
denn täglich fuhren eine Menge von Fuhrwerken und Lastwagen
über die Kehler Rheinbrucke.
Die s<^. « kleine Post » (la pelite poste) oder Briefpost war
durch einen Erlass des königlichen Staatsrats vom 11. April
1779 eingerichtet worden. Das Hauptbureau der Stadtbriefpost
(Bureau gen^ral) derselben befand sich in der Judengasse,
unweit der Maurerstube; 14 Briefträger und 2 Supernumerare
(surnumeraires) versahen den Dienst in der Stadt. 49 Brief-
kästen waren in der innern Stadt, in den Vorstädten (fauxbourgs)
und in der Gitadelle angebracht. Die Austeilung der Briefe
geschah täglich viermal in der Stadt.
0
— 82 —
Die Stadt Strassburg halte vor dem Ausbrach der fran-
zösischen Revolution das Gepräge einer unfreundlichen finsteren
Stadt. Die Strassen waren enge und nicht sehr reinlich, was davon
herrührte, dass viel Wasser, das jetzt überbrückt ist, durch die
Stadt floss. So war z. B. der Gerbergraben eine düstere Gasse,
in welcher Schmutz und Unreinlichkeit herrschten. Viele
Häuser hatten noch sog. Ueberhänge, d. h. das erste Stock-
werk ging vor, was die Strassen verengerte. Da wo jetzt der
lUkanal durch die Stadt sich zieht, war in der Mitte ein Damm,
von beiden Seiten mit stehendem Wasser umgeben, das schäd-
liche Ausdünstungen, namentlich in den Sommermonaten, ver-
breitete. Strassburg, eingeengt durch den Festungsgürtel der
Vaubanschen Wälle und Bastionen, konnte sich weder aus-
dehnen noch verschönern und war weit davon entfernt die
€ wunderschöne Stadt » zu sein, welche der Dichter besingt.
Und doch war es hier gut zu wohnen, denn vor der Revolution
herrschte unter den Bürgern der Stadt — Arnolds Lustspiel
cDer Pfingstmontag» beweist es — deutsche Art und Sitte,
welche den französischen Revolutionsmännern so verhasst war,
dass sie im Jahre 1793 den Vorschlag machten, die Elsässer in
das innere Frankreich zu verpflanzen und dagegen Voliblut-
franzosen nach Strassburg zu versetzen, um dort den deutschen
Geist mit Stumpf und Stiel auszurotten. Einen schlagenden Beweis,
wie wenig die französische Sprache vor der Revolution gerade in
Strassburg verbreitet war, legt das dortige Zeitungswesen ab.
Das gelesenste und verbreitetste Blatt in der Stadt war die
1788 gegründete und bei dem Buchdrucker Friedrich Ru-
dolf Salzmann,' der zugleich in der Schlossergasse die
«c Akademische Buchhandlung > besass, erscheinende c Privile-
girte Strasburgische Zeitung». Im Jahre 1789 erschien sie
unter dem Namen < Strasburgische Politische Zeitung » und
1792 unter dem Titel «Der Weltbote». Dieses Blatt erschien
zuerst dreimal in der Woche und von 1790 an täglich, am
Sonntag ausgenommen. Salzmanns Nachfolger war sein Tochter-
miinn Johann Heinrich Silbermann, unter dessen
Leitung das Blatt den Namen « Der Niederrheinische Kurier »
annahm. Ferner kam seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts
zweimal wöchentlich bei Philipp Jakob Dannbach das
«Strass burger Wochenblatt» heraus. Beide Blätter erschienen
in deutscher Sprache. Desgleichen ein zweites Wochenblatt, das
später bei Silbermann unter dem Namen «Les afßches de Stras-
bourg » erschien und heute noch herauskommt.
1 Bor Bachdrucker Friedrich Radolf Salzmann wird oft mit
seinem Vetter, dem Aktaar Daniel Salzmann, verwechselt.
— 83 --
Die namhaftesten Gasthöfe in der Stadt waren im Jahre
4789 folgende : Der Geist, gegenüber der Klausbrücke. Dort
waren Herder, Jung-StiUing, Goethe bei ihrer Ankunft in
Strassburg abgestiegen. Ferner der Gasthof zum Raben
auf dem Rabenplatz; dort hatten (1741) Friedrich II. von
Preussen, von den alten Strassburgern nur der c Grosse Fritz »
genannt, und Kaiser Joseph IL (1779) bei ihrem Besuche in
Strassburg einige Tage gewohnt. In der Metzgergasse befanden
sich der Badische Hof und auf dem Metzgerplatze die
Stadt Wien (gegenüber der heutigen gleichnamigen Restau-
ration). Beide Grasthöfe waren viel von den c Ueberrheinem »
and den fremden Kaufleuten, welche die beiden Strassbui^ger
Hessen (die Weihnachts- und die Johannismesse) besuchten,
aufgesucht. In unmittelbarer Nähe des Kaufhauses war das
Spanbett, bekannt durch den schrecklichen Brand desselben,
and die Blume. Der Gasthof, der mit Vorliebe vom unter-
elsässischen Adel und demjenigen der Ortenau und des Breis-
gaus besucht wurde, war das äusserlich beinahe unverändert
gebliebene schone Giebelhaus mit den zierlichen Erkern, einst
zum Schiff genannt. Dasselbe war eine ehemalige adelige
Trinkstube. Die beiden anderen waren : der Hohe Steg und
der Mühlstein bei dem Salzhaus, wo einst die mächtigen
Adelsgeschlechter derer von Zorn und von M ü 1 1 e n h e i m
zusammenkamen. Im Goldgiessen befand sich der Goldene
Apfel, und auf dem Munsterplatz erhob sich das Haus Z u m
Hirtzen, ebenfalls zwei alte Strassburger Gasthöfe.
Ausser diesen Gasthäusern, in welchen ein starker Fremden-
verkehr stattfand, bestanden noch 20 bürgerliche Zunftstuben,
in welchen die Strassburger Bürger ihre Familienfeste, ihre
Tauf- und Hochzeitessen und ihre fröhlichen Gelage zu halten
pflegten. Die vornehmsten Zunftstuben waren diejenigen c Zur
Luzerne » (Laterne) bei der alten Komgasse und c Zum Spiegel »
in der Schlossergasse. Anfangs Juli 1789 wurde auf dem
Paradeplatz (Kleberplatz) ein neuer Gasthof errichtet, der bald
zu den ersten der Stadt zählte ; es war dies das noch heute
bestehende c Rothe Haus :», in welchem General Bonaparte bei
seiner Durchreise nach Rastatt zum dort stattfindenden Kongress
(Dezember 1797) einige Stunden weilte und eine Mahlzeit ein-
nahm. Die Familien von Dietrich und von Berckheim hatten
die Ehre an seiner Tafel zu speisen.
Nach der Revolution erhielten sich die alten Benennungen ;
die meisten früheren Zunftstuben wurden in Bierhäuser um-
gewandelt. Eine derselben, in der Tucherstubgasse, wurde zum
deutschen Theater eingerichtet. Die französische
Komödie erhob sich auf dem Broglieplatze, brannte jedoch
— 84 —
in den neunziger Jahren völlig ab, worauf ein stattlicher Neu-
bau sich erhob.
In den drei Vorstädten, Steinstrasse, Kranenburgerstrasse
und Weissturmthorstrasse, gab es eine grosse Anzahl von
Wirtshäusern, wo meist die Bauersleute, welche am Mittwoch
und Freitag die Wochenmäi^kte besuchten, ihre Mahlzeiten ein-
nahmen. Der Hauptverkehr in Strassburg war vor der Revo-
lution in der Nähe der Grossen Metzig und des Kauf-
hauses. Dort wurden die Waren abgeladen, die auf dem
Wasserwege in die Stadt kamen, und wurden von den starken
und kräftigen c Packern i» und Sackträgern, die eine Art von
Zunft bildeten, in Empfang genommen und den Kaufleuten
ins Haus gebracht. In der Nähe dieser Gebäude war auch der
Fischmarkt. Dorthin kamen mit Vorliebe die sogenannten
^ Ueberrheiner :d oder Landleute aus der Umgegend von Kehl
und des rechtsrheinischen Hanauer Landes.
Ausser den Gasthöfen und Wirtshäusern gab es um das
Jahr 1789 in Strassburg noch viele Kaffee- und Bierhauser.
Letztere waren meist dunkle und unansehnliche Lokale, in
welchen in niederen Stuben und bei dem Schein trübe
brennender Oellichter der Gambrinussaft abends mit Behauen
von den ehrsamen Bürgern und Handwerkern bei einer Pfeife
cc Tabak t» oder holländischen € Kanasters » und unter kurz-
weiligen Reden getrunken wurde. Die Strassburger Bierstuben
hatten noch bei dem Ausbruch der Revolution und selbst bis
in die dreissiger Jahre unseres Jahrhunderts hinein ein rein
deutsches Gepräge. Die ältesten Bierstuben waren diejenigen
zum Leopard, zum Tiger, zum Einhorn, zum
Vogel Greif, zum Delphin, zum Kranich, zum
Riesen, zum Wolf, zum Bären, zum Vogelsang
u. a. m. Die Benennungen derselben waren meist dem Tier-
reich entlehnt.
Was die Kaffeehäuser betrifft, so hatten die meisten
derselben einen französischen Anstrich und waren auch vor-
nehmlich von dem französischen Publikum, namentlich von
Offizieren und höheren Beamten liesucht. Auf dem Paradeplatz
(heutigen Kleberplatz) befanden sich zwei Kaffeehäuser, (Uns
Cafe Su^ois und das Caf§ militaire. In unmittelbarer Nähe
desselben, an der Ecke des Gerbei*grabens und des Eiserumann-
platzes, stand das Kaffeehaus zum « Blauen Bauer )», das viel
von Militärs besucht wurde. Unweit des heutigen Theaters
erhob sich das Cafä de la Com6die fran^aise. In der Schlosser-
gasse war das Cafe des Marchands, das besonders, wie es sein
Name anzeigt, von Kaufleuten besucht war und eine Arl
Börsenlokal bildete. Auf dem Münsterplafz stand das Caf(^ tie
— So-
la ville de Paris ; auf dem neuen Markt erhob sich das Cafö
Gayoty das seine Benennung dem Namen eines französischen
Intendanten des Elsass im vorigen Jahrhundert entlehnt hatte.
In der Nähe der heutigen Uhlanenkaserne, auf dem sog.
c Ritterplatz », war das CaU de Saint-Nicolas, welches seinen
Namen von der früheren Klosterkirche St. Klaus in Undis (an
den Wassern) hatte. In der Citadelle war auch ein Kaffeehaus,
welches ausschliesslich von den Offizieren der Garnison besucht
wurde und als Schild den bezeichnenden Namen Gaf^ aux
armes de France führte.
Bezüglich der öflentlichen Promenaden, so gab es
deren in Strassburg selbst vor dem Ausbruch der Revolution
nur eine, nämlich den Broglie (später von den Strassburgern
(Breutl» genannt, der heutige Broglieplatz), der im Jahre i 740
auf die Anregung des Marschalls von Broglie, dem damaligen
Militäroberkommandanten der Provinz Elsass, auf dem ehe-
maligen € Rossmarkt» angelegt und mit Lindenbäumen an-
gepflanzt worden war. Zu Ehren des Marschalls von Broglie
wurde die Promenade, die noch heute eine Zierde Strassburgs
ist, nach dessen Namen benannt.
Der Gontades, der seine Benennung von dem Marschall
von Gontades, Broglies Nachfolger, erhielt, wurde auf dem
etiemaligen Sehiessrain vor d^m Judenthor, dem Vereinigungs-
orte der Schützen, woselbst auch die Schützenfeste abgehalten
wnrden, im Jahre n64 angielegt. Bei dessen Anlage blieb der
bekannte alte Lindenbaum stehen, in dessen breiten und weit-
verzweigten Aesten man einen Tanzplatz errichtet hatte, wo am
Sonntag die Tanzvergnägungen stattfanden. Am Eingang des
Gontades stand noch eine ansehnliche Sommerwirtschaft, die
namentlich von den Volksklassen besucht und worin jeden
Sonntag getanzt wurde, aber ausschliesslich in deutscher Manier
Die damals in Strassburg üblichsten Tänze waren bekannt
unter dem Namen : des AUemandes». Ueberhaupt war noch vor
einem Jahrhundert deutsche Art und Sitte unter der Strass-
burger Bürgerschaft stark vertreten und gab es in der Stadt
zwei Gesellschaften, die einheimische oder deutsche und die
eingewanderte oder französische. In G o 1 m a r wurde um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts vor dem Rufacher Thor,
in unmittelbarer Nähe der Stadt, auch eine grosse Promenade
angelegt, die zu Ehren des Intendanten de Vanplles dessen
Namen erhielt. Als die Revolution ausbrach, wurde sie Ghamp
de Mars (Marsfeld) geheissen und bildet heute eine Zierde
der Stadt.
Die Ruprechtsauer Allee vor dem Fischerthor
wurde im Jahre i692 durch den Marquis d*Huxellos, Militär-
— 86 —
kommandant der Provinz Elsass, nach den Plänen des be-
rühmten Gartenbaukünstlers Le N6tre angelegt. Die beiden
Rondelle am Ende der Allee erhielten dessen Namen. In der
Ruprechtsau besassen viele Strassburger Familien Landgüter,
in welchen sie die Sommermonate zubrachten. Auch war dort
ein beliebter geselliger Yereinigungspunkt der Bürger in
c Christians Garten». Vor dem Metzgerthore gab es ein ebenso
besuchtes Wirtschaflslokal, nämlich cBaldners Garten», in
welchem der alemannische Dichter Johann Peter Hebel,
der oftmals nach Strassburg kam, wo er mit den Familien
Stöber, Blessig, von Türckheim, Wegelin befreundet war, seine
bekannte Erzählung vom «falschen Ring}» spielen lässt. Dieselbe,
die mit vielem Witz und Humor, wie die Hebeischen Stücke
alle, geschrieben ist, erschien zuerst im Rheinländischen
Hausfreund.
Ein beliebtes Vergnügen der Strassburger Bevölkerung vor
der Revolution war die Schiffahrt auf der 111. Im Sommer
fuhi*en zahlreiche Gesellschaften auf Schiffen und Nachen auf
dem Illfluss nach der Richtung von Ostwald zu. Dort an den be-
waldeten Illufern oder auf freundlichen kleinen Inseln brachten
die Strassburger Familien an schönen Sonntagen den Nach-
mittag zu; dort wurden einfache Mahlzeiten (sog. pick-nick,
zu denen jedes Mitglied der Gesellschaft beitrug) auf dem
grünen Rasenteppich gehalten. Dort brachte unter Spiel, Gesang
und Tanz die muntere Jugend einige vergnügte Stunden zu
und kehrte, an Leib und Seele erfrischt und gestärkt, mit den
Eltern, Geschwistern und Jugendgenossen bei Mondschein und
klarem Sternenhimmel auf dem Wasserwege in die Stadt zu-
rück. Auf dem Illfluss wurden auch häufig im vorigen Jahr-
hundert von den Mitgliedern der Schifferzunft, den sc^.
c Schiffischen», wie man in Strassburg sie hiess, die meist am
Wasserzoll, im Finkweiler und in der Krautenau wohnten, die
so beliebten und volkstümlichen «Gänselspiele» aufgeführt.
Ueberhaupt hatte die Geselligkeit vor der Revolution einen
ganz anderen Charakter als nach derselben und auch als in
unserer Zeit, und jedenfalls war die Genusssucht damals weniger
ausgeprägt wie heutzutage und kamen die Vergnügungen nicht
so teuer zu stehen.
Die alten Strassburger waren reiselustige Leute ; besonders
wenn sie jung waren, besahen sie sich die Welt und kehrten
mit vielen neuen Anschauungen und an Erfahrungen mancher
Art bereichert in ihre Vaterstadt zurück. In älteren Jahren nahm
die Reiselust bei ihnen ab; da brachten sie am liebsten die
Sommermonate auf dem Lande zu. Beinahe jede wohlhabende
Familie von Strassburg besass in der Nähe der Stadt ein Land-
— 87 —
haus. In Schiltigheim, Kolbsheim, Dorlisheim, Krauterge rsheim,
Schanrachbergheim, Wasselnheim, Barr, Ittenweiler und anderen
Orten besassen die reicht^ Strassburger Familien Landhäuser,
und der Einfluss, der von ihnen aus auf die ländliche Bevöl-
kerung sich erstreckte, war ein segensreicher. Auch das
S t e i n t h a 1 , wo der unvergessliche Pfarrer Johann F r t ed-
rich Ob erlin über ein halbes Jahrhundert wirkte, übte
eine grosse Anziehungskraft auf die Strassburger aus. Oberiin
hatte in seinem geräumigen Pfarrhause ein Pensionat, in
welchem viele Töchter aus besseren Strassburger Familien einige
Jahre zubrachten, um einen gründlichen Unterricht zu em-
pfangen, eine christliche Erziehung zu geniessen und französisch
zulernen. Die Familien Ziegenhagen, Stöber, vonBerck-
heim, von Türckheim und andere übergaben dem ehr-
würdigen GreistUchen ihre Kinder zur Erziehung. Auch die
Familie von Dietrich, die Herrschaft des Steinthals bei dem
Ausbruch der Revolution, war mit Oberiin innig befreundet;
ja während der Scbreckenszeit fanden die Töchter des Barons
Johann von Dietrich im Oberlinschen Pfarrhause eine Zeitlang
eine sichere Zufluchtsstätte.
Die Badorte, welche die Strassburger Bürgerschaft vor
der Revolution am meisten zu besuchen pflegte, waren die
Renchthalbäder : Antogast , Petersthal und Griesbach ;
der Kniebis war für die Badegäste ein beliebter Ausflugspunkt.
Auch in dem benachbarten Bad Rippoldsau suchten viele
Strassburger Linderung für ihre Leiden und völlige Genesung.
Baden-Baden zog gleichfalls von jeher die Strassburger
Familien an.
Im Elsass selbst war das besuchteste Bad Nieder bronn.
Die Vogesen, die damals wilder und waldiger waren wie
jetzt, zogen im Sommer viele Touristen an, trotzdem dass die
gastwirtlichen Einrichtungen daselbst im vorigen Jahrhundert
noch sehr primitiver Art waren. Wie beliebt solche Gebirgs-
wanderungen waren, davon legen die begeisterten Schilderun-
gen Zeugnis ab , welche z. B. Andreas Silbermann,
Imlin, Pfeffinger, Moritz Engelhard und andere
hinterlassen haben. Der menschenfreundliche und volkstümliche
Arzt Dr. Johann Pfeffinger z. B. hat alle alten Burgen,
deren Ruinen die Höhe des Wasgaus krönen, beschrieben, und
seine handschriftlichen Aufsätze darüber befinden sich heute
noch — unbenutzt — auf der Strassburger Universitäls- und
Landesbibliothek. Emanuel Friedrich Imlin hat dazu
Ansichten gezeichnet, die heute besonders, nachdem von den
Ruinen manches zerstört worden ist, ihren Wert haben. Auch
diese Ansichten, die auf der gleichen Bibliothek sich befinden.
— 88 —
sind noch nicht veröflfentliclit worden. Diese Männer waren
die Vorgänger Seh weigh ä users und Golb^rys sowie
Rothmüllers, deren Werke heute so geschätzt und ge-
sucht sind.
Wenn wir, am Schlüsse unserer geschichtlichen Darstellung
angelangt, einen Rückblick auf die Zustände und Verhältnisse
des Elsass im Jahre 1789 werfen, so ergiebt sich für den auf-
merksamen Beobachter jener. Zeit folgendes Resultat. Das El-
sass war vor einem Jahrhundert ein von der Vorsehung und
Natur reich gesegneter Landstrich und eine der fruchtbarsten
Provinzen der französischen Monarchie; auch ein im ganzen
zufriedenes und glückliches Land, das nach langen und schweren
Kämpfen die Wohlthaten und Segnungen des Friedens genoss.
Die Revolution von 1789, die einen geschichtlichen Wendepunkt
für das Elsass bildet und die man heutzutage auf alle Weise
zu verherrlichen sucht, die Revolution, deren Errungenschaften
von Vielen als ein Fortschritt der Menschheit bezeichnet wer-
den, brachte — wenigstens dem Elsass — nicht die so hoch
gepriesene Freiheit, denn vor 4789 genoss das Elsass über-
haupt und die Stadt Strassburg insbesondere grössere Rechte
und Privilegien als nachher. Auch war der allgemeine Wohl-
stand in Stadt und Land grösser vor als nach der Revolution,
und der elsässische Adel, der vielen Grundbesitz besass, war
ein Segen für das ganze Land. Dies zeigte sich deutlich in
der Folgezeit, als die meisten unterelsässischen Adeligen, um
Freiheit und Leben zu retten, über den Rhein emigrierten und
dem neuentstandenen Grossherzogtum Baden und dessen
erstem Oberhaupt, dem «grossen Markgrafen » Karl Friedrich,
eine Summe von materiellen Gütern und geistigen Gaben und
Kräften zuwandten, die für das Elsass einen unersetzlichen Ver-
lust, für Baden dagegen einen nicht hoch genug anzuschlagenden
Grewinn bedeutete. Auch auf anderen Grebieten zeigte sich im
Elsass gegen früher ein entschiedener Rückgang, namentlich
die höhere Bildung und der Wohlstand der Bürgerschaft in
den Städten ging nach 1789, infolge der Schreckensherrschaft
und der langen Revolutions kriege entschieden rückwärts. Auch
der religiöse Sinn nahm in Stadt und Land durch die Ereig-
nisse der Revolution bedeutend ab : darüber führten die Geist-
liehen beider Konfessionen bittere Klagen. Die Beantwortung
der Frage, ob das Elsass durch die französische Revolution
mehr gewonnen als eingebüsst hat, ist schwer zu geben.
Zweierlei jedoch steht fest : die Bande, welche das Elsass bis-
her mit Deutschland verknüpft hatten, wurden durch die Re-
volution gewaltig gelockert, und die Väter, welche jene titanen-
hafte Zeit erlebt und deren Drangsale erduldet haben, urteilen
— 89 —
darüber in ihren Aufzeichnungen ganz anders als ihre Enkel,
welche die Revolution nur im Glorienscheine der französischen
L^;ende ansehen. Der historischen Wahrheit aber werden wir
wohl am nächsten kommen, wenn wir sagen : Die Revolution von
1789 hat zwar hohe und ideale Ziele aufgestellt und verfolgt,
jedoch unter Verkennung der Gesetze der normalen Entwick-
lung aller menschlichen Dinge^ und an der Stelle alter, be-
währter Einrichtungen nicht immer Besseres geschaffen.
III.
Landsknechte und Hofleute
in elsäasisclien Dramen des 16. Jahrhunderts.
Auszüge von E. Martin.
Uas Volksdrama des 16. Jahrhunderts hat auch im Elsass
eine reiche Blütezeit gehabt, \venn schon nicht ganz so reich
wie in der Schweiz, mit welcher das £lsass auch in dieser
Beziehung, bald gebend, bald empfangend, in Austausch stand.
Während aber die Mitlebenden ein unersättliches Ge&Uen
daran hatten immer wieder die bekannten, meist der Bibel
entlehnten Stoffe recht ausfuhrlich und mit möglichst zahlreicher
Beteiligung der jungen Bürgerschaft, vor allem der Schüler,
aufgeführt zu sehen, interessiert uns beim Lesen der durch
den Druck aufbewahrten Stücke ganz besonders die naive Ein-
kleidung der alten Geschichten in das Gewand der damaligen
Gegenwart, eine Gewohnheit, welche das 16. Jahrhundert vom
Mittelalter ererbt hatte, die aber zu unserer fast pedantischen
Strenge in der Beobachtung des historischen Gostüms den
schärfsten Gegensatz bildet.
Von den zahlreichen Bildern aus dem Leben unserer Vor-
fahren, welche auf diesem Wege uns zugekommen sind, werden
im Folgenden zwei zur Wiedergabe gebracht.
Das eine stellt das Landsknechtswesen dar, wie es sich,
mit Wiederbelebung uralter Grundzüge, um 1500 neu gestaltet
hatte. Frei ist der Wille dessen, der sich anwerben lässt, aber
das einmal gegebene Wort, das genommene Handgeld bindet
ihn unverbrüchlich für die Dauer des Feldzugs. Aus der Frei-
willigkeit des Eintritts erklärt es sich, dass der Hauptmann,
ja der Oberst sogar mit den Landsknechten so kameradschafl-
!
— 91 —
lieh verkehrt. Zwar die Formen, in denen er sie anspricht,
könnte man auch heutzutage wiederfinden, in dem c Guten
Moigen, Leute!» c Guten Morgen, Herr Hauptmann », welches
ivenigstens vor kurzem noch ühlich war. Aber völlig ab-
gekommen ist, dass die Vorgesetzten der Reihe nach, vom
Obersten bis zum Fähndrich, sich noch des besonderen Ein-
verständnisses der Soldaten versichern, welches diese mit den
treuherzigen Worten versichern: cWarum das nit, warum das
nit?» So selbständigen Mitstreitern gegenüber, welche der
Hauptmann als c Brüder» anredet, erklärt sich auch die Rück-
sicht, mit welcher die Soldaten weiber behandelt werden. Man
muss sich an den ungeheuren Tross erinnern, der die Heere
jener Zeit und bis in den 30jährigen Krieg hinein begleitet.
Die treue Wiedei^abe der wirklichen Verhältnisse im
Drama kommt uns noch auffallender vor, wenn wir bedenken,
dass die Landsknechte und ihre € Mätzen » von der Schuljugend
dargestellt wurden. Besser passte für diese die Komik anderer
Scenen : bei der Belagerung Jerusalems warfen die Belagerten
auf die Angreifer mit c äschenen Kugeln das schier keiner den
andern vor Staub sehn kundt — welches alles sehr lecherlich
und kurzweilig zu sehen wari^. Offenbar wurde mit den Kugeln
aus Asche der Pulverdampf nachgeahmt, welcher allerdings bei
der Belagerung von Jerusalem einen neuen Anachronismus
bildete. Mit solchen komischen wechselten dann wieder überaus
grausige Scenen ab: einem jüdischen « Rädleinführer » Simon
wird das Herz aus dem Leibe geschnitten und um den Mund
geschlagen ; so übte man ja auch in Wirklichkeit Justiz.
Das Drama, welchem die ausgehobenen Scenen angehören,
ist betitelt : t G o m o e d i a Vom König der seinem Sohn
Hochzeit machte, aus dem XXI und XXII Gapitel Matthei ge-
logen^ und schildert, wie die Einladung Gottes von den buss-
fertigen Heiden angenommen, von den Juden aber zurück-
gewiesen wird, worauf Gott die Ermordung seines Sohnes
durch die Zerstörung Jerusalems rächen lässt. Es ist 1574 zu
Ensisheim aufjg^eführt, 1575 zu Basel gedruckt worden. Der
Dichter, Johannes Rasser, war Sladtpfarrer zu Ensisheim : eine
liebensskizze, soweit sie nach den lückenhaften Ueberlieferungen
möglich war, ist in der Allg. Deutschen Biographie, Bd. 27,
gegeben worden.
In dem unten folgenden Abdrucke aus diesem und dem
anderen Stücke ist die Interpunktion verbessert, die Abkürzung
in n oder en aufgelöst und einigemale hinter Druckfehlern
die Berichtigung in eckigen Klammern eingeschaltet.
Dieses andere Stück trägt den Titel «TRAGÜEDIA.
Johannis des heiligen Vorläuffers vnd Täulfers JESV CHRISTI,
* -
- 9^2 -
warhafite Hystori . . . gespilt durch ein Ehrsame Burgerschaflt
zu Colmar, 25 u. 26. Maij, Anno 1573. » Gedr. Strassburg
1575. Die Widmung an den Rat zu Colmar ist unterzeichnet:
Colmar, 12 Brachmonats 1575, Andreas Meygenbrunn,
Lateinischer Schulmeister. Nach Grödeke, Grundriss II* 391 ist
das Stück nur aus einem andern wiederholt (aus Nr. 68 S. 348
bei Gödeke, nicht wie S. 391 gedruckt steht, Nr. 84), welches,
mit gleichlautendem Titel versehn, am 21. Julii 1549 zu Sok)-
thurn aufgeführt und zu Bern gedruckt 1549, von Johannes
AI von Bremgarten, zu jener Zeit Probst in Solothurn, gedichtet
worden war; schweizerische Idiotismen, wie neut für c nichts,
nicht]», bestätigen diesen Ursprung. Immerhin aber giebt sich
doch in der Wiederholung jenes Dramas der Geschmack des
Colmarer Publikums aus jener Zeit zu erkennen.
Wir wohnen dem Feste des Herodes bei, dessen Opfer
Johannes der Täufer wurde. Es beginnt mit einem Trinkgelage.
Ein vollkommen ausgebildeter Tiinkcomment herrscht : einer
fordert den anderen auf, dieser kommt einem dritten vor. Aber
nicht nur die Edelknechte, auch die Hoffräulein sind trefflich
darin geübt; selbst Salome, die Tochter der Herodias, trinkt
ihrer « Seugamm » zu. Dann folgen Spiele : erst Fechterspiele,
dann Tanz. Salome tanzt allein, ein Ritter gesellt sich zu ihr.
Alles staunt über ihre Kunst, Herodes giebt das bekannte un-
überlegte Versprechen, wegen dessen ihn sein Hofnarr kräftig
beruft. Das Mädchen fragt ihre Mutter ; diese preist ihr Glück,
wie denn abergläubische Redensarten und Segnungen auch
sonst wiederkehren.
Möge der Humor alter Zeiten auch bei unseren Lesern
billige Würdigung flnden.
1. Rasser Comoedia von der Hochzeit.
Der III. Actus.
Des Anderen Tags.
Der Römische Senat stund autf, vnnd bald kam ein Trommenschlager,
scblegt vmb, schreiet vberlaut, vnd sprach.
Trommensehlager.
Aiso hört anff, jr liebe leut!
Welcher als bald weit dienen beut
Der Keiserlicben Majestät,
Der mag noch vor dem abend spat
— 93 —
Dorthin bald in das Wirtzhanss kommen:
Da find er geit, wie ich vernommen,
Ynd darzu auch gar guten b^scheit
Bey den Hanptlenten allbereit.
AulT solche weiss schlug er zum dritten mal vmb.
DemHauptroan Centurio begegnen etliche Landtsknecht ; zu denen spricht er.
Ir Brüder, wo wolt jr hinanss?
Kriegsleut.
Herr Hauptman, dort in das Wirtzhanss.
Hauptman Centurio
Wolan, 80 ziehet dapffer hin !
Ich glaub, ich wöU bald bey euch sin.
Allhie begegnen dem anderen Hauptman zwo Kriegs Mätzen : zu den
spricht er.
Ir Mätzen, wo wolt jr hinauss ?
Die Mfttzen antworten beide.
Wir wollen dort in das Wirtzhanss
Hctuptman Primipäus.
Meint jr das es etwar zu nutzt
Das jr allbeid so wol gebutzt
Jetzund in den Krieg ziehen wollen?
Lugt das jr euch nicht müssen drollen
Zu hauss oder heimwerts zurück,
Ehe das jr kommen yber d^bruck.
Die erst Motz.
Wer will euch mann wüschen vnd waschen,
Wann jr ligen wie d Vollen Flaschen
Ynd nicht wissen wo auss wo an,
Wie dann ein jeder voller mann
Am morgen ligt vnd klagt das Haupt,
Als ob er seiner sinn beraubt.
Da klagt er vnd schreit nach dem weih
Das sie wöU pflegen seinem leib
Vnd jm ein warmes brühlin bringen.
Hauptman Primipilus,
Danunb ist er g'wesst guter dingen
Vnd hat jedem thon guten b^scheit,
Dardurch man jm gross lob nach seit.
Die erat Matz.
Es ist ein rhum der scheltens werdt,
Vnd wann schon all man auff der er[d]
Noch ernstlicher hierwider stritten.
— 94 —
Hauptman Primipüus.
Hey, jr la8s[t] euch dannocht erbitten
Vnd thun allwegen gern das best,
Wann wir kommen als volle gest.
Die ander Mäte,
Wie kompts dann das jr vns veracht
Vnd vnser so gar wenig acht,
Wann jr im Krieg kranck vnd schwach werdt
Vnd da müsst ligen ob der erden [1 erd],
Auch niemand haben der euch that
Zimlichen Raht anss frischem mut.
Ich sags euch, wann jr vns nicht betten,
Wie ich dann wol mit euch dörfft wetten,
So wurden jr zum offtermal
Eilend verderben vberal.
Hauptman lYimipüus,
Ir habt mir geben meinen b^scheidt.
Das muss ich sagen bey meim eydi
Darumb geht hin vnd ziehet forth!
Sih, es kommen mehr Landtsknecht dorth.
Ir Brüder, der schimpff will sich machen.
Die Landtsknecht.
m
Des mögen wir all wo[l] gelachen :
Dann zweytracht vnd vneinigkeit
Ist vns allweg die höchste freidt.
Herr Hauptman, wo gibt man gelt aus?
Hauptman Prtmipüus,
Kompt her mit mir dort ins Wirtzhauss:
Da findt jr gelt vnd guten b^scheit.
Die Landtsknecht.
Des habt jr danck in ewigkeit.
Allhie kam der dritte Hauptman auss dem Wirtz[haus] ; dem stiessen aach
etliche Landtsknecht auff.
Hauptman Chüiarchus.
Ir Brüder, fort vnd dapffer dran!
Der Betteldantz der hebt sich an.
Der schimpff will sich dermassen machen
Das manchem s*Hertz im leib wirdt krachen.
Die Landtsknecht,
Herr Hauptman, wir wend manchen schären
Das er nicht mehr wird heim begeren.
Hauptman Chüiarchus.
Secht, diser dort ist wol g'staffiert,
Weil er ein Mät/en mit jm fürt.
— 95 —
Die Landtsknecht,
Herr Hanptman, des hab danck mein leib ;
Ynd wann sie schon nicht wer mein weib,
So wolt ich sie nicht von mir lassen.
Hcmptman Cküiarehus.
Matzlin, wo nauss so vnaerdrossen ?
DU dritt Matz.
Herr Haaptman, ich will in den krieg.
Ich förcht das mich mein mann betrieg
Ynd Yon mir lanif, so bald wir kommen
Aoss disem landt, wie ich yemommen,
Ynd schier die sachen will verstohn.
Doch will ich allg'mach naher gohn
Ynd jm so lang nachfolgen eben
Biss das er sich heim will begeben.
Haupiman Chüiardius.
Ich glaub, wie mich die sach versteht,
Das jr dammb jetz mit jm geht
Damit er nicht ein ander weib
Im nemme die f&r seinen leib
Ynd jm yil lieber wer dann jr.
Die dritt Mätz.
Ir habts erahten, glaubet mir.
Hauptman Chiliarchus.
Wolan, so ziehet fort auch jr!
Der V. Actus.
Des Anderen Tags.
Allhie Belegenen sie die Statt Jeruselem, ynd ehs [1. eh] das geschah
warden die Kriegsknecht von den obersten Hauptleuten vnnd Beuelchs-
leuten vermanet das sie mannlich streitten solten.
Der Oberst Trtbunus Müitaris,
Guten abend, liebe Landtsknecht!
Die Kriegdeut.
Danck habt, danck habt! jr haben recht.
Tribunme Müitaris.
Liebe Bruder, liebe Landtsknecht,
Ich bitt, jr w51t mich mercken recht
Ynd niemand im Krieg ynrecht thun :
Des will ich euch gebetten nhun.
— 96 —
Ir wollet keinem das sein rauben
Vnd euch fleissig vmbschaawen
Das jr euch benagen wolt lassen
An ewerem sold vnnerdrossen.
>fcrschonet anch der armen lent
Vnd darzu der Geistlichen heut,
Aach der Gottsheaser allenthalb,
Vnd Kindtbetterin mannigfalt,
Sampt vil anderen krancken leuten :
So wirt vns Gott zu allen Zeiten
Gluck vnd Sieg wider den feind geben.
Habt jrs gefasst vnd gemercket eben ?
LandtsknecM.
Gar wol, wir wölln darnach thun leben.
Hauptman Centurio,
Guten abend, liebe Landtsknecht
Kriegsleut,
Danck habt, danck habt, jr haben recht
Hauptman Centurio.
Ir Brüder, jr werd dem nachkommen
Wie jr jetzand haben vernommen.
Kriegäleut
Waramb des nit, wammb des nit?
Hauptnian Trimipüus.
Güten abend, liebe Landtsknecht.
LanAtsknecht,
Danck habt, danck habt, jr haben recht.
Hauptman Frimipüus.
Ar Brüder wolt fleissig versehen
Euwer wacht vnd achtung draaff geben
Vnd allem dem was man each sagt
Fleissig nachkommen vnaerzagt.
Hauptman Chüiarchus.
Ir Landtsknecht, so vil ewer hie,
Lagt das keiner verlassen thie
Die Fenlein, wann es ist von nöten ;
Darbey jr euch ehe seit lan tödten.
Die Fenrich einer nach dem anderen sprechea
Liebe Brüder, liebe Landtsknecht!
Ich hoff jr habt verstanden recht.
Was man euch jetzund fürgehalten
Vnd werden thun wie auch die alten,
— 97 —
! Leib, ehr vnd blnt zam Fendlein setzen
I Ynd dasselbig nicht lan verletzen,
I Sondern bewaren allezeit
Mit ewrem leib mom wie auch heut.
Wann jr nun dasselb wollen thon
; So mögt jrs euch wol hören lohn.
i
Sie antworten all.
Warnmb nit, warnmb nit.
Trommen und pfeifTen giengen vnnd man belegert die Statt Jerusalem
2. Meygenbnum Tragoedia von Johannes.
Actus III. Scena II.
Volgends bandlet und redt man ob der Edelleut Tisch.
Der erat Edelman.
Ist es den grossen Herren recht.
So thnnds auch billich d'Edel Knecht.
Wolan, gnt Gsell, ich bring dir ein.
Den obem vnd den vndem stein.
Der ander Edelmann.
Gott gsegne dirs, ich will jhn han,
Lieb ist der Wein, vil lieber mir der man.
Der drit zum andern Eddmann.
Wie bisin so ein voller troll !
Ander Eddmann zum driten,
»
Ich halts, vnd wer es ein Kübel voll.
Der ander Eddmann trinckt vnd spricht.
Dass dich alss vnglück fliehen müss.
Wie ist der Wein so hertzlich süss !
Er schleicht ein die Keelen nider glatt,
Biss einer nit mehr im Trinckgschirr hat
Schenck [Seh. ein?] das mög treiben ein Rad^
Sichy so vil hab ich tmncken grad.
Der drit Edelmann zum vierdten.
Ich send dir disen Becher zu,
Ynd Ing vff mich wie ich jm thn.
Der vierd Eddmann,
Far dapffer her vnd trincke doch !
Jetzt trinckt der drit vnd spricht der vierdt.
Sich wol, der Wein der schmackt dir noch.
Ich meind, er wer dir gar erleid,
7
— 98 —
Der drit Eddmann.
0 nein, ich ihn noch dapifer bescheidt.
Wann ich dessen nit mehr mag jnnenimen,
So lent man mir mit Glocken zemmen.
Dann bin ich tod, oder gwiss sehr kranck.
Der vierd Edelmann,
Das ist recht, hab jmmer danck.
Weiter zum fünften Edelmann.
Schwager, es gilt dir so vil Wein.
Der fünfft Edeimann.
Nun gsegne dirs Gott ins hertz hinein.
Jetz trinckt der vierd, redt der fünfft.
£y wie thut mein schwager so gut schluck,
Wa gut wein, da ist eittell glück.
Der vierd.
Thut mir so lieblich jn hin gohn.
Dz ich nit können ablohn
Biss ich gsach den Boden blos.
Nun sehin, gib dem ein gaten stos.
Vnd fass jhn vor wol in knoden,
Trincks gar anss biss an den boden.
So würstn seiner gütte jnnen.
Der fünfft.
Das thnt mir wol im hertzen dinnen.
Yetz dürst mich nit halb mehr alss vor,
Ich was zerlechtzet' wie ein Bor
Das lang ist an der Sonnen glegen.
Der Sechst.
Mnss ich ohn trincken sein, botz degen!
Das mirs ewr keiner bringen will?
Nun schlag ich doch auch auss nit vil.
Wess mnss ich armer boss doch entgelten?
Der Sibende zu Sechsten.
Damit das niemand könnest schelten,
Wanns dir in frendschafft glicht alss mir.
Ein gnttes trincklin bring ich dir.
Der Sechste.
Gsegne Gott im hertzen, ich habs gern,
Gar anss, gfalt mir wol, botz morgenstern.
Der Siben.
An wem ist nun der Tranck erwanden?
— 99 —
Der Sechst gegen dem (ncfUen.
Da han ich noch ein (Hellen fnnden
Der hat anch noch nie keins von vns ghan.
Der adUeet.
Ich halts vnd bring dir disen dran.
Der Sechst
Kans nit ab8chlag[n], mir liebt der Man.
Legt ein gedigne wuret seini gesellen fQr vnd spricht.
Nim hin, ise die gesaltzen wnrst,
So kambt dir widemmb der dnrst.
Der achUat.
Ich darff derhalb der Wäret gar nit.
Ich trinck sonst gnng wie vnaer sit.
Wann ich schon gessen hab kein biss,
Kan ich drincken yÜ ein rübschniis
Oder sonst ein grüene muscainiias.
Die noch ist weyt zu Venedig duss.
Musica.
Ob der Königin Tisch.
Herodiaa.
Ich bring dirs, Tochter, allein vff das,
Wie ich gered hab, du weist wol was.
Das da so bald wollest hurtig sein.
Sähme,
Frauw Mutter, es ist mir ein lieber wein.
Mir ist, der schimpff wöU sich bald machen.
Der König fahet redlich an zu lachen.
Er würd schier ein guts schepfflin han.
So bald ichs sie, so wil ich dran.
Mein liebe Seügam, das gilt dir.
Seügam.
Von hertzen es geliebet mir.
Doch nit gar auss, es thet mir wehe.
Sälome.
Ach, ich hab wol truncken mehe.
Kann nichts nachlassen, ja wol.
Seugamm zur edkn Jungfraw,
Wolan, So gilt dirs disen Becher voll.
Erst edle Jungfrauw.
Ach nein, es ist zu vil aber ein £reundlichs.
■I
I
— 100 —
Seugamm.
Wolan, nit anders mein ichs.
Erst edle Jungfrauto,
Wo soll ich nnn mit disem hin.
Ich will zn disser Jungfrau w fin.
Sie ist 80 züchtig wie ein Brand.
Ander edel Jungfrato.
So will ich recht dran setzen dhandt.
Hab all mein leben lang gehöret dass,
Beim Tisch sich keins halten bass.
Es thne dann auch wie ander lent.
Die drit edle Jungfrato.
l! Mit der weiss bringt mir niemand neut.
Bin ich der armen Nesen Töchterlin ?
Ander edle Jungfrato.
Ir theten niemand bscheid, Jongfraw fin.
Die drit edle Jungfravo.
An dem probieren ligts allein.
Ander edle Jungfraw,
So gilt es euch recht drey paar stein.
Die drit edle Jungfraw.
0 we, nit! er schlug mir gleich in d'beyn,
Aber so yil ich mag, will ich halten.
Die ander edel Jungfrato
Wolan, glucks [1. glück] wils treuwlich walten.
Spricht weiter.
Wie ist das so guter Jungfraw Wein,
Lieber, schenck mir wider ein.
Die drit Jungfrato.
Ein Jxmgfraw solt fein züchtig sein,
D^Nasen nit so tieff stossen drein.
Die ander Jungfrato.
Nemmend hin disen guten alten,
Ihr trincken ohn das nit gern kalten,
Wie lasst jhr den so lang vor euch stahn.
Die drit Jungfrato.
Will trincken, so kanns ymb har gähn.
Herodes.
Ist niemand da den gelust zu singen,
Oder zu seitenspil, dantzen vnd springen ?
— ICH —
Anch ander kurtzweil zu han, ihr Herzen [1. Herren],
Will ichs zulan vnd keins weren
Was euch zu gfallen dienen mag
Yff disen Hochzeitlichen tag,
Ea sey mit fechten oder tnrnieren,
Ynd snnst in frenden jubilieren.
Wer solches mder ench thet allen,
Der thet vns ein besonder gefallen.
£s soll ench [1. anch] nit vnbegabet bleiben,
Will jhms zu gntem lohn einschreiben.
Biss es belonet wnrt zom besten,
Zu ehren mir Ynn meiner gasten.
Zwen fechter vom Adell stond vff.
Der Erst,
Gnediger herr, hettens ewer gnaden f&r gut,
So fechten wir auss freyem frischem mut
Ein gänglin zwey, drey, mit dem schwerd.
Herodes,
Eya, mein hertz nit liebers begert.
Frisch auff ynd nun dapffer dran!
Der ander Fächter.
Wend fechten wies ein yeder kan.
Zum ersten vmb ein griens krentzlin,
Daruff auch thun ein frisches dentzlin
Der erst Fächter.
Wol herr ynd dran?
Der ander Fächter,
Hie kumpt der Man.
Nach dem fechten redt einer.
Gnediger Fürst ynd lieben Herren,
Das gschicht ewren gnaden zu lob vnn ehren,
Wölts also von vns nemen ahn.
Ccmtzkr.
Ihr gnad wurts nit vnbelohnet lohn.
Herodias.
Mein liebe Tochter, es ist zeit,
(Wer weiss, glück auch zu vns schreyt)
Das du den handel fahest ahn,
Wie ich dich ynderwisen hau.
Stand auif, lug, brauch guten yleiss,
Scdome,
Ich hoff, mir werd für all der preiss.
All fieiss ynd renck wil ich nit sparen,
Ade, jetz mals ich yon dir thu faren.
Glück sey allzeit yff ynser Seiten.
— 102 —
Herodiaa.
Der vnfall wbll vns nit mehr bstreiteiu
Ihr Edlen sollend mit jhr gähn,
Vnd sie in Gspilschafft nit vertan.
Man trometet mit allerley Seytenspiel.
Seen« m.
Drei edle Jungfrawen tretten der Tochter nach, redt Herodias mit ihren
selbs vnd spricht.
Herodicu.
0 glück, nun knmm, eil schnell vnd behend,
Dein hilff vnd Trost vns treulich send.
Dann solt vns fölen dise Schantz,
Wer vnser spil verloren gantz.
Dmmb geb dem König recht sinn vnd denck,
Dass er Johannis Haupt vns schenck.
Salome zum König,
Darchleüchter König, Fürst vnd Herr,
Herzlieber Yatter, ich bitt dich sehr,
Mir ewrem Kind erlauben wöll,
Dass ich auch kurtzweil treiben soll.
Ja ewren Gnaden zu ehr vnd zu lob,
Weil andre auch band than ein prob
Mit jhrem SchimpfFspil manig£alt.
Herodes.
Wolan, mein liebs Kind, hab den gwald.
Zu kurtzweile nach deim lieben willen,
Deins hertzen Begird soltu erfüllen.
Saiome zum Pfeiffer,
So pfeiff mir auff den Natha Dantz.
Pfeiffer,
Denselben kan ich gut vnd gantz.
Die Jungfraw dantzt allein.
Hoffmeieter,
I Wolauff, jhr jungen Edelleut,
Gelüstet keinen zu dantzen neut ?
Jetst steht ein junger Bdelman vff zu dantzen, sampt andern vnd spricht
j vors Königs Tisch.
Grossmachtigr Köng, Ghifidigster Herr,
Wan ewren Gnaden gfällig wer,
Thet ich gern ein hofflichs dahtzlin,
Mit Salome der Jungfraw fin.
I
H
I
^ 103 —
Heradeg,
Wir lassen vns das wolgefallen.
Jung Edelman zur SoHorne.
Jungfraw Salome, mir geliebt für allen
Mit ench zu dantsen in zncht vnd ehren.
Saiame.
Mir auch, will mich dess nit wehren.
Jetxt dtntzea sie miteinander vnd nach dem tantzen spricht der König.
Herodea.
Das kan ein gwaltigs Däntzlein sein,
Da aller liebste Tochter mein.
Canteler,
Ja freilich ist es artlich gesehen, [1. ze sehen?}
Das mnss ich bey der warheit jehen,
Dessgleichen hab ich nit vil gesehen
Mit zierdy ich nemm nit was darf&r,
Kompt, edle Jungfraw, trinckt mit mir !
Herodiw.
Ich hoff, mein sach die werd sich glücken,
Mein Tochter wirt den König verstricken.
Ich sichs jhm an in weiss Tnd b&rden.
Seugatnm.
Ich traw, es soll noch allss gut werden
Vnd gohn nach vnserem anschlag.
Saiome bey des Königs Tuch.
Weil es heut ist ein grosser tag
Meim Herzen Vatter ansserwehlt,
Wanns anderm [andern] so wol als mir gefölt,
So beger ich noch ein Däntzlin zhan.
Der siebend Edehnan
Darzu ist Instig jederman,
Besonder Tnser Gnediger Herr,
Dess soll heüt sein die höchste Ehr.
Zum Pfeiffer,
Pfeiff anff ein frischen Dantz dahar,
Wir stohnd sonst müssig jmmerdar.
Jetzt dantzt man zum diitenmal.
Herodes.
Wie gfalt ench das, ihr lieben Qest?
Mich dnnckt mein Töchterlin thae das best
Sie kan den Reyen zimmlich wol.
— 104 ~
Fürst
Billich sie des gemessen soll.
Wir können vns nit wundern gnng,
Das dise Edele Jungfraw klug
So lustig Ynd hö£Flicli dantzen kan,
Den Preiss behalt sie für jederman.
Ihr zucht, weiss, wandel, leib vnd gstalt,
Yns treffenlich wol für andern gfalt.
Ja ich darff das .für gwüss sagen,
Dass ich bey allen meinen tagen
Kein schöner Weibsbild hab gesehen,
Ja solt man alle aussspehen,
All Königreich in diser Welt,
All Weibsbilder hoch erzelt,
Solts zusammen bringen dahär,
Glaub ich das keine gfunden wer
Die jhr an Schöne möcht gleichen.
Wann sie sich gleich schon aussstrichen.
Sie hatt die siben Schöne an ihr,
Die nit bald an eim weih finden wir.
Das ist gewisslich jetziger zeit,
Drumb wurt jhr schone gelobet weit.
Sie ist doch gleich wie Milch vnd bludt,
Wanns einer recht ansehen thut.
Sie solt billich tragen ein Krön,
Zur Zier euwerem Königrich schon.
Solches were jhr ein schön gestalt.
Mit freud werd erwer [1. ewer] gnade alt!
Herodes.
Mein Tochter, wannen kumbstu mit dem?
Wa hastu es gelehrt? sag an, von wem?
Ich hab es Yormals nie gesehen Ton Dir.
Von gantzem Hertzen gefalt es mir,
Dein dantzen, ja dein adelich brangen.
SdUjme.
Herr Yatter, ich hab es gelert vor langen.
Alss ich noch bey mein Yatter wass.
Dem ewren Bruder, lehmt ich dass.
Wiewol ich das nit vast vil kan.
So wollend doch für gut yetz hau.
Kerodes.
Bey geschwornem eid, ich sag dir das,
Kein ding hatt mir nie gfallen bass.
Seyd du mit deinem dantzen best
Yerehret meine lieben Gest:
So begär nun von mir was du wilt.
Das will ich dir geben ganz milt.
— i05 —
Herodias zur* Seugam.
Nun wirt mein Hertz mit fremden gfölt.
Ich hoff, den anschlag werd ich gwinnen.
Herodes.
Da darffst dich, Tochter, nit lang besinnen.
Frölich du etwas begeren solt
Es sey gelt, Silber, oder Gold,
Schwer ich dir bey dem lebendigen' Gott mein,
Das soliches soll dein eigen sein.
Dann was da wilt, will ich dich geweren.
Wann da schon würdest gross begeren,
Ja aach den halben theyl meines Reichs,
Ich gib ^n gern vnd gilt mir gleich,
So wahr alss mein Gott lebt ewiglich.
ScUome.
Der grossen gnad vnd miltigkeyt
Danck ich hoch in demütigkeyt.
Beger mich za bedencken nnn ein weil,
Will wider kämmen kartzer eil.
Herodes.
Wolan, der bedanck sey dir erlaubt.
Narr sum König.
Ich mein^ der Narr steckt dir im Haapt,
Oder bistu deiner Witzen beranpt?
Ich glaub, da seyest voller Most Wein,
Oder wilta nimmer König sein
Dass da hinweg schenckst solche Ding?
Lieber, schetz dein Königreich nit so ring.
Gedenck vnd gib dermassen auss,
Dass du kein mngel [1. mangel] habst im Haass.
Dann ich leb auch noch gern wol im sanss.
Saiame zu ihrer Mutter Herodias.
Liebs Matterlein, hasta auch gehört,
Wie mich der König hatt verehrt
Vnd verheissen vor den Gästen allen?
Herodias.
Ich habs gehört, vnd hatt mir gfallen.
Mein lebtag hört ich lieber nit.
Dramb, liebe Tochter, ich dich bitt,
Dass da mir fleissig losest zn.
Saieme.
Wie rathst, liebe Matter, dass ich tha?
Was soll ich doch nun begeren so sehr ?
Was ich heisch, gibt er mir mehr.
Sags mit eim Wort vnd gib flax.end.
— 106 —
i
Herodias.
60 ^ang znm König vnd sag behend,
Dafis er Johannis Haupt echencke dir,
Keine andern beger: nun folge mir.
Ynd stand nit ab von diser Bitt.
Salome,
0 nein, ich weich daruon kein tritt
Ich hab wol gedacht vorhin,
Es wurde dir das liebste sein.
Darumb bleib ich lenger nit hie stöhn.
Herodicts.
Lass, beyty eil nit so bald daruon«*
Nimm dise Platten, merck eben,
Heiss dir Johannis Haupt drein geben.
Bring mir dasselbig vber Tisch !
SaXome,
Das will ich thun. bin wol so frisch,
Qfalt nur wol in meines hertzen grund.
Herodias redt mit ihr selbs weil Selome hingebt vnd spricht.
Wol der glückseligen stund,
Die mir vff disen tag zukumpt.
Sie würt mir helffen ab des bösen,
Mich von aller trawrigkeyt erlösen,
In die Johannes mich hat gsteckt.
So oft vnd dick damit erschreckt
Das würt mir disen tag allss abnemmen.
IV.
Die zwei Schlösser Bilstein.
Von
Ed. Ensfelder.
In gleicher Entfernung von Rappoltsweiler und Reichen-
weier, aber in der Bannmeile des letzteren Stadtchens, liegt,
350 Meter über der Meeresfläche, auf einem Bergrücken, der
das Rappoltsweiler Thal beherrscht, die malerische Ruine Bil-
stein. Der Vogesenklub hat in dem Schutt, der sich angehäuft
hatte, einen bequemen Weg angelegt, und eine Treppe führt
hinauf zum Zwinger. Eine herrliche Aussicht lohnt hier den
Touristen ; Altweier mit dem Bluttberg (Br^zouard) im Westen,
im Norden die Berge des Weilerthales, im Osten die Ebene
bis zum Schwarzwald, im Süden die Vogesenrücken bis zum
Gebweiler Beleben.
Eine Burg gleichen Namens findet sich im Weilerthal,
nahe b^m Weinberg (Climont), in der Bannmeile von Urbeis.
Ein drittes Bilstein liegt bei Langenbrücken (Basel-Land) am
Fttsse des Kallenbergs und bietet eine schöne Aussicht auf den
ssödlichen Schwarzwald.
Dass dieser Name drei mittelalterlichen Burgen zukommt,
widerlegt die Erklärung, die man für das Reichen weierer Bilstein
gesucht hat; es soll dort ein wunderthätiges Bild der Maria
gewesen sein, das spater in die Kapelle unser 1. Frauen zu
Reichenweier verbracht wurde ; davon käme der Name, der
dann ursprünglich Bildstein hiesse. Sachgemässer scheint uns die
Ableitung von Bähl=Hügel, die auch erklär!, warum unsere
— 108 —
Burgen denselben Namen tragen. i Wir haben es hier nur mit
den beiden Elsässer Schlössern zu thun, die in der Luftlinie so
nahe bei einander liegen (etwa drei Stunden) und die deshalb
auch oft mit einander verwechselt werden.
Das Reichenweirer Bilstein.
Wann das Schloss erbaut wurde, ist unbekannt; neben
einem Spitzbogen, der auf verhältnismässig jüngere Zeit ver-
weist, sind noch ältere Teile im Rundbogenstil vorhanden. Die
älteste uns bekannte Meldung ist von 1078 ; in diesem Jahre
hatte Adelbert von Habsburg eine Fehde mit Moyenmoutier,
einem Kloster bei St. Didel ; er nahm den Vogt gefangen und
brachte ihn in das Schloss «Bilsisteinii», wo er ihn festhielt, bis
derselbe ein starkes Lösegeld entrichtete (Gravier, Hist. de
St-Di6, p. 88). Als 4324 die Brüder Walter IV., Burkart H.
von Horburg ihre Ländereien an Ulrich von Württemberg ver-
kauften, kam auch das Schloss in württembergischen Besitz.
Dieser Wechsel der Herrschaft hatte einen Krieg mit Bischof
Berthold von Bucheck (von Strassburg) zur Folge, der Lehens-
rechte auf gewisse Teile der Ländereien geltend machte. Reichen-
weier wurde von den bischöflichen Söldnern genommen und
geplündert. Herzog Ulrich H. von Württemberg flüchtete sich
auf Bilstein. Sonst aber war das Schloss nicht von der herzog-
lichen Familie bewohnt ; es wohnte dort ein Vogt, der die Burg
zu hüten und die Waldungen zu bewachen hatte, und im
Rotbuch von 1505 ist der Eid zu lesen, den dieser Beamte
bei seinem Amtsantritt zu leisten hatte.
«Diss soll der burgvogt uff Bilstein unnd syn Knecht sweren.
Zum ersten das sy alle Tag by schönem tag uff dem Sloss
sollen syn ; es solle ouch einer alle tag uff den walt gan den
Walt zu behütten; sy sollen ouch nieman kein holtz geben
noch herlouben (erlauben) oder selber nemen unnd kein Stecken
machen. Er soll ouch alle nacht einer vor mittemacht, der
ander darnach wachen. Es solle ouch keiner me (mehr) denn
einen Tag zu der wuchen (für sich) nemen unnd solle das der
Samstag einer sein ; den sollen sy theylen nocheinander. Wenn
inen ein vogtt oder Schaffner ir tag verhüttet, sollen sy keinen
tag me nemen ; sy sollen ouch nieman uff der Burgk lassen,
ein vogtt oder Schaffner heisse es denn oder hab ein gut wortt-
1 Im Wörterbuch der Brüder Grimm wird der aach sonst (u. a.
als Peilstein) vorkommende Name mit et 6ilt stän znsammengebracht,
so dass es den Ort bezeichnet, wo das Wild zu Stande gebracht
wird, sich den Hunden widersetzt.
— 109 —
zeichen ; sy sollen ouch sweren unnsers gnädigen Herrn schaden
zewarnen unnd zewendend unnd synen nutz zu fürdern, so sy
best mügen. Die knecht sollen ouch s^nrern dem hurgvogtt
gehorsam zu sind ir zyl uss (d. h. bis zu ihrem Ziele, zum
Ende der Dienstzeit). Wystend sy ouch einen krieg oder ge-
brestenn unndereinander, wellerhande der wer (welcherlei der
wäre), das soUent sy einem vogtt oder eim schafTner künden
UDnd sagen, unnd was nff dem huss ist mit dorab (da herab)
zethund, unnd das zu behütten so sy allerbest mogent.»
Nach dem für die Verbündeten unglücklichen Ausgang des
schmalkaldischen Krieges sollten auch die Elsässer Besitzungen
des Hauses Württemberg mit Beschlag belegt werden ; damals,
1547, wurde Schloss Bilstein erfolglos von lothringischen Exeku-
tionstruppen belagert.
Als Graf Friedrich von Württemberg sich 1580 mit einer
Prinzessin von Anhalt vermählte, bestimmte er Reichenweier
UDd Schloss Bilstein zu ihrem Wittum unter der Bedingung,
dass sie keine Aenderung in der lutherischen Confession der
Bewohner vornehme.
Unsere nächste Nachricht stammt aus dem dreissigjährigen
Kri^e ; im Frühjahr 1635 wurde Reichenweier von einem
Lothringer Streifcorps unter Oberst Vernier sechs Wochen lang
belagert und dann mit Accord genommen. In einem alten,
jetzt auf der Stadtbibliothek von Colmar befindlichen Berichte
heisst es: «Der Superintendent Volmar, der 300 Thaler zahlen
sollte, hat sich bei der Nacht an einem Trottseil die Mauer
hinabgelassen; doch ist er unter die Soldaten geraten, welche
ihn spoliirt, geschlagen und übel traktiert haben, aber von
ihnen nicht gefangen, hat er, sich elend und mit grossem
Kammer in das Schloss Bildstein retiriert.:i> Auch der Diakonus
Matthaus Piscator scheint sich dorthin geflächtet zu haben;
nach dem Sterberegister der Pfarrei starb er dort den 7. De-
zember 1635 an der Pest. Der Vogt aber, Claus Flach, war von
Bilstein nach Markirch geflohen ; als er nach kurzer Zeit wieder
auf das Schloss zurück sich begeben wollte, verschwand er
spurlos unterwegs. Das nächste Jahr, 1636, sollte der alten
Feste den Untergang bringen. Der schwedische General Hörn
hatte das Heer des kaiserlichen Generals Feria geschlagen, und
eine Abteilung des geschlagenen Heeres zog sich durch das
Rappoltsweiler Thal zurück; dort wurden sie der Burg hoch
auf dem Berge gewahr. Graf Schlick, der Befehlshaber, nahm
sie durch Handstreich, plünderte und zerstörte sie. Seitdem
hlieb sie eine Ruine, ein beliebtes Ausflugsziel für die Kur-
gäste von Altweier wie für die Bewohner von Rappoltsweiler
und Reichenweier.
— 110 —
Das lothringische Bilstein.
Dies Schloss gehörte ursprünglich den Grafen von Dagsbuig;
allein im Anfange des 13. Jahrhunderts heiratete * DieboH^
Herzog von Lothringen (1213*-1220), Sohn des Herzogs Frieit*
rieh, die Gräfin Gertrude von Dagsburg, und das Schlos»
wurde ihr als Heiratsgut mit in die Ehe gegeben. Gleich io
dieser Zeit diente es als Gefängnis für die Maitresse Mähers
(Matthias)^ des unwürdigen Propstes der Abtei zu St. Didä.
Irrtümlich wird hier von vielen das Reichenweierer Bilstein an
die Stelle des lothringischen gesetzt. Hier die VeranlassuQg
dieser Gefangenschaft, wie sie Gravier (Hist. de St-Di6y 1836,
p. 112 sq.) erzählt. Mäher war der Sohn des Herzogs Matthias 1.
von Lothringen und trat schon als Kind in das Kapitel der
Abtei St. Didel ein; 1178 erhielt er eine Präbende, und 1188 1
wurde er zum Propst (Grand-Pr6vdt) erhoben; im Jahre 1197
wurde er Bischof von Toul. Infolge seines ärgerlichen Lebens;
entsetzte ihn das Kapitel von Toul seiner Würde, und er zog
sich nun in die Abtei zurück, deren Propst er war. Er liess
zwischen den beiden Kirchen ein Haus erbauen und rief dort-
hin seine natürliche Tochter, die er mit einer Nonne von Epinal
gezeugt^ und mit welcher er blutschänderischen Umgang pflegte.
Sein Neffe Herzog Feny (Friedrich) Hess das Haus abbrechen
und veijagte die Dirne. Mäher zog sich auf sein Schloss -
Clermont zurück, wo er mit etlichen gleichgesinnten Kapitularen
als Raubritter lebte, während seine Beischläferin auf Bilstein
verwahrt wurde. Herzog Ferry belagerte und zerstörte Schloss j
Clermont; Mäher entging ihm und setzte sein räuberisches I
Wesen fort. Als Renaud, Mähers Nachfolger im Bistume zu |
Toul, in die Umgegend von St. Didel kam (1215), legte ihm 1
Mäher einen Hinterhalt; Renaud wurde getödtet, und Mäher 1
warf mit eigener Hand den Leichnam in einen Sumpf. Didiiolt, 1
Ferrys Sohn und Nachfolger, rächte den Bischof von Tool, in- i
dem er seinen Grossonkel in einem Gefecht mit seinem Spiess ;
niederstach.
Weiterhin erscheint des Schlosses Name nach der Schladii
von Nanzig (1477), in welcher die verbündeten Schweizer,
Elsässer und Lothringer Herzog Karl den Kühnen von Burgund |
überwanden. Ritter Marx nahm in dem Handgemenge den |
Grafen von Nassau, ^ den Schwager des Markgrafen von Baden, ^
^ In der Strassborger Archivchronik (Code bist, et dipL de la
ville de Strasb. T. I p. 203) wird Herr von Brettau genannt: «Der
Herr von Brettau, hatt Margraff Carles von Baden Schwester, der
— «1 —
gefangen, führte ihn in das Schloss Bilstein, wo er fünfzehn
Wochen im Verliesä gehalten wurde, bis er mit 50,000 Gulden
sich löste. Ritter Marx aber nahm ein trauriges Ende ; er kam
in Streit mit Wilsperger, dem bischöflichen Vogt zu Zabem,
der ihm beide Hände abhauen Hess, aus Hohn auf das Wappen
des Marx, das zwei abgehauene Hände zeigt. Der sterbende
Ritter forderte den Vogt vor Gottes Gericht, und dieser fiel auf
der Stelle tot nieder.
Weitere Nachrichten über die Burg im Weilerthal sind uns
nicht bekannt, selbst nicht die Zeit und Veranlassung ihrer
Zerstörung.
ward geholt mit gewalt zn Bilstein und lag mehr dan 15 Wachen
in dem Tharm und ward geschetzt mehr dan 50.000 galden, ohn die
Atznng.»
V.
,Das Vaterunser
so im Elsass anno 1610 ist gebetet worden
von den Banern/
Mitgeteilt von
AIcuin Hollaender.
Ais im Jahre 1609 Johann Wilhelm, der letzte Herzog-
von Jülich, Kleve und Berg starb, erhoben der Kurfürst Johann
Sigismund von Brandenburg und der Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm
von Neuburg Ansprüche auf die Erbschaft. Während aber die
beiden Fürsten sich dahin einigten, bis zur Entscheidung der
Rechtsfrage die Lande gemeinsam zu verwalten, beauftragte Kaiser
Rudolf seinen Vetter Leopold, den Administrator des Bistums
Strassburg, dieselben in Sequester zu nehmen. Als letzterer
sich durch Verrat in den Besitz von Jülich gesetzt hatte,
rüsteten sich Liga und Union zum Kampfe. Das im Elsass
Frühjahr 1610 für Leopold angeworbene Kriegsvolk fiel, wie
Strobel, Vaterländische Geschichte des Elsasses 4, 232 erzählt,
den Landleuten, bei denen es einquartiert war, durch viel-
fachen Mutwillen und grosse Begehrlichkeit äusserst lästig. Da
die Bischöflichen es auf das dem Herzoge von Württemberg
verpfändete Amt Oberkirch und die obere Markgrafschaft Baden
abgesehen haben sollten, sandteri die beiden hierbei interes-
sierten Fürsten ebenfalls Truppen ins Elsass. Es kam hier zu
einer Reihe von Scharmützeln, und das Land hatte unter den
— 113 —
Verwüstungen und Plünderungen der Soldaten arg zu leiden.
In jener Zeit entstand das folgende im Strassburger Stadtarchiv
aufbewahrte « Vateruns^er y> :
(Der beeden Forsten Volk in das Elsass ist komen,
Was die Leopoltschen verlassen, das haben sie ge-
nomnien
Und Gebeeten, wie zu sehen an diesem Vaternnser
Haben docb nit viel darmit nssgericht etwas be-
sonder. —
Wenn der Soldat zam Banem ist gangen hein
So hat er ihn mit nnfrenndlichen Worten ge-
grftsset fein:
Danket im darneben zn diser frist:
Baaer was du hast, alles ist
Hirgegen danket im der Bauer:
Der Tenfel fahr dich hin, du Laor ^
Se^e gewiss, dass der dich noch strafen wird
Der Herr, der oben auf regiert
Ich glanb nit, das man einen find
Der nss disem verfluchten Gesind
Ach Gott, kein Volk lebt uf Erd
Von welchem mehr gelästert werd
Ihr nechst-es Wort ist jedesmol
Was der Bauer hat, dasselbige soll
Ach, lieber Herr, wenn sie nur künden,
Zu blündem sie sich understünden
So dn sie alle werdest erschlagen
So, so wurd der Bauer dan sagen:
Wann wir quitt wurden dieser Pein
So ward den armen Bauern sein
Ich weiss nit, wo das Gesind hiengehört
Im Himmel zu sein, sind sies nit werd
Sie nemen uns Gut und Hab
und schneiden uns vor dem Maul ab
Dass wir alle in dieser Nacht
Ersehlagen möchten mit unserer Macht
Wir haben des gleichwohl Verschulden
Doch nimb uns wider auf zu Hulden
Dan diser Leut wir nit thun lachen
Sintemahl sie nur thun grösser machen
Aach thun sie grossen Mutwill treiben
Und wollen ligen bey unseren Weibern
Was nur sehen die Augen ihr
Müssen wir alles umbsonst schier
Niemand bleibt nichts, darumb wir
Müssen bezahlen die Schulden ihr
Vater
Unser
Der du bist
im Hinmiel
geheiligt werde
dein Name
zukomme uns
dein Reich
dein Wille geschehe
wie im Himmel
also auch uf Erden
unser täglich Brot
gieb uns heut
und vergieb uns
unser Schulden
als auch wir
vergeben
unsern Schuldigem
1 Der Lauer: schlauer, hinterlistiger Mensch.
8
— 414 —
Keiner kann braachen die Rosse sein
Ohn Ünterlass heisst es: Bauer spann ein
Im Hans ist allen Tag gnt prassen
Gar oft nns selber in die Stuben lassen
Welches uns schmerzlich ins Herz thut dringen
und manchen Bauern oft thut bringen
Auch alle die solch böss Thun treiben
Die lass Herr Gott bey uns nit bleiben
Die fromen Bauern verfahe gesund
Und behüt sie zu aller Stund
Amen.
und führe ans
nicht in
Versuchung
sondern erlöse
▼or allem üebel.
(Achnliche Gebetparodien Ijegegnen im dreissigjährigen
Krieg : s. Wackemagels Litteraturgeschichie § 418, 4 ; und
noch näher anklingend ein Bauernvaterunser aus Mecklenburg,
auf die Kämpfe gegen Napoleon bezüglich, welches in Prutz,
Deutsches Museum, 4855, 2, 769 angeführt wird :
Der Franzos der tritt ins Haus hinein
Und spricht zum Hauswirt in falschem Schein : Yater^
Alles, was nun vormals war dein,
Das soll und muss nunmehr sein Unser.
Dazu wird
Ernst Meier.
verwiesen auf Schwäbische Volkslieder von
E. M.)
VI.
Gedichte
von
Adolf Stöbor.
I. Marie Antoinette in Strassburg.*
Mai 1770.
L Empfang auf der RheininseL
W as strömt bei hellem Festgeläat
Das Volk ans Strassbnrgs Maaem heut
Hinaas ans Bheingestade ?
Es kommt aas fernem Oesterreich
Ein Gast an Jagendschöne reich,
Voll königlicher Gnade.
Es ist Theresias 2 Tochter traat.
Des Frankendaaphin 8 holde Braat,
Maria Antoinette.
Sie zn empfangen, sind gesandt
Pariser, hoch im Adelstand,
Mit Stern and Ordenskette.
^ Das 100jährige Jnbiläam der französischen Revolntion legt
eben jetzt aach die Erinnerang an die angltlckliche Königin nahe,
deren Braatfahrt hier aaf Grand zweier Berichte von Angenzeagen
geschildert wird, nämlich yon Goethe (Wahrheit and Dichtang, Th. 2,
Bach 9) and yon Friedrich V., Landgrafen von Hessen-Hombnrg. --
Ihr Brost bild, «Ton hoher Schönheit», nach kanstrichterlichem Urteil,
findet sich eben jetzt, anter andern Bildern aas der französischen
HeTolationsgeschichte, im grossen Loavre-Saal aasgestellt.
2 Kaiserin Maria Theresia.
s Nachmals (seit 1774) König Ladwig XVI.
— 116 —
Bis Strassbnrg gab noch Oesterrdich
Der Kaiserstochter, abschiedsweich,
Ein liebevoll Qeleite.
Zusammentrifft nun hier am Rhein
Paris^ und Wiens Gesandtschaft ein.
Der hohen Braut zur Seite.
Ans grünem Inselwäldchen schant
Ein stattlich Lnstschloss, nenerbant.
Die Fürstin zu empfangen.
Ihr weht entgegen vom Balkon
Die weisse Fahne, dran die Krön'
Und goldne Lilien prangen.
Musik und Hochruf schallt voran,
Es steigt die Ehrentrepp' hinan
Die Braut mit ihren Damen.
Ihr steht bereit ein festlich Mahl
Im reichen Thron- und Speisesaal,
Den Bilder bunt umrahmen.
Paris hat Gobelins gesandt,
Die zieren rings der Halle Wand,
Die prächtigen Tapeten.
Manch heilig Bild ist licbtumstrahlt.
Wie Raphael es vorgemalt, ^
Vors Auge hier getreten.
Doch sieh — welch grauenhaftes Bild
Hängt überm Thronsitz, schaurigwild!
Kreusas Hochzeitswehen,
Medeas Kindermord, der Fluch,
Der folgt auf Jasons Treuebruch —
Die traurigste der Ehen!
Wer traf doch solchen Bildes Wahl,
Der armen Braut zu banger Qual,
Gar böse Ahnung weckend?
Wie schlich sich, trotz dem Festlichtscbein,
Doch dies Gespensterbild herein,
Mit blutiger Zukunft schreckend?
Betroffen seufzt die Fürstin auf:
«Was steht mir für ein Leidenslauf
Bevor in diesem Reiche?»
Trostsuchend blickt sie schweigend hin
Auf ihre Schwesternschaar aus Wien,
Dass ihre Furcht doch weiche.
^ Ein Teil jener gewirkten Teppiche stellte biblische Bilder nach
Raphaels Cartons dar.
— il7 —
Mit Huldignng kommt ihr zuvor
Paris in seinem Adelsflor,
Bringt Gaben, Sträusse, Kränze.
Da heitert sich ihr Angesicht,
Dass wieder hell ihr Augenlicht,
Ihr Hofi&iangsstem erglänze.
8. Einzug in die Stadt.
Die Nacht verging, der Morgen graut,
Nach kurzem Schlaf erhebt die Braut
In vollem Schmuck sich wieder.
Und mit ihr feiert die Natur,
Des Maies blütenreiche Flur,
Der Nachtigallen Lieder.
Von grüner Inseltrift am Rhein
Ergeht die Brautfahrt nun landein
Mit festlichem Gepränge.
In Strassburg hält sie Einzug heut —
Hört ihr vom Münster das Geläut
Und aller Glocken Klänge ?
Hört ihr vom Citadellenwall
Den donnernden Kanonenachall
Aus hundert eLmen Schlünden?
Der künftigen Königin geweiht,
Soll er dem Yolke meilenweit
Ihr Kommen froh verkünden.
Sie naht der Stadt, dem Mezgerthor . .
Doch nein! der Magistrat erkor
Ihm einen neuen Namen :
«Dauphinethor» so heisst^s fortan,
Als Ehrenpforte aufgethan
Der höchsten unsrer Damen.
Am Thor, in vollem Amtsornat,
Begrüsset sie der Magistrat
Mit warmen Huldigungen.
Im offnen Wagen, reich bespannt,
Fährt sie einher, vom Volk erkannt,
Dess Hochruf weit erklungen.
In allen Strassen — welche Meng*,
In allen Häusern — welch Gedräng,
Ihr Angesicht zu schauen !
Aus allen Fenstern bis zum Dach —
Wie freundlich winken tausendfach
Mit weissem Tuch die Frauen!
— 118 —
Die Tochter Dentschlands, gestern bang,
Ist heut beruhigt beim Empfang,
Den Strassbnrg ihr bereitet,
Wo auch die Hochschnl deutsch noch lehrt.
Wo Goethe lernend eingekehrt,
Von Herders Hand geleitet.
So atmet Josephs ^ Schwester auch
Noch hier des deutschen Geistes Hauch,
Noch nicht in fremder Sphäre.
Drum fasst sie wieder frischen Mut,
Und bald besiegt ihr junges Blut
Des Heimwehs bittre Zähre.
In langsam feierlicher Art
Erging zwei Stunden lang die Fahrt
Bei stetem Glockenschallen.
Nun winkt das Ziel : dem hohen Gast
Erschliesst des Bischofs Prunkpalast
Die schönsten seiner Hallen.
Am Eingang, am bekränzten Thor
Stellt sich ein Musikantenchor
Und spielt die reinsten Klänge.
Und Z¥n8chen zwei Soldatenreihn
Rückt in den weiten Schlosshof ein
Des Festzugs bunte Menge.
Voran ziehn mit gezücktem Schwert
Die Leibgardisten hoch zu Pferd,
Dann vieler Wagen Kette;
Hofherrn und Damen reich geschmückt,
Zuletzt, die alle Welt entzückt —
Maria Antoinette.
«Hoch lebe, hoch des Dauphins Braut!»
So schallt aus tausend Kehlen laut
Ein Jubel, der nicht endet,
Bis auch das letzte Reiterkorps,
Die Schweizergarde, hinterm Thor
Abschliessend sich gewendet.
3. Festlichkeiten.
Der Braut und ihrem Hofgeleit
Zu würzen auch die Abendzeit,
Will Strassburg gern ihr dienen.
Kaum trat sie vor auf dem Balkon,
So ist zu einem Schauspiel schon
Die Küferzunft erschienen.
1 Kaiser Joseph II.
— i19 —
Sie fahren anf zur Schlossterrass^
In Wagen mit bekränztem Fass,
Mit Schlegeln nnd mit Reifen.
Altdeutsch ist ihre zünft'ge Tracht,
Ein weiss Gewand, umsäumt mit Pracht,
Mit blauen und roten Schleifen.
Nun sieh : auf einen Reif gestellt
Wird flink ein Glas, das doch nicht fallt.
Obwohl den Reif sie schwingen.
Wie kunstvoll ist der Küfertanz !
Wie mag doch, fragt man staunend ganz.
Solch Zauberstück gelingen?
Und Beifall spendet vom Balkon
Die hohe Braut mit holdem Ton
Den wackern Zunftgenossen.
Und horch, das Illgestad entlang
Hat Beifallsbrausen sich noch lang
Von Mund zu Mund ergossen.
Nach so gelungnem Meisterstück
Zieht froh die Küferschar zurück.
Wie im Triumpheswagen.
Der Dauphine aber harrt sofort
Ein andres Abendschauspiel dort.
Wo Komus' Hallen ragen.
Dort in dem hochgewölbten Saal,
Wo hundertfacher Leuchterstrahl
Die Nächte macht zu Tagen,
Empfangt die Loge, schmuck und weit,
Die Fürstin und ihr Hofgeleit,
Lässt ihr den Thronsitz ragen.
Zu ihrer linken Hand sich reihn
Die deutschen Herrn und Damen fein.
Wohin sie gern sich neiget;
Indess zur Rechten sich geschart
Die Ton Paris, so fremder Art,
Dass scheu Maria schweiget.
Das Lustspiel auch, das Possenspiel
In Frankreichs Sprach und leichtem Stil
Mag nicht der Braut behagen ;
Bald schaut sie traurig vor sich hin,
Bald zwingt sie sich, zu wachem Sinn
Die Augen aufzuschlagen.
Ihr Blick erst dann sich wieder hellt,
Da aus das Spiel, der Vorhang föllt.
Der Müden winkt nun Friede.
— 120 —
Doch schant sie gern im Lämpchenglanz
Beim Heimgang noch erle achtet ganz
Die Münsterpyramide.
Da strahlt ihr ja die Herrlichkeit
Der alten deutschen Reichsstadtzeit
Anheimelnd noch entgegen.
Das Fest zu krönen, sprüht empor
Ein Feuerwerk zum Sternenchor
und sinkt als Stemenregen.
So schliesst die Braut in Frankreichs Schoss
Den zweiten Tag; ach, welch ein Los
Wird ihr die Zukunft bringen?
Wohl Freude, doch gemischt mit Leid,
Ein Thränlein fliesst aufs Brautgeschmeid —
Herry hilf ! lass wohl gelingen !
4. Abfiihrt naoh Paris.
Die Abschiedsstunde kommt heran.
Der brautlich holden Fürstin nahn
Alsatiens Ritterkreise.
Sie wünschen dem erlauchten Gast
Im fürstbischöflichen Palast
Von Herzen beste Reise.
Herrn Franz, den tapfern General,
Den Herrn von Wangen, traf die Wahl,
Das Abschiedswort zu führen.
Hut kurzem Spruch, doch voll Gefühl,
Weiss er, der stand im Schlachtgewühl,
Die Braut zum Dank zu rühren.
Sie folgen ihr zum frommen Gang,
Zum nahen Dom, dess Glockenklang
Zum Hochamt eben ladet.
Nicht anders mag die Königin
Zur schweren Reise ziehen hin,
Als neu von Gott begnadet.
Da weht sie an ein frommer Geist,
Der sich im Steingebild erweist.
Beseelt von Erwins Sinne.
Von ihm ist hier, in Stein gehaun.
Ein biblisch Bilderbuch zu schaun.
Erhaben bis zur Zinne.
Drei Reiterbilder ^ am Portal !
Wer ist der Dritte in der Zahl
1 Chlodwig I., Dagobert IL und Rudolf v. Habsburg; als vierter
kam Ludwig XIV. erst 1828 hinzu.
— 121 —
Mit Krone, Schwert and Schilde?
Dein Rudolf ist^s, Dein tapfrer Ahn,
0 Habsbnrgs Tochter, schau hinan
Zu seinem Heldenbilde !
Von seinem Geist umweht, tritt ein
Zum Dom, bei buntem Dämmerschein,
Tritt in die heiVgen Hallen,
Wo Dir zu würdigem Empfang,
Im Hermelinkleid, mit Gesang,
Domherrn entgegenwallen.
Das Hochamt feiert am Altar
Der Fürstbischof im Festtalar,
Von Rohans edlem Hause. >
Und horeh ! Musik — wie schön klingt sie,
Bald donnernd, wie am Sinai,
Bald liebliches Gesause ! —
Nun aber mahnt der Stundenschlag
Die Fürstin an den Abschiedstag;
Mit Wehmut sieht sie scheiden
Die Wiener in die Heimat fem;
Nun sind's allein Pariser Herrn,
Die sie ans Ziel geleiten.
Und wieder dröhnt vom Festungswall
Der donnernden Kanonen Schall.
Und alle Glocken läuten.
Bis an des Stadtbanns Grenze weit
Giebt ihr der Oberst das Geleit
Mit seinen Edelleuten.2
Nun lebe wohl, du Münsterstadt,
Die noch ihr deutsch Gepräge hat,
Du Land an den Vogesen!
Nun geht es erst der Fremde zu;
0 Braut, Dir bangte, könntest Du
Im Buch der Zukunft lesen !
5. Schreckenskiinde ans Paria.
Ganz Strassburg harrt auf Post und Brief,
Wie in der Hauptstadt sich TerUef
Das Fest der Dauphinsehe.
Wohl war yoII Jubels der Empfang,
Doch schlug er um so schaurig bang —
0 Hiobspost voll Wehe!
^ Cardinal Prinz Ludwig von Rohan.
* Der Stadtoberst mit der Nobelgarde.
— 122 —
Mit tausendfachem Frendenlaat
Begrüsst Paris die hohe Braut,
Der Dauphin selbst vor allen.
Ihr fürstlich edles Angesicht,
Ihr treues blaues Augenlicht
Weckt innigst Wohlgefallen.
Kanonendonner grüsst vom Wall,
Von allen Türmen Glockenschall,
Und Feuerwerke sprühen.
Das Abenddunkel weicht dem Schein
Der Lämpchen, die in bunten Reihn
Vor allen Fenstern glühen.
Da wälzt sich durch die Riesenstadt,
Die Pracht zu schaun, was Füsse hat,
Ein zahllos Volksgemenge.
Und horch, o welche Schreckenskund^
Verbreitet sich von Mund zu Mund,
Vergällt das Lustgepränge?
In enger Strasse eingeklemmt,
Wo Baugerüst den Durchgang hemmt —
0 Wehgeschrei ohn' Ende !
Zerdrückt, zertreten in den Staub
Fällt Jung und Alt dem Tod zum Raub
0 grause Schicksalswende!
Verhängnisvoller Hochzeitstag,
Dess Jubel sich mit einem Schlag
Verkehrt in Todesklagen !
Noch Schlimmres harrt Dein, arme Braut!
Gottlob, dass Dir's noch nicht vertraut
In Deinen Flittertagen.
Dir werden zwei Jahrzehnte kaum
Im Glück verfiiessen wie ein Traum,
Dann wird das Blatt sich wenden.
Da sich das Frankenvolk empört,
Dir und dem König Rache schwört,
Und blutig wird es enden.
Ihr schmachtet lang in Kerkerhaft,
Bis euem Kopf das Fallbeil rafft.
Dem Pöbel wirft zu Füssen.
So wird die Weissagung zur That:
Dein Ludwig muss die Missethat
Der Väter mit Dir büssen.
— 123 —
Gedenk^ an das Tapetenbild,
Das Dich als Braut im Rheingefild
Erschreckt als böser Schatte :
Krensa — die bist leider Da!
Medea-Gallia treibt^s dazn,
Wie Jason stirbt dein Gatte !
Ach, so macht hier ein granser Flach
Zum Spott den alten heitern Sprach
Von Oestreichs Heiratsglücke ! ^
Ach, in dem Land der Blnthochzeit
Dräat unter Rosen dem, der freit,
Nicht selten Schlangentücke !
II. Wie es um Neujahr schneit, auch T^enn's
nicht schneit.
(Strassburger Mundart.)
Wie sonderbar isch doch der Winter diss Johr!
Narr einmol e bissei het^s gschneit;
Unn doch sinn mer schun üwwer d^Wihnachte Tor
Unn 's Johr het sich widder erneut.
E Christkindelsmärkt ohne Schimmer von Schnee,
's Keujohr ohne schneewisses Kleid —
Ach! fsifze do d^Kinder unn klaauen: o weh!
Au grosse Lit, Eltren isch's leid.
Do fallt jo ins Wasser der Schneeballe-Jux,
Wo d^uewewelt sich bumbardiert.
Do hört mer kein Schlachtgschrei, kein Hurrahgejuchz,
Wie sunst, wenn der Find retiriert.
Kein SpassYöjel bringt jetz e Schneemann ze Stand,
£ Zwergbild mit riesiger Nas,
Der droht mit dem Hewel in sinere Hand,
Mit fnnkligen Aue von Glas.
Ach, niemand lauft Schlittschueh, wil gfrore kein See,
Kein Baum isch mit Silwerduft bhängt.
Kein Schlitte kommt gfahre durchs Feld ohne Schnee,
Kein Pferd kommt mit Schelleklang gsprengt.
0 truriger Winter, wenn wit unn breit
Nurr Newel uff Berri unn Thal !
0 truris Neujohr, wenn es gar nit schneit
ünn ^s Land isch so öd unn so kahl ! —
^ Tu felix Austria, nube.
— 124 —
Was saauen er? bsinne euch besser, ihr Lit!
Isch wirkli ^s Neujohr ohne Schnee ?
EU, sehn er's nit schneie ? es schneit jo schon hit,
Unn moijen nnn später kommt meh.
Es schneit jo ins Hüs, bis in d* Stnwwen erin —
E Schneefall, der dTlocke nit spart;
Mer möcht ne verwünschen ins Pfefferland hin,
Er isch nit von lastiger Art.
Ha, merken er^s? Konto schneit^s üwwergenue,
Vom Schlosser, vom Schriener, vom Schmied;
Baechhändler, Tuechbändler unn Schnieder derzne,
Beck, Metzjer, Wirth, — alles hilft mit.
Na, Handwerk nnn Handel will au sine Lohn,
Se genn mer, was billi unn recht.
Doch heischt noch en anderi Profession
Nenjohrsgeld — e bettelhaft Gschlecht.
Jo, d^ Zit isch jetzt do, wo^s an Bettelbrief schneit,
Drinn steht von der bitterste Noth.
«Mit siwwe lewendige Kinderle schreit
E Wittfrau nooch taglichem Brot.»
Isch^s Wohret, se denk an der Bruederlieb Gsetz,
De Wittwen unn Waise reich d^ Hand ;
Oft awwer sinn d^Bettelbrief Luejegeschwätz,
Drum uffgepassi, gieb mit Verstand!
Schnapsbrüeder gehn um hit, der Alt unn sin Bue,
{ Zuem Trunk nurr bettelt diss Korps.
I Sie renne hit ihrem Verderwe zue,
I So blind wie im vorige Johr.
Gott besseres! zuem Heil fürr Jung unn Alt
I Lenk Er unsre ktinftige Lauf.
Unn trüebt sich der Himmel, so nemme mer halt
1 Au Schneegstöwer mit in de Kauf.
Jungs Völkel ! dir wünsch i zum Wintergenuss
En Isbahn unn wuchelang Schnee.
Do fahren er üewwer de gfrorene Fluss
Unn singen im Schlitte Jucheh !
Gott bhüet euch, dass keins im en Isloch versinkt,
Er schütz euch vor allerhand Gfohr,
Bis uff euerm Scheitel der Alterschnee blinkt
Im achtzigste, hundertste Johr!
— 125 —
III. Der Nussbäume Klagelied.
Ach wie d^Kriejsfnrcht sich verbreitet,
Wie sich d^Welt znem Kampf bereitet —
Wie viel Opfer kostet das !
An mir armi Nassbäom müesse
Schwer diss Waffefiewer büesse
ünn de blinde Völkerhass.
Ländli still isch unser Lewe,
Isch dem Fridde ganz ergewe,
Andre wohlzeihnen bereit.
D'Vöjel Ion mer lasti singe
Unn durch nnser Laabwerk springe,
Wo im Nest ihr Bmet gedeiht.
Menschekinder zen erfreue,
Lon mer Nüsse sich yerstreue,
Zuem Genuss unn Spiel, im Gras,
unser Grundherr losst sich presse
Köstlis Nussöl, ToUgemesse
Wurd manch Kruejel, manches Glas.
Wenn in schwüeler Summersmitte
Gras gemäjt wurd, Weize gschnitte,
Unn dem Gsind wurd^s gar ze heiss —
0 wie wohl thnet uff de Matte
Unser breiter kuehler Schatte,
Wo mer^s Brod isst, frei vom Schwdss
Unn wenn d^Mnetterlieb, im Winter,
Christbäum rust farr ihre Kinder
Unn mit Obst unn Nüsse ziert —
Wer — mer saaue^s nit mit Prahle —
Wer isch^s, der in goldne Schale
Sie mit Nnsskem regaliert?
Sehn, wie mir uns treu bemüeje
Euch znem Nutsen unn Vergnüeje,
Johr um Johr, ihr liewi Lit!
Drum au thuen mer wohl verdiene,
Dass der Mensch uns froh losst gruene.
Bis uns Gott den Abschied git.
Awwer zither e paar Johre
Hen sich widder.uns verschwöre
Bure, die vor Goldgier blind,
Fällen uns mit Axt unn Säje,
Laden unsri Stamm uff Wäje,
Unn do geht's in d'Fremde gschwind.
— 126 —
Trüri sehn mer^s nnn verwundert :
Unsrer küm noch zehn vom Hundert
Bliwe stehn im wite Feld . . .
Ach, Soldate sinn halt knmme,
Hen de Büren abgenumme
D^schönste Bäum um schweres Geld.
Weshalb het^s d^ Armee errunge?
Nussbaumholz, so festgedrunge^
Isch zue Flinteschäfte guet;
Unn die brticht mer ze Millione,
Wil dem Sieger Legione
Grolle mit verbissner Wueth.
Armi Lit! o laie nidder
Eure Hass ! als Brueder widder
Gehn mitnander Hand in Hand.
Uns au losse friddli lewe,
Fröhli grüene^ Früchte gewe
Euch ze guet unn unserm Land.
Merk, Soldat! unn merke^s, Bure!
Kriej bringt Tod de Kreatüre,
Fridde nurr macht's Lewe froh.
Fridden isch e goldner Brunne,
Labt Mensch, Thier und Pflanz, wie d*Sunne.
Wie im Paradies isch's do!
VII.
Münsterthäler Anekdoten,
(Mundart des Dorfes Sulzern.)
Mitgeteilt von
J. S p i e 8 e r«
LkM dem im vorigen Jahrgang Seite 72 Gesagten sei hier
noch folgendes bemerkt. Auch die hier veröffentlichten Anek-
doten wurden im Grossthale gesammelt ; sie erscheinen nur
in der Sulzerer Mundart, um auch diesen Zweig des Munster-
tbäler Dialekts zu seinem Rechte kommen zu lassen.
Die Sulzerer Mundart hat mit derjenigen von Mühlbach
die Ersatzdiphthongierung, i die Ersatzdehnung, « die Verwand-
lung von n d in n g (iq)s sowie die Eigenschaft gemein, dass
sie nur zwischen l^, r^ und ny,* nicht aber auch zwischen
Ik und rk ein i einschiebt.^ Sie unterscheidet sich von ihr
1 Z. B. Ha.il cHalde» (Flurnamen), wtdn Wunde, eim (mhd. imbe)
Biene; vgl. Mankel, Lant- nnd Flexionslehre der MA. des Münster-
tkles. Strassbnrg 1886. Seite 38.
* Z. B. äsal Achsel, t&sal (mhd. dehsel) Qneraxt; vgl. Mankel,
Seite 37.
s Z. B. hav] Hand; vgl. Mankel, S. 36.
^ Z. B. kheliX Kirche, khluriX Karren, menix (Mühlb. mänix)
Mönch; aber: folk Volk, stark stark (in Münster: folik, i^tärik
ü. 8. w.) ; vgl. Mankel, S. 27.
— 1:28 —
namentlich durch den Verhist der Nasalierung, ^ infolgedessen
zahlreiche gleichlautende Wörter entstehen. So heisst z. B. lät
«cLand» und «LadeD, käs «Gans» und «Gasi», rds9 cgrunzen»
(Mühlb. : rä^sd) und «rasen», kheit «Kind» und «[gefallen, ge-
worfen», sei «sindt> und «sei» u. s. w.
Die Konsonanten stimmen mit denjenigen der Miihlbacher
MA. überein, nur dass vor der Endsilbe al k (g) nach kurzen
Vokalen 2 meist in i übergeht. Z. B. feil (M. fekal) Feile, foil
(M. fokal) Vogel, khäil (M. khäkal) Kegel, khüil (M. khükal)
Kugel, näil (M. näkal) Nagel u. s. w. ; vgl. auch aiarstoik
(M. akdrstoik) Hühnerauge, fieilät (M. feklat) Veilchen ; jedoch
ekal Igel, prakla in Fett braten, steklik (M. stekal) steil u. a.
Das Verhältnis der Vokale und Diphthonge der beiden
Mundarten wird — seltene Ausnahmen vorbehalten* — durch
nachfolgendes Schema veranschaulicht :
M
s
! M
i
s
M
S
M
S
•
1
i '
i .
le, le
1
le
^i
ä
e, ä
e
6, ä
c
6 1
1
ei, ^i
ei
äi
ai
e
a
e, ^ ;
^i
äi
1
1 ^
äi
a
a
^
1
^, ai, ?j
ai
!
i
k
1
ä, ^
ä '
1
äi
1 •
ai
1
0
0
a. 4^ h\
ä i
oi
1
oi
i
«
u
u
6
9
0
ui, VI
üi .
1
y
y
ü, \l
i
yü
ya
9
9
4
9
y
1
yo
ÜW8 1
1
•
1 In ähnlicher Weise hört man znweilen manche Elsässer die
französischen Nasale behandeln; z. B. «sak fwa sak fü wat-sak» f&r
«cinq fois cinq fönt vingt-cinq> oder cHäri sät pjä» fär «Henri
chante bien>.
2 Nach langen Vokalen and Diphthongen wird das g (k) in
beiden Mundarten gleichmässig behandelt, z. B. säie sägen, Segen
(anch säen); näi (M. nei) nein; aber Alka fliegen; k^ko gegen;
wäke Wagen jäkor Jäger ; pl6k Plage ; kriek Krieg ; M. lyüke, S.
lyeke schauen. (In Münster : fleäio, kaie, wäi9, jäisr, plöi, kreäi, lyäia).
3 Dieselben werden in den nachfolgenden Dialektproben jedesmal
besonders angemerkt werden. Mit der Mühlbacher Mundart ist die
von Sulzem hier verglichen worden, weil erstere durch Mankel eine
wissenschafthche Darstellung erhalten hat. — - Zur Orthographie vgl
die Anmerkung auf S. 73 des vorigen Jahrgangs.
— 129 —
Schliesslich bittet der Herausgeber noch um Nachsicht,
wenn einige der nachfolgenden Anekdoten, namentlich in der
beigegebenen Uebersetzung, etwas derb klingen. Es hiesse den
Volksgeist falsch dai'stellen, wollte man alles entfernen, was
den Geschmack der modernen Bildung verletzen könnte. Die
Uebersetzung ist übrigens nur als Kommentar beigegeben, nicht
etwa um selbständig gelesen zu werden. Darum wurde auch
mehr auf getreue Wiedergabe des mundartlichen als auf
Vollendung des hochdeutschen Ausdrucks gesehen.
28.
«£, ^, Leias, würüm hfes het « Ei, ei, Elias, warum hast
ti streipf lats ä?* hM amüwal du heute die Strümpfe verkehrt
9 myatar ta piewla kfrökt;» an?» fragte einmal eine Mutter
tamüwa hhi ar ksait : «6, üf ihren Jungen ; darauf sagte er :
tor ätar sit hai sa l^ar. » < Ei, auf der andern Seite haben
sie Locher.»
29.
tO j^rakot, we e§ tox ti walt cAch Gott, wie ist doch die
so wit ! > hat salar Sütarnär Welt so weit I » sagte jener
ksait, wü-n-ar iif ti filmpriik Mann aus Sondernach, als er
khüraa es för k Meistar. auf die Elmbrücke kam unter-
halb (vor) Münster.
30.
iSal liekt mi, misiel, niema c Damit lügt mich, mein' Seel',
mie ä, äs äina ^ s isapän fära niemand mehr an, dass einem
wöiflar khümt, we' mar retyr- die Eisenbahnfahrt billiger zu
pilj6 nemt. i"X pe kemtik üf stehen kommt, wenn man Re-
Kholmar kse ün hä nys ü ri tourbillets nimmt. Ich war
äis kanüma, ün s het mi üf tie letzthin in Colmar und nahm
ärt ßl mier khoSt äs süs.» hin und zurück («hinaus und
herein») eins, und es kostete
mir so viel mehr als sonst. »
31.
«Tar Näpöliüm es kawes» «Man sagt, Napoleon sei
ü?;kanätik rix-» — «^j hat ar ausserordentlich reich.» — «Ei,
ten mier äs hütart kh6i ?» hat er denn mehr als 100
Kühe?»
1 in M. kfryokt.
2 Accusativ; in Münster lautet auch der Dativ zuweilen so.
3 Das Wort ckawes» bedeutet, tonlos gesprochen, «wie man sagt» -
betont dagegen «gewiss, sicherlich» ; ist also hier tonlos zu lesen.
9
— i:30 —
32.
<Ty hiruw9ts äwar patsita,
Änameidb,» het dmüwal ti froi
pfärdra tsü ma mäitia ksait,
wii met sewalsä jüwar hoyjsit
khä hei. — «ja, wesa-n-ar,
froi pfärara^» h^t s ksäit^ ci
miex nä net höxlsit, wen s iif
mix äkhäm, äwar s es hält o
so, üsar lit wai s hä, sa pry/a
kär ni'ivvalwainik epar fer tsum
fe.»
«Du heiratest aber frühzeitig,
Anna-Mariechen,» sagte einmal
die Frau Pfarrer zu einem
Mädchen, das sich mit 17 Jahren
verheiratete. «Ja wissen Sie,
Frau Pfarrer,» antwortete sie,
«ich würde mich noch nicht
verheiraten, wenn es auf mich
ankäme, aber es ist halt auch
so, meine Eltern wollen es
haben, sie brauchen gar not-
wendig jemand zum Vieh (als
Melker).»
33.
S het amüwal a froi, wü sa
e ma nüwaxpQrshys tsa stüwana
etar tsa kwalta ks^ es, kakläkt,
äs e ^na kh^ kwat§apäim wai
wäsa. «ix ^äis akotsanäma net,
was täs es,» säit sa, «äh lit
pakhüma kwatsapaim, äs m^r
pakhüma kheni, ün to^ äla-
müwal, we' mar kwatSapfafar
khä hai, sai i/^ ti stäin !»
Es klagte einmal eine Frau,
als sie in einem Nachbarhaus
(am Tag oder Abend) auf Besuch
war, darüber, dass ihnen keine
Zwetschenbäume wachsen
wollten. «Ich weiss in Gotlej?
Namen nicht, was das ist,»
sagt sie, « alle Leute bekommen
Zwetschenbäume , nur wir
kriegen keine, und doch jedes-
mal, wenn wir Zwetschenmus
hatten, säe ich die Steine !»
34.
«Säka, höra, her toktar, «Sagen Sie, hören Sie, Herr
müs-a-s wäsar häisar s6 äs Doktor, muss das Wasser heisser
kho^ik, fer täs kheit tsa päta?» sein als siedend, um dieses Kind
zu baden?»
35.
S het amüwal a froi plyat- Eine Frau holte einmal Blut-
sykar khölt e tar äpat^k. ewar egel in der Apotheke. Nach
a setsla äna khnmt sa wetar einer Weile kommt sie wieder
tsarük ün säit : «e was i säka zurück und sagt : «Ei, was ich
wel, h^r äpat^kar, — i hati nä sagen will, Herr Apotheker, —
1 in M. hat.
— 431 —
M kär farkasd tsd froka ^ — beinalie hätte ich noch ver-
prakalt mar ti plyatsykar em gessen zu fragen — brät man
Imüis h{9T mäxt mar a sösla die Blutegel im Fett, oder
üi?» macht man eine Sauce dran?»
36.
Ti Wöwarmei hfet amüwai Die c Webermarie* fragte ein-
ti myatar kfr6kt : «loyatar, es mal ihre Mutter: «Mutter, ist
syfar wasar e tam ferkla tüwa, reinea Wasser in diesem Zuber
wü tar hienartrak tren es?» da, in dem dieser Huhnermist
sich befindet?»
37.
Tewai'a em Apfarspa hai sa Drüben in Ampfersbach (An-
amüwal e ma hys kametsikt« nex vonStossweier[Stüwaswir])
khä. tamüwa e§ na ti khäts e hatte man einmal in einem
t9 khaiar katysalt» ün bot a Hause geschlachtet. Da schlich
kruwas §tek fläi§ fürt, yvü sa (ihnen) die Katze in den Keller
s ena wöra sei, e§ äinar e tar und entwendete ein grosses
khats nüwa^ karent; äwar ti Stück Fleisch. Als man das be-
khäts es e s tan ün ti läitar merkte (inne wurde), lief Einer
nüf üf ta hoistok ün e§ t^rt der Katze nach ; aber diese lief
cr,ar ti taxspära kälofa. «wärt,* in die Tenne und die Leiter
khatsar, ti^ wel i/ prena!» hinauf auf den Heustock und
säit ar ün nemt ar ti läitar schlüpfte dort unter die Dach-
awak. Sparren. «Warte, Bösewicht,
dir will ich einen Streich
spielen (eig. dich will ich
brennen)!» sagt er und nimmt
ihr die Leiter weg.
38.
S bet amüwai äinar pim ärt- Es fing einmal Einer beim
epfal talwa a särar läwanik Kartoffeln aushacken einen
kfäifja. «tsäi, was fer a tüwat Maulwurf lebendig. «Sag (zeig),
sä i jetsika« e tam tüwa ätü?» was für einen Tod soll ich jetzt
frökt' ar a ätarar, wü üf ara Diesem hier anthun?» fragt
mat eir)a trä kfi§rt h^t, «w^ls er einen Andern, der auf einer
saka sa als es tar wie§t§l tüwat?» Wiese weiter unten W^asser-
— «e, täs khä ix ü^® säka,» furchen zog, «welches sagt
säit tar ätar, «ti älta lit hai als man gewöhnlich, sei der grau-
ksäit, läwanik farkräwa wära samste Tod?» — «Ei, das kann
1 in M. fryoka. 2 kem^tsit. » ketyst. * nyor. 5 wkrt.
ßtft 7 fvvnkt. 8 iY.
« hiets. 7 fryokt. « iX.
— 432 —
es tar erikst tüwal.» — wü ich Euch sagten.» entgegnet
sal9r tas h^rt , nemt er ta der Andere, cdie alten Leute
kröpfa 1 im hakt raet a tief- pflegten zu sagen , lebendig
lä/ti lut e ta pöta ün kheit ta begraben werden sei der
sarar tri im t^kt na met krüt schlimmste Tod.» Als jener das
tsya im säit : «tüwa khäs jfe- hört, nimmt er den Karsi,
tsika far^ka, wen ta wet, ty hackt damit eine ziemlich tiefe
wiestar khäip ! » Vertiefung in den Boden, wirft
den Maulwurf darein, deckt ihn
mit Erde zu und sagt : cDa
kannst du nun krepieren, wenn
du willst, du wüstes Aas!»
39.
«Sei üiar pyawa o em ksäYj- «Sind eure Söhne auch im
faräin? üsara hai sa net pakärt, Gesangverein? Den Unsrigen
ün ar h^t tox a stem äs we hat man nicht gewollt, und er
stek fi§ ! » — « täs kloi- w-i)^ hat doch eine Stimme wie eine
wäkar, üsari hai pieti na käts Bestie!» — «Das glaube ich
tUari stema, ün s sei na fa ta wahrlich, die Unsern haben
kareT;std. » beide noch ganz andere Stimmen,
und es sind noch von den Ge-
ringsten ! »
40.
Ti H mei h^t ksäit Die H marie sagte zu
tsü 6ram mäitla : «wen i-/ s ihrer Tochter : «Wenn ich es
e mina eltara kamä/t hat« äs meinen Eltern gemacht hätte,
we ty e mer, tie wiera mar wie du mir, die würden mir's
misiel katsäikt hä.» — «jüwa, mein* Seel' gezeigt haben!» —
6r wära säti Vitara khä hä !» — «Ja ! Ihr werdet wackere Efltern
«älawäi pröfari äs ty ! » gehabt haben ! » — «Jedenfalls
bravere als du I »
1 in M. kryopfe. « hat.
VIII.
Zillinger Sprachproben.
Sprichwörter and Kinderlieder in der
Mundart des Dorfes Zillingen bei Pfalzbarg.
Gesammelt von
J. Spieser.
W ie bei der Herausgabe meiner früheren Sammlung
von Münsterihäler Sprichwörtern im zweiten Jahrgang dieses
Jahrbuchs,! kommt es mir auch hier vor allen Dingen darauf an,
zuverlässige Sprachproben zu bieten. Wer es je vei*sucht hat,
sich in eine fremde Mundart einzuarbeiten, wird die Schwierig-
keiten begreifen, die mit solcher Arbeit verbunden sind, und
etwaige Irrtümer, die sich trotz aller Sorgfalt einschleichen
können, entschuldigen. Ich werde für Berichtigung solcher stets
dankbar sein.
Was von der Hirschländer Mundart mitgeteilt ist, verdanke
ich samt und sonders der Güte des Herrn Lehrers Andres
in Zabem, dessen Heimat Hirschland ist. Ich bin ihm über-
haupt für das rege Interesse, das er an dieser Arbeit nahm,
zu wärmstem Dank verpflichtet.
^ Dieselbe ist seither von 85 aaf über 200 Sprichwörter an-
gewachsen. Der Rest wird voraassichtlich im nächsten Jahrbach
encheinen.
— 134 —
Trotz aller Beobachtung ist es mir nicht gelungen, über
das Zillinger r ganz ins Reine zu kommen. Wenn auf dasselbe
noch ein anderer Konsonant folgt, glaubte ich stets ein ganz
kurzes a zu hören, etwa: to*f Dorf, kä*ta Garten, ä«w8t Ar-
beit u. s. w. Ich wählte dafür das Zeichen ^, Im Anlaut
schien es mir sich von dem r meiner Heimat^ das stets durch
Vibrieren der Zungenspitze hervorgebracht wird^ nicht zu unter-
scheiden. Ebenso schwankte ich darüber, ob ich «löwi^ (schaue)
oder löy, phöw (Pfau) oder phöy, fraü oder fraw schreiben
sollte. Folgt ein Vokal nach, so hört man deutlich ein w
(«Iöwai> schauen); folgt aber ein Konsonant, so klingt das w
vokalisch.
Folgende Beispiele mögen den Vokal- und Diphthongen-
bestand der Hirschländer Mundart veranschaulichen und zugleich
zeigen, wie notwendig es ist, mundartliche Sprachproben
phonetisch und nicht etymologisch zu schreiben.
I. Kurze Vokale : stil Stiele stel stiUy §t^l sielley stäl StdUe^
awa Augeny stäl Stally mÖTQs* frisch^ zart {vom Brot)y kot
Gotty küt gut, hyt Haut, tröwa trauen.
II. Lange Vokale : pir Bter, p^r Birney p^r Beere, par
Bär, säwa sagen, pär haar, pöm Baum, röt rot, röt Rute,
pyr Bauer, fröwa fragen.
III. Kurze Diphthonge : Hit lügt, l^it liegt, käis Geiss,
Ziege, fray Frau, tröy (ich) traue,
IV. Lange Diphthonge : fliit fliegt, kn^i Knie, l^it legt,
räit regnet, jäut jagt, plöy Plage.
In Z. steht für ö (ö) : ä (ä) « (mätjs, päm) ; für ii (ii) : ei
(ei) (leit, fl^it) ; für äi : ai (kais) ; für ay : au (frau).
I. Sprichv7Örter
in Zillinger Mandart nebst Angabe der Abweichungen der
Hirschländer Mundart.
1. änor när mäxt hünta^'t.
2. 8 khü e§8 wi a skk; wä(n) mar neks tren* tut, [ün tö]*
khän mar ä* neks arys näma. H. ; anen, äu.
1 6 (gedehnt: 6) ist ein Laut zwischen ä und o, etwa wie das
0 in franz. komme,
2 Doch auch ö (H. rot, Z. röt Rat),
5 ist. Präs. : i/^ sen, ty pes, er e§, mar (9r, 89) sen; Conj. pras.:
sSw, — s, — ,9; Conj. imp. : war, — s, — ,9; Imp. : sfei, seia; bif.
sen; Part.: k9wän.
* Das in [ ] eingeschlossene bleibt in H. weg.
— 135 —
3. a kütar khümat^rar * es päsar äs 9 slä;^tar säfar. *
4. a kütar leia* sät neks (wän mar na küt änprey;!). H. : liia.^
5. a küt wo't feifjt* a küt o't.
6. ema* jöta när kfält sin khäp. H. : üma. ^
7. ema ksäv]kti>* ros löyt« mar net en s myl. H. : üma kSerjkta.
8. em träkijra wäsar khän mar six net sywar wäSa.
9. as* e§ khäm myl tsa tröwa. "^ H. : s.
10. as* es khän äprel so küt, as* snäit am pyr» nox üf ta
hüt. H. : s, s.
11. as* pli® a jötar was ar es, nö fält* khän snitar iwar ta*
tax ^^- ^* ' ^y ^^ ^^^^ ^'
12. as* hat sün filmöl a plen[t]i tyw^o a-n-ä»'ps kfÜY]. H. : s.
i3. as* ken fil katültixi söf en äna stäl. H. : s.
14. as * khümt ä * wetar a tsit, wü t * khü ta wätal " pryxt,
H. : s, äu, ta.
15. as tat*" als kär^» änar a-n-au kän*, " wän tar äntar
khäns hat. H. : s tat, ken.
16. as* wä«"! khän frosis kapor, äwar artsöy. >« H. : s.
17. fil hä^*" häni» päl a-n-ätj*. H. : hetj, eyj.
iS. fil hün sen s häsas tot.
19. fil pr^tara mäxa §mäli k^tara. i9
20. fre§i wünta sen küt häla.
21. für am t6iwal«> khän mar six h^ta, äwar für ta p^sa
lit net.
22. h6xmüt müs tswäig Uta.
23. klan* ün khäk wä'fl. ta krösa[-n-] en ta träk. H. : auch
klin.
2i. kr^ni winäxta*, wisi östara. H. : winä/ta.
1 Anordner. * Arbeiter. 3 Lüge. * findet. ^ vgl. das
t in Liksüm Lixheim, Wesüm Weschheim n. s. w. ^ schaut.
^ trauen. ^ Bauer. ^ bleibe; Part. : kaple (H. : keplew). ^^ blinde
Taube. " Schwanz. i« thäte. Präs. : tu, — s, — t, — n ; Part :
ketön. 13 gerne. i* geben. Präs. : ke, — s, — t, kän (H. : ken) ;
Conj. imp. : käp, — s, — , kawe. Part. : kän (H. : ken). i* Vielfrass.
^^ erzogen. i^ Plnr. von hänt. Andere unregelmässige Plorale
sind: fen (fent Feind), fSilo (f5w9l Vogel, dem. fSiale), hün (hünt
Hund), khen (khent Kind), kr^i (kruk Krag), pUi (plük Pflng\ püwa
(pft Knabe), sü (sük Schah). 18 haben. Präs. : hän, hks, hat, hän ;
Conj. präs. ; hftw, — «,—,«; Conj. imp. : het, — §, — , 9 ; Inf. :
hau; Part.: khftt. 19 Güter. m Teafel. vgl. h&wa Hafen, Topf;
0W9 Ofen; swawal Schwefel a. a.
— 436 —
25. krös ün neks nüts sen isw^n falard.
26. küthail* es 9 stek fön t9r letwlixkhait *. H. : — hat, —
khät.
27. l^tmäs*, spena farkas, ün pi tä ts nä^t* käs. H. : lit-
raäs, > s nä^t * (nät).
28. Maria kapün* §et t* ^pla« üf l hü't*» ün s tsöwd[n]äs9
f\i% Maria farkhentikür^ prerjt s lsöwa[n]ä.s9 wetarüm; tar
bailix* Sänt Kai stölt s fö für ta stal, ün lar Sänt Mänin
tut s fols* en. H. : kapyH, ta, ta hy't, häli/, fols.*
29. mar haut * ta päm * net met am e''5ta strai^* äp. H. :
hayt, pöm, sträy.
30. mar khänt ta föwal^ an ta fatai*a.
31. mar müs älawil mäyOy tas t* kheri)r em to'^f plit. H. : ta.
32. mar müs älawil s p^st hofa, s islä^rt khümt fän äsa. ^
33. mar müs n6 sdwa : prüna, an t6r treiQk i/ nimd*. H.:
nimä.
34. mar müs s isa smeta, wän s wä^^m es.
35. mar müs six streka nö* tar tökat*. H.: nö, t^k.
36. mar müs ta firöwat' ts* mo^jats sü/a. H. : s.
37. mar müs t frau* pim ^«"stalaip* pröt tseia*. H. : ta fray,
]äw, tsiia.
38. mar müs tsüm smet k^n, net tsüm smetal.
39. mar r^t fön tar khe'w, » pets äs* sa tö* es. H. : pes, to.
40. mar wais* an sina p6i*a, wän äntar lit 6ra* tsiti^^ sen.
H. : was, ira.
41. met krösa hära es net küt khe»*sa[-n-]äsa, sa wäi'fa -[n] am
t M\* an ta khop.io H. : ta slil.
42. met §päk föiQt mar t* mis, ün met lest t* lit. H. : ta.
43. met tära a'vval, wü mar ümk^t, farsütalt mar si^.
44. met tar käwaN^ es s a[-n-] er, äwar met am lefal kreit *
mar mö. H. : krfeit.
45. mo'Jarllia ün wiwarwö es nometas * neks m^.i* H. : nömetäs.
1 In H.: lit Licht, vgl. n&t Nacht, knat Knecht, ater^ Achtong;
fl&8 Flachs, was Wachs, w&se wachsen n. s. w. Doch sind alle diese
Formen veraltet. 2 AepfeL * Brettergerüst. * vollends ; lo
fols vgl. föri^ix vorwärts ; h&ls HaLf, klünsa gUuMn, glimmen, tttr^e
(H. : thürsd) Stmnk [vgl Monsterthal torse) ; haise [H. : hase) heissen,
^tinst (H. : sünst) sonst. » Vogel. ^ von selbst, so wie so.
7 Feierabend. » Kirchweih. » reif. »« Kopf. » Gabel.
IS € Morgenregen und Weiberweh ist Nachmittags nichts mehi:.»
— 137 —
46. neks hän e§ a ruiy * läwa, äwar äps* es küt. H. . r^wi^,
äpas 1
47. parix itn täl khüma net tsamd^ äwar t * lit. H. : td
48. p^sar 9 lys em kryt äs kär khän flais *. H. : fläs.
49. pesar a stekal pröt em säk äs a fatar uf am hüt.
50. p^r i^läxt kfär äs küt kär^-^
51. p6t§' la küt, so leis* la küt.
52. s krös sen* es a[-n-] ör, äwar s mä^t ta kältsäk lar. H.
auch : s höfaHix sen.&
53. so fil ta äs t* frfesa für Jerjald* kwdkara, so fil wüya no *
har sen sa steh H. : ta, nö.
54« sünaplekar, raiasekar.?
55. t* älta kh6 kän*« ta pütar, ün t* jürja henara l^ia
aiara *. H. : ta, ken, ta, ta äiara.
56. tir, wü ta säk hfept, es krät so fil äs wi tär, wü anen
stekt.
57. täs ros, wü ta häwar fart^nt, täs kr6it* na net. H. : krfeit.
58. tar mfe**ts trüka ün tar äprel nas^ feit am pyr khesta* ün
fas.9 H. : khesta.
59. ta TT/B lit 6ra* tfeytara ün ta [-n-]äfma lit 6ra* khälwara *<>
sen päl alt kanük. H. ira, ira.
60. tar krük k^t an ta prüna pets äs* ar präyt. H. : pes.
61. tar man khän net met ros ün wäwa pif(^a, " was t* fraw
em fünüy » khän fün träwa. H. : ta.
62. tar p^t häntal* e^ neks nüts. H. : hänal.'s
63. tar wolaf* farle't t* hör äwar t* nypa** net. H. : wolf,
ta, ta.
64. t* kapranta khen föriyta s fir. H. : ta.
65. t* khen ün t* nära säwa t* wörat. H. : ta, ta, ta.
66. t klaitara* mäya t* lit ün t* lümpa t* lis. H. ta klätara,
ta, ta, ta.
67. t* nöwa pasa faia küt. H. : ta.
68. t* röwa ün l* rekhäi^w khüma hey;a nö.* H. : ta, ta,^» nö.
69. ts näyts* sen äli röti kh^ swäi'ts. H. : s näyts (näts).
70. tswön ryyi stän mala sälta ran.
* etwas. « geg«ng«n. * bettest. * liegst. Part. : kela.
^ Die Patenschaft. « Georgstag (23. April). "* c Sonnenblicke,.
Regengender». >Kühe geben. ^ Fässer, sonst fdsera. '0 Kälber
" Wagen herbeif&hren. »« Schürze. i» Streit. >* Bosheiten.
• Di? Re ae nnd die Rückkörbe kommen hinten nach.»
— 138 —
71. t* stela wäsara sen t* äriySta ^tätafräsare. H. : ta, ta.
72. ümasünst es tar tot, ün tar säl * khost s läwa.
73. ümkakh^'t es a* kfär, äwar net krat anys. H. : äu.
74. um s kalt kr6it * mar tsükar. H. : kr^it.«
75. ünfarsu^ft smäkt net.
76. wän anar käolt wel sen, müs ar höiräta*, ün wän ar
katopt vfe\ sen, müs ar stä'wa, H. : häiräta.
77. wän a phär anäntar förnäma, so khümt änar met am hämt
tarfän*, ün tar äntar müs näkiy laufa*. H. : hemt tafän,
näka'tiy» layfa.
78. wän a saT}^S9U sätjla wel, säv^alt sa äsa jÜT^k.
79. wän mar alt wäU* wi a khü, Wt mar älfüU« noy ta[r]tsü.
80. wän mar a stäniyar äkar hat ün a krümar plük,^ ün a
p^si fraw em hys, (tarnö) hat mar krits kanük.
81. wän mar pi ta wölaf * es, müs mar met na hila. H. : wäf.
82. wän mar siy evjar t* kl^ia mesalt, [ün tö] fräsa[-n-] äna
t* söwa.ö H. : ta, ta.
83. wän mar ta säta hat, für ta spot pryyt mar net soriya,
84. wän ma.r ta wolaf nänt*, [ün tö] khümt ar karänt. H. :
wolf nent.
85. wän mar t* liii-'t änämt, müs mar sa ä* heta. H. : ta, äu.
86. wän mar wel höytsit mäya, müs mar 6ra tswai* sen. H. :
ira tswai.
87. wän s äna net pränt, müs mar net plösa.
88. wän s misal sät e§, es s mal petar.
89. wän s tar kais tsa* wöl es, k^t sa üf s is ün prä^^t a
pän. H.: kais sa.
90. wän s tüna't iwar ta plüta» wält, [ün] so farsröka jüt) ün
alt. :
91. wän tar pär am l^ytmäs* s nöst khän trüka, trat ar s*
no/ amöl söks wüya anen. H. : litmäs, s.
92. wän tar pätalmän üf s ros khümt, so ril ar s* tsa tot.
H. : s.
93. wän tar t^iwal hÜY;riy es, fräst ar müka.
94. wän t* khätsa fü^t sen, sen t* mis maistar*. H.: ta, ta,
mä^tar.
^ tar säl jener ; man sagt in Z. auch tar min ^tar «mein Vater».
2 kriegt, bekommt. Z : Conj . imp : kräy.t, — ^, — , a ; Part. : kr6it (H. :
kreit). s nackt. * Brennnessel. ^ Präs. : war, — s, — t, wäre;
Inf. : wära ; Part. : wer. 6 immer. '* Pflng. 8 Schweina. ^ bloss,
kahl, nnbelaubt.
— -139 —
96, wän t* mos fol es,« lauft* sa iwor. H. : lo, layft.
96. wän tswö frawa e' ina hys sen, es äni fsa* fil. H. : sa.
97. war en slü«'pai kapör es, tär ta'f en khän ätiwal Slype*.
H.: slyfa.«
98. war küt §m6n, tän küt.
99. war neks woyt,« kawent neks.
100. war net khümt Isü räxtar tsit, tar müs näma, was iwri^^
plit.
101. war nimänta* tröyt,* täm es net tsa tröwa. H. : nimänt.
102. war sijr wais* tsa seka, pry/t si}^ net tsa peka.^ H. : was.
103. war tse'St* khümt, malt tsö-^ät*. H. : sö^st*.
104. was fän ta khatsa tö* e§, Wi raysa. H.J: td. .
105. was mar an am pläts* söyt,* ferjt mar am äntara. H. :
pläts.
106. was mar arä'pt, pryyt mar net [tsa] arhysa.'^
107. was mar net em khop hat, nät mar en ta f^s.^
108. was mar net en tar hänt hat, khän mar net h^pa.
109. was mar net khän, §töt am s löra w61 an.
110. was mar net wais*, mä^t am net hais*. H. : was, häs*
111. was pät s mi^f,» wän tar töiwal ta [-n-] äntara holt, ün i^^
müs ta fyrlön patsäla?
112. was si)r patswait, patret s\i ä. H. : w. s. tswäit, täs tret
siy au.
113. wi mar en ta wält sr^it, §r^it s am arköia*. H. : ak^ia»
114. wi s mal e§, wä't s pröt.
115. wi tar här, so s kMr.^
116. wit fäm k§ets ket älti sälläta.
117. w^ü fil he'te sen, wä't Släyt kh^t.
118. wü kanük es, kr^it* tar hünt phäfar üf t* süp. H. :
kräit, ta.
119. wü neks es, hat tar khaisar* s räyt farlör. H. : khäsar.
120. wü tar t^iwal net äna wel, i^ekt ar a älti fraw äna.io
^ elende Schahe. ^ schlupfen. 8 wagt. ^ traut. ^ bückeu.
( scheut. '^ ersparen. ^ d. h. wenn man die Gedanken nicht an-
strengt (etwas vergisst), muss man die Füsse anstrengen. ^ hilft es
mir. ^0 Geschirr, Werkzeuge. ^^ hin.
— 440 —
II. IQinderlieder.
A. Zillinger Mundart«
1.
6.
Haid papaid/
£lä s pipdld* 161 !
s l^il tar khän käkal s
ün fräsl l9r tin pröt.
2.
Hailarlüm,!
t fraw es krüm,
sa hat 9 krümar Isöwa,*
sd hypelt» en lar stüp arüm
ün hat d sak fol sl^wa.*
3.
Hau häka-n-äp, liau heka-n-äp
ün los mar 1 stypa^ stön;
lauf ta söna mailla^ nö
ün los mar t wysta k^n!
4.
Maikhdwar, fl^i !
tin föilar e§ em kr6i,^
tin mütar es em Owarlänt,*«
se preY;t" tar a s^nas rösapänt.
5.
Pitäa pätsa khü/a 1 1
tar pök, tär hat s karüfa : "
«war wel küti khüxa pa^a,
tär müs häwa ^^ sewa sä^ra :
pütar ün smälts,
aiar' ün sälts,
melix ün mal,
ün säfra mä^t la khü/a käl.»
Träi hün ün träi han ! *
ty min 16war Kresän ! **
ly häis mar s farspro/,
ün j6ts mü^s mi/^ ä hän.
7.
W6warla, wäwarla, wek, wek,
wek !i
mäx. ni^r s lux trfei ^la*» tek,
los ta §püla laufa ;
i/^ wel tar a wäka khaufa.
8.
Wisi pl^mla, röti pl^mla
wäksa-n-en ta h^ka,
maitala, wän t' a §metsaU* wet,
sa mü§ tix net farStöka.
B. Hirsohläiider Mvndart.
9.
Reita, röita ros!^
sa Päsal st^t a sios^
sa P^sal §1^1 a härahys,
to'^t Iowa" tr^i s^ni jünfar' arys.
ta änt §pent sit,is
ta äntar §pent wit^
ta tret, te spent a röta rok
für ünsara klina käisapok. i».
1 Sinnloses Flickwort ^ Hühnchen. »Ei. * Zehe
^ hüpft. 6 Schlehen. ? Strünke. » M&dchen. » Krieg.
w Oherelsass. *i bringt. Part.: keprüiTi; Conj. imp i/ prijft.
12 sonst «kerüft» gerufen. i^ sonst <hän» haben. ^* Christian.
>ö Ellen. >^ KüsBchen. >< schauen. >^ Seide. ^^ Die iwei
letzten Zeilen lauten in Zillingen :
«t tret spent hawarströ,
ün t f^^t ma/ts krät 9sö »
IX.
Drei Mitforschern zum Gedächtnis
Von E. Mariin.
Johann Friedrich Kräuter.
Uie elsässische Dialektforschung hat in Joh. F. Kräuter,
welcher am 2. September 1888 zu Bern starb, einen ausge-
zeichneten Mitarbeiter verloren. Seine wissenschaftliche Thätig-
keil beschrankte sich jedoch nicht auf das Gebiet unserer
Mundarten : alles was die Lautlehre, sein besonderes Studium,
betraf, hat er sich nicht nur im Anschluss an fremde Unter-
suchungen anzueignen, sondern auch durchaus selbständig nach-
prüfend und beobachtend zu fördern gesucht.
Die Lautlehre ist ein Grenzgebiet, auf welchem Philologie
und Naturwissenschaft (diese als Akustik und Physiologie)
zusammentrefTen. Die Kenntnis der lebenden und der Sprachen
der Vergangenheit, der Schriftsprache und der Mundarten gieht
das Material, für dessen Verwertung zum Aufbau einer Wissen-
schaft die naturwissenschaftliche Methode massgebend ist : Beob-
achtung mit möglichst objektiven, vor Willkur und Selbst-
täuschung schützenden Hilfsmitteln, wo möglich Anwendung
des Experimentes, welches oft wiederholt und rein auf die
gestellte Frage gerichtet werden kann. Gerade auf diesem Ge-
biete lag nun Krauters Neigung und Begabung. Er beschäftigte
sich viel mit physikalischen Untersuchungen, er konstruierte
Apparate, er prüfte immer und immer wieder und überzeugte
sich wohl selbst gelegentlich, dass auf Wegen, die anfangs viel
versprachen, das Ziel nicht zu. erreichen war.
— 142 —
Zu dieser Art der Forschung führte ihn seine Anlage, aber
auch jene hat auf seinen Charakter und in gewisser Weise
auch auf sein Schicksal zurückgewirkt. Um ganz unbeeinflusst
durch andere zu forschen und zu urteilen, zog er sich mehr
und mehr zurück und kannte zuletzt ausserhalb der Familie
keine andere Erholung mehr als einsame Spaziergänge ; die fast
leiden schatH liehe Verfolgung seiner wissenschaftlichen Absichten
musste vielfach als Eigenheit und Sonderlingswesen erscheinen.
Wie er wissenschaftlich nur das, was er selbst wahrnahm, an-
erkennen konnte, so schien er auch im Leben nur unmutig
manche Schranke zu empfinden, welche in unseren so vielfach
veiwickelten Verhäitnissen nun einmal nicht zu durchbrechen
ist. Daher auch wohl seine heftige,^zuweilen herbspottende Art,
seine Gegner zu bekämpfen und gerade gegen die angeseheneren
unter ihnen die entschiedensten Ausdrücke zu gebrauchen.
Dadurch hat er der Anerkennung seiner Arbeiten eher ge-
schadet, aber freilich auch seinen Ausführungen einen Reiz
gegeben, welcher, in Verbindung mit der Klarheit seiner An-
sichten, auch jetzt noch auf den Leser wirkt.
J. F. Kräuter war geboren zu Strassburg am 12. Februar
1846 als Sohn eines Buchhändlers. Er erhielt seinen Unter-
richt auf dem protestantischen Gymnasium sfeiner Vaterstadt,
von 1863 ab auf dem höheren Gymnasium zu Bern, welches
er 1865 mit der dortigen Universität vertauschte, um nament-
lich unter der Leitung von Prof. Rettig klassische und gei-
manische Philologie zu studieren. Durch das Los vom fran-
zösischen Militärdienst frei geworden, war er von 1868 ab eine
Zeit lang Hauslehrer bei Baron von Heye auf Schloss Uhenfels
bei Urach, dessen Töchter er unterrichtete. Nach dem Krieg
fand er in seinem Heimatland bald eine Stelle in dem neu-
organisierten Schulwesen, die er, von früh an aufrichtig deutsch
gesinnt, gern übernahm. Durch Verfügung vom 15. September
1871 wurde er zum kommissarischen Lehrer am Gymnasium
zu Saargemünd ernannt, am 1. Oktober trat er sein Amt an.
Am 1. Juli 1872 erfolgte die Beförderung zum ordentlichea
Lehrer. Am 30. Oktober 1884 verheiratete er sich mit einer ihm
verwandten Dame aus Bern, welche selbst als Schriftstellerin
sich Anerkennung erworben hatte, Sie schenkte ihm zwei
blühende Kinder, und es gestaltete sich sein häusliches Leben
in der glücklichsten Weise. Doch schon im Sommer 1887 sah
er sich genötigt, einen längeren Urlaub zu nehmen, um eine
bedrohliche Brustkrankheit auszuheilen. Er sollte nur noch auf
kurze Zeit in seine Lehrthätigkeit zurückkehren. Als er sein
Ende nahe fühlte, wünschte er nur noch — und dieser Wunsch
ward ihm erfüllt — am Sedanstag zu sterben.
— 143 —
Krauters ]itterarische Leistungen bestehen in einer für
sich erschienenen Arbeit «Zur Lautverschiebung », Strassburg,
Trübner 1877; einem Programm des Gollegiums zu Saarge-
münd 1873 « Ueber neuhochdeutsche und antike Yerskunst ]» ;
und in einer grossen Anzahl von Artikeln^ welche in Fachzeit-
schriften erschienen sind. Von diesen standen ihm auch die
angesehensten zu geböte und veranlassten ihn überdies zu
einer Reihe von Recensionen insbesondere über Werke laut-
physiologischen Inhalts. Noch zuletzt, nach seinem Tode, ist
ein derartiger Artikel im Anzeiger für deutsches Altertum XV
(1889) S. 1 — 0 zum Abdruck gekommen. Schriften über fran-
zösische Grammatik besprach Kräuter besonders inl Literatur-
blatt für germanische und romanische Philologie.
Ich versuche es, die einzelnen Fragen, welche Kräuter
hauptsächlich beschäftigten, mit Bezug auf die einzelnen Arbeiten
aus seiner Feder aufzuzählen. Zunächst galt es eine Uebersicht
der Laute, welche an der Sprache unterschieden werden, zu
gewinnen und wohlgeordnet vorzuführen, und K. verölTent-
lichte hierzu «: Das physiologische System der Sprachlaute )> in
Reicherts und du Bois-Reymonds Archiv für Anatomie, Physio-
logie und wissenschafthche Medicin 1873, S. 449 — 477, mit
manchen eigenen Gedanken. Näher an seine eigentliche Auf-
gabe trat er heran, indem er diese allgemeinen Sätze auf die
deutsche Sprache zur Anwendung brachte und durch einzelne
Beobachtungen noch verfeinerte. Er zeigte, dass wir in der
ober- und mitteldeutschen Aussprache die Tenues k p t meist
mit den geschriebenen Medien g h d zusammenfallen lassen,
im Anlaut aber durch Aspiration davon unterscheiden, so dass
z. B. in Korn hinter k ebenso ein h zu hören ist wie in
Trinkhorn: c Die nhd. Aspiraten und Tenues » in Kuhns
Zeitschrift f. vergleichende Sprachforschung XXI (1873) S. 30
bis 66; Michaelis Zs. f. Stenographie u. Orthographie XXI (1873
S. 34—43. Gegen die Bezeichnung der Medien und Tenues
als Lenes und Foiies, also als schwächer oder stärker aus-
gesprochene Laute wendete er sich auf das entschiedenste:
Anz. f. deutsches Alt. XII (1886) S. 121 ff. Auf den Konsonan-
tismus der heutigen Gemeinsprache bezog sich ferner die Ab-
handlung «cDie Prosodie der nhd. Mitlauter» in Paul und
Braunes Beiträgen II (1876) S. 561 — 573, worin bemerkt ist,
dass die Doppelschreibung lly nn u. s. w. keineswegs eine dop-
pelte Aussprache bedeute, indem z. B. in alle das U nicht
langer dauere als i in Ahle, so dass vielmehr durch die Ver-
doppelung des Konsonanten nur die Kürze des vorhergehenden
Vokals bezeichnet sei ; Fälle wie annehmen sind natürlich
anders aufzufassen und bestätigen nur die Beobachtung. Solch e
— 144 —
phonetische Untersuchungen wandte K. in seiner Schrift cZur
Lautverschiebung j> auch auf die ältere Sprache an ; von all-
gemeinerer Bedeutung ist namentlich seine Unterscheidung der
Selbstlauter und Mitlauter von den Vokalen und Konsonanten^
die man sonst damit zusammenfallen Hess : ihm war z. B. in
Eier das i nur ein Mitlauter; vgl. auch Anz. f. deutsches
Alt. III (1877) S. 14. Mit Recht wendet sich K. gegen die
Regel : im Nhd. sei jede offene Silbe lang, jede geschlossene
kurz : Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik II. Abt.
1879, S. 401 ff.
Aus der Lautlehre ergel)en sich nun weitere Folgerungen,
zunächst für die Verskunst. Ganz vortrefflich zeigt K. in dem
schon angeführten Programm von 1873, dass der musikalische
Vortrag, den wir als ursprünglich aller Poesie eigen ansehen
müssen, immer die Verhältnisse der Prosarede zu rhythmischen
Zwecken verändere. Selbst in unserer Deklamation ist dies
sichtbar : Schiller sagt in Don Carlos 3, 10 « Stolz lieb ich den
Spanier » und giebt dem letzten Wort drei Silben, während
es in gewöhnlicher Rede nur zwei hat. Die französische Bühnen-
deklamation lässt, um den Eindruck der Natürlichkeit zu machen,,
die von den Dichtern als silbenbildend gezählten e m uets weg:
Zs. f. d. Gymnasialwesen XXXV (1881) S. 746; Zs. f. neufranz.
Sprache und Literatur III (1882) S. 583 ff.
Sodann ist es die Orthoepie, d. h. die Lehre von der
richtigen Aussprache, welche in manchen streitigen Fällen nach
den Grundsätzen der Phonetik zu bestimmen ist. So trat Kräuter
für die Aussprache des g nach süddeutscher Weise als die
allein richtige in gehobener Rede ein, und die in diesem Sinne
erlassenen Verordnungen für die Berliner Hoftheater gaben ihnv
eine wahre Genugthuung : Musikalisches Wochenblatt X (1879)
429 ff., Blätter f. d. bayerische Gymnasial- und Realschulwesen
XV (1879) 373 ff., Herrigs Archiv LXIII (1880) 123, Anz. f.
d. Alt. XII (1886) S. 128 ff.
Von besonderer Wichtigkeit aber musste die Phonetik für
die Orthographie werden, sobald es darauf ankam, die Schrei-
bung mit der gesprochenen Rede in Uebereinstimmung zu.
bringen. Bekanntlich hat die deutsche Orthographie sich in ein-
zelnen Punkten noch im Laufe unseres Jahrhunderts geändert;
ja, eine völlige Umgestaltung wurde durch Jacob Grimm und
andere Germanisten in Anregung gebracht, bei welcher ins-
besondere der Anschluss an das saubere, durchsichtige System
der mittelhochdeutschen Schreibweise gesucht werden sollte^
Dieser etymologischen Behandlung, welche zwar in sehr ver-
schiedenen Stufen, doch bei einer grossen Zahl von Sprach-
forschem bereits Anklang gefunden hatte, stellte sich R. v..
— 145 —
Räumer entgegen, welcher mit Recht die übergrosse Schwierig-
keit einer orthographischen Reform hervorhob und betonte,
dass eine ganz Deutschland gemeinsame, wenn auch hie und
da fehlerhafte Rechtschreibung noch immer einer besseren, aher
nur von einem Teile Deutschlands angenommenen vorzuziehen
sei. Raumer bemerkte weiter, dass, wenn an dem herkömm-
lichen Gebrauche etwas verändert werden solle, wie namentlich
in gewissen schon zweifelhaft gewordenen Fällen, nicht die
Etymologie, nicht der nächste Anschluss an einen älteren Sprach-
zustand, sondern die Phonetik den Ausschlag geben, also die
möglichst genaue Wiedergabe des gesprochenen Lautes erstrebt
werden müsste. Der preussische Kultusminister Falk berief im
Januar 1876 eine orthographische Konferenz nach Berlin, welche
Raumers Vorschläge begutachten sollte. An der lebhaften Ver-
handlung, welche dieser Schritt in den Zeitungen und Zeit-
schriften hervorrief, beteiligte sich auch Kräuter. Hatte er schon
1873 in Michaelis Zs. f. Orthographie S. 51 eine Arbeit von
Berliner Gymnasiallehrern, welche wesentlich das Herkömmliche
zusammenfassten, gebilligt, so hielt er auch später die Sache
für noch nicht spruchreif: Herrigs Archiv f. d. Stud. d. n.
Spr. LV, 129 fg. (Braunschweig 4876), und äusserte sich über
das Ergebnis der orthographischen Konferenz, welche weder
den Raumerschen Vorschlägen zustimmte, noch unter sich
einig war, sehr abfallig: Herrigs Arch. LVI (1876) 311 fg.
Der Erfolg bestätigte dies Urteil : das preussische Ministerium,
welches inzwischen auf Herrn v. Puttkamer übergegangen war,
griff auf Raumers Vorlage zurück, welche dann für die Schul-
orthographie massgebend wurde. Auch die Mängel dieser Vor-
lage setzte Kräuter auseinander : Magazin f. d. Lit. des In-
und Auslandes 1883, 756. Insbesondere kämpfte er gegen das
82 heftig an : Michaelis Zs. f. Stenographie und Orthographie
1875 S. 73 fg., Journal f. Buchdruckerkunst 1879, 487 fg.,
507 fg., «Ein orthographisches Ungeheuer » Herrigs Archiv LXII,
1879, 193. Die Frage nach der Bezeichnung der s-Laute ist
namentlich dadurch erschwert, dass die lateinische Schrift (An-
tiqua) von der sogenannten deutschen (Fraktur) hierin abweicht.
Die Abschaffung dieser letzteren befürwortete auch Kräuter
auf das lebhafteste: Mag. f. d. Lit. d. In- und Auslands 1885,
748 = Reform, Zs. d. Ver. f. vereinfachte Rechtschreibung
1886 S. 25 fg.
Was der Schriftsprache gegenüber an unüberwindlichen
Schwierigkeiten scheiterte, das war an den Mundarten durchaus
durchführbar und durchführenswert : eine genaue Bezeichnung
der gesprochenen Laute. Es kam nur darauf an, so einfach, so
klar und so umfassend wie nur möglich die Zeichen für die
10
— 140 —
Laute zu wählen. Hier ist Krauter in jeder Weise am glück-
lichsten gewesen. Seine Art, mit Benutzung fast nur der über-
lieferten Schriflzeichen Klang, Hervorbringungsweise , Dauer
der Laute, sowie bei den Vokalen die etwaige Nasalierung zu
kennzeichnen, ist vollkommen durchdacht und gegenüber zahl-
reichen Vorschlägen anderer auch aus späterer Zeit wohl vor-
zuziehen. Kräuter hat sie mehrfach als c Zwölf Sätze über
wissenschaftliche Orthographie der Mundarten » zusammengefasst
und besonders ausführlich dargelegt in Frommanns ZeitschriH:
Die deutschen Mundarten Bd. VII (Halle 4877) S. 305—335;
vgl. dazu Herrigs Archiv LVIII (1877) S. 43 fg., Anz. f. d.
AU. IV (1878) S. 299 fg., Bartschs Germania 23 (1878) S. 123 fg.,
Korrespondenzblatt f. niederd. Sprachforschung (1879) S. 2 fg.,
e Grundgesetze der orthographischen Wissenschaft» Zs. f. Orthogr.
(1881) S. 170 fg.
Diese Schreibung der mundartlichen Laute hat dann nament-
lich auch bei denen Annahme gefunden, welche sich mit den
elsassischen Dialekten befasst haben, bei Mankel, Lienhard^
Spieser u. a. Einzelne Abweichungen wurden nur aus Rück-
sicht auf den Typenvorrat der Druckerei und auf leichtere
Aneignung seitens der Leser für nötig befunden.
Die Kenntnis der elsässischen Mundarten hat Kräuter auch
in historischer Beziehung erheblich gefordert, insbesondere dui'ch
seinen Aufsatz über « die schweizerisch-elsässischen ei, öy, oh
für alte l, p, iZ»: Zs. f. d. Alt. 21 (1877) S. 258 fg., femer
durch die in Birlingers Alemannia IV (1877) S. 255 fg., V
(1877) S. 186 fg. abgedruckten Untersuchungen « Das elsässische
y für gemeinalemannisches u ]» und cc Die mitlautenden Längen
im Altelsässischen », cc Die alten g und j im Elsässischen j^.
Eine umfassende Darstellung gedachte er von dem Stra:i:<-
burger Dialekt zu geben. Die Arbeit sollte schon 1874 gedruckt
werden, und ein Teil fand sich handschriftlich in Reinschrift
unter den nachgelassenen Papieren. Allein auch dieser Teil
zeigt durch spätere Zusätze, Striche und Umarbeitungen, dass
Kräuter selbst mit dem ersten Entwurf später nicht ganz
zufrieden war. Immerhin wird diese Arbeit nicht verloren gehen.
Nach einer gütigen Mitteilung der verwitweten Frau Dr. Kräu-
ter hatte der Verfasser zuletzt noch gewünscht, dass sie in
meine Hände gelegt werde : sie wird für unser elsässisches
Idiotikon und die sich daran anschliessenden grammatischen
Arbeiten dankbar benutzt werden.
Ich schliesse diese Uebersicht über Kräuters Arbeiten mit
dem Hinweise auf einige Aufsätze allgemeineren Inhalts, welche
in anziehender Weise die von ihm wissenschaftlich behandelten
Gegenstände einem grosseren Leserkreise zugänglich machen
— 147 —
sollen : « Sprache und Schrift », Zs. f. Orthogr. I, Rostock
1880|8i, «Die Verkommenheit der Mundarten», Arch. f. n.
Spr. LVIl (1877) 189—210. Manche eigentümliche Gedanken
und die klare, lebendige Darstellung werden auch jetzt noih
den Leser dieser Aufsätze anziehen und fesseln.
Wilhelm Mankel.
Auf dem Gebiet der elsassischen Dialektforschung ist auch
W. Mankel thätig gewesen ; seine Bearbeitung einer elsässischen
Mundart sichert ihm einen bleibenden Anspruch auf unseren
Dank.
Wilhelm Mankel war geboren am 16. August 1881 zu
Wachenbuchen in Hessen, im jetzigen Regierungsbezirk Kassel.
Sein Vater war Förster. Seine Ausbildung erhielt er auf der
Oberrealschule in Hanau, wo er auch von 1855 bis 1860 als
Lehrer an der Bürgerschule thätig war. Am 4. Juli 1858 ver-
heiratete er sich mit Amalie Langsdorf, der Tochter eines Lehrers,
die ihn nach langer glücklicher, wenn auch kinderloser Ehe
überleben sollte. 1860 an die Realschule zu Hanau übergegangen,
kehrte er von 1864 ab zu den Studien zurück und hörte von
Ostern 1863 bis 1864 in Paris die Vorlesungen an der Sorbonne
und am College de France; bezog dann von 1864 bis 1866 die
Universität Marburg und sah sich hier insbesondere durch den
Sprachforscher Justi gefordert. 1866 ward er als ordentlicher
Lehrer an der Realschule in Hanau angestellt, wirkte von
Ostern 1874 bis Herbst 1875 an der höheren Bürgerschule zu
Frankfurt a. M., hierauf ein halbes Jahr an der Sekundärschule
zu Winterthur, ward 1876 an der Realschule zu Münster im
Oberelsass angestellt und ging von hier aus zu Ostern 1882 an die
Realschule zu St. Johann in Strassburg über. Am 28. Januar 1889
raffte ihn eine rasch sich entwickelnde Brustkrankheit hinweg.
An seinem Grabe sprach Herr Direktor Wingerath mit vollster
Anerkennung von der ausgezeichneten Treue und Gewissen-
haftigkeit, mit welcher Mankel sein Lehramt verwaltet hatte.
Dieser Zug gewissenhafter Sorgfalt ist nun auch den wissen-
schaftlichen Arbeiten Mankels eigen. In Münster hatte er im
Auftrage der Realschule zwei Schriften veröifentlicht : eine Fest-
rede zu Kaisersgeburtstag, « Ueber die Traue in Sage und Dich-
tung des deutschen Volkes (Colmar 1877) », und eine Programm-
abhandluug, «Ueber das Sinnenleben und dessen Entwickelung
zur Intelligenz» (Colmar 1877). Zugleich sammelte er in Münster
den Stoff zu mundartlichen Arbeiten, die er in Strassburg
vollendete. In den Strassburger Studien Bd. II. S. 113 — 2W,
auch in Sonderabdruck, Strassburg 1883, erschien : « Die Mund-
— 148 —
aii des Münsterthales^ grammatisch-lexikalischer Beitrag zur
Erforschung der deutschen Sprache im Elsass.i» Die gram malische
Einleitung erweiterte Mankel zu einer € Laut- und Flexionslehre
der Mundart des Münsterthaies i), welche er als Strassburger
Doktordissertation 1886 drucken hess.
Die zuletztgenannten Arbeiten Mankels bieten eine treff-
liche, auch phonetisch höchst soi^faltige Sammlung des Sprach-
schatzes einer Mundart des Oberelsass, welche infolge ihrer
Abgeschlossenheit eine besondere Reinheit und Fülle bewahrt
hat. Im Wörterbuch ist mit erstaunlichem Fleisse alles zur
Vergleichung herangezogen, was in verwandten Dialekten eben-
falls vorliegt. Eine auserlesene Bibliothek hatte Mankel sich zu
diesem Zwecke selbst gesammelt.
So war er denn in vorzuglicher Weise vorbereitet zur Mit-
arbeit an einem Elsassischen Idiotikon, welches — mit Be-
nutzung des von August Stöber lebenslang gesammelten Stoffes
— nach dem Muster hauptsächlich de« neuen Schweizerischen
Idiotikons geplant wurde. Diesen Plan entwickelte MaUkel in
einem anregenden, klaren und reichhaltigen Vortrag in der
allgemeinen Versammlung unseres Zweigvereins 1887. Der Aus-
führung dieses Plans die ruhigen Tage des kommenden Alters
zu widmen war seine Hoffnung. Sie sollte sich nicht erfüllen.
Uns aber werden die sorgfaltigen, schön geschriebenen Beiträge,
welche er hinterlassen hat, immer wieder an den lieben, be-
scheidenen, tüchtigen Mitarbeiter erinnern.
Johannes Grüger.
Der dritte Mitforscher, dessen Tod wir beklagen, hatte
seine Thätigkeit der Litteraturgeschichte zugewendet. Von den
zahlreichen Arbeiten, die er noch in jungen Jahren veröffent-
licht hat, bezieht sich nur ein Teil auf das Elsass; doch hatte
er eine grössere Schrift über die Theatergeschichte des Elsass
seit längerer Zeit vorbereitet. Ueber das Leben des Frühgeschie-
denen hat dessen Vater gütigst folgende Mitteilungen gemacht.
«Dr. Ferdinand Julius Johannes Grüger ist am 21. Juni
1861 zu Eisleben geboren. Sein Vater Dr. Job. Grüger war
damals erster Lehrer am Schullehrer-Seminar zu Eisleben, seine
Mutter heisst Julie Grüger, geb. Boehr. Den ersten Unterricht
erhielt der Knabe in der Stadtschule zu Oranienburg bei Berlin,
wohin sein Vater als Direktor des Seminars zu Michaelis 1861
versetzt worden war. Von Michaelis 1872 an besuchte Johannes
das Gyiunasium zu Neu-Ruppin und verliess dasselbe mit dem
Zeugnis der Reife Michaelis 1878 ; von der mundlichen Ab-
gangsprüfung war er dispensiert worden. Er studierte sodann
I
— 149 —
Philologie auf der Universität Leipzig von Michaelis 1878 bin
Mich. 1879, zu Strassburg von Mich. 1879 bis Mich. 1880, zu
Leipzig von Mich. 1880 bis Ostern 1881, zu Bonn von Ostern
1881 bis Ostern 1882, und nachdem er einige Monate lang die
Bibliothek zu Zürich durchforscht hatte, zu Strassburg von
Michaelis 1882 bis Ostern 1883. Am 29. Juli 1883 wurde er
hier nach bestandenem Colloquium und auf Grund der Pro-
motionsschnft «Der Entdecker der Nibelungen j» zum Doktor
der Philosophie promoviert. Nachdem er am 1. August 1884 das
Examen pro facultate docendi bestanden hatte, leistete er sein
Probejahr von Michaelis 1884 bis Michaelis 1885 am Lyceum
zu Strassburg und wurde am 1. April 1885 Adjunkt an dieser
Anstalt. Am 21. September 1885 trat er am protestantischen
Gymnasium als wissenschaftlicher Hilfslehrer ein. Im Anfang
des Jahres 1888 hat er viel an einem schmerzhaften Rheuma-
tismus gelitten, kam in den Sommerferien krank im elterlichen
Hause zu Neu-Ruppin an und fiel aus einem gastrischen Fieber
in eine Darmkolik, dann vsrieder in ein gastrisches Fieber. Im
Oktober gestaltete sich die Krankheit zu einer mit hohem
Fieber verbundenen Gehirnentzündung; anfangs November trat
ein Schlaganfall ein, durch welchen die Zunge und die rechte
Seite des Patienten gelähmt wurden. Die Lahmung verbreitete
sich langsam weiter, lichte Augenblicke waren selten. Der
Tod trat ein am 27. Februar 1889. y>
Diesem Berichte des Vaters darf wohl hinzugefiigt werden,
dass Dr. Cruger im persönlichen Verkehr sich durch frisches,
frohes Wesen, durch Freundlichkeit und Gefälligkeit zahlreiche
treue Freunde erworben hat, und dass seine unermüdliche
Arbeitslust und Arbeitskraft wahre Achtung einflössen musste.
Seine wissenschatitliche Neigung und Begabung ging dahin, das
was man neuerdings cc Archive der Litteratur)» genannt hat,
jene handschriftlichen Sammlungen von Briefen, von unge-
druckten Litteraturwerken oder Entwürfen dazu, an das Licht
zu ziehen und für die Litteraturgeschichte nutzbar zu machen.
Zuerst gedachte er die Dichtungen des Göttinger Hainbundes
in dieser Weise zu behandeln ; allein es gelang ihm nicht, sich
das Material vollständig zuganglich zu machen, und so erschienen
als Ei^ebnisse dieser Studien nur einzelne, noch dazu meist
erst später veröffentlichte Artikel : 1) Zwei Vossische Gedichte
in früherer Fassung. Archiv f. Litt. Gesch. XI (1882) S. 449
bis 453; 2) Das erste neuhochdeutsche Minnelied. Zs. f.
deutsche Philol. XVI (1884) S. 85—88; 3) Bundesbuch und
Stammbücher des Hains: Akadem. Blätter S. 600—605(1884);
4) in der Viert eljahrsschrifl f. Litt. Gesch. soll demnächst
erscheinen Halms «Hölly». Weit ergiebiger erwies sich der in
— 150 —
Zürich aufbewahrte Nachlass von Bodmer und Breiiinger, und
insbesondere die auf die altdeutschen Studien der Schweizer
wie ihres Gegners Gottsched bezüglichen Aufsätze Crügers
haben volle Anerkennung gefunden: 5) Der Entdecker der Ni-
belungen (Diss.), Frankfurt a. M. (1883) ; 6) Die erste Gesamt-
ausgabe der Nibelungen, Fkf. a. M. (1884); 7) Briefe von
Schöpfiin u. a. Strassburger Gelehrten an Bodmer und Brei-
tinger : Strassb. Stud. 2 (1884) S. 440—498 ; 8) Bodmer, SUdt-
vogt Renner in Bremen, Wiedeburg in Jena: Zs. f. d. Philo!.
XVI (1884) S. 197—221. Mehr die allgemeine Litteraturge-
schichte betreffen : 9) Die Recension : Vier kritische Gedichte
von J. J. Bodmer, hg. v. Bachtold: Arch. f. Litteraturgesch.
XII (1884) S. 488—502 ; 40) Zwei Wielandbriefe : Arch. XIII
220—228 (1885); 11) Ein Stück des Messias in erster Fassung :
Arch. XIII (1885). S. 411—413; 12) Bodmer und Goethe
1773—1782: Goethejahrbuch V (1884) S. 117—216; 13) Ein
grösseres, zusammenfassendes Buch : Joh. Christ. Gottsched
und die Schweizer J. J. Bodmer und J. J. Breitinger hg. v.
J. Cruger in Kürschners Deutsche National litteratur, 42. Bd.,
Berlin u. Stuttgart o. J. ; 14) Aus Handschriften der Strass-
burger Bibliothek stammt : Zu den Briefen von Christiane Croethe
an Nie. Meyer, Goethejahrbuch VII (1886) S. 304, 305. Ich
reihe hier noch an 15), 16), 17) Miscellen : Akadem. Blätter
S. 548—550; Anz. z. Zs. f. d. Alt. X (1884) S. 275—278;
XI (1885) S. 179, 180; und ferner 18) eine halb scherzende
Polemik gegen Combes Types de la litt^rature allemande, Grenz-
boten 1888, I. 125—136; 172—180. Was noch zu nennen
ist, gehört der elsassischen Litteratur- und Kulturgeschichte
an: 19) Ein Brief von 1782 über Strassburger Zustände (Ca-
gliostro): Els.-Lothr. Landes-Zeitung, Dez. 1882; 20) Englische
Komödianten in Strassburg vor dem Ende des 30jährigen Kriegs,
Strassb. Post 1886 N. 359-361 ; 21) Englische Komödianten
in Strassburg: Arch. f. Litt. Gesch. XV (1887) S. 113—125;
22) Der Schwerttanz in Strassburg : Strassb. Post (1888) N. 295 ;
23) Zur Strassburger Schulkomödie (Calaminus) : Festschrift
zur Feier des 350jährigen Bestehens des protest. Gymn. (1888)
S. 305 — 354; 24) Das Strassburger Theater von der Refor-
mation bis zum 30jährigen Krieg : Vortrag (auszüglich) in den
Verhandlungen der 39. Versammlung deutscher Philologen und
Schulmänner zu Zürich : Leipzig 1888, S. 186—189.
Ich schliesse, indem ich dankbar bemerke, dass bei dieser
Zusammenstellung Herr stud. Hermanny mir behilflich war,
ebenso wie für Kräuters Arl)eiten einer seiner ehemaligen
Schüler, Herr J. Dreyfuss, mir zur Hand gegangen ist.
/
X.
Volkstümliche
Feste, Sitten und Gebräuche
in Elsass-Lothringen.
1888.
Uie diesjährigen Mitteilungen verdanken wir zum grÖssten
Teil den Steuerkon troleuren Herrn Jansen, früher in Rothau^
jetzt in Molsheim, und Herrn Schrader, früher in Mols-
heim, jetzt in Bischweiler. Ferner steuerten bei die Herrn
Oberlehrer Dr. v. Dad eisen in' Geh weiter und Forstassessor
Bargmann in Rothau. Herr Regierungsbaumeister Bühl er
sandte uns das wertvolle Trachtenbild aus dem Münsterthale,
das den Band schmückt. Möchten unsere Mitglieder auch ferner-
hin offen Auge und Ohr für das Volksleben hal)en und durch
Aufzeichnen zu retten suchen, was noch zu retten ist.
Neqjahr.
Kleeburg (Kreis Weissenbarg). — Das Jahr wird angeschossen.
Nenjahrsgrass : Ich wünsch Dir ein glückseliges neues Jahr und alles,
was Dir lieb ist. — Ich wünsche Dir desgleichen. Die Kinder er»
halten von ihren Paten Wecken.
St089weier (Kreis Colmar). — Die Kinder sagen den Glück-
wunsch: I weisch eich e güets neis Johr, viel Glüeck, Gesundheit an
e längs Läwe, das eich der lieb Gott möcht gäwe.
OdrcUzheim (Kreis Molsheim). — Die Kinder wünschen ihren
Paten das Neujahr und werden beschenkt.
— 15'J —
Maria Lichtmess (2. Februar}.
Saales (Kreis Molsheim). — Von Maria Lichtmess bis ersten
Fastensonntag wird < Manage » gemacht : die Barschen schleichen
sich in die Küchen and verstellen sämtliche Küchengeräte. Wird man
überrascht, so schwärzt man mit den absichtlich rassig gemachten
Händen dem Störer das Gesicht.
Petri Stnhlfeier (22. Febroar).
Bangölsheim (Kreis Molsheim). — Zar Erinnerang an die Ter-
treibang der Jaden aas der Gemeinde durchziehen die Schalkinder
das Dorf and rufen : < Kröten und Schlangen laufen ins Taterle Hosen
herum! »
Die Kinder erhalten von den Leuten Nüsse und andere Kleinig-
keiten. Kein Jude lässt sich an diesem Tage im Dorfe sehen.
FaMtnacht.
8t. Blaue (Kreis Molsheim). ~ Es brennen Fastnachtfeuer. Froher
wurden glühende Rädchen mit Gerten in die Luft geschleudert. Man
ruft die Paare beim Feuer aus.
^ Sonntag nach Fastnacht (Kiachlesonntag).
Saales (Kreis Molsheim). — Am Sonntag nach Aschermittwoch
werden auf einem Hügel grosse Feuer, «bures» genannt, angezündet;
um dieselben tanzen Burschen und Mädchen singend herum.
Schirmeck (Kreis Molsheim). — Auf den Höhen brennen Feaer,
«feir des birs» genannt. Es werden Scheiben geschlagen und Paare
ausgerufen.
Odrateheim (Kreis Molsheim). — Es werden Küchle gebacken. Es
brennt abends ein grosses Feuer. Die Knaben ziehen, nachdem das
Feuer niedergebrannt ist, mit brennenden Fackeln und singend in
das Dorf zurück.
SuUshad (Kreis Molsheim\ — Das Kiachlelied wird am ersten
Sonntag in der Fastenwoche gesungen. Das Küchelbacken ist fast in
Vergessenheit geraten. Die Gaben, die man den singenden Kindern
giebt, bestehen meistenteils aus Obst. Früher war es Sitte, am Mittag
nach der Vesper die < £!chürwacke > zu schlagen. Dieselben waren
runde Holzstücke, die durchbohrt mit Hilfe einer Gerte brennend
den Berg herab geschnellt wurden.
D^ Schürwacke hanmer geschlaje.
^s Kiachele wellemer hole.
7. Veiele, Rose, Bliamele.
Mer senge um des Eüachele.
Kiachele arüs, Kiachele arüs.
Wensche Gleck en ejer Hüs.
Der Herr het a scheuer Schopf,
Owene nof drowe ne a scheuer Knopf.
*/• Veiele, Rose, Bliamele etc.
— 153 —
Der Herr het a schene Käller,
Ar hangt ganz voll Moschgadaler.
•/. Veiele, Rose, Bliamele etc.
Der Herr het a schener Hund.
Ar esch ganz köjelrund.
7. Veiele, Rose, Bliamele etc.
Mer stehen of em a kalte Stein,
Gan is a Kiächele, no genner heim.
7. Veiele, Rose, Bliamele etc.
Gressweüer (Kreis Molsheim). — Es werden Scheiben geschlagen.
Stwsweier (Kreis Colmar). — Die Schulbaben ziehen umher und
sammeln < Fastnachtkichle >, indem sie dabei singen :
«Kiechle nus, Kiechle nüs,
Oder i schla^ e Loch ins Hüs. »
Die Küchle werden an lange Stöcke gesteckt.
MöUkirch (Kreis Molsheim). — Noch vor wenigen Jahren brannte
ein grosses Fener^ warden Scheiben geschlagen und wurden die
Paare ausgerufen.
1. ApriL
Saaks (Kreis Molsheim). — Am 1. April, dem sogenannten Tage
des tpoisson d^avril», und vierzehn Tage vor dem 6. Dezember gehen
abends die grösseren Knaben in Bischofskleidern von Haus zu Haus
mit einem aus Stroh verfertigten Esel«
Anfang Mai.
Bükhen (ELreis Bolchen). — In einzelnen Orten des Kreises, wie
Hessdorf, Falck, Machern, ziehen anfangs Mai die jungen Mädchen
in die Ortschaften und von Haus zu Haus, singen geistliche Lieder
xmd sammeln Beitr&ge für die Marienandacht.
Ostersonntag.
Saales (Kreis Molsheim). — Am Ostersonntag werden die kleinen
Kinder vom Priester in der Kirche öffentlich gesegnet.
Christi Himmelfahrt.
SteitUhai (Wildersbach, Kreis Molsheim). — Am Tage vor Christi
Himmelfahrt treffen sich viele Leute aus dem Steinthale auf den
freien Berghöhen. Dort wird bei lodernden Feuern und Musik ge-
schmaust und begrüssen sich alte Bekannte, die sich oft das ganze
Jahr nicht gesehen haben. In früheren Zeiten waren mit diesem Feste
auch Spiele verbunden, wie Springen, Ringen, Wettlaufen u. s. w.
Die Sieger erhielten Preise, oft wurden sogar dem einen oder andern
Triumphbogen gebaut Das Fest hat an Bedeutung nachgelassen ; doch
finden noch jetzt Zusammenkünfte statt, besonders auf dem Berg-
sattel zwischen Wildersbach und Waldersbach, genannt «Berheux»
(Berghöhe?), und zwar an dem Platze, auf dem Oberlin seine Pre-
digten öfters zu halten pflegte.
— 15i —
Pfingsten.
EJeeburg (Kreis Weissenbarg). — Die Schulbuben durchsieben
den Ort, um Eier und Speck zu sammeln. Einer von ihnen, mit ge-
schwärztem Gesicht und mit Stroh umwunden, erbittet die Gaben;
die andern rufen :
Speck und Eier heraus!
Sonst schicken wir den Martel ins Hühnerhaus !
Am Abend werden die Gaben in einem befreundeten Hause ver-
zehrt.
Pfingstmontag.
Dangolsheim (Kreis Molsheim}. — Am Pfingstmontag wird all-
jährlich ein Knabe vollständig mit Stroh oder Ginster umwickelt
Dieser, tPfingsteseU genannt, wird an einem Seil von der DorQugend
von Haus zu Haus geführt und dabei folgender Spruch hergesagt:
Guten Morgen beisammen!
Da haben wir einen stockblinden Mann,
Der niemand sehen kann.
Droben im Eimer Forst
Hat er seinen Horst.
Er hat seine Zähne an einem alten Eichbaum ausge-
bissen und kann nichts fressen als Eier und Speck und
Wein saufen. Wir sind schon bei vielen Doktoren gewesen,
und sie haben uns geraten, wir sollen ihn in weissem
und rotem Wein baden. Ja, ja, ja !
Darauf erhalten die Kinder von den Leuten Eier, Speck oder
Wein. Am Abend wird das Gesammelte gemeinschaftlich verzehrt
OdrcUzheim (Kreis Molsheim). — Auch hier wird der <Pfing8tesel>
herumgeführt und Gaben gesammelt.
Johanni (24 Juni).
StiUbad (Kreis Molsheim).
Kanzti (Johannis) han a Fier,
Kanzti han a Stier,
Kanzti han a Peternall,
Gän is aui a Hawaii.
Am Abend des Johannistages wird das Kanztilied von den Knaben
gesungen. Sie gehen von Haus zu Haus und erhalten eine € Rebwelle».
Ursprünglich sammelte man nur das Holz von den Reben, das im
Frühjahr abgeschnitten war, jetzt nimmt man auch anderes Holz.
Früher war es Sitte, an den vier Ausgängen des Dorfes je ein Feuer
abzubrennen, jetzt wird nur eins abgebrannt Das ganze Dorf ist
darum versammelt. Sobald das Holz verbrannt ist, springt alles
über den Gluthaufen.
Oressweüer (Kreis Molsheim). — Es brennen Johannisfeuer.
Trinitatis.
Saales (Kreis Molsheim). — Am Feste Trinitatis lässt jedes Haus
vom Priester Salz weihen.
— 155 —
Andreastag (30. November).
Gebweüer (Kreis Gebweiler). — Um die BeBchaffenheit des zakünf-
tigen Gatten zu erfahren, wird von den Mädchen folgender Brauch
geübt. Das Mädchen lässt sich von einer jungen Witwe einen Apfel
schenken, zerschneidet denselben in zwei Hälften und isst die eine
davon. Die andere nimmt sie abends mit in das Bett und spricht vor
dem Einschlafen die Worte:
Heiliger Andreas, i bitti
Ins Bett tritti,
Zeig' mir diese Nacht
Mein Herzallerliebst
In menschlicher Gestalt,
Ist er jung oder alt.
Zeigt, ihr dann der Traum einen Geliebten, wie sie ihn sich
wünscht, so reibt sie sich am Morgen mit der Apfelhälfte den
Nabel ein.
1. Dezember.
ScuUes (Kreis Molsheim). — In der Nacht vom 30. November zum
1. Dezember kochen die jungen Mädchen den Spüllappen auf und
glauben in dem aus dem Topfe aufsteigenden Dampf das Gesicht
ihres zukünftigen Freiers erkennen zu können.
St. Nikolaus.
Si, BkUse (Kreis Molsheim). — Aeltere Buben verkleiden sich als
St Nikolaus, reiten auf einem Esel durch das Dorf und belohnen
die guten, bestrafen die bösen Kinder.
Odratsheim (Kreis Molsheim). — Aeltere Burschen durchziehen
maskiert das Dorf, belohnen die guten, bestrafen die bösen Kinder.
Weihnachten.
Kleeburg (Kreis Weissenburg). — Ein als Christkind verkleidetes
Mädchen geht herum und beschenkt die Kinder.
Stoastoeier (Kreis Colmar). -— Christkindle und < Fickesel > ziehen
berum, belohnen die artigen und bestrafen die bösen Kinder.
MoUkireh (Kreis Molsheim). — In der Christnacht bekommt das
' im Hause befindliche Vieh vor Mitternacht Futter, damit es während
der feierlichen Stunde nicht schlafe.
Sylvesterabend.
Stassweier (Kreis Colmar). — Das Neujahrschiessen nimmt ab.
Man spielt in der Nacht grosse, sogenannte «r Neujahrswecken » und
« Brettstellen > aus.
Sduüea (Kreis Molsheim). — In der Neujahrsnacht stellt jeder junge
Barsche vor das Haus seines Mädchens ein junges, mit Bildern und
Bändern geschmücktes Tannenbäumchen.
Oä^cUzheim (Kreis Molsheim). — Es werden grosse Brettstellen
in der Nacht ausgespielt.
— 156 —
Taufe.
(rrendelbruch (Kreis Molsheim). — Zu dem Kindstaufschmaus
liefert der Taufpate den Wein, die Taufpatin Brot, Fleisch und Käse.
Beim Imbiss erhält die Hebamme das grosse, sogenannte «Hebammen-
glas». Bei 4er Rückkehr aus der Kirche wird die Wohnstubenthur
zugehalten und nur gegen ein Trinkgeld, das der Taufpate zahlen
muss, geöffnet.
Wird die Taufpatin ausgesegnet, so bringt der Taufpate den so-
genannten « Kindbettenlaib ».
Hochzeit.
Kleeburg [Kreis Weissenburg). ~ Hochzeiten finden meistens
Dienstags oder Donnerstags statt. Der Hochzeiter und die Hochzeiierin
laden vierzehn Tage vorher zwei Burschen und zwei Mädchen, die
Schmollburschen und Schmollmädchen genannt werden. Die Schmoll-
burschen laden dann acht Tage vorher die ganze Freundschaft ein, die
Schmollmädchen helfen drei Tage vor der Hochzeit bei den Zu-
rüstungen. Beim Kirchgang führt der älteste Schmollbursche die Braut.
Braut und Bräutigam müssen Geschenke au die Schuljugend geben,
die Ketten über den Weg gespannt hat. Die Mädchen tragen Kränze
auf dem Kopfe, die Burschen einen Strauss. Nach der Trauung schenkt
die Braut den Schmolljungfem eine weisse Schürze mit breitem Band
und Spitzen. Nach dem Essen, das sich lang hinzieht, wird getanzt.
Die ersten drei Tanze tanzt das Brautpaar allein, den folgenden der
Brautführer mit seinem Mädchen, dann darf alles tanzen. Am nächsten
Tage wird im Hochzeitshause nochmals zu Mittag und Abend gegessen,
bei reichen Leuten auch getanzt; ebenso am dritten Tage.
Gressweüer (Kreis Molsheim). — In der Kirche opfert die Braut-
jungfer für die Braut ein Taschentuch, welches sie beim Opfergange
auf den Altar legt.
Westhalten (Kreis Molsheim). — Früher war es Sitte, das jedes
neuvermählte Paar auf der Allmend einen Obstbaum setzen musste.
Noch heute steht auf dem Girste (Geierstein) eine grosse Anzahl von
Obstbäumen, die bei solchen Anlässen gepflanzt wurden.
Wüdershach (Kreis Molsheim). — Bei Hochzeiten ist es heute
noch Sitte und Brauch, dass gleich nach der Suppe eine zugedeckte
Schüssel herumgereicht wird Mit dem Herumreichen beginnt man »
zur linken Hand von dem Sitze der Braut, so dass sie zuletzt in die
Hände der Braut gelangt. Erst von Seiten der Braut wird die
Schüssel geöffnet, um sich des darin befindlichen vermeintlichen
Gerichts zu bedienen. Aber zum Erstaunen aller befindet sich nur
eine Pitschel- (Wickel-) Puppe darin, womit das Sinnbild einer
gesegneten Ehe angedeutet werden soll.
Die Braut lässt dann die offene Schüssel noch einmal im Kreise
herumreichen, damit sich ein jeder Gast von dem Inhalt überzeugen
kann, wobei er jedoch nicht vergessen darf, in die Schüssel zu der
Puppe ein Geldstück in beliebiger Höhe zu legen. Das so ge-
sammelte Geld wird aufbewahrt und gehört der eventuellen Erst-
geburt als Taufgabe oder gleichsam als Notpfennig.
W.BüJiUr. _ -. ^, .^ . '■'.;'- Flidu-T/ud- i
i
^
THE NEW YORK
PUBLIC LIBRARY
ASTOR, l EN'-'X AND
— 157 —
Saales (Kreis Molsbeim). — Es ist gebräuchlich, jedem nen-
Termählten Paare in der Brantnacht die sogenannte Sappe zn
reichen. Sie besteht aus Rotwein, Pfeffer, Salz, Oel, Essig, Äsche
u. 8. w. ; damit pflegt man sie im Bette zu überraschen.
Ist eines der Brautleute bereits verheiratet gewesen, so wird
dem Brautpaare am Abend vor der Hochzeit eine Katzenmusik
gebracht.
Todesfall.
Grenddbruch (Kreis Molsheim). — Stirbt jemand, so wird sofort
der Spiegel mit einem Tuche verhangen, die Wanduhr zum Stehen
gebracht, das Weinfass, die Sauerkrauttonne, die Bienenkörbe, die
gefüllten Mehlsäcke und sonst ähnliche gefüllte Gegenstände gerüt-
telt und dabei der Name des Verstorbenen genannt.
Stirbt eine Frau im Kindbett, so bekommt sie Schuhe an, damit
sie wieder zum Kinde kommen kann.
Engenthal (Kreis Molsheim). — Der letztere Gebranch findet
sich auch hier.
^8ch (Kreis Molsheim). — Derselbe Gebrauch.
Tracht.
\terihdl. — Im oberen Münsterthal ist eine eigenartige Tracht,
;h im Schwinden ist (in Metzeral, Mühlbach, Breitenbach,
ih, Stossweier, Sulzern, Hohrod). Die alte Tracht in ihrer
igkeit und den lebhaften Farben — die jetzige kennt nur
'arben — stellt die beigegebene Abbildung dar. Dieselbe ist
'n Baumeister Bühler, früher in Metzeral, nach einer noch im
einer Familie befindlichen vollständigen Tracht gezeichnet,
jetzige Tracht ist in dunklen Farben gehalten. Farben am
lebt es nicht. Es werden zwei besonders grosse Taschen mit
mar um den Leib befestigt. Der «Tschobed» (Jacke) ist am
[emlich weit . ausgeschnitten, sonst aber eng anliegend, und
sogenannte n Schnecken». Der ausgeschnittene Teil wird
durch ein grosses, zwei- bis dreimal um den Hals gewundenes
Tuch. Das Haar ist in der Mitte auf den Kopf gewunden, bedeckt
ist derselbe mit der «Näwelkapp», die mit ihrem aLätsche», Seiden-
band, an den oberen Teil vorn geknüpft ist. Die beiden unteren
Flügel der Kappe, an denen Bänder zum Knüpfen unter dem Kinn
befestigt sind, bedecken die Ohren.
Kleeburg (Kreis ^eissenburg). — Die Jungen Burschen tragen
Hosen and ein kurzes Wams aus schwarzem Tuch, ein weisses
Hemd mit sehr hohem Kragen und ein schwarzseidenes Halstuch
ganz schmal zusammengelegt und um den Hals gelegt. Schwarzen
runden Hut. Die verheirateten Männer tragen einen dreieckigen
Hut nnd einen langen, bis an die Knie reichenden Rock (< Mutzen >
genannt), vorn zwei Reihen Knöpfe, hinten fast bis an die Hüften
aufgeschnitten; die beiden Teile heissen Zipfel. Sonstwie die Burschen.
Die Ifödchen tragen auf dem Kopfe eine schwarze Kappe (< Nebel-
kappe > genannt), jedoch nur bei dem Kirchgang, dann einen Mutzen,
— 158 -
der bis auf die Hüften reicht. Auf diesen Mutzen wird von hinten
ein buntes Halstuch geheftet, das vom eingesteckt wird. Schwarzer
Rock und schwarze Schürze, weisse Strumpfe und ganz niedere
Schuhe. Die Frauen tragen sich ebenso, nur dass sie kein buntes^
sondern ein schwarzes Halstuch tragen. Bei der Heuernte tragen die
Mädchen weisse Schürzen, keine Mutzen, die Hemd&rmel bis znm
Ellbogen aufgebunden und über die Brust das «Leibel«.
SpiniiBtaben.
KUeburg (Kreis Weissenburg). — Es werden Spinnstuben in der
gewöhnlichen Weise abgehalten.
Stassweier (Kreis Colmar). — Es werden Spinnstuben abgehalten,
man nennt es « z'quelten gehen •.
Griesheim (Kreis Molsheim). — Es werden Spinnstuben abgehalten.
ErdnEiänneL
Romansweiler (Kreis Molsheim). — um die Kinder vor dem Erd-
männel, das denselben Alpdrücken verursacht, zu schützen, werden
in das Wiegenseil drei Knoten gemacht; dieselben sollen die heilige
Dreieinigkeit bedeuten und das Erdmännel verscheuchen.
Aberglauben.
MoGkirch (Kreis Bolchen). — Zieht ein Qewitter über das
Dorf, so verbrennt die Hausfrau ein geweihtes Kränzlein oder einen
Palmzweig, um dadurch die Gefahr des Einschiagens abzuwenden.
Wenn im Hause ein Buchfink (Rotbrüschtl) nistet, so giebt die
Kuh rote Milch.
Wer am 10. August (Lorenzius) zwischen 11 und 12 Uhr mittags
in der Erde gräbt, findet kleine Kohlen, die das Haus vor Hexen
schützen.
Im Sternbild der Jungfrau säen die Leute nicht, weil sie glauben,
dass die Pflanzen falsch blühen und deshalb keine Frucht bringen.
Wenn die Bohnen am Urbanustag gepflanzt werden, so gedeihen
sie und tragen reichUch.
Wenn es in der Kirche Wandlung läutet und zu gleicher Zeit
die Uhr schlägt, so sagen die Leute : Jetzt stirbt bald jemand im
Dorf.
Kinder, die an den Fronfasten zur Welt kommen, sehen aach
an den Fronfasten des Nsu^hts Geister.
Saales (Kreis Molsheim]. — Nach Läuten der Abendglocken wird
Milch nur dann über die Strasse getragen, wenn sie vorher etvs
Salz erhalten hat.
Bosenweiler (Kreis Molsheim). — In der Fasten- und Adventxeit
zeigt sich öfters in den engen Gassen und Schlüpfen das sogenanntej
Zotteltier, das die Späteingehenden verhext, irreführt und viel Ünhi
anrichten kann.
— 159 —
Hat jemand junge Schweine gekaaft, so nimmt er sie zuvor in
die Stube, trankt sie mit Milch und führt dieselben dann erst rück-
wärts schreitend in den Stall. Dadurch schützt er sie vor den Hexen.
Nach der Betglocke wird von vielen Weibern keine Milch mehr
aber die Gasse verabreicht, weil sonst die Kühe verhext werden.
Läuft in der Nacht jemandem eine Katze über den Weg, so soll
man einen anderen Weg einschlagen, oder wenn dies nicht möglich,
neben dem Weg gehen, sonst verirrt man sich.
BäBbronn (Kreis Molsheim). — War zenvertreiben. Um
Warzen zu vertreiben, wird folgendes Mittel angewendet. Ist man in
der Kirche und sieht, dass zwei Personen miteinander schwatzen, so
fahrt man dreimal mit der Hand über die Warze und spricht dabei :
Was ich seh*, das ist eine Sund',
Was ich streiche, das verschwind'!
Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und
des heiligen Geistes.
Zimmermannsspruch. Nach Aufschlagung eines neuen
Hauses sagt der Zimmermann vom Dachfirst herab den Zimmermanns-
sprach, leert ein Glas Wein und wirft es hinab. Zerbricht dasselbe
nicht, so bedeutet es Unheil für das Haus,
Bärach (Kreis Molsheim). — Verirrt man sich im Walde, so soll
man die Schuhe wechseln.
BaUbrann (Kreis Molsheim). — Raupenvertreiben. Setzen
sich im Herbst Baupen auf den Kohl^ so soll, wenn zufälligerweis«^
in der Nähe Kilbe ist, die Hausfrau dort unangeredet einen neuen
Beisbesen kaufen, damit in den Garten gehen, den Kohl damit
kehren und dabei sprechen : « ler Rübbe gehen uf de Kilb, ier Bübbe
en uf de Kilb >, so werden die Baupen verschwinden.
Westhofen (Kreis Molsheim). — Baumpflanzen. Wurde ein
Obstbaum gesetzt, so nahm man einen Knaben mit, gab diesem nach
erfolgtem Setzen eine Ohrfeige und erklärte demselben auf Befragen :
« Du sollst daran denken ! •
Ueber der Stallthüre war immer ein mit den Beisern gegen die
Thore gekehrter Besen angebracht zur Fernhaltung von Hexen.
An einem Mittwoch zur Welt gekommene Schafe wurden nicht
aufgezogen.
Vor ungefähr 50 Jahren war es bei den Juden Brauch, dass das
Vieh, das an einem Sabbath geboren wurde, entweder nach Frankfurt
gebracht oder an einen Andersgläubigen verschenkt werden musste.
Witterungswechsel.
GrendeWrueh (Kreis Molsheim). — «Hört man im Falkensteinwald
das Hündlein bellen und sieht man im Grendelbruchthal das Feuer
brennen, so tritt langanhaltendes Begenwetter oder grausiges Schnee-
gestöber ein.» Allgemein wird angenommen, dass das Hündlein, das
— 160 —
viele gesehen haben wollen, ein verwunschener nnehrlicher Wald-
hüter sei.
Sprnch.
Baübronn (Kreis Molsheim).
Ein Mädchen, das pfeift,
Und ein Huhn, das kräht.
Sind beide nichts wert.
I
I
XI.
Chronik ftlr 1888.
29. Januar: Graf Ferdinand Eckbrecht von Dürckheim,
Verf. von «Lillis Bild» (Nördlingen 1879) und der «r Erin-
nerungen alter und neuer Zeit», II (Stuttgart 1887), stirbt
föjährig zu Schloss Edia in Oesterreich.
5. März : Professor Ohleyer in Weissenburg, geb. 20. Juni
1816, hochverdient um die Geschichte und um die Wiederher-
stellung des Doms zu Weissenburg, stirbt ebenda.
18. März: Trauerfeier für S. M. Kaiser Wilhelm I.
8. April : Eröffnung des städtischen Kunstgewerbemuseums
in Sirassburg.
15. Juli : Einweihung des auf Kosten von Herrn Sengen-
wald erbauten Glockenturms ^d er Neuen Kirche zu Strassburg.
24. Juni : Trauerfeier für S. M. Kaiser Friedrich III.
1. 2. August: Jubelfeier des 350jährigen Bestehens des
protestantischen Gymnasiums zu Strassburg.
13. Oktober : Oberlehrer Waldner an der Realschule zu
Wasselnheim, geb. 26. März 1836 zu Basel, Vorsteher der bo-
tanischen Sektion des V. G., stirbt zu Mannheim (s. Progr. der
Realschule zu Wasselnheim 1888).
26. Oktober: Goethes Bildnis wird in einer Reproduktion
von W. Eberbach an dem von Goethe 1770 — 1771 bewohnten
Hause zu Strassburg (Alter Fischmarkt 36) angebracht.
7. November : Hägeli, Pfarrer zu Nordheim, Verf. von
Dramen für Jünglingsvereine, stirbt 48jährig.
17. November: Johannes Thomas Mangold, Pastetenbäcker
zu Ck)lmar, Dichter der «Golmererditsche Komedi» (1878), stirbt
(geb. 1816).
19. Dezember: Der Rössel manns-Brunnen in Colmar, ein
Werk des Bildhauers Bartholdy, wird durch den Verschönerungs-
verein der Stadt Ck)lmar übergeben.
11
XII.
Sitz ung-sprotokoUe .
Voi'otamlu.sitziiiis.
11. November 1888, im städtischen Kunst-Gewerbe-Museum.
Anwesend: die Herren Barack, Erichson, Franke, Martin,
Mündel, Sc-hricker, Wiej^and. Ihr Ausbleiben baljen entschiil-
di^'f die Herren Hering und Lutlinier.
Die lVfitteilun<;en für die Genoral- Versani in luny: werden
vorbereitet sowie einige für das Jahrbuch einj'elaufene Arbeiten
vor^ele^t und zur Berichterstattung- verteilt.
Die nächsle Vürstandssitzuny; wird auf Freita;^ den "28. De-
zember anberaumt.
Ks fol^t die
Allgemeine Sit^^uug.
Prof, Martin eröffnet die Sitzung und erstattet den Reelien-
schattsbeiicht über die Entwickeln nj,^ des Zweigvereins im ab-
elaufenen Jahre. Die Mitgliederzahl betrug 1029.
Die Kasse ergab einen Ueberschuss von *M 109.
Der Kassenbericht des Herrn Mündel wird von zwei Mit-
liedern der Versammlung geprüft und richtig befunden.
Herr Museums- Direktor Dr. Schricker hält einen Vortra^r
Über die Entstehung und Entwickelung der Kunst-Gewerbe-
Museen sowie über ihre Dienste für das Kunsthandwerk und
fülirtdann die Anwesenden durch die Sammlungen des Museums.
Zum Schluss wird der bisherige Vorstand durch Accla-
mation wiedergewählt.
— 163 —
Nach der Sitzung vereinigen sich die auswärtigen Mitglieder
mit mehreren hiesigen zum Mittagessen in der ßahnfiofs-Rc-
stauration.
Vorstandssitzimg.
28. Desember 1888, im Bezirks-Archiv.
Anwesend : die Herren Barack, Erichson, Harbordt, Ihnie,
Maiün und Wiegand.
Ihr Ausbleiben haben entschuldigt die Herren Euting,
Franke, Herrenschneider, Mündel, Rathgeber und Schlumberger.
Die für das Jahrbuch 1889 eingelaufenen Beiträge werden
voi^elegt und zur Berichterstattung verteilt.
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JAHRBUCH
FÜR
li GESCHICHTE. SPRACHE UND LITTERATÜR
El^ASS-LOTHRINGENS
HERAUSGEGEBEN
VON DEM
HISTORISCH-LITTERARISCHEN ZWEIGVEREIN
DES
VOGESEN-CLUBS.
VI. JAHRGANG.
STRASSBURG
J. H. ED. HEITZ (HEITZ .'^ MÜNDEI.)
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ß|!
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JAHRBUCH
FÜR
GESCHICHTE. SPRACHE UND LITTERATUR
ELSASS-LOTHRINGENS
HERAUSGEGEBEN
VON DEM
HISTORISCH-LITTERARISCHEN ZWEIGVEREIN
DES
VOGESENCLUBS.
VI. JAHRGANG.
STRASSBURG
J. H. ED. HEITZ (HEITZ & MÜNDEL)
1890.
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iüLLlc LIBRARY
ASTOR, LENOX AND
TILDSN FCXJ'.'OAUON«,
R • 19' 3 L
Inhalt.
Seite
I. Drei lateinische elsässische Kaisergedichte aus alter
Zeit. Uebersetzt von Theodor Vulpinns . . . 1
II. Das Stift Jung-St. Peter. Beiträge zn seiner Geschichte
von Wilhelm Horning 11
1. Kapitel. 1. FundatioD des Moaasteriums.
a. Das Monasterium bis zum Jahre 1081.
2. Kapitel. Das Stift von 1061 ab. Sein Wachstum
8 1. nach innen.
% 2. nach aussen.
.3 Kapitel. Ernennungsmodus der Canonici, Würdenträger und
Beamten, Summissarien, untergeordneter Clerus.
4. Kapitel. Stiftscultus und StiasgewJinder. Gedächtnistage.
Begräbnisfeierlichkeiten.
5. Kapitel. Die Stiflshäuser.
G. Kapitel. Die Stiftsschule.
^7. Kapitel. Das Stiflsarchiv.
8. Kapitel. Der Stiftsspeicher.
9. Kapitel. Die Stiftskeller.
10. Kapitel. Die Stiftsbäckerei.
Anhang :
1. Verzeichnis adeliger Stiftsherren.
2. Einzelne Notizen über Stiftsherren. — Der Stiftsprobst Mau-
ritius Ueberheu (15en— 160^).
U. Verhältnis des Stifts zur Aussätzigen-Kirche auf Uutleuteu
(<St. Helena*].
4. Verhältnis des Stifts zum Stift Allerheiligen.
5. Die das Jung-St. Peterstift umliegenden Gassen.
in. Memorabilia quaedam Argentorati observata. Mitgeteilt
von AlexanderTille 62
IV. Auszug aus der Chronik der Stadt Ingweiler. Von
Fritz Letz 69
V Drei Lieder auf Strassburgs Uebergabe 1681. Mitgeteilt
von J. B ölte (1 u. 2) und von £. Martin .... 76
VI. Bilder zum Siegfriedslied von 1580 (?). Mitgeteilt von
E. Martin . . . .^ 84
VII. Per Goethehügel bei Sesenheim. Von E. M a r t i n . . 97
— IV —
VIII. Einige angedruckte Gedichte von August Stöber.
Mitgeteilt von JuliusRathgeber 108
IX. Dichtung 113
Ein Steckelburjer-Ausfiug Ein Schifferstechen auf der
m. Knabenliedchen im Mai. An Adolf Stöber. Lebens-
wege. Ein Brautpaar. Der Rosheimer Kellerkrieg.
X. Georg GayeUn. Von Friedrich L auch er t ... 121
XI. Elsässer Sagen. Von Bargmann 131
XII. Elsässische Kinder- und Wiegenlieder, Kinderreime Bfit-
teilung von C. Eber 133
XIIL Elsässische Sprichwörter und sprichwörtliche Redens-
arten. Mitgeteilt von Julius Rathgeber ... 138
XIV. Münsteithäler Sprachproben. Sprichwörter. Mitgeteilt
J. Spieser 144
XV. Zum Elsässischen Idiotikon 154
XVL Volkstümliche Feste, Sitten und Gebräuche in Elsass-
Lothringen 1889. Mitgeteilt von Bruno Stehle . 161
XVII. Chronik für 1889 181
XVm. Sitzungsprotokolle 182
I.
Drei lateinische elsässische
Kaisergedichte aus alter Zeit.
Uebersetzt von
Theodor Vulpinus.
I.
In einem alten Buche der Pariser Bibliothek (vgl. Monu-
inenla Germaniae historica bezw. Dümlers Poelae latini ae\i
Carolini, Bd. I, S. 88 und 93) finden sich auf 122 Blattern die
drei Bücher eines alten Grammatikers namens Diomedes. Auf
dem 123. Blatt wird mitgeteilt, dass Karl der Grosse im Jahre
780 einen gewissen Adam, Haynhards Sohn, in Worms beauf-
tragt habe, das Werk des Diomedes abzuschreiben. Die Pariser
Handschrift ist eine Abschrift dieser Arbeit Adams. Auf dem-
selben Blatt sind aber auch Verse Adams wiedergegeben,
die er, offenbar bald nach des Kaisers Tod, wehmütigen Dankes
voll an denselben gerichtet hat. Wir ersehen daraus, dass
dieser Adam ein Elsässer war. Der Kaiser hatte ihm zum
Lohn für geleistete wissenschaftliche Dienste das Kloster Mas-
munster geschenkt. Die Wormser Arbeit Adams fällt in das
Jahr 780, das Gedicht in die Zeit um 814 ; Adam erwähnt,
dass er 780 genau 30 Jahre gezählt habe; als er sein D^nk-
gedicht schrieb, war er also etwa 65 Jahre alt, und das Ge-
dicht selbst hat sich durch 10 Jahrhunderte bis in unsere Zeit
— 2 —
erhalten. Ich denke, es verlohnt sich, dieses ehrwürdige Altertum
in deutsche Worte zu kleiden und es dadurch allen verständlich
zu machen :
Adam voa Masmünster an Karl den Grossen.
Um 814.
Als in dem Laufe der Zelten der Erdkreis siebenmal glücklich
Hundert der Jahre vollendet und etwa noch zehenmal achte,
Seit durch Christi Geburt Heil über die Zeiten gekommen,
Und zwölf Jahre bereits Du trügest das Scepter der Franken,
^ Hat Dir, Karl, Du Geliebter des Herrn, mein König, das Buch hier
Adam geschrieben, zu Worms in der Stadt, Dein treuester Diener,
Haynhards Sohn. Doch eigentlich nennt er des glücklichen Elsass ^
Bacchusgesegneten Gau, wo die Wiege gestanden ihm, Heimat.
Damals, als er es schrieb, war alt soeben geworden
10 Dreissig der Schreibende. Dann hast Du, Karl, gnädiger König,
Ihm Mcismünster,^ das Kloster, verliehen, wofür Dir der Himmel
Droben mit ewigem Lohne gewähre die reichste Vergeltung! —
Waffengewaltiger König und Held Karl, sei mir gegrüsset!
Dein demütiger Knecht, Dein Adam bittet: Gedenk' sein,
1^ Schaue hernieder auf ihn, Du fürstlicher Völkergebieter;
Dein demütiger Knecht ist immer zu Dienst Dir gewärtig!
So fest stehet hienieden und droben Dir Fülle des Ruhmes,
Dass Du die Krone gewannest nun auch in dem himmlischen Reiche,
Wo stets Eintracht herrschen und endlos währender Friede/
^^ Wo mit den Sternen sich labt Dein Geist auf himmlischer Weide !
II.
Unser zweites Kaisergedicht ist an Kaiser Maximilian
gerichtet, den «letzten Ritter», und stammt aus der Feder
Sebastian BrantSy des berühmten Verfassers des «Narren-
schiffesD, der mit dem Kaiser wiederholt auch in persönliche
Berührung gekommen ist. Brant war nach der Art seiner Zeit
für allerlei Vorzeichen, wie wunderbare Missgeburten u. dgl.,
sehr empfanglich und hat derartiges mehreremale in seinen
Gedichten verwertet. Zu dem hier mitgeteilten bietet ihm ein
«Vogelwunder» Anlass, das aber vor den anderen den Vorzug
naheliegender, ungezwungener sinnbildlicher Deutung voraus
hat. — Seit Adam von Masmünster sind 681 Jahre verflossen,
, 1 Alsatia felix
Est propria fecunda bcmo cui patria Bacho.
2 Masunvilare.
— 3 —
aber die mittelalterliche Kaiservorstellung ist auch im Zeit-
alter des vorreforma torischen Humanismus noch lebendig : Seb.
Brant fordert Maximilian vor allem auf, über die Alpen zu
ziehen zum Empfange der römischen Krone, und beschwort
die deutschen Fürsten, ihn auf diesem Römerzuge zu begleiten.
Maximilian ist bekanntlich nicht im alten Sinne Kaiser ge-
worden, sondern hat den Titel ^erwählter römischer Kaiser»
angenommen ; sein Vater t'riedrich III. war der letzte Kaiser
gewesen, der sich in Rom (1452) hat krönen lassen. — Das
Gedicht ist trotz mancher Weitschweifigkeit und Redekünstelei
lesenswert.
Sebastian Brant an Kaiser Maximilian.
1495.
(Ad divnm serenissimumque Maximilidnum Romanorum regem
invictissimnm semperqne Angnstnm anspicii falconam prope
Thann in comitatn Phirretarnm de mense Janii anno 1495
Tisorum explanatio. — - S. Rrant.)
Wenn es Dir, gütigster König, beliebt, auf den Sänger zu lauschen
Und ein gnädiges Ohr seinem Gesänge zu leihn,
Wie schon früher des öftem und jüngst erst wieder Gehör Du
Schenktest, erhabener Herr, meinem bescheidenen Spiel,
^ Will ich von Wundem erzählen, die wahr sind, die sich am hellen
Tage, yon vielen geschaut, haben begeben. — Vernimm:
Hoher Gebieter, Du kei^ist in der Grafschaft Pfirt ja die Stadt Tluinn,
Aach BäUchtceiler^ vielleicht (beide gehören dir zu),
Wo, wer da südwärts schreitet, nach Basel gelangt und vom Himmel
i<^(Dort in der Gegend geschah^s) fiel der geschleuderte SUin.^
Als eintausend man schrieb vierhundert und neunzig und fünf, just
Mitten im Juni (am Tag war es des heiligen Veit),
Und, und von den Zwillingen scheidend, im Zeichen des Krebses
die Sonne
Wandte den Lauf und des Jahrs längester Tag sich genaht,
1^ Kamen, den Feldern zu setzen das schützende Zeichen des Grenz-
steins,
1 — Phirreti de comitatu
Oppida Thann, Balsvil.
' Der bekannte Ensisheimer Meteorstein, den Brant gleichfalla
als ein grosses Himmelszeichen in zwei lateinischen Gedichten be-
sungen hat. Eines davon ist auch dem Kaiser Maximilian gewidmet
nnd trägt die Ueberschrift : Fulgetrae immanis jam nuper anno XCII
septimo idus Novembris prope Basileam in agros Suntgaudiae jacu-
latae in Naeniam mortis optimi imperatoris Friderici consolationeok
et exhortationem Divi Maximiliani explanatio. (S. Brant.)
— 4 —
Jeder auf eigenem Gmnd, Äckerer rings aus dem Land.
Dort, in der Mitte des Gaus steht einsam, ranschend die Krone^
Ein hochragender Baum, weithin beschattend die Flur.
Aber die Bauern erblicken ihn heut voü Vögel; es wimmelt
^0 Schwarz auf den, Aesten ; wer mag zählen die flatternde Schar ?
«Das sind Beben ja wohl, vielleicht auch Weihen,» so schien es
Allen, die^s sah^n um den Baum fliegen und sitzen darauf!
Einer jedoch, dem die Art nicht als die gewöhnliehe vorkam,
Hatte sogleich sich dem Schwärm, recht ihn zu schaun, sich genaht,
^ Und bald wurd^ es den übrigen auch an dem tönenden Fluge
Zweifellos klar und gewiss jedem, dass FaUcen es sei^n!
Wohl an die sechzig beziffern die einen die Zahl, und die andern
Meinen, es könnten doch rund achtzig gewesen auch sein.
Einer der Vögely mit schwarzem Gefieder und kräftigen Leibes,
30 Ragte hervor aus dem Schwärm, schien von erlesnerer Art.
Um ihn scharte sich auch, rings wimmelnd, der übrige Haufen,
Gleich als wär^ er für sie Fürst und gebietender Herr.
Und dann traten die Reise sie an aufwärts in die Lüfte
Ueber der Alpen Gebirg weit nach Italiens Flur!
3^ Gütigster König, ein Zeichen wie dies ist wert der Beachtung,
Wunderbar ist es, und Heil, wisse, verkündigt es Dir!
Ein Auspicium war es. So früh schon im Sonmier der Vogel
Südwärts drängende Hast, sag', was bedeutet sie wohl?
Zudem gab die Natur dem Geschlechte der Falken den Trieb nicht,
40 Dass sie sich scharen ; zu zweit fliegen sie, selten zu dritt.
Alle die Vögel, bei denen die Klauen gebogen nach rückwärts
Oder wie Krallen gekrümmt, sieht man sie jemals gesellt?
Nein, sie vereinigen nie sich zu Schwärmen, ein jeglicher sucht sich,
Einsam kreisend, mit Gier, was ihm zur Beute behagt.
45 Darum, wenn einer einmal sie in Menge gewahrte, der wisse,
Dass er ein Zeichen von Gott, dass er ein Wunder geschaut!
Jene beflügelte Schar, ihr seid sie, Herzöge, Grafen,
Ritter der deutschen Nation, Adel des heiligen Beichs!
Alles was Damwild heisst, folgt willig als Führer dem Damhirsch,
*o Wo er auch hingeht, durch Wälder und Flur und Gebirg.
Auch für die Falken geziemt es sich so : sie versammeln sich, aber
Ihnen, den edeln, voran fliegt (und sie folgen) der Aar!
Und wenn der Schlachtschrei schallt, dann scharen die Falken
sich um ihn,
Dass in der Mitte bekommt Jupiters Vogel den Platz! —
^5 So, mein König und Herr, stehst Du mit dem Schmucke des Adlers
Auch als führendes Haupt unter den Rittern des Reichs,
So wird Deutschland Dir nachfolgen und Deinen Panieren,
Fürsten und Volk, und wem edel das Herz in der Brust!
Mit Dir ziehen sie gern nach Italien über die Alpen
^ Oder zu Wasser, wohin wenden die Segel Du heisst!
Alle beseelt ein Sinn, ein Geist hingebender Treue;
Dir, Du Zierde des Reichs, folgen sie willig als Herrn!
Lass Dich begleiten von ihnen, o König ! Wenn sie Dich umgeben,
Sind nicht Waffen und Wall nötig, um sicher zu sein!
<>^ Weshalb lehrt die Natur scharweise zu fliegen die Vögel?
Weil der gemeinsame Flug über das Land und die See
Sicherheit ihnen gewährt und die Sorge verscheucht vor Gefahren.
Feindlicher Angriff wagt minder an sie sich heran,
Namentlich, wenn nach der Kraniche Brauch als Herzog und König
7<^ Einer von ihrem Geschlecht, den sie begleiten, sie fuhrt.
So, Maximüian, sollst, mildherziger Held, in der Fürsten
Edlem Geleit auch Du wallen als Führer und Haupt,
Kommen mit ihnen als Vater Italiens^ Vater der Kirche,
Um Dir zu setzen aufs Haupt feierlich üoms Diadem !
^^ Reise geschwind, mein König, auf den schon lange sie harren,
Glaube, die Zeit traf ein günstiger Sterne für Dich!
Auf, nach Italien, auf, ihr, Deutschlands heilige Fürsten,
Sprossen des göttlichen Teut, ziehet gen Süden in Eil!
Dort heisst neu das Geschick euch Scepter und Krone gewinnen,
^Doii sind Ehren und Ruhm männlichen Helden bereit!
Euerem Haupte gehorcht, dem erhabenen König, in süsser
Lehnspflicht, leistet ihm gern alle den schuldigen Dienst!
Auf, frisch auf, und erwerbt euch selber und eueren Enkeln
Weiten unstarblichen Ruhm, ritterlich regend den Arm!
^Droben erwartet euch dann nach beendetem Laufe die bessre.
Einzig beglückende Lust himmlischen Ruhmes und Heils!
Tapfere Deutsche, bewahret in Ehren den Namen der Vorzeit :
AlemannenA — Ja zeigt Äüe, dass Mannen ihr seid!
Trauet dem Schicksal und folget der Stimme; die Himmlisclien
haben
^ Wahrlich genug euch gemahnt, wahrlich gerufen genug !
Gott schafft Sieger und Sieg, ist Schöpfer und Spender des Lorbeers;
Alles, was Ruhm nur heisst, wird uns von oben geschenkt!
in.
Kaiser Maximilian starb 1519, Seh. Brant 1521. Aus dem
Todesjahre des letzteren stammt unser drittes Kaiserf^eflicht,
die an Kaiser Karl V., den Enkel Maximilians, ^»-erichtete Pane-
g)Tis Carolina « des Humanisten Hieronymus Gebwiller (Strass-
bu% Februar 1521). — Gebwiller, um 1473 in Kaysersher«^
geboren, hatte in Basel als Schüler Brants studiert und wurde
1 Theutones o fortes, nomen retinete venustum :
Sitis Alemanni; fortiter ire decet.
3 Hieronymi Gebvilerii Panegyris Carolina cum ejusdem notis,
in quibus Alsatia et Argentoratum brevi descriptione illustrantur.
Gewidmet ist das Werkchen bezw. in einer Vorrede empfohlen
nobih ac magnifico viro Dom. Joanni Hannart. vicecomiti de Lom-
beco etc. Sacrae Caesareae et Catholicae Majestät is consiliario ac
primario Secretario. — Eine zweite Ausgabe erschien 1641 (in
Strassburg, typis Mulbii).
— 6 -~
4501 Rektor der Schule in Schleltstadt. Acht Jahre später
])erief ihn das Domkapitel als ersten Laien zum Rektor der
Munsterschule nach Strasshurg, wo er auch bald der neu-
gegründeten sodalitas litteraria als eifriges Mitglied l)eitrat. Als
in Strassburg die reformatorische Bewegung um sich griff,
siedelte Gebwiller nach Hagenau über zur Leitung der Schule
von St. Georg dortselbst. Denn obgleich er die Notwendigkeil
kirchlicher Verbesserungen selbst einsali und forderte, bheh
er doch der alten Kirche treu und bekämpfte die Reformation
bis zu seinem Tode (1545) aufs lebhafteste. Die Panegyris
Carolina stammt aus seiner Strassburger Zeit. In der Vorrede
erzählt er, dass nach alter Sitte am Nikolaustag (6. Dezember)
die Schüler in Strassburg einen aus ihrer Mitte zum Bischof
zu erwählen ptlegten. Dieser werde dann um die Weihnachts-
zeit in bischöflicher Tracht in feierlichem Zug von Kirche zu
Kirche (per civitatis templa vicosque) geführt und dabei sten-
torea voce ein passendes Lied gesungen. Diesmal (also Ende
1520) sei die Reihe, solch ein Lied zu schaffen, an ihn, den
Rektor^ gelangt, und keinen geeigneteren Stoff habe er flnden
können als eben die Bagrüssung des neuen Kaisers. — Karl V.
war 1520 nach Deutschland gekommen ; es ist lehrreich, auch
aus unserem Gedichte zu ersehen, mit welchen Hoffnungen
man in den kiix^hlich konservativ gesinnten Kreisen seiner Re-
gierung entgegensah. Von ihm, von oben herab, sollte die
Besserung in die Hand genommen werden, um die von unten
drohende Gefahr gewaltsamer Aenderung zu beseitigen. Leider
war der spanische Karl nicht der Mann hierfür ; gerade das
Jahr 1521 wurde infolge des Wormser Ediktes das Geburts-
jahr der kirchlichen Spaltung Deutschlands. — Von dieser
zeitgeschichtlichen Seite abgesehen, ist das Gedicht aber auch
deshalb für uns anziehend, weil darin hauptsächlich das
elsässische Volk' aufgefordert wird, dem Kaiser huldigend
entgegenzuziehen. Der Rhein, die III und alles Gewässer vorn
Wasgau soll herankommen, ihn zu begrussen, der als Sprosse
der Habsburger zum Elfiass gehöre. — Die Anmerkungen
Gebwillers zu dem Gedicht enthalfen eine der ältesten geo-
graphischen Beschreibungen des Landes. Eine eingehendere
descriptio Alsatiae, die er vorhatte, ist leider nicht zustande
gekommen. Die Anmerkungen konnten hier nicht mitübersetzt
werden ; doch sind die zu den Versen 31 bis 36 gehörigen
(samt diesen Versen) im Grundtext mitgeteilt. — Dass die
1 Gebwiller in der Vorrede : «Igitnr in ejus occai'sum hoc heca-
toBÜcho elegiaco carmine Qermanos ac praecipne Alsatas adhortati
sumus, ut dignis officiis etc. exciperent.»
— 7 —
Schüler der Münsterschule bei ihrem Umzug im Jahre 1520
dieses Gedicht gesungen haben sollen, können wir uns übrigens
kaum vorstellen ; das decantare stentorea voce wird wohl nur
eine Art lautes Zusammensprec/ie/i gewesen sein. Stentor war
ja nach Juvenal ein Mann, der so stark — schreien konnte,
wie fünfzig zusammen !
Hieronymus Gebwiller an Kaiser Karl V.
Panegyris Carolina.
1520.
Jubelt mit Schall, ihr Knaben, nnd ihr, ehrwürdige Qreise,
Manniglich freae sich hell, dass nnn der Kaiser erscheint;
Er (das hoffen wir fest!) bringt Heil und Segen der Menschheit,
Führt ihr, schirmend, herauf wieder die goldene Zeit !
^ Bald wird schauen geschlossen des Janus Tempel der Erdkreis,
Und rings atmen die Welt Frieden und friedlichen Sinn!
Schwerter verwandelt in Sicheln der Schmied, ans kriegerischen
Helmen
Hämmert er Waffen der Flur : Karste, das Feld zu behauen !
Ablegt sicheren Mutes der Wandrer die eherne Lanze,
^^ Furchtlos beschreitend sogar unter Barbaren den Weg !
Reissende Tiere verschonen den Menschen und seine Gehöfte,
Zahm wird werden und fromm Tiger und Panther und Leu !
Hase verkehren und Hund, mit der Angel versöhnt sich das Fischlein,
Je ein Wolf, ein Lamm bilden ein Brudergespann !
'^ Unter dem nämlichen Laub mit dem Habicht nistet die Taube,
Selber die Eule gesellt anderen Vögeln sich gern!
Zwischen den Sterblichen wird kein Rest mehr bleiben von Zwie-
tracht,
Da nun der Kaiser erschien, Karl, der den Frieden verbürgt ! —
Möge beschirmen ihn treu die Gebärerin Gottes, Maria,
^Ihn und das Reich, dass er lang lebe wie Nestor dereinst!
Weiche von hinnen, Beüana, du starke, hinweg mit dir, Ares,
Weil nun ein höherer Gott, weil nun der Kaiser gebeut!
Geister der Rache, verschwindet! Es bleibt euch nichts auf der
Erde,
Das noch eurer Gewalt dienstbar erweisen sich mag !
^Fort in den Orkus mit euch, bluttriefende Kriege! Die Schatten
Möget verwunden ihr dort, aber sie fürchten euch nicht!
Karl kommt an, und er bringt für DeiUschland Frieden ; die Feinde
Müssen ihm, wer sie auch sei^n, beugen die Nacken ins Joch!
GdUiens^ schwellenden Kamm und die Fluten der Adria^ wird er
1 Franz I. von Frankreich hatte sich nach Maximilians Tod um
die deutsche Krone beworben.
2 Venedig.
— 8 —
^0 Bändigen schnell und den Trotz watend gewordenen Stiers !i
Roms habgierigen Schlund wird stopfen der Kaiser, die Scylla.
Welche die Deutschen verschlingt, welche zu Bettlern sie macht!
Nicht wird dulden er mehr in den kirchlichen Aemtern Schmarotzer,
Sondern dem würdigen Mann geben den würdigen Preis,
^^ Bessern in Klerus und Volk die entarteten Sitten und spüren
Lassen die Räuber im Land seine zei*malmende Faust !^
^ Anspielung auf die Bauernunruhen, die dann 1524 zum vollen
Ausbruch kamen.
2 Obstruet hie Caesar Romanae guttura Scyllae.
Haec quia Germanos pauperat atque vorat;
Nee sinet, ut levibus dentur sacra munera scurris,
Pro meritis pendens prsemia digna viris.
Corriget hie mores cleri vulgique malignos
Grassantumque trucem perdet ubique gregem.
In seinen Anmerkungen schreibt der Dichter bei dieser Stelle
[ ^ folgendes :
! Zu c Obstruet > : Quot aucupils misera Germania pecnniis
'<; Romam mittendis emungatur, Sanctissimo domino nostro Papa
Leone illiusque sacrosancto Cardineo senatu per sacratissimam Cae-
saream ac Catholicam Majesttttem informatis, modus procul dubio ac
, frenum imponetur,
> Zu € Levibus scurris*: Histrionibus, cachinnonibus, parasitis,
lenonibus, colacibus et simili faeci hominum.
Zu < Sacra munera > ; Beneficia, sacerdotia, populosae parro-
chiae, dignitates et praelaturae, doctis duntaxat conferendae, Dii boni,
quae scandala, quae seditiones, qui tumultus, quae plebis in clemm
I invidia hac una ex causa profluunt, quod a pastoribus interdnm et
mercenariis, nee moribus nee literis probatis, in quibus praeter saemm
ordinem, quod laude dignum sit, reperies nihil, pascantur? Nonigitar
nobilis Germania temere desolatam se ac nebulonibus prostitutam
luget, quod paueos nonnunquam exemplo et vita ipsam pascentes
habeat pastores : quaeritur profeeto lana, ovium autem cura ferme nalla.
Zu <Digna praemia» : Quot honestissimi hodie cives filios
suos proba indole praeditos, nullis expensis parcendo, sacris literarom
maneiparent? Si saltem uUam spem eisdem ob adeptae doctrinae
merita, sueerdotiis aliquando, citra Simoniacam labern, provisnm iri
sperarent; qua iniquitate band mediocris seditio, diseordia atque
laetiferum int er sacerdotes odium passim oritur.
Zu < Corriget*: Reformabit, in meliorem statum redigei
Zu <maIignosy : Perversos. enormes, distortos, a Justitiae amnssi
omnino declinantes.
Zu €Cleri»: neeesse igitur erit, luxum, Simoniam, impudi-
citiam, ambitionem, dTTo^Tagiav et id genus similia in clero sedari,
quod nisi factum fuerit, gregario ariete per avia palante, totam pecas
aberrabit.
Zu « Vulgique» : Petulantiam, desidiam, factiones, inobedientiam,
vulgi nemo ignorat. Quocirca reformatione indiget etc.
- II —
Ihm wird schreiten zur Rechten Asträa mit schwebenden Schalen,
Wägend, was jedem gebührt, fördernd und gebend das Recht,
und auf der Linken, gewärtig des Winks, holdselig der Frieden,
^'^ Durch den mächtig, er neu baut das zerrüttete Böich! —
Billig beeilst du dich, elaäaser VoUc, ihm entgegenzuziehen;
Aas dsässischem Stamm, edelstem, sprosst er hervor.
Wolltest du's leugnen, so sag^ doch, aus welchem Geschlechte der
grosse
KuMf von Habsburg ist, wessen Erzeugter er war.
^Schmückt euch, Najaden des Bheins (Gold bergen die wogenden
Fluten),
Tauschet das Alltagskleid heute mit festlicher Zier !
Schick' auch du zu des Königs Empfang die erlesensten Nymphen
In dem erlesensten Schmuck: purpurbekleidet, o Main!
Eilet herbei, Flussgötter der Lauterf der Queich ^ und der Sauer,
^ Bringet auch mit des Gebirgs Götter zum Feste herab !
}ioder und Zorn soll senden vereint jungfräuliche Chöre,
Dass sie mit Spiel und Gesang scheuchen die Sorgen hinweg
Möchte die Mossig da halten zu Haus ihr göttliches Völklein?
Nein, im Geleite der Breusch kommt sie, der sanften, heran,
^Kommen heran, und die lU, die fischreich fliesst in der Ebne,
Geht in der Kleineren auf, lasset den Namen der Breusch,
Die, jetzt schwellend in Stolz, Schön-Strassburg, deine Gemäuer
Auf drei Seiten umspielt, leise gemächlichen Laufs,
Und, was der lU sie genommen, bis weit in die Mitte der Stadt trägt :
^^ Köstliches Bacchusgeschenk, Schiffe, beladen mit Wein !
Aber die lü wird kommen doch auch mit wimmelnden Fischen,
Sie, die dem Elsassland einst ja den Namen verlieh,
Und die Gewässer zumal, die sie aufnimmt, Kinder der Berge,
Welche des Wasgaus Schoss unter Metallen gebiert! —
^ So, mit den Göttern des Lands, komm\ elsässer Volk, und dem König,
Den dir der Himmel geschenkt, rüste den wärmsten Empfang!
Einen erwählt, der, wie Nestor beredt, vor dem König uns alle,
Wohllautatmenden Worts, Folgendes sprechend, vertritt:
•Heil sei Deinem Erscheinen! Das wünschen wir, hehrester Kaiser,
^^ Weihen Dir, oberster Herr, was wir besitzen und sind :
Frauen und Kinder und werte Verwandte, der heimische Boden,
Herden und Hirten und Hof, alles, Gebieter, sei Dein!
Sorge nur, dass uns verbleibe der Glaube der Väter, und Weisheit,
Welche von aussen uns kommt, jage zum Lande hinaus!
^^Die zu Dir aufschaun treu, blick* an sie mit gnädiger Miene,
Auf die Empörer jedoch fasse den heftigsten Grimm !
Wir (seid Zeugen, ihr Himmlischen droben !) versprechen dagegen,
Deine Befehle zu thun, tapfer und ohne Verzug !
Treibe die Räuber zu Paaren, die frech an den Strassen sich lagern,
^ Bringe, den Bürgern ein Freund, Friede und Ruhe znrück !
i Glanae?
1
~ 10 —
Wird es doch Keiner vermögen, dem Willen des Königs zu trotzen,
Welchem der Erdkreis lauscht samt dem umgebenden Meer!
Sei Dir dauerndes Leben beschert, ein sokratisches ^ Alter,
Welches das irdische Los: Krankheit und Schwäche, nicht kennt!
^ Und in dem nämlichen Mass wie Salomon kleide Dich Weisheit,
Als ein beharrlicher Freund immerdar stützend den Thron!
Schöner als Helema sei, wie Penelope züchtig die Gattin,
Beide besiegend an Wert, welche dir Venus bestimmt!
Möge gebären sie Dir Nachkommen so reichlich, dass Söhm
^ Vater dich nennen, so viel Danaos Töchter gehabt !
Möge der Söhne Vermählung sodann stets wachsende Reihen
Enkel dir bringen, auf dass ewiglich blühe der Stamm !
Hat ihn der Rhein doch gehegt schon neun Jahrhundert^ und dräber,
Und des hercinischen Walds ^ Tannen, sie kennen ihn längst!
95 Trc^a gab dem Qeschlecht in der Urzeit leuchtende Väter,
Und heut beugen sich dir Tiber und Ttnjo zu Dienst!
Auf dich hoffen als Herren Jerusalems Bürger, und schweigend
Harret das heilige Land, dass Du den Türken Terjagst!
Vor Dir bleichen die Grössten der Grossen ! Wen nennen wir gross
noch ?
^00 Keiner erreicht Dein Mass ! Heil uns, dass unser Dn bist !
^ Gellius lib. 2, cap. 1 wird von einem Sokrates erzählt, der
sehr alt geworden und niemals krank gewesen sei.
^ H. Gebwiller bemerkt zu dieser Stelle, das Haus der Grafen
von Habsburg sei damals schon 940 Jahre im Besitze der elsässischen
Landgrafschaft und der Herrschaft Breisgau gewesen.
3 Der Schwarzwald.
II.
Das Stift Jun^-St. Peter.
Beiträi^e zu sinner Geschichte
von
Wilhelm Horning
Pfarrer an Jang-St. Peter.
Einleitung.
An die Nordseite der Jung-St. Pelerkirche lehnen sieh
floch heute, wenn auch vielfach verbaut und entstellt, die Ge-
bäuiichkeiien des Stifts von Jung-St. Peter an.
Von dem gcut erhaltenen, teilweise der Zeit des ersten
Baues der Kirche (1075) entstammenden Kreuzgange aus über-
blickt man Östlich das Kapitelhmis mit seinen noch aus der
Verbauun^^ erkennbaren rundbogigen hohen Fenstern, ivestlicli
Resle von Zellenfenstern, 7iördlich den im Jahre 178() eben-
falls neu erbauten und später mit Wohnungen besetzten
Stiftsspeicfier.
Als ich zum ersten Mal diese Trümmer des alten Stifts
sah, konnte ich eines wehmütigen Gedankens an die inhalt-
schwere Vergangenheit von acht Jahrhunderten, die über diesem
hochalterigen Bau verflogen war, mich nicht erwehren. Die
tausend faltigen Erlei)nisse der einzelnen Kirchen- und Stifts-
diener, vom Stiftspropst an bis zum Stiftspedell, welche hier
ihren Herufslauf in den verschiedensten Gemütsverfassungen
volltTihrl hatten, und deren Gebeine langst wieder mit dem
1
— \2 —
Stück Erdreich vereinigt sind, auf dem sie amtlich gewirkt,
fesselten meine Phantasie.
Die alten Gründer des Stifts^ die Strassburger Bischöfe,
gingen mit der Schar der Stiftspröpste und Stiftsherren, mit
Fahnen, Infuln, Pallien und Rauchfassern vor meinem Auge
vorbei, und zwischendurch schlug die alte Turmglocke dumpfe,
wie aus der Ewigkeit her über tönende Schläge.
Was alles mag in den nunmehr verfallenen und ver-
bauten Zellen der Stiftsbrüder vorgegangen sein! — wie viele
heimliche Zerwürfnisse zwischen Untergebenen und Obern,
wie mancherlei Spannungen und Intriguen zwischen geist-
lichen und weltlichen Beamten, wie vielerlei Sorgen um
Vermehrung zeitlichen Besitzes, bis das grosse Stiflsgut zu-
sammengebracht, registriert, versichert, behauptet, durchpro-
zessiert, in seinen Gerechtsamen geordnet und festgestellt,
vor fremdartigen Eingriffen bewahrt, und dann endlich doch
in ganz andere Hände kam!
Ferner, das Wechseln der Kriegs- und Friedenszeiten, die
mannigfache Mitleidenschaft, in welche bald der Sturm, bald
die linde Luft des städtischen und politischen Lebens, jene Stifls-
herren zog; die Jahre des Ueberflusses und der Teuerung,
der Gesundheit und der Pest, die Zeit der Reformation, der
Gegenreformation und ihrer wechselnden Anforderungen; dies
alles und tausend Aehnliches rückte an meinem Gemüt in
leisen Umrissen und verschwimmenden Gestalten vorbei.
Und als nun die 800 Jahre dieses Stifts vor meiner Seele
vorübergezogen, erhob sich die unabweisliche Schlussfrage:
Was hat wohl Gott der Herr von diesen Generationen gewonnen
für die Ewigkeit ? Welche Lebensfrucht hat ihm dieses , Stift
mit den Verschlingungen seiner Zeitläufte getragen?
Die Neugierde, etwas tiefer in die Geschichte des Stiftes
hineinzuschauen, bewog mich, das in der Revolution durch
Gendarmen wie ein Nest ausgehobene und in das Bezirksarchiv
überführte Stiftsarchiv durchzu forschen.
Ich lege die Ergebnisse meines Forschens auf die folgenden
Blätter nieder.
KAPITEL L
Gründung des Monasteriums und sein Stand
bis 1031.
§ 1. Gründling des Monasteriums.
Die alten Charten des Stifts sind verloren gegangen. Wie?
durchs Feuer, durch den Krieg, durch die Nachlässigkeit ? Wir
- 13 —
Genug, die Pergamente und Urkunden, aus denen wir gerne
Licht über die Anfange des Stifts hätten schöpfen können, sind
unwiederbringlich dahin.
Vielleicht in derselben Zeit, als an der SQdseite Strassburgs
an den Ufern der Breusch, ein hölzernes Monasterium mit dem
Kircblein St. Thomä extra muros gegründet wurde, ^ erhob sich
ebenfalls extra muros an der Nordseite der Stadt die hölzerne
Capelle St. Columbariy die ebenfalls an ein kleines Hospitium
oder Monasterium angebaut wurde. Sie wurde nach St. Co-
lumban genannt, dem irländischen Mönche, welcher mit 12 Brü-
dern Irland am Ende des 6. Jahrhunderts verliess, um in
Gallien, Germanien und Helvetien das Panier des Christentums
aufzuwerfen. Dass Columban selbst gegen 590 nach Strass-
burg gekommen, davon weiss die Geschichte nichts. Dass aber
der Irländer Florentius hundert Jahre hernach sich hier nieder-
liess und St. Thomä gründete, ist historisch erwiesen.
C. Schmidt, der in seinem Werk «Le Chapitre de St. Thomas»
(Strasbourg 1860) die Gründung der Thomaskirche bespricht,
neigt zur Ansicht, dass der Stifter dieser Kirche, der für die
Fischer am Ufer der Breusch ein Bethaus gründete, hier für
die Landbevölkerung, welche die Aecker und Wiesen baute,
die das Terrain der späteren Steinstrasse bildeten, ebenfalls ein
Gotteshaus errichtete. > Zur Zeit Koßnighofens hatte man den
Ursprung der Kirche so vergessen, dass dieser Chroniker den
Namen des Columban mit dem der St. Columba vertauschte.^
Diese Heilige aber war im Elsass gänzlich unbekannt; sie figurirt
auf keinem Kalender der Strassburger Kirche, während St. Co-
lumban schon frühe genannt wird (24. Oktober). Auch Wim-
pheling begeht den Irrtum.'^ Der einzige Chronist, der da.<f
Richtige trifft, ist Bernh. Hertzog: <S. Columbani zu Ehren. »^
Die Fratres im Monasterium befolgten, wie in den meisten
Klöstern irländischer Herkunft, die Regel von St. Columban,
welche noch viel strenger war als die des hl. Benedikt, und die
geringsten Abweichungen von der Disciplin mit körperlicher
Zucht strafte. In der Mitte des 8. Jahrhunderts wurde in ^Uen
1 Es kamen erstmolen heilige mann ans Schotlandt, die des glauben
halb drin vertriben wurden, wiederum heruss, die haben erstlichen
ein clussen bawn zu dem alten castell do itzund S. Tomaskirch ligt.
(Specklin.)
2 p. 6.
«^ «In honore sauctae Columbae virginis.» Chron. lat., ms.
* Xenodochium sanctae Columbae (Catalogus episcop. Argent.;
Strassb. 1660, in 4^, p. 41).
^ Elsass. Chronik; Strassb. 1592, in fol. lib. VUI, p. 113.
2
- 14 —
Klöslern Germaniens Benedikts Kegel eingeführt ; die irländischen
Klöster im Elsass mussten sich derselben fügen; sie verloren
ihre Freiheit, und es wurde ron da an das Band, das sie an
Rom und an die Bischöfe der Diöcese knüpfte, fester.^
Die auf die Gründung des Monasteriums folgende Zeit ist
von Schatten belegt, die nicht die geringste histoiische Nach-
richt zerstreut. Es lässt sich aber denken, dass dieser neue
Feuerherd religiöser Wärme eine grössere Bevölkerung anzog.
Doch behielt die Kirche samt dem Monasterium ein ärmliches
Aussehen, da sie nur von den Almosen und den Zehnten der
Gläubigen unterhalten ward. In der ersten Hälfte des 11. Jahr-
hunderts steigt ihr Ansehen.
KAPITEL IL
Erhebung des Monasteriums zu einem iTv^elt-
lichen Stift. — Sein ^STachsthum nach innen
und aussen.
§ 1. Das Stift unter den Bischofen Wilhelm I. und UetzeL
Im Jahre 1031 « befreite der Bischof WiUielm die
Klosterbrüder von der mönchischen Regel und verwandelte sie
in Canonici oder weltliche Domherren. Er baute die Jung-
St, Peterkirche ^ und stiftete 8 a: thurmherrenpfrunden, gab
gross gut darzu ».^ Zufallig existiert noch eine Stelle aus der
Stiftungsurkunde des Kapitels, in einer schriftlichen Arbeit
über das Besitztum des «Kirchhofes» oder Kirchplatzes von
Jung St.- Peter, im Stadtarchiv.^
Zwei Adelige mit Namen Wezil und Hatto schenkten
dem neuen Stift ihre in Rtiestenhart und Wittersheim liegenden
Güter, Diese auf Bitte des Bischofs Wilhelm gemachte Donation
1 Schmidt, • Chapitre de St. Thomas », p. 6.
Anno 788 hat Carolas Magnns auf dem Synod zu Worms ver-
schafft, dass man in allen Stiften und Klöstern aüe Canones und
Decreta des Nicänischen und anderer Concilioram und Patram ein-
schreiben müssen, welche Bücher noch in der Bibliothek vorbanden
sind. (Specklin.)
^ Grandidier, Oeuvres in^dites 11, p. 14.
^ Siehe: Die Jung-St. Peterkirche and ihre Kapellen (mit be-
sonderer Berücksichtigang der restaurierten Zornkapelle). — Eine
archäologische Studie ^mit Bildertafeln). — Von W. Boming, Pfarrer
an Jung-St. Peter. — Strassbarg 1890.
^ Specklin, Bulletin de la SociStS pour la conservation des mo-
numents historiqaes, 1889, p. 204.
» Lade 46, Nr. 11.
- i5 —
wurde im Anfang des Jahres 1040 bestätigt. Der Act wurde
von 38 Zeugen unterschrieben.^
Bischof Heizel, Wilhelms Nachfolger im Jahre 1047, ver-
mehrte die Fundation und errichtete 6 andere Kanonikate.'
§ 2. Die StiftogebänUchkeiten.
Auf der Nordseite der Kirche lag (und liegt noch in lieber-
resf en) ' das Monasterium, mit dem freien viereckigen Hofraum
in der Mitte, welchen die verschiedenen, die eigentliche Clau-
sur bildenden Baulichkeiten umgaben.
Um den Klosterhof stand und steht noch der Kreuzgangy
der sowohl für Grabstätten als für Processionen und zum Lust-
wandeln der Brüder und der Stiftsherren diente. Einige Säulchen
seiner Arcatur zeigen das 11. — 12. Jahrhundert an. — Die
nördliche Lage des Kreuzgangs entspricht nicht der gewöhn-
lichen Regel, kraft welcher derselbe mit dem Monasterium
südlich von der Kirche gebaut wurde (gegen Norden von dieser
geschützt und mit sonniger Lage des rings umschlossenen
Rasenplatzes).'^ Durch Nebenportale, die noch heute sichtbar sind,
stand der Kreuzgang mit dem Seitenschiff der Kirche in Ver-
bindung. — Der westliche Flügel des Monasteriums enthielt
wohl die Mönchszellen , das Wohnhaus mit der Warm-
Stube (calefactoria domus) unten und dem Schlafsaale (dormi-
torium). — Der nördliche Flügel enthielt den mit der Kleider-
kammer (vestiarium) übersetzten Speisesaal (refectorium), der
wegen des Duftes der Speisen entfernt von der Kirche, bei der
Küche lag.5 Hier war auch die Votratskammery und unter dem
Erdgeschoss erstreckten sich in zwei Etagen die weitläufigen
Keller.
Im vierten, an der östlichen Seite des Kreuzganges
hinlaufenden Flügel war der Kapitelsaal, Dieser Saal pflegte
in der Nähe der Kirche zu liegen und war von dem Kreuz-
gang häufig nicht durch eine geschlossene Thür, sondern
1 ürkundenbuch der Stadt Strassbnrg I, 46 nr. 54.
s Grandidier, Oeuvres in^dites II, 15.
3 De no8 joars encore TEglise de St. Pierre-le -Jeane offre cela
d'intlressant, quelle existe encore dans son plan cPetisemble, avec une
gründe partie des anciens hätiments daitstraux. — Le cloitre subsiste
encore. II accase deux ^poqnes bien distinctes. La partie ancienne
paralt dater du IX^; la partie plus r6cente au contraire ne semble
remonter qn'an XV. sidcle. (Schnöegans, ms. Stadtbibliothek.)
* Otte, Kunst-Archäologie I, p. 78.
5 Otte, p. 80.
— 16 —
nur durch offene Bogenstellungen getrennt. Im Jung-St. Pefer-
Monasterium ist er noch heute zu sehen ; dort besteht er aus
vier Jochen und zeigt eine schöne Wölbung mit konservierten
Schlusssteinen. (Er dient jetzt als Weinkeller.) Später wurde
er in den ersten Stock verlegt^ wo seine fünf gotischen, mit roter
Farbe bestrichenen, jetzt oben durchgebrochenen und verbauten
Fensterrahmen noch zu sehen sind. Er diente für die Beratungen
des Konvents. Im Innern war ringsherum eine Steinbank
angebracht für die Brüder, die sich hier auch taglich nach dem
Morgengottesdienste unter dem Vorsitze des Stiflspropstes ver-
sammelten zum Vortrage eines Kapitels aus der Ordensregel, zu
richterlichen Verhandlungen und Beratungen, etc.*
Der erste im Erdgeschoss liegende Kapitelsaal diente
zum Begräbnis der Kapitularen. Er ist jetzt noch mit Gra6-
steinen belegt, auf welchen Gestalten von Stiflsherren mit
Inschriften zu sehen sind.
In allen Klöstern, d. h. geistlichen Verbrüderungen, die
nach Art der Mönche ein gemeinsames Leben in einem und
demselben Gebäude führten, war stets eine besondere Ab-
teilung vorhanden zur Aufnahme erkrankter Brüder und An-
gehöriger, sowie vor der Pforte eine Herberge für fremde
Pilger.^ Für Jung-St. Peter können wir uns die Lage dieser
Häuser nicht mehr denken. — Nördlich von der Kirche lag der
«Kirchhoff» oder «Goemelerium» , der aber schon vor dem
13. Jahrhundert auf die westliche Seite versetzt wurde und
den Namen «Leichhoff^ oder <(Leuthoff» hatte; er war der
Gottesacker der gewöhnlichen Leute.
i Wie dieser Kapitelsaal im* Jahre 1638 möbliert war, ersehen
wir aus einem Inventarium, das folgendes berichtet:
«Im Jahr 1633 verfügten sich die Herren Deputirten aus dem
Magistrat hinanf in die grosse Kapitelstube und protokollirten :
«In gemelter Capitelstueben seint zu befinden wie folgt:
Item ^ nngleiche grosse gemalte Tafeln,
1 grosse AUar-Tafelj mit des Decani Hanss Heinrich Mer-
ckels Bildnns,
Item hinter derselben ein Wandkänsterlein («wanth Kensterlin«)
mit 4 Thüren, darinnen: 1 alter beschlässiger Trog, darinnen aller-
handt gerümpel von Bachern vnd Kirchenzierde,
1 offener Büchersdirank mit 8 nnterschlichen Fächern, darauf
allerhandt alte Mess- und Chorbücher in folio und in 4'.
1 Schaft mit 4 Fächern, darinnen viel hölzerne vergälte bilder^
so anf dem hohen Altar sollen gestanden sein,
2 grosse messingene Lichtstöck,
1 geschriebene Calender- and Planeten-Tafel. • (Bezirksarchiv.)
-i Otto, K-A. I., p. 94.
— 17 —
§ 3. Das Stiftsleben.
um sich einen Begriff von dem Leben der ersten Canonici
zu machen, iifenugt es, die Hauptregeln des Stiftslebens sich
anzusehen, wie dieselben definitiv auf dem Konzil 816 bestimmt
waren.
Das Kloster verblieb die Behausung aller Stiflsglieder, mit
einem gemeinsamen Schlaf- und Esssaal ;. nur die gebrechlichen
und greisen Canonici durften ein Privatzimmer benutzen. Um
jede Ursache von Unruhe und Unordnung von der Stifts-
wohnung fernzuhalten^ wurde sie von einer ziemlich hohen
Mauer umgeben, die niemand gestattete, anderswo aus- und
einzugehen als durch das Thor.
Die Besitztümer des Kapitels bildeten ein gemeinsames Fer-
mögen; über sein Privatvermögen konnte jeder Canonicus frei
verfügen. Aus der gemeinsamen Kasse erhielten die Stifls-
herren gleiche Portionen von Nahrung und Wein ; sie hatten
auch einen gewissen Teil an dem Opferstock, mit dem sie sich
begnügen sollten, um sich nicht den Vorwurf zuzuziehen, als
ob sie den Armenteil verringern wollten.
Es durften auch Kinder Mitglieder des Stifts werden; ein
Canonicus musste ihnen den Unterricht erteilen.
Die Zeit war für die Stiflsglieder folgendermassen geregelt :
Zwei Uhr nachts standen sie auf, um die Matutinen zu beten ;
in der ersten Tagesstunde und in der ersten Nachtstunde gingeu
sie in den Chor, um zu singen und zu beten, worauf ihnen
verboten war Nahrung zu sich zu nehmen und miteinander zu
reden. Ohne Erlaubnis sollte niemand aus dem Kloster gehen.
Ausser der gottesdienstlichen Beschäftigung mussten sie stu-
dieren, ein jeder das Fach, für welches er am meisten Fähig-
keit besass. Während der Mahlzeit las ein Bruder aus einem
Erbauungsbuche vor.
Das Hospitiurriy für die armen Reisenden eingerichtet, stand
unter der Aufsicht eines Bruders ;, während der Fastenzeit war
den Brüdern geboten, den Armen die Füsse zu waschen. —
Ein Bruder hatte die Thorwache ; er empfing die Fremden und
fahrte sie zu dem Propst, dem er auch bei einbrechender Nacht
die Schlüssel des Klosters verabreichte. Er bewohnte die an
das Claustrum angebaute Custorey (hinter der Kirche gebaut),
cweil der Custos die Pforten Claustri und der Kirchen müssen
in Achtung haben, die er auff- und zuschliessen lassen:s>.*
Ursprünglich waren die Hauptbeamten, ausser dem Pförtner y
dem Herhergsbruder und dem Schulrektory nur der Propst, der
> Stadtarchiv, Nr. 81.
1
— 18 —
die Verwaltung der Guter innehatte, der Kantor und der Cel-
larius, der unler sich den Stiftsbäcker und die Köche halte.
Wie überall Hess man im Jung-St. Peter-Slifl die für
reiche Canonici zu strengen Regeln in Vergessenheit geraten.
Zugleich wurde die Zahl der Beamten durch die Kreierung eines
Dekans und eines Custos vermehrt, und erlitten auch die
Dienstleistungen der durch das Konzil 816 kreierten Beamten
Veränderungen. Die wichtigste Verletzung der kanonischen
Regel war die Verzichtleistung auf das gemeiiisame Lehen.
Sie war verursacht durch das wachsende Vermögen des Ka-
pitels und die Ernennung zu den Pfründen von Adeligen,
deren eingewöhnte Lebensweise eine bequemere und freiere war.*
Wir können nicht mehr ermitteln, wie viel Bmder das
Jung-St. Peterkloster hatte, ehe es in ein Stift verwandelt
wurde. Zur Zeit seiner Erweiterung wurden 44 Kanonikate
errichtet.
Die sieben ältesten waren Priester^ Diakonen ; von den
sieben jüngsten wurde nur der Grad des Suhdiaconus gefordert.
§ 4. Wachstum des Stifts nach innen«
Im letzten Viertel des iO, Jahrhunderts wurde die Ge-
meinsamkeit des Stitlslebens fast allgemein aufgehoben. Nach-
dem in Strassburg das Münsterstift auch hierin vorang^;angen,
folgten die anderen Stifte nach.
Um jedoch dem Buchstaben der ursprünglichen Regel ge-
recht zu werden, der von einem Stiftskloster redete (claustrum
canonicorum), wurde den Stiftshäusem der Name curiae
claustrales (Klosterhäuser) beigelegt und die Bestimmungen
des ursprünglichen Artikels über die gute Verwahrung und
gute Instandhaltung des Klosters wurden auch auf die Stifts-
häuser ausgedehnt.
Das Wort Monasterium kommt freilich noch in einer
Urkunde des Kaisers Heinrich VI. im Jahre 1196 vor: «Mo-
nasterium sancti Petn Apostoli in suburbio Argentinensi» ; * aber
dieses Wort wird auch dem Münsterstift noch beigelegt, lange
nach dem Aufhören des gemeinsamen Lebens. Es wurde eben
zuerst bald der alte Name c Monasterium j», bald der neue Name
«Kapiteb gebraucht. Das gemeinsame Haus wurde fortan nur
von den minorennen Stiftsherren bewohnt. Eine Zeitlang erhielt
sich noch unter den Stiftsherren die Sitte des gemeinsamen Essens.
Von dem 13. Jahrhundert jedoch an entsagten sie ihr, und sie
i Aus und nach C. Schmidts : «Le Chapitre de St. -Thomas >
2 Urkandenbuch der Stadt Strassburg I, 110 nr. 34.
— 19 —
beschlossen, die Besoldung der Köche der Kirche zuzuwenden. ^
Von der Zeit an wurden keine anderen Stiftsmahlzeiten gehalten
als die an grossen Festen, oder wenn es galt, einen fremden
Würdenträger zu ehren. Das Refektorium wurde auch als
Kapitelstube gebraucht.
Im Jahre 1200 wurde das Stift in die Stadterweitei*ung mit
allen damit verbundenen Rechten und Pflichten gezogen. <
Zur Dankbarkeit dafür, «dass das Stift die Stadt begriflen, be-
schützet vnd geschirmet worden, hat das Stift eine singende
Mess oder Danklied abzusingen vnd zu begehen auffgesetzet,
worzu Einer nahmens Magister Heinricus DiethmaruSy ein
piu'bendarius prdobendar Episcopi in demselbigen Stillt, durch
sein Legatum verordnet, wie folgt : citem 1 flf iij ß ad can-
tandum de Bta Yirgine pro salute communitatis civitatis ratione
tuitioDis.>s
Im Jahre 1225, unter dem Propst Ulrichy verteilten die
Stiflsherren («fratres»)* unter sich die Einkünfte der Güter in
Hunheym und Vendenheim, in Antschussheym, Umesheim und
in Bersted, Kriegsheym, Phulgriesheim, Dingksheym, Hume-
lotesheyra, in Mulnheym und in Brumat, in GeyspoUzheym,
Hirckheysheim, Kugenheym, Duntzheym, Pfettesheym, Kune-
heym, Oßenheym, Franckenheym, Atzenheym, Königshoflen,
und die Güter, die vor der Stadt lagen.
«(Wie viel (meldet ein Manuskript aus dem 17. Jahr-
hundert^) von der Zeit an, da die Kirch neu erbaut (1290 — ^1320)
l^^utherzige Leut darzu gestifflet, ja eigene Gapellen daran ge-
bawen (als der Zornen Gapell) und Häuser dai*zu legiret]», davon
könnte uns das Liher anniversarium «überflüssigen Bericht
mittheilen]» (wenn es noch existierte). Aber weder im Bezirks-
noch im Stadtarchiv fand Schreiber dieses seine Spur.
«Von dieser Zeit an hat auch das Stiflt Jungen St. Peter
eine gantz andere fadem (Ansehen) bekommen, und ist nach
und nach zu solchem ansehenlichem Gollegiat-StifTt erwachsen.
1 Schmidt, ibid., p. lö.
2 Königshovens Strassb. Chronik fol. 273: «Also wart die Al-
mende u. zum Jungen St. Peter und der Rossemerket za der Statt
begriffen o. vmbgemnret»
{Ahnende hiessen die Gemeindegüter um die Stadt.)
3 So in Liber Anniversariornm, «welches von dreyen Jahren zu
dreyen Jahren and in ao. 1323 schon ans den ältesten dergleichen
Büchern jeweiln abcopiret und wieder restituirt worden». (Stadt-
archiv Nr. 81, 47 Lad.)
^ Divisimas inter nos fratres, agros sc. fragiferos sitos. (S. Be-
zirksarchiv.)
^ Stadtarchiv, Lad. 47. Nr. 11.
— 20 —
«Das Wort clauslruin (Kloster) wird in folgenden (den
nachherigen) Statutis sehr rar mehr gefunden^ da es doch
vorhero zum öfRern vorgekommen . . .
«Und viel anders mehr ward zu des Stiffts weilerm flor
und Ansehen änderst als zuvor eingerichtet.]!»
Im Anfang des 44. Jahrhunderts ist unter den Legaten,
die der neuerhauten Stiftskirche gemacht wurden, das be-
trächtliche (21,000 Gulden) \on Hugo Zorn^ dem Stiflspropst,
zu verzeichnen (4317, Sonntag vor Oculi).
Es ist auf etlichen Pergamenten geschrieben und mit dem
Piopsf Siegel versehen und noch heute im Bezirksarcbiv vor-
findlich«
Das erste Pergament beginnt mit den Sätzen :
«ein Nomine Domini, Amen. Cum nihil certius sit morte,
nihil vero incertius sit hora. Item ego Hugo praepositus Ec-
clesiae S. Petri Argentinensis corpore per Dei gratiam sanus et
pariter mentis compos, cogitans de extremis, Et ne videar dis-
cedere intestatus de rebus meis mihi a Deo collatis, In quibus
haeredes mei post obitum meum de jure nullam habent capem
portionem, praesertim cum ipsa res neque paterna haereditate
vel materna, sed pro redditus et proventus Ecclesiae meae
S. Petri praedicti ad me sunt delata seu comparaverim mihi
ipsas, propter quod praecipue ipsae res ad pios converli ex de-
bito debere usus, meum Testamentum seu ultimam voluntatem
ordine facio, statuo et exprimo pro praesentem slatuum, ordi-
navi, feci. In hunc motum meae animae ad salutem, progeni-
torum omnium et parentum : Primo, etc.i*
Die folgenden Testamente enthalten:
2. Donatio inter vivos omnium in praescripto Instrumento
Contentorum nee non reddituum G. Librarum (Geld) facta
Ecclesiae nostrae per Dm. Hugonem praepositum (8 Idus
Novbris 1349) «ob Dei honorem, meoque et progenitorum meo-
rum animarum remedium et salutem. j»
3. Interpretatio et Modificatio per Dominum Hugonem
Praepositum locum quae prius disposuit et legavit (1. Idus No-
vembris 1319).
4. Oixlinatio per Dominum Hugonem, Praepositum de cera
ministranda ad festa et Anniversaria per eum instituta (40 Gal.
Martii 1321).
Hugo Zorn hatte Güter in Kestenholz und Scherweiler
(bona vinifera), in Doroltzheim (Dorlisheim), Svindratzheym,
Geyspolsheim, Stytzheim (vi IIa m meam), in Hettesheim (cum
vinario meo ibidem), Dingksheim (tres agri et unum pratum).
Er knüpfte das Erbteil an die Bedingung, dass kein Ganonicus
oder Vicarius Anspruch haben könne auf Zinsen dieses Yer-
— 21 —
mächlaisses, wenn er in der ersten Stunde den ersten Psalm
nicht gesungen hätte. ^
§ 5« Wacbstnm des Ansehens des Stifts nach anssen.
Von seiner Stiftung an war auch das wellliche Ansehen
des Jung-St. Peter-Kapitels immer mehr gewachsen. Bald nahm
es unter den Stiften Strassburgs und des Elsass eine der
ersten Stellen ein. Mit dem Thomasstift wurde es in die erste
Reihe nach dem Munsterstift gestellt.
In den ersten Jahren des 12. Jahrhunderts figurieren die
Stiflsherren von Jung-St. Peter mit denen von St. Thomas als
Zeugen in den meisten bischöflichen Akten. Im Jahre 1105
wohnt der Propst von Jung-St. Peter Hetzel mit Conon, Propst
von St. Thoma, dem Akt bei, durch welchen Friedrich IL,
Graf im Elsass und in Schwaben, die Fundation des Monaste-
riuins von Sanct-Fides zu Schlettstadt bestätigte.* Im Jahre 1133
ist der Propst von Jung-St. Peter Eberhart mit dem St. Tho-
maspropst Bertold Zeugen der Bestätigung der Abtei von Baum-
garten durch den Bischof Gebhart. *
Manchmal wurden Stiflsherren vom Papst und seinen Ge-
sandten zu Aufträgen gebraucht, leisteten den Bischöfen Dienste
oder wurden als Schiedsrichter in streitigen Fällen herzugezogen.
Ein Beispiel. In Hugesrute (bei Dettweiler) wurde der Wald
oft von den Bewohnern der Nachbarorte verwüstet ; die Herren
von Lichtenberg selbst, welche die Gegend beherrschten, nahmen
teil an diesen Räubereien und verursachten dem Strassburger
Thomasstift, das diese Güter verpachtet hatte, grossen Schaden.
Das Stift liess seine Klage bis nach Rom zu dem Papst Inno-
cenz VI. gelangen, der den Jung-St. Peterkantor Nikolaus mit
der Prozessführung betraute. Am 10. Februar 1356 sprach
dieser den Bann gegen den Grafen Ludwig und die Bauern,
die ihm gehorcht hatten, aus. Er befahl den Priestern und
Kapellanen von Lichtenau, von Scherzheim, von Bischofsheim,
von Hugesgenite, von Linggries, von Leulesheim und von Werde
die Schuldigen aufzufordern, auf dem Munsterplatz in Strass-
burg sich einzustellen, um dem Thomasstift Genugthuung zu
geben oder die Folgen des gegen sie geschleuderten Bannes zu
tragen. Da niemand sich einstellte, proklamierte Nikolaus vor
der Eingangsthüre des Münsters am 3. Februar des folgenden
1 Nallns Canonicornm vel Vicariorum praedictoram distribatio-
nem aliqnam de hajasmodi redditibns recipiat, si in hora prima
neglezerit primam Psalmam. Test. Hag. Zorn.
2 Grandidier, Bist. d'Alsace II, p. 199.
3 Ibidem, p. 285.
— 22 —
Jahres das Urteil, das den Grafen zu einer Geldbusse von 100
Nfark Silber, als Räuber eines Kirchengutes, . strafte. Jetzt erst
schlug ihnen Ludwig einen Vergleich vor. Am 23. Juni hob
Walther von Mülnheimy Nachfolger von Nikolaus als Kantor
von Jung-St. Peter, auf die Bitte des Kapitels, den Bann,
wieder auf. Das Kapitel machte Ludwig den Vorschlag, ihm
den Wald abzutreten. Die Abtretung erfolgte durch Kontrakt
vom 2. Juni 1360, mit Einwilligung des Bischofs Johann.
St. Thomä erhielt dagegen den Zehnten vom Korn, Wein und
Heu sowie auch die Lehenzinse, welche die Herrschaft Lichtenberg
im Bann von Kuenheim auf dem Kochersberg besessen hatte.i
Sogar zu Bischöfen konnten die Stiftsherren gewählt werden.
Im 12. Jahrhundert war der Strassburger Bischof Burkard
Propst von Haslach und von Jung-St. Peter zugleich, sowie
Canonicus und Archidiaconus des Münsterstiftes. 3
Das Stift von Jung-St. Peter wusste sich Vorrechte zu
sichern, die sein Ansehen erhöhten. Das von Heinrich V. im
Jahre 1122 dem Munstei^stift verliehene Privilegium , dass
seine servientes oder Huber von jeglicher Stadt- und Land-
steuer befreit sein sollten, wurde auf Bitten des Bischofs
Burkarl von Kaiser Friedrich L in Strassburg (Januar 1156)
auch auf das Jung-St. Peter-Stift ausgedehnt.» Anno 1196
erneuerte der Kaiser Heinrich VL bei seinem Aufenthalt in
Ehenheim (Elsass) die Befreiung von Abgaben, die den Hubern
(servientes monasteriorum s. Thomae et s. Petri) von den
früheren Kaiser gewährt worden waren.*
KAPITEL HL
Ernennungsmodus der Canonici. — Würden-
träger und Beamten, Summissarien. Unter-
geordneter Klerus.
§ 1. Ernennangsmodns.
Wie wir schon hörfen, erwähnen die ursprünglichen Regein
des Klosterlebens eine gewisse Zahl von Beamten, beauftragt.
1 C. Schmidt, «Le Chapitre de St.-Thomas», p. 86.
^ Zeistholf, Castos von Jnng-St. Peter, berichtet in einer Charta
vom Jahr 1143 : «Dominus noster Bmchardns episcopas qni
tnnc temporis etiam noster fnit prepositus.» (Qrandidier, 0. i. II,
p. 394.)
3 Schmidt, p. 16.
* F. Lagnille, Bist. d'Als., Strasb. 1727, fol. I, p. 20&. Die Charte
redet von Jung-St. Peter, nicht von Alt-St. Peter, das damals noch
keine Canonici hatte.
- 23 —
den verschiedenai-tigen Erfordernissen des Dienstes im Kloster
und im Chor 6eQÜ<!;e zu leisten. Diese Funktionen wurden im
Lauf der Jahre in Wurden verwandelt, oder, wie man auch
sagte, in Personaten.
Es gab anfangs 14, später 15 praebendae canonicales fun-
datae, sub Lilteris A. B. C. D. E. F. G. H. I. K. L. M. N. 0.«
Unter den 15 Canonici waren die fünf ältesten presbyteri
(Priester), fünf diaconi und fünf suhdiaconi.
In Hinsicht auf die Ernennung und die Wahl der Cano-
nici waren die Bestimmungen der Konkordate Deutschlands
zwischen Papst Nikolaus V. und dem Kaiser Friedrich III. mass*
gebend. Nach denselben sollte die Ernennung und «provisio»
im Februar, April, Juni, August, Oktober und December ge-
schehen. Die Mehrheit der Stimmen des Kapitels gab den Aus-
schlag, oder das Kapitel erwählte nach gemeinsamer Verab-
ßndung. Die Investitur geschah in der Weise, die in den alten
Bestimmungen festgesetzt war.s Getaufte Juden und uneheliche
Kinder waren nicht wahlfähig. Der Kleriker sollte das 10. Lebens-
jahr zurückgelegt haben und sonst tüchtig und vermögend sein.
Wir hörten oben, dass von Anfang an Kinder zum Genuss
der Prabenden gezogen werden durften, die zum Dienst der
Kirche herangebildet werden sollten. Im Prinzip war der Ge-
danke kein übler; die Eltern meinten im Interesse des Seelen-
beils ihrer Kinder zu handeln, indem sie sie frühzeitig dem
geistlichen Stande widmeten. Sie hofften, dass, in der Stille des
Klosters erzogen, von Kindheit an die Strenge der Zucht ge-
wöhnt und umgeben von ernsten und pflichttreuen Männern^
ihre Kinder nützliche Glieder der Geistlichkeit und fromme
Muster für die Gläubigen werden würden. — Diese Kinder
wurden der Leitung des Scholasticus anvertraut, den sie erst
verliessen, als sie ihre Studien an einer Universität vollenden
wollten; gewöhnlich empfmgen sie bei ihrer Ruckkehr die
Weihe.
Was aber in dieser Einrichtung löblich war, verschwand
bald wieder. Die Sitte, Kanonikate Kindern aufzubewahren,
wurde die Ursache eines der grössten Missbräuche in der Kirche
des Mittelalters; man dachte bald nicht mehr daran, Kinder für
den Dienst der Kirche erziehen zu lassen, sondern die Zukunft
des jüngsten Familiengliedes durch eine reiche Präbende zu
sichern. Es stellten sich im Lauf der Geschichte des Stifts
noch andere Missbräuche ein.
1 Ans : « Statuta et Consnetudines Ecclesiae Sti. Petri Jnnioris in
noYam et snccinctiorem formam redncta«. (Bezirksarchiv.)
' Ibidem.
n
— 24 —
Ursprünglich genügte es, um in das Kapitel gewählt zu
werden, Vorliehe für den geistlichen Stand zu haben; man
machte keinen Unterschied zwischen Büi^em und Adehgen. Noch
im 13. Jahrhundert gab es Canonici von bürgerlicher Herkunft.
Bald aber wurde der grösste Teil der Kanonikate durch Söhne
von Rittern und reichen Patriziern besetzt. Das Wachstum des
Vermögens, die kirchliche und politische Bedeutung des Kapitels
zogen die Glieder der Strassburger Aristokratie und des elsassischen
Adels an. Die Namen der Kayenecky der Mnlnheinty der Zorn
Gndet man des öfteren und besonders bei den höchsten Würden-
trägern des Kapitels.^
Das Recht der Investitur eines gewählten Canonicus stand
dem Propst zu und in seiner Abwesenheit von der Diöcese,
dem Dekan und dem Kapitel. Die Gebühreny die dem Propst
für die Investitur zukamen, waren
für das Kanonikat 10 Gulden (floreni)
für das Vikariat ö »
für die Capeilenie 4 »
für feudo 4 ))
für das Haus 20 »
Die Stiftseinkünfte der «Canonici residentes» waren
40 Viertel (feiner) W^eizen,
10 » Weizen
und 10 » Gerste.
Anstatt des Weines bezogen sie aus dem Stiftsspeicher
10 Viertel Weizen, 10 Viertel feinen Weizen und 10 Viertel
Korn.
In Geld bezogen sie 300 Gulden (floreni). Die Vikare,
«Chori Residentes», bezogen 150 florenos als Präsenzrechte;
aus dem Stiftsspeicher aber nichts.^
Weil am Anfang des 15. Jahrhunderts die Einkünfte der
Fabrik so gering waren, dass aus derselben die Kosten der
Unterhaltung der Stiftsgebäulichkeiten nicht bestritten werden
konnten, so wurde in den Jahren i421 und 1452 mit Be-
willigung und Bestätigung der Bischöfe Wilhelm und Ruprecht
ein Statut herausgegeben, welches jeden neuernannten Canonicus
oder auch «den zur Präbende Sculteti» Gewählten verpflichtete,
bevor er in den wirklichen und leiblichen Besitz seines Kanoni-
kats aufgenommen werde, 50 Rheingulden (florenos Rhenenses)
von echtem Grolde und gesetzlichem Gewicht der Kirchenfabrik
zur Restaurierung der Ornamente des Hochaltars (und nur zu
diesem Zwecke) auszuzahlen.
^ C. Schmidt: « Le Chapitre de St.-Thomas. •
2 Statuta a Riccio.
— 25 —
Ueber die Aufnahme der Canonici zu den Kapitel"
$iiiungen war bestimmt: Kein Canonicus wird in dem Jahr
seines strikten Aufenthalts (stricta residentia) und in den zwei
folgenden Jahren zu den Kapitelsitzungen zugelassen, wenn er
auch als Unterdia kon oder presbyter geweiht worden. Kein
Caoonicus, der über seine Erwählung als solcher und seine
Präbende Processe führt, kann zu den Kapitelsitzungen zugelassen
werden, bis er in den friedlichen und ruhigen Besitz des Kanoni-
kats oder der Präbende gekommen ist.i
Da die Canonici ausser der Stiftspfründe noch Privatein-
kommen hatten und ihre besonderen Ehrentitel, so wurden
diese Personate der Gegenstand des Gelüstens von Seiten der
päpstlichen Höflinge. Durch ihre «apostolischen Briefen» ver-
mochten die Päpste diese Würden auszuteilen ; was den De-
kreten der Koncilien und der Konkordate im 15. Jahrhundert
zum Trotz geschah. Die "Würden verloren auf diese Weise ihren
dienstlichen Charakter, da der Dienst von abwesenden Stifls-
herren nicht verrichtet werden konnte.^ — Auch die Kaiser
suchten ihre Macht und Gunst in dieser Hinsicht geltend zu
machen. — Aus diesen päpstlichen und kaiserlichen Vergünsti-
^ngen erwuchsen für das Kapitel eine Menge von Verlegenheiten,
deren Beilegung dasselbe in lange und kostspielige Prozesse
verwickelte. Manchmal hatte das Kapitel eben erst eine vakante
Präbende verliehen, als plötzlich ein unerwarteter Bewerber
sich einstellte, eine apostolische Provision oder eine erste kaiser-
liche Bitte vorzeigend. Daher Streitigkeiten, Intriguen, Anstren-
gungen der Kompetitoren, um sich gegenseitig aus dem Sattel
zu heben, und endlich Prozesse, in denen die Kapitel selten
Sieger wurden. Wegen der durch solche Streitigkeiten ver-
ursachten Kosten wurde von 1367 an jeder neue Canonicus ge-
zwungen, zwei Bürgen zu stellen, welche einen Kautionsver-
Irag unterschriebeu für alle etwaigen Kosten oder Verluste,
welche die Beanstandung der Wahl mit sich bringen konnte.
Einer der merkwürdigsten Prozesse in dieser Hinsicht wurde
im Jahre i449 geführt. Der Bischof Ruprecht ^ verschwenderisch
und habsüchtig, hatte sich selbst eine päpstliche Provision für ein
Kanonikat in Jung-St. Peter verschaflFl. Aber Paul Munthart,
Canonicus von St. Thomä, hatte schon einen älteren Brief für die-
selbe Präbende in Händen. Er protestierte daher; der Bischof
appellierte an den Papst, und das Kapitel von St. Thomä, statt
sich seines Stiflsherrn anzunehmen, unterstützte den Appell seines
Bischofs. Die Rit'er Burkart von Mülnheim und Arhogast
1 Ibidem.
2 C. Schmidt, Ibidem.
— 26 —
von Kagenecky der Ammeister^ Leon/^ard Dt'achenfels und der
AUammeister Jakob Wurmser stellten sich als Bürgen für
St. Thomä. Wie es scheint, unterlag der Bischof, denn später
figuriert Munthart unter den Stiftsherren von Jung-St. Peter.
Darum beschlossen im Jahre 1518 die in Strassbui^ gegen-
wärtigen Canonici, dass niemand mehr eine Wurde bean-
spruchen könne, ohne schon vorher ein Kanonikat erhalten zu
haben, und dass kein Würdenträger das Einkommen seiner
Pfründe beziehen könne, ohne in Strassburg selbst seinen
Wohnsitz zu haben. i
•
8 £. Würden and Aemter.
Die in der ersten Zeit der Stift sfundation vorkömmlichen
Funktionen erlitten in der Folge verschiedenartige Modifika-
tionen ; ausserdem wurden nicht alle während des ganzen
Mittelalters beibehalten ; einzelne wurden als unnütz abgeschafTl,
andere dem untergeordneten Klerus auferlegt. Erwähnen wir
zunächst die Funktionen, die nie abgethan und nur Stiflsherren
verrichten konnten. Wir folgen hier wörtlich den vortrefflichen
Ausführungen von Ch. Schmidt in seinem Buche über die Ge-
schichte des Thomas-Kapitels.«
Der Propst (praepositus, pr^vot). Er war hauptsächlich
mit der Administration des Eigentums betraut und mit der
Ehre, das Kapitel bei feierlichen Gelegenheiten zu repräsen-
tieren. Er wurde durch den Bischof investiert und investierte
dann auch die anderen Stiftsmitglieder und Beamten.
2. Der Dechant (decanus, doyen). Er wachte üljer
die Stiflsdisziplin und verrichtete die Seelsorge an den Stifts-
herren und den Vikarien, deren Beichtvater er war. Ursprüng-
lich war der Propst mit dieser Thätigkeit betraut; allein in Junjr-
St. Peter wde in St. Thomä und anderen Stiften hatte man
die Regel durch listige Exegese umgangen ; man ))ehauptete,
dass der Dechant, «quia prae aliis positus est», auch in ge-
wissem Sinne als praepositus gelten könne.
3. Der Kastei* (thesaurarius sive custos). Er hatte den
Schatz der Kirche, d. h. die Reliquien, die Ornamente und die
heiligen Gefasse zu verwahren. Der Unterhalt der Ornamente
und überhaupt die Sorge um die beim Kultus gebrauchten
Gegenstände lag ihm ob. Er musste den Stiftsherren die Kerzen
liefern für die Prozessionen und für die Messen an bestimmten
Festtagen, die über dem Hochaltar brennende Lampe unter-
i Ch. Schmidt, ibidem.
2 Ch. Schmidt, p. 54 f.
— 27 —
halten, die chappas und die albas besorgen, die Altartücher
reinigen und die liturgischen Bucher des Chors einbinden
lassen. Die Kosten dieses Unterhalts wurden teils durch das
Stiftsvermögen, teils durch die Fabrik getragen. Sein wichtigstes
Amt aber war, die Pfarrei zu regieren, die Seelsorge der Pfarr-
kinder zu betreiben, wozu er ihre Opfergaben für sich in Em-
pfang nahm.
Unter ihm stand der den letzten Rang im Kanonikat inne-
bal)ende Plebanus oder Pfarrer. >
Da die Stiftskirche eine «Pfarre» war, so wurde der Ple-
banus^ durch den Dekan und das Kapitel erwählt und inve-
stiert. Er schwur, dass er Sorge dafür tragen werde, dass die
Glieder der Parochie in allen notwendigen seelsorgerlichen An-
gelegenheiten durch die gesunde Arznei des göttlichen Wortes
und der Sakramente gepflegt werden; dass er besonders an
den Sonn- und Festtagen der «sei. Jungfrau» und der Apostel
und an anderen Feierlichkeiten eine Predigt halten die Ge-
heimnisse der Messe ehrfurchtsvoll behandeln und nichts
unterlassen werde, was einem wachsamen Pfarrer zu thun ge-
bühre. — Im übrigen sollte er, wenn die Bedienung seiner
Pfarrei es ihm erlaubte, auch die Pflichten seines Kanonikats
erfüllen und, angethan mit dem Stiflsgewande, im Chor samt
den Stiftsherren das Lob der göttlichen Majestät verkünden.^
4. Der Schulherr (Scolasticus oder Schulmeister, ecolätre).
Er stand dem Unterricht der minorennen Canonici, der Chor-
knaben und der Kinder, welche die Gemeinde in die Kirchen-
schule sandte, vor.
5. Der Kantor (V^orsänger) leitete den Gesang während des
Gottesdienstes und den Gesangunterricht der jungen Stiftsherren
sowie der Chorknaben.^
Lange Zeit waren obige Funktionen nur ziemlich allgemein
bestimmt und konnten in einer Zeit, wo die Sitten streng und
die Administration des Stifts weniger verwickelt war, zu
keinerlei Streitigkeiten unter den damit Betrauten Anlass
geben. Im grossen und ganzen durch die Regel des Jahres 816
festgesetzt und in etlichen Einzelheiten durch das Herkommen ,
hatte man nicht Sorge getragen, sie durch schriftliche Regeln
1 Sein Kanonikat wurde im Jahre 1551 anter dem Bischof
Erasmns mit seinem Plebanat vereinigt.
s Plebanus von Plebs, das Volk.
3 Siebe : • Von dem FkbaniM und seiner Pßicht und Competentia* in :
De CoUegio Junioris Sti Petri. (Bezirksarchiv.)
^ Siehe auch : Reglement du chapitre sur radmission des
chantres et enfants de chcBur, h, la distribution du pain (1B03). —
Bezirksarchiv G. 4707.
— 28 —
zu fixieren. Die Veränderung, die das Kapitel erlitt durch den
Zuwachs seines Vermögens, durch den bei Wahlen den Ade-
ligen und Patriziern gegebenen Vorzug, durch die Ernennung
von fremden Mitgliedern, durch die Häufung von Pfründen,
übte auch auf die verschiedenen VS^ürden einen verändernden
Einfluss und wurde die Ursache mancher Streitigkeiten ; denn
die einen verweigerten ihren Dienst, andere überschritten den-
selben. Im 14. Jahrhundert stritt man über die Funktionen
des Propstes, des Dechant, des Kantors und des Scholasticus.»
Ausser diesen Würdenträgern gab es ursprünglich noch
etliche andere Stiftsherren, die bei dem Aufhören des Zu-
sammenlebens und der Wandlung der Stiftsgüter in Präbenden
als unnütz aufgehoben worden, während ihre Einkünfte dem
Kapitelvermögen einverleibt wurden.
Es sind die folgenden:
1. Der Cellarius, der die allgemeine Verwaltung der
Keller, der Küche, der Nahrung der Brüder hatte. — Sein
Amt wurde im Jahre 1688 zum Besten der Kirche und der
Stiftsherren ganz abgethan, nachdem die in Mutzig (Mutzigensi)
gelegenen Weinberge des Kapitels mit Approbation des Ordi-
narius im Jahre 1688 verkauft worden. Die Einkünfte der Cel-
laria wurden mit ihren Lasten dem Kapitel und der Fabrik
einverleibt.*
2. Der Dapifer (Tafelmeister), der das Refectorium und
die Mahlzeit beaufsichtigte.
3. Der Pincerna (Mundschenk, bouteiller), der die Reben-
kultur und die Weinverteilung besorgte.
Diese beiden Funktionen waren manchmal in demselben
Canonicus vereinigt ; aber schon am Anfang des 13. Jahrhun-
derts w^urden sie untergeordneten Klerikern vertraut, die der
Gellarius ernannte.
Zwei Aemter, die vom 16. Jahrhundert an von den Stifls-
herren auf Vikare übertragen w^urden, waren die des Portners
und des Kämmerers,
Der Portener (Portarius, Portenarius) war ursprünglich der
Verteiler der Almosen an der Klosterpforte. Da bei dieser Thüre
das Hospitium sich befand, wurde dieser Name porta dem
Hospitium selber beigelegt und der mit dem Empfang der
Fremden und der Armen betraute Bruder mit dem Titel por-
tarius j]feschmückt.3 Zu den Almosen kamen auch die Zinne
1 Schmidt, ibidem
'^ Statuta a Riccio.
9 Siehe über den Portarius die Fascikel im Bezirksarchir
H**— 15' S — Liber portae secundns sancti Petri janioris argen-
-^ 29 —
der Armenlegate. Da die Herberge in den meisten Kapiteln,
von der Zeit des gemeinsamen Lebens an, geschlossen wurde,
so ]ag es dem Portarius ob« das Almosen und die Legate zu
verwalten, einzunehmen und auszugeben, den Stiftsherren und
den Armen ihren Anteil zu verabreichen, wovon er dem De-
chant Rechnung stellte. Während in anderen Stiften die Würde
des Portarius an Wert verlor, so verblieb sie, wie im Münster,
so auch in Jung-St. Peter eine der Hauptwürden des Stifts.
Im 13. Jahrhundert wurde die Partaria zu Gunsten der
Schaffenei abgethan und wurden ihre Einkünfte samt ihren
Lasten dem Kapitel einverleibt, i
Nennen wir noch den Camerarius und den Darmentarius,
Der Catnerarius hatte bis zum 13. Jahrhundert ein Kano-
nikat inne. Später wurde die Cameraria einem einfachen Vikar
anvertraut. Der Camerarius läutete die Glocke zur Mette, zu
den Metten und Vespern. In den Hören und bei der grossen
Hesse sang er verschiedene Antiphonen. Bei den Metten der
grossen Feste stand er, angezogen mit der cappa und ein Rauch-
fass in der Hand, in der Mitte des Chors. Er war auch über
die priesterlichen Gewänder gestellt und musste die Orna-
mente und die Bücher in die ^ccamera» oder in die Kammer
tragen lassen, wo sie unter seiner Verantwortlichkeit aufge-
hoben waren.' Im 13. Jahrhundert wurde sein Amt zum
Unterhalt der Schaffenei abgethan und dessen Einkünfte mit
den Lasten dem Kapitel inkorporiert. Ein einfacher Vicarius
wurde mit dem Dienst betraut.^
Dem Dormentarius (dormenter) lag ursprünglich die Pflicht
ob den gemeinsamen Schlafsaal zu besorgen, und die Bruder zu
den Hören in der Nacht aufzuwecken. Als das gemeinsame
Leben aufhörte, erlitt das Amt eine Verwandlung. Man ver-
änderte dormentarius in dormitarius und übergab ihm das
tinensis; — copie de titres de propri6t6 divers, constitutions de
rentes, renoavellements, transactiöns. (Volume in-folio.) — G. 4902.
1. Arbitrage entre Nicolas de Bunan, chanoine de St.-Pierre-le-
Jenne, et J. Sigebert, porüer da chapitre, an sujet d'une rente af-
fect^e ä Toffice du portier sur des biens k Kintzheim (1303). —
G. 4790.
2. Ooltz Hüttendorff vend ä Conrad Schultheiss, portier de
St.-P.-l.-J., nne ferme avec d6pendance (1334). — G. 4803.
3. Bail emphyth^otiqne entre le portier da Chapitre de
St.-P.-1.-J. et Catherine, veave de Nicolas de Bassensheim (1366;.
- G. 4739.
1 Statuta a Riccio.
^ Schmidt.
3 « Statuta > (Riccias).
3
— 3() —
Amt der Beerdigung derer, die im Sterben entschlafen wai'en.
Dormitorium hiess der Gottesacker.
Starb ein Pfarrkind, so war (nach der Verordnung von
1403) der dormitarius beauftragt, die Canonici von der Leichen-
feier zu benachrichtigen. Mit dem camerarius bereitete er
den Leichnam zum Begräbnis, verteilte die Kerzen für die
Leichenfeier, sammelte nach dem Gottesdienst in dem Deckel
des Kelches Gaben ein und übergab sie dem Schaffner. Bei den
Vigilien der Verstorbenen sang er die Strophe requiem aeter-
nam und wohnte täglich dem Hochamt bei. Sein Sitz im Chor
war zur Seite der Stöhle des Dekans, gegenüber dem Schul-
rektor ; an den Sonn- und Festtagen sang er oder der Rektor
den 5. Vers der Metten. — Er wurde der Pedelly Bote und allge-
meiner Diener aller Canonici. Er berief, auf Befehl des I>ekans,
zu den Kapitelsitzungen, stand an der Thure des Saales wäh-
rend der Verhandlungen und nahm Notiz über die Mitglieder,
die zu spät oder gar nicht kamen.
Im Jahre i47i Hess sich das Kapitel St. Thomä durch den
Bischof Ruprecht bevollmächtigen, die Dormentaria abzuschailen
und deren Einkünfte in tägliche Verteilungen an die Canonici
und Vikare, die den Gottesdiensten beiwohnten, umzuwandeln;
doch scheint er nicht darauf eingegangen zu sein, sondern er-
neuerte im Jahre 1518 einfach das Statut von i403 über die
Eigenschaften und Einkünfte des Dormentarius.' Im Stift Jung-
St. Peter begegnen wir dem Dormentarius noch im 17. Jahr-
hundert.«
Da die Würdenträger des Stifts nur unter den Stifts-
priestern gewählt werden sollten, und diese nicht imstande
waren, den ganzen Chordienst zu übernehmen, so richtete man,
um sie zu entlasten, Vikariate ein,* die mit gewissen Pfründen
versehen waren. Die Vikarien sollten den Dienst versehen und
die Stiftsherren demselben in ihren Chorstühlen beiwohnen.
Es gab Ohervikare und Untervikare. Die ersteren erhielten
den Namen Summissarien (summissarii, fronmesser), weil sie
die summa missa (Hauptmesse), die am Hauptahar gelesen
wurde, zu hallen hatten, zu welchem Altar die Canonici-Priester
allein den Zugang hatten.
1 Schmidt, p. 147, 148.
« Montag den 21. Aprilis 1614, nachdem ich in der Wantzenav ge-
wessen vndt meinen gai'ten hab lassen anssbntzen vndt dess Abendts
heimkhommen, vndt albereit vber Disch gesessen, kompt über den
nacht Innbiss noster Dormitarius u, zeigt an (Extractos
Prothocolli de anno 1614).
3 1494 : — Reglement sur le serment des fonctionnaires-vicaires.
Bez.-Arch. G. 5081. Nr. 12.
- 31 —
Es gab in Jung-St. Peter 14 Vikanate, unter welchen die
Summissaria Episcopi und die Summissaria des Propstes den
ersten Rang einnehmen ; die anderen folgten je nach dem Alter
ihres Amtsantritts. ^
Die Canonici, die noch nicht in sacris waren, folgten in
der Rangordnung den Summissarien des Chors und hatten ihre
Sitze in den unteren Stühlen vor den übrigen Vikaren. <
Eine Summissaria oder Präbenda Sculteli genannt, wurde
auf Befehl des' Bi^hofs Ruprecht und Bestätigung des Papstes
Nikolai V. im Jahre 1450 unter dem Buchstaben P. gestiftet.*
Da die Obervikare den Untervikaren das Beispiel der
Pünktlichkeit und des Eifers in Kultussachen geben sollten,
betitelte man sie einfach : Summissarii assidui (welcher Titel
später in das ironische assisii verwandelt wurde). Sie genossen
Präbenden, welche den gleichen Wert hatten vsie die der
Canonici^ deren Funktionen sie ja auch verrichteten. Im feier-
lichen Zuge schritten sie unmittelbar hinter ihnen ; doch waren
sie von den Kapitelsitzungen ausgeschlossen und unterschieden
sich auch durch ihre Kleidung von ihren Patronen. Sie wurden
von dem Propst und dem Dechant vereidet und schwuren die
Statuten zu befolgen, in Strassburg zu wohnen und sich nicht
ohne Erlaubnis zu entfernen.
Von dem 14. Jahrhundert an werden auch semi-summis"
sarien angestellt, welche nur die Hälfte des Einkommens haben
und Vikare der StiHsvikare waren.
Eine Menge Kaplane schloss die Reihe der untergeoixlneten
Stiflsbeamtenwelt. Sie wurden durch den Propst investiert, ver-
sprachen Gehorsam dem Dechant, und schworen, ausser dem
Altaixiienst, den sie selbst verrichteten, den Chorgottesdiensten
beizuwohnen. Sie händigten auch dem Custos die Gaben der
Gläubigen ein. 18 Kappellanien (Capellania) zählte die Kirche,
verschiedene Titel tragend und « unter der Anrufung der Heiligen
stehend», welche ihre Patrone waren.* Zwei dieser Kaplane
oder Vikare wurden animissarii (Seelmesser) genannt, da sie
speziell für die Totenmessen Ixjstimmt waren. »
^ Statuta a Biccio.
' Ibidem.
' Statuta a Biccio.
* De CoUegio St. Petri junioris. Statuta (B.-A.).
» Bezirks- Archiv. Serment pr§t6 par Valentin Hypper, 61u vicaire
de St.-P.-1.-J. (1518). — G. 4718. Albert, 6v6que de Strasbourg, con-
finne la fondation de la vicairie de la Trinit6, faite par Simon de
Kirchberg, chanoine de St.-P.-l.-J. (1591) — G. 4716.
— 32 —
KAPITEL IV.
Stiftskultus und Stiftsgev^änder. — Gedächtnis-
tage. — Begräbnisfeierlichkeiten.
§1.
In den Stiftskirchen wurde der Kultus viel feierlicher ge-
halten als in den Leutkirchen, der Gesang besser gepflegt und
reichlicher gestaltet, die Messe pomphafter, die Ceremonien
herrlicher gehalten. Doch muss man zwischen dem Kultus im
Chor und dem für die Pfarrei unterscheiden. Dererstere, dem
die Laien im Schiff beiwohnen konnten, war nicht für sie bestimmt,
er wurde nur für die Stiflsherren gehalten. Der zweite war ge-
leitet durch den Pfarrer und seinen Kapellanen, welcher erstere
Stellvertreter des Kapitels war; nur durch 'ihn handelte dasselbe
mit den Pfarrkindern, dem es fast als solches fremd blieb.
Die hauptsächlichsten Kultuspflichten erfüllten die Stifls-
herren im C/ior, darin jeder seinen Chorstuhl hatte. Der Propst
sass zu allererst rechts neben dem Hauptaltar, der Dechant zu
allererst links ; die anderen Mitglieder folgten auf beiden Seiten
im Altersrang, doch so, dass die Canonici-Priester den Ganonici-
Diakonen vorangingen. — Die Beaufsichtigung und die Disziplin
im Chor war dem Dechant anvertraut; er wachte über die
Kleidung eines jeden, über das Verbleiben in dem Chorstuhi bis
zu Ende des Gottesdienstes ; er litt nicht, dass geredet wurde,
und verwehrte den Ausgang ohne Erlaubnis. ^
Im Chor sang man u. a. unter der Leitung des Kantors
die kanonischen Haren und die verscRiedenen Antipho7ien der
Fest- und Sonntagsliturgie. Dieser Kultusteil wurde nach dem
Münsterritus gebildet. ^
Eine eigene Messenthätigkeit waren die «Anniversarien»
oder Gedächtnistage. Es waren Stiftungen von Verstorbenen,
die den Qualen des Fegfeuers entrinnen wollten.'
Die Namen aller derer, die das Recht zu einer jährlichen
Messe hatten, wurden durch den Custos in das Lebensbuch
(über vitae) eingetragen, einer Art von Kalender, in welchem
bei jedem Datum die zu feiernden Gottesdienste aufgezeichnet
waren mit den Geldern, die den beiwohnenden Stiftsherren
ausgeteilt werden sollten. Reiche Stiftsherren stifteten für sich
1 Ch. Schmidt, S. 120 if., dem ich uach hier mich aufs engste
anschliesBe.
< Hugo Zorn stiftete Anniversarien für sich, seinen Vater, seine
Matter, seinen Bruder, den Dekan des Thomasstifts, « in animomm
re medium earundem, cum visitatio sepulchri in Vigilia et in Missa
cum plenis vigiliis •. (Testament.)
J
— 33 —
Gedächtnistage in verschiedenen Kirchen; so hinterhess im
Jahre 1517 der Scholasticus Johann Sigrist Vermächtnisse in
St. Thomä und Jung-St. Peter.
Die Feierlichkeit an einem solchen Gedächtnistag bestand,
nach dem Gesang der Totenvigilien am Vorabend des
Tages, in einer Totenmesse des Morgens, nach welcher das
Kapitel in feierlicher Procession an das Grab zog. Der Propst
ging voran; ihm folgte der Dechant mit dem ältesten Stifts-
mitglied, dann gingen zu zweien die anderen Stiftsherren der
Ähersreihe nach; nach ihnen die Kapellanen und die Vikaren
mit den Chorknaben; endlich die Pfarrkinder. Die Stiftsherren
und Priester trugen Kerzen, die der Würde nach grösser oder
kleiner waren. An das Grab gekommen, wurde Weihwasser
gesprengt und Weihrauch gebrannt, der Psalm Miserere und
eine bezügliche Litanei gesungen. i
Nicht selten stifteten die Schenkgeber Lampen oder Kerzen
über ihren Gräbern, teils um «ewig» darüber zu brennen, teils
um in verschiedenen Zeiten angezündet zu werden. Das
Testament Paul Muntharis, Propst von Jung-St. Peter,
der auch Canonicus von St. Thomä war und im 15. Jahr-
hundert lebte, ordnete einen Luxus auf seinen Gedächtnistag an,
wie ihn die früheren Jahrhunderte nicht kennen. Er befahl
nämlich (1480), dass am Morgen und am Abend 30 Beghmen
(Bettelnonnen) sein Grab mit Kerzen besuchen sollten. Da-
gegen solle das Kapitel ihnen eine Mahlzeit überreichen.
Die Personen, die eine Aliarpräbende stifteten, wählten
gewöhnlich ihren Begräbnisort in der Nachbarschaft dieses
Altars. Die, welche ein L^^t dem Kapitel machten, ohne
anderen Zweck als den der Feier ihres Gedächtnistages, beliebten
den Ort zu bezeichnen, wo sie begraben zu werden wünschten.
Die armen Pfarrkinder wurden im ^Leichhof» beerdigt ;
die reicheren in dem Kreuzgang oder in der Kirche selbst, wo
sich auch die Gräber der Stiftsherren befanden.
Die Begräbnisfeierlichkeiten der letzteren wurden unter der
Leitung des Custos vorgenommen und bestanden in einer Pro-
cession (iter) mit Kerzen und Gesängen^ durch die Kirche bis
an das Grab.
Manche Canonici ordneten selbst den Verlauf ihres Begräb-
nisses.
Am 15. Mai 1480 machte der obgenannte Paul Munthart
in Gegenwart von Geiler von Kaisershergy des gelehrten und
frommen Licentiaten Engelin von Braunschweig und etlicher
1 Eine singende Seelenmesse; tüber das Grab gehn mit rauch
geben».
— 34 —
Stiflsherren und Doktoren sein Testament, worin er verord-
nete, dass sein Leib neben dem Altar von St. Peter in der
Jung-St. Peterkirche beerdigt würde, angezogen mit der tunica,
dem Ueberrock und dem Kugelhut, dass der Sarg von 30 ßegfainen
begleitet und zwei grosse brennende Kerzen vor- und nach-
getragen würden. 1
Sein Grabstein wurde im Sommer 1888 im Schiff unter
der Orgel vorgefunden und in die Zornkapeile transportiert.
Munthart machte zwei Testamente ; eines am 6. Mai 1480,
in welchem er seine Bibliothek dem Thomasstifl vermachte;
das zweite am 15., worin er sein BegraJmis anordnete und
den Rest seiner Habe verteilte : den Kindern seines Bruders
Jakob vermachte er 60 Gulden, seinem Bruder Nikolaus
60 Gulden ; seinem Bruder Conrad nichts, weil er seine Frau
verlassen ; den Nonnen von St. Magdalena 200 Viertel zu einem
Gedächtnistag; dem Bischof sein «cbicerium argenteum deaura-
tum cum suo coopeilio» ; den Kapiteln von St. Thomä und
Jung-St. Peter den Rest seiner Güter zu gleichen Teilen ; das
Kapitel von Jung-St. Peter soll anfertigen lassen ein «über
lectionarius epistolarum missarum et ometur seu circumferatur
argento de aurato, ut ibi est liber evangeliorum argento deau-
rato ornatus cum imaginibus beatissimorum apostolorum Petri
et Pauli»; es soll Muntharts Siegel drauf drücken, cut sciatur
quod de bonis relictis per me factus sit, in finem ut aüi do-
mini canonici post me ad similia inducanturi» .<
§ 2. Stiftagewänder.
Für die kirchlichen Feierlichkeiten und den Chordienst
trugen die Strassburger Stiflsherren priesterliche Gewänder,
deren Form durch den allgemeinen Gebrauch geregelt war.
Das für den Horengesang und überhaupt für das Amt in
der Kirche unentbehrliche Gewand war der ^üeherrockn (su-
perpellicium, surplis), in weisser Leinewand ; den Ueberrock
tragen hiess im Amt sein (superpelliciatus sive in religione).
Wenn die Glocke zur Mette wie zu den andern Gottesdiensten
geläutet hatte, sollten die Canonici mit diesem Gewand im Chor
sich zeigen. Da sie nicht selten diesem Befehl nicht nachkamen,
verbot ihnen die Synode von Strassburg im Jahre 1335 und
das Konzil von Basel im Jahre 1431, den Chor ohne dies Ge-
wand zu betreten.3
i C. Schmidt, «Le Chapitre de St. Thomas.»
2 C. Schmidt, «Le Chapitre de St. Thomas-, p. 144.
» Synode von 1335, art. 18. Martene, Thesanr. nov. anecdot., IV.
äl e. Dücange, Glossar. VI, p. 446. (Schmidt, ibidem«)
— :)5 —
Zum Messelesen wurde die alba^ die seidene, mit Silber ge-
stickte Casiila^ und die cappay eine Art vorn zugehäkeltes
Mänteichen, * getragen. Diese Kleider wurden auch für Proces-
sionen gebraucht. >
Das Haupt war bedeckt mit dem «Kugelhutj» (sive kutzhut,
Almutia sive caliendrum), eigens von dem Konzil zu Basel ver-
ordnety anstatt der Hüte, deren etliche Canonici sich hatten be-
dienen wollen. Im Jahre 1432 wurde verordnet, dass jeder Gano-
nicus und Vikar dieser Kin^Jie, der den Chor oder die Kirche
zur Zeit der Gottesdienste ohne die Almutia betrat, aller Prä-
senzen und täglichen Austeilungen verlustig gehe; in der Nacht
aber oder des Morgens stehe es dem Canonicus frei, ohne sie aus-
zugehen.
In Bezug au( diese Kopfbedeckung entspann sich zwischen
lien Stiften von Strassburg ein sonderbarer Streit. Während
man auf dem Konstanzer Konzil die grössfen Interessen der
Kirche verhandelte, zankten sich die Stiftsherren in unserer
Stadt um den Stoff ihrer Kappen dermassen, dass Kaiser und
Papst sich ins Mittel legen mussten, als handelte es sich um
eine Lebensfrage für die Christenheit. Die Hüte der Münster-
heri'en waren von Hermelin, die der unteren Stifter von Eich-
hornshaut (eichhernelin kutzhuete), die der Münstervikarien von
Schafshaut in Schwarz gefärbt. Von Dezember 14i4 an wur-
den Papst und Magistrat in Bewegung gesetzt und eine Un-
summe Geldes vergeudet im Prozess wider die Münsterherren,
die für ihre Vikarien das Recht, ebenfalls wie die Canonici
eichhömsche Hüte zu tragen, durch päpstliche Erlaubnis er-
langt hatten. Die Stiftsherren von Jung-St. Peter und St. Thomä
durften von da an hermelinsche Hüte tragen. 3
KAPITEL V.
Die Stiftshäuser.
Das Stift kam im Lauf der Jahrhunderte in den Besitz
einer Menge von Häusern, die teils Schenkwigen^ waren,
1 Die Canonici waren verpflichtet, sobald sie ihre Einkünfte be-
zogen, «cappam sericam vel purpnream qna decenter nteretnr in
Testis ipsis Ecclesiae sibi facere ad minas valoristriam marcarnm ar-
gentia et apnd Ecclesiam perpetao debent remanere*, bei Strafe der
Entziehang der Einkünfte. (Statuta p. 30.)
2 Statuta.
3 Schmidt, ibidem.
4 Donation faite an Cbapitre, par Metza et Catherine Zoller, de
deux maisons sises nie dite Criegesgasse (1336). — Bezirksarchiy
G. 4827.
--. 36 —
teils als Kapitalienanlage vom Stift selbst angekauft wurden
und verzinslich (feudales et censuales) waren. ^
Nach Aufhören des gemeinsamen Klosterlebens erhielt jeder
Ganonicus seine eigene Wohnung, die, wie wir oben sahen,
um den von einem Claustrum redenden Statuten gerecht zu
bleiben, curia claustralis oder Klosterhaus genannt wurde. Sie
hiess auch feudum claustrale, KlosteWe^eii, weil sie den Stifts-
herren gleichsam verlehnt oder als Lehen zu lebenslänglichem
Genüsse gegeben wurde.«
Als Süftswohnungen wurden im Lauf der Zeiten 14 Häuser
benutzt, die alle um die Kirche lagen, so dass das Stift fast die
ganze Blauwolkengasse, die Burggasse, das Krappengässlein, die
jetzige Fadengasse, die Grosskirchgasse, die Thomanngasse u. s. w.
als Eigentum besass. Die zwei ersten Häuser waren für die
Präpositur, das dritte für das Plebanat bestimmt. Zwölf andere
Häuser waren für die anderen Stiftsherren bestimmt, davon eines
dem Kanonikat und ein anderes der Präbende Sculteti einver-
leibt war. Der jüngste Ganonicus, der kein Haus hatte, musste
auf eigene Kosten sich eine Wohnung verschaffen.
Die Verleihung (Gollatio) der Kanonikats-Häuser war Ob-
liegenheit des Propstes, mit Ausnahme von dreien, die für den
Dekan und das Kapitel bestimmt waren.
Alle Canonici und Vikare waren verpflichtet, ihre Häuser
in gutem Stande auf eigene Kosten zu erhalten.
Es war ihnen erlaubt, ihre Häuser zu vermieten. Doch
ehe das Stift in die Ringmauer der Stadt begriffen wurde,
<rund auch lang hernach», war es üblich, dass die Canonici
allerlei Leute ohne Unterschied des Berufs in ihre Häuser
setzten, «weil der Kirchplatz so lustig mit Bäumen besetzet
ward», «ahn Würthen lociret», und einige unter ihnen sogar
Wein ausschenkten und öffentlich Wirtschaft trieben. Beides
wurde am Anfang des 13. Jahrhunderts verboten. Der Ganonicus
musste darauf sehen, dass seine Mieter rechtschaffene Leute
1 Concept, Copiae, ga. über die Hänser in dem Brach, «reiche
das Stift zum Jangen St. Peter der Stadt and ihren Bürgern abge-
kauft hat, ga. (Stadtarchiv, Lad. 46.)
Seind Kaaffbrieffe über die neue stab., ibid. Satzbrieffe and son-
ders über Zinnas and Gülten, dem Stifft gehörig. Sonderlich über die
Häasser in dem Brach gelegen. — Transaction entre les h^ritiers
MoUinger et le Chapitre, au sujet cTune rente sur 1* maison entre k
cimetiere et la caur Marbach (170ö). — R^parations faites k la maison
da Chapitre de St-Pierre-le-jeane, ä Geiepatsheim (1678-1691); compta-
bilit6 y relative. — Bez. Arch. G. 4761.
s Siehe: Statatam de Divisione Cariaram Claastraliani; de Anno
1334. (SUdtarchiv. Lad. 47, Nr. 11.)
— 37 —
seien, die der Kirche keine Schande zu machen im stände
wären. 1
Dass nach Einschluss des Stifts in die Ringmauern Strass-
burgs die Stiftshäuser sich auch in die städtische Häuser-
Ordnung fügen mussten, ist selbstverständlich. <
Auch dem Almendgeld waren die Stiftshäuser unterworfen,
wie folgende Stelle aus einem Manuskript berichtet: cc Weilen
auch bey Erweiterung der Stadt, die Kirch und die Häiisser
des Canonicorum des Stiffls Jungen St. Peter in die Ring-
mauern dergestalten eingeschlossen worden, dass selbige hart
an die Mauren und Thören gestossen, war nöthig an diessem
orth die Almend zu conserviren und Versetzung zu thun, wie
die Extract besagen aus den alten Almend Büchern gezogen.
Ueber das auch zu den Thürmen und Zinnen zu setzen und zu
kommen, der Zugang frey und ongehindert seyn müssen.
Welche Thüre etwann denen Canonicis omb ein Jährl. Zinnsz
verliehen worden je . . .»*
Das Inventarium des Jahres 1633 giebt uns ein genaues Ver-
zeichnis der Stiftshäuser in jenem Jahrhundert. Wir teilen
dasselbe hier mit und begleiten es da und dort mit Notizen.
1. Die Propstei (jetzt cKastnerhausj», früher Lehrerinnen-
seminar).
Der Propst sollte sich mit seiner Propstei begnügen und
auf seine eigenen Kosten, wie die anderen Stiftsherren und
Prabendarien, sie unterhalten und restaurieren. Es war ihm
nicht erlaubt, unter ii^end welchem Vorwand ein anderes Stifls-
1 < Statatnm de non ponendis Laicis in curias nostras Ciaastrales
principaliter inhabitanti <», de Anno 1334. — « Canonicns principaliter
Hospitium ipsis Cnriae sine fraude observet. Nee talis etiam Canoni-
cos S. clericns publice tabernam tanqnam hospes pnblicus. . . reat
in eadem. Item Statuimos et ordinamus, ut nnllns Canonicorttm
Cüriam snam claostralem, qnam per se inhabitare non volnerit, locare
poBsit alicTii hospitii publico, hospites indistincte recipienti, sed per-
Bonis honestis per qnas Ecclesia nostra nullam infamiam contrahet
▼el incnrrat > Stadtarchiv Lade 47, Nr. 11.
2 Anno 1354, Idns Octobris : «In Signum commonionis (maras
et transitos zweyer Canonicathäuser wird alhier gemeint) Cunis
imponator, ut in eis conservantor fenestrae dictae blinde fenster et
qoaelibet curia ejusdem muris utator in edificando super et juxta
eos prout potest et debet fieri secundum consuetudinem civitatis.»
— Anno 1431 die Mercnrii XVIII mensis Mai-tii : «Magister Mar-
tinus se et suos successores in dicta curia ne ipsam cnriam dixit
graYari contra consuetudinem civitatis.»
8 Stadtarchiv, Lade 47.
— 38 —
haus zu besitzen, wenn er auch Besitzer des Kanonikats H.
oder der Präbende sculteti wäre ; in diesem Fall war er ge-
nötigt, das Haus, das mit dieser Präbende verbunden war, dem
nächsten Canonicus, der ohne Haus w*ar, zu überlassen. ^
Ein Mietsvertrag des Jahres 1624 lässt uns einen Blick in
die GebäuHchkeiten der Propstei thun :
«Die Probstey Behausung wird dem Domherrn Henott von
Köln (1624) vermiethet zusampt dem obern und untern Garten,
neben dem Hof, Schopp, Stallung, Badstüblein, gross- und
kleinen Keller, die untere grosse Wohnstube^ die grosse Küche
daran, zusammt dem kleinen spindlin über dem kleinen Keller.
Die obere Prohstei oder Chorstube^ zusammt den 2 Kammern
daran.
«Und dann auf dem anderen Stock, die 3 kleineren Neben-
kammern, wie nit weniger die Kammern und Kästen über der
Probstei Schaffnei, Stuben und Kammer, darauf man über den
hölzinen Gang und die kleinere hölzine siegen im obern
Garten, gehet.
«Hingegen aber sind Ihr. Hochw. vorbehalten, die obere
kleinere Stube, zusammt der Kammer daran, und dann die
Kammer daneben durch welche man in das Archiv gehl. Item
gemelte Probstei Schaffnei Stuben und Kammer daran, im
kleinen obern Garten gelegen.
«Item die Capell in gemeltem o})ern Garten. Sodann auf
dem anderen Stock der grossen Behausung, gleich an der
Stegen auf der linken Hand, der Weizenkasten und kleinei*er
Kasten. Ueber der Thorstube, und sonsten alle die Kasten, so
von der 3 Stegen hinauf bis unter das Dach : wie nicht
weniger auch alle Gemach und Kasten, so sich über dem stall,
von der untern Stegen hinauf im ganzen Stock sich beßnden.
Die hintere kleinere Thür in den Theilhof soll Entlehner nit
gebrauchen. »2
2. Die Dechanei (dem Decan gehörig). Das jetzige Haus
Schützenberger am Ende des Jung-St. Petergässleins.
Im Jahre 1356 wurden Befestigungswerke im Propsteihof
aufgeworfen.3
Die jetzige Fac^ade datiert vom Jahre 1783, sowie eine den
Bedürfnissen der Zeit angemessene totale Veränderung der Ge-
bäuHchkeiten (unter de Rochebrune, dem letzten Propst von
Jung-St. Peter).
1 De Collegio Janioris Sti. Petri. Statuta. Stadtarchiv, Lade 46.
2 Das neue Rebenfeld im obern Qarfen (Ibidem), Stadtarchiv
Lade 47, Nr. 1.
3 Strobel II, S. 375.
— 39 —
In der Revolution (1793) wurde das Haus als National^
eigentum an einen Herrn Nagel verkauft, dem Schwiegervater
eines Herrn Lotzbeck von Lahr, der mit zwei Brüdern in der
Revolutionszeit sich in Strassburg angesiedelt hatte.
Der berüchtigte Eulogius Schneider machte das Haus zu
seiner Wohnung. Er hatte sich am 13. Dezember 1793 in
Barr mit einer schönen und reichen Person verheiratet, welche
die Schwester war des Bürgers Stamm, Flügeladjutant des
Generals Custine. Sie hatte nicht gewagt, dem Tyrannen auf
seine Anfrage eine verneinende Antwort zu geben. Am andern
Morgen war er mit ihr in einem offenen, von sechs Pferden ge-
zogenen Wagen, in Begleitung der Mitglieder des Revolutions-
gerichts und der berittenen Nationalgarde, nach Strassburg
gefahren, einen feierlichen Einzug daselbst haltend. Diesen
aristokratischen Akt benutzten seine Gegner, um sich seiner
zu entledigen. Am Abend des 14. Dezember (24. Frimaire
an H) ertönte der Saal der früheren Propstei, der so oft zu
den bacchanalischen Festen der Jacobiner hatte dienen müssen,
zum letzten Mal von Gläserklang bei dem Hochzeitsfest
Schneiders. In der Nacht wurde das Haus von Gendarmen
umzingelt, und Schneider, der Regierungskommissar, durch
den General Diäge arretiert und in das jetzige Bezirksgefangnis
abgeführt.
Noch eine Zeitlang blieb die Schwester Schneiders, Marianne,
in der Propstei. (Die zweitägige Gattin Schneiders aber heira-
tete einen Immigranten Friedrich Gotla.) Das Haus blieb
Eigentum des Herrn Lotzbeck.*
3. Das Haus zum Thürlin (gehört dem Herrn Scholasticus).
4. Das Haus, der PeghofT genannt.
5. Das Haus am kleinen Kirchgässlein.
6. Das Kanonikathaus am Krengel.
7. Der Kanonikathof gegen dem Landt PergerholT.
8. Der Kanonikathof, der Schultheissenhof genannt.
9. Der Kanonikathof stosst gegen Herrn Zorn'schen Hof
am KirchhoiTgässlin, jetziges Jung-St. Petergasslein.
10. Der Preithof.
11. Der KanonikathoiT daneben.
12. Der Kanonikathof auf dem Kirchhof.
13. Die Behausung so dem Kanonikat A gehörig.
14. Ein Vikariathaus im kleinen Kirchgässelin.
15. Ein Vikariathaus im Pfundtzollergässlin (Fadengasse).
16. Ein Vikariathaus in gemeltem Ort.
1 Aus «Piton, Strasbourg illu8tT6>, S. 273—276.
— 40 —
17. Ein Vikariathaus in erwähntem f^ässlin.
18. Ein Vikariathaus auf der Burggasse.
19. Ein Vikariathaus mitten in der Burggasse.
20. Ein Vikariathaus.
21—22. 2 Präbenden-Häuser.
23. Ein Vikariathaus neben der Propstei.
24. Ein Vikariathaus auf dem Kirchhoff, gehört zum StifR.
25. Ein Vikariathaus.
26. Eine Behausung, der Pfarrhoff, bewohnt im Jahre 1633
von Schallesius, der Pfarrherr (Blauwolkengasse 3).
27. Eine Behausung auf dem Kirchhof (bewohnt im Jahre
1633 von dem Helfer zum Jungen St. Peter). (Jetzt
Jung-St. Peterplatz 5.)
28. Eine Behausung in der Kirchgasse (bewohnt im Jahre
1633 von dem anderen Helfer). (Jetzt erstes Pfarrhaus.)
29. Eine Behausung, die Pfisterey.
30. Eine Behausung im Pfundtzollergasslin (bewohnte im
Jahre 1633 der Schulmeister).
1712, — üMaison de VEcole luthärienne.:»
<rConsentons que Mons. sieur le Gomte du Bourg fasse
r^tr^ir la maison de l'Ecole .situ^e dans la rue dite
pfundzollergass.
— «Maison d'Ecole et son jardin situös dans la
pfundzollergass et attenant au jardin de Mr. le Gomte
du Bourg, commandant de la province.» (B.-Ä..,G. 5151.)
31. Eine Behausung auf der Burggasse (bewohnt im Jal^
1633 von f Mag. Lipp's Tochter).
32. Eine Behausung in der kleinen Kirchgasse.
33. Eine Behausung in gemeldter Gasse (bewohnt im Jahre
1633 von dem Sigrist).
34. Eine Behausung bei dem Pfenningthurm.
35 — 37. 3 kleine Häusslin daselbst.
38. Eine Behausung: die Schaffenei (1427—1712). Das
jetzige Gerichtshaus in der Blauwolkengasse.
Kaiser Friedrich III. herbergle in dem Stifls-
haus des Kustos von Jung-St. Peter (Jetziges Ge-
richtshaus). Er investierte daselbst den Herrn Jakob
von Lichtenberg mit dem Grafentitel. (Piton, Stras-
bourg illustre, S. 283.)
— «cAuch die Schaffeney ausser dem Hoff ange-
ordnet. V^elches Haus die Stadt in anno 1335 an das
Stifft verkauflfl.» (Ms. Stadtarch., Lade 47.)
— Arbitrage entre le Chapitre et la famille de Lands-
perg au sujet de la maison du receveur du Chapitre
[1542]. (B.-A., G. 4727.)
— 41 —
— Siehe noch weiter im Bezirksarchiv:
Vente de rente laud^miale assise sur nne maison
dans \e Stuhenwegtgtesseliny parGerirude, veuveZorn,
en faveur du Chapitre [1394]. (G. 4831.)
— Vente de maisons dans la rue de la Corneille
(1557).
— Sentence d'immission concernant la maison sise
contre lepont du faubourg de Pierre [1501]. (G. 4837.)
— Liiige entre le cur6 de St-Pierre-le-Jeune et le
Chapitre, au sujet d'une maison canonicale ä Vur-
sage du curä (1707); memoire; sentence. (G. 4729.)
KAPITEL VI.
Die Stiftsschule.
Das Stift von Jung-St. Peter hatte seine Schule. Ein Ca-
nonicus war beauftragt, sie zu leiten. Er trug den Namen
€Scolasticus9y und es war die ^Scolastriai^ eine der Hauptwürden
des Stifts.
Vom 13. Jahrhundert an war es nicht mehr der Scolasti"
cus^ der den Unterricht erteilte. Wie der Kustos die Seelsorge
einem Pfarrer^ der unter seiner Aufsicht stand, anvertraute,
so entledigte sich der Scolasticus seines Schuldienstes zu Gunsten
eines Meisters oder Rektors, den er nach Belieben ernannte,
sich selbst nur die obere Leitung des Unterrichts reservierend.
Der Rektor durfte Priester oder Diakon sein ; er hatte die Be-
soldung und den Rang eines Chorvikars ; sein Chorstuhl stand
nicht weit von dem des Propstes.
Die ursprüngliche Bestimmung der Schule war, den Kin-
dern, welche Kandidaten eines Kanonikats waren (pueri sive
minuti) den Segen des Unterrichts zu erteilen. So lange sie
nicht majorenn waren, stunden diese Canonici minores oder
domicellarii unter der Zucht des Scholasticus und bewohnten
das gemeinsame Kapitelhaus, selbst dann als die Canonici
majores ihre besonderen Häuser erhalten hatten.
Ausser diesen Kanonikatsschülern wurden die Pfarrkinder
aufgenommen. Zwar waren die Stittsschulen nicht die ein-
zigen Schulen Strassburgs im Mittelalter ; es gab auch' Laien-
schulen, deren Existenz man aber kaum kannte.*
1 Im Jahre 1395 wird cOtheman Kregelin de Ricbenshoven, in-
stmetor pneromm laicomm civitatis Argen t.>, genannt, der das Hans
<znm birmenter in smidegasse*, Pergamentergasse in der Schlosser-
gasse) bewohnt. Zur selben Zeit war in der Heüelichtergasse ein
Hans genannt zu der Schulen. (S. Schmidt, <Le Chapitre de St-Tho-
mas», p. 186, dessen Darstellung ich mntatis mntandis hier wiedergebe.)
— 4ti —
Docli ist anzunehmen, dass, da die Stifts- und Kloster-
schulen den Schülern eine grundlichere Bildung gaben, sie den
Vorzug hatten. Die adeligen Familien und die Patrizier der
Jung-Sl. Petergemeinde schickten ihre Kinder in die Stifls-
schule, und hier haben gewiss viele der bedeutenden Ratsherren
Strassburgs ihre erste Bildung erhalten.
Doch waren die armen Kindet* nicht ausgeschlossen. Die
Stitlsherren machten Legate zu ihren Gunsten. So Hugo
Zorn im 14. Jahrhundert. Sein Testament . . . cdat quatuor
Scholaribus pauperibus duodecim quarte siliginis in pneben-
darum suarum augmentationem ; Item in Augment, dictarum
pncbendarum cedunt redditus unique quart. Siliginis de reddi-
tibus sex sexlarioruni siliginis in Svindratzheim.)> (Beziks-Archiv.
lib. Instrument L. XVII. B. folio 39.) — Die armen Schulkinder
wunlen zu Choristen gebildet, von dem Dechant dazu be-
zeichnet und zur Prüfung vor den Scholasticus gebracht, der
sie nuf aufnahm, wenn sie im Lesen und Singen ziemlich
geübt waren. Sie allein durften den Chor betreten ; zwei
standen neben dem Propst und dem Dechant als Helfer; zwei
trugen die Leuchter , reichten das Weihwasser und hatten
im allgemeinen denselben Dienst , den jetzt die Chorknaben
haben. Sie sangen die Hören und mussten bei der Messe conventuali
dienen, und wurden durch den Dekan zum Akolitenamt befordert.
•Während des Gottesdienstes standen die andei^n Schul-
kinder im Schiff; obwohl der Rektor seinen Stuhl im Chor
hatte, so wünschte man doch, dass er bei den Schülern bleibe,
um sie zu beaufsichtigen und ihren Gesang zu leiten. ^
Alle Schulkinder wohnten der Begräbnisfeierlichkeit der
Stiftsherren und den Prozessionen bei. Die Canonici minores
durften dem Festessen der Kapitelherren bei grossen Feierlich-
keiten beiwohnen. Am Nikolausfest und am Tage der un-
schuldigen Kindlein vereinigten sich die Schulkinder mit denen
der anderen Kirchen, um im Münster der Installation eines
BiscJwfs der Kinder beizuwohnen. Dieser possierlichen Cere-
monie wollte Peter Schott, ein Canonicus von Jung-St. Peter,
einen ernsteren und litterarischen Charakter geben, hatte aber
1 Ihnen wurde durch Statnt vom Jahre 1303 als Besoldung
12 Viertel Weizen znerteilt, davon das Kapitel 8 and der Scho-
lasticus 4 lieferte. Bezirksarchiv, folio : Statuta.
Nota. < Quatuor Scholares quae freqaentat chorum et ad horas
cantant ad arbitrinm Decani ipsos panes ministrando, cui et Decanns
qnos choro viderit expedire assumet scholares. Potest et decanus
scholares assumere et repellere et matare eosdem et corrigere toties,
qnoties Choro videbitur expedire. (De Statut praebendis Quatüor
Scholarinm, et ad quem eoram collatio pertinet.) Fol. Stat. p. 39.
— 43 —
wenijj Erfolg. Mit der Reformation verschwand auch der
kindüche Bischof.
Was den Schulunterricht selbst betrifft, so wissen wir
hierüber wenig. Da gegen Ende des 12. Jahrhunderts der
Unterricht überall so ganzlich vernachlässigt war , dass man
selbst in vielen Kirchen die Präbende des Scholasticus abschaffte,
befahl Alexander III. im Jahre 1109, sie wieder herzustellen,
idamit der Unterricht den jungen Klerikern und den armen
Schulkindern gratis gegeben werden könnte]» ; und im Jahre
1215 gebot Innocenz III. , dass in jeder Stiftskirche die
lateinische Grammatik gelehrt würde. Die Grammatik des
Priscian, des Donaf , dann die versificierte ocDoctrinale Alexandri]!>,
brachten die ersten lateinischen Elemente den Schülern bei.
Um ihnen Stilübungen zu geben, lehrte man sie etliche Verse
machen, oder auf Pergament, nicht Stellen aus Klassikern,
die man ja nicht besass, sondern Kontraktsformulare oder
Akten kirchlicher Procedur schnitzeln.
Die Schule blieb auf dieser niedrigen Stufe, bis die Univer-
sitäten gegründet wurden, auf welchen die domicellani dann
ihre Studien vollendeten.
Schon im 12. Jahrhundert finden wir manchen Magister
Ganonicus. Das Stift sandte im nächsten Jahrhundert seine
gelehrigen Schüler nach Frankreich und nach Italien ; später
nur nach Italien ; von dem 15. Jahrhundert ab auch nach
Erfurt, Freiburg und Heidelberg.*
Anfangs des iO. Jahrhunderts verbesserten sich die
Schulen merklich. An die Spitze der Jung-St. Peterschule
wuixle der Scholasticus Conrad Caroli gestellt, der den Knaben
Wimphelin'gs Adolescentia erklärte, und Johann Gallinarius
von Heidelberg docierte die Rhetorik.«
Gelehrte Stiftsherren finden wir deren etliche im 15. Jahr-
hundert, dem Jahrhundert der Rechtsgelehrten und Kanonisten :
Doktor Martin Reiichlin, Scholasticus von Jung-St. Peter,
Advokat am bischöflichen Hof.
Paul Munthartf Ganonicus von Jung-St. Peter, geist-
licher Richter des Bischofs Ruprecht. Er war einer der
gelehrtesten Ganonici von Jung-St. Peter und besass eine
der reichsten Bibliotheken. Er hatte das Recht in Italien
studirt und alle Manuskripte und Rechtsbücher und Ka-
nonistensammlungen , die er dort erhaschen konnte , an-
» C. Schmidt, ibidem, p. 188.
2 1688. Catalogue de la biblioth^que de St-P.-l -J. ; livres de
thSologie, de philosopliie scolastiqae, de droit (canoniqae et civil);
de grammaire et de rh^torique. — Bezirksarchiv (G. 4917).
— 44 —
gekauft. In Strass^burg hatte er die meisten Bücher, die aus
der Buchdruckerei von Mentelin & E^gestein kamen, sich an-
geschaut. Als leidenschaftlicher Liebhaber von Büchern halte
er das Einkommen seiner verschiedenen Präbenden an seine
Bibliothek verschwendet, welche bei seinem Tode zu 60 Bänden
Manuskripte, meistens Pergament, und 23 der ältesten Inkunabeln
herangewachsen war.i Sie war eine der reichsten Sammlungen,
die man in einem Privathaus sehen konnte. Die Theologie war
wenig vertreten. In Manuskripten war nur : das Rationale von
Duranti und die Poatillen des Nicolaus von Lyra ; zu Drucken :
eine grosse Bibel, von Eggestein herausgegeben, die MoraUa
über Hiob von Gregor dem Grossen, die Etytnologien von Isi-
dorus, die Kommentarien von Thomas Aquinus über die
Evangelien, das Leben Jesu von Ludolph von Saxen, der
Traktat Alberts des Grossen De laudibus heatae VirginiSy das
Fortalitium fidei des spanischen Franziskaners Alphons de
Spina. Munthart vermachte sen e ganze Bibliothek dem Thomas-
Stift, damit, wie er sagte, dasselbe Mittel habe, seine Rechte
zu verteidigen, und den gelehrigen Stiftsherren die Gelegenheit
verschaffen könne, sich zu belehren und das Volk mit Gottes
Wort zu nähren. Er verlangte, dass das Stift seine Bücher an
einem besonderen, mit Schäften, Bänken und Ketten ver-
sehenen Orte aufbewahre. Würde dieser Wunsch nicht berück-
sichtigt werden, so solle die Bibliothek dem Jung^St. Peter-
Stift gegeben werden, und falls dieses die Bedingung auch
nicht eingehe, dem Münsterstift. Kein Buch sollte verkauf!,
vertauscht, noch einer Person ausserhalb des Kapitels verab-
reicht werden, welche Würde sie auch trage; nur wenn einer
seiner NefTen das Recht studieren wolle, könne man ihm
Bücher gegen sichere Kaution zur Benutzung einhändigen.
Das Epitaphium Muntharts in St. Thomä meldet, dass
das Kapitel seinen Wunsch erfüllte und einen besonderen Saal
baute. *
Peter Schott, Dr. Juris, — Am Ende des 15. Jahrhunderts,
als die Theologie anfmg aufzublühen und die Renaissance der
klassischen Studien den Eifer jüngerer Geister reizte, zählte das
Jung-St. Peterstift einen der ersten und ausgezeichnetsten
1 Siehe Schmidt, Chapitre de St-Thomas, Docnments, l:^.
' Anno domini MCCCCLXXI. XIX Marcii obüt spectabilis ma-
gister, magister Paulas Munthart, decretomm licentiatus, prepositiu,
S. Petri innioris et hnjos canonicns et benefactor ecclesiamm libra-
rieque hie noviter erecte futidator. Orate pro eo. — Alles aus Schmidt
ibidem.
— 45 —
Strassburger Humanisten, Peter Schott^ zu seinen Mitgliedern. ^
Die Jung-St. Peterkirche hat das Andenken ihres Canonicus
Peter Schott durch ein Epitaphium verewigt, das in der Zorn-
kapelle aufgestellt wurde. (Siehe hierüber Ausfuhrlicheres in
meiner Schrift: Die Jung-St. Peterkirche.)
Ausser Paulus Munthart und Peter Schott ist noch als
gelehrter Canonicus zu nennen :
füThomas Wolfj von Eckbolsheim gebürtigt, Canonicus der
drei Stifte St. Thomä, Jung- und Alt-St. Peter, Doktor des
kanonischen Rechts, Canonicus in Basel und in Worms, der
ein groser Liebhaber der Philologie und der Künste war.»«
1 Petrus Schottns Argentinensis, abi neante aevo bonas litteras
sednlo colnil Primnm enim in pairia nostra, oppido Sietstattioo
Qrammatices et Dialectices mdimenta sab Ludovico Dringenbergensi,
Westphalo; deinde in Galliis Philosophiam, Oratoriam, Poeticam,
Historias et Cosmographiam, Caesareasqne et Pontificias leges cam
graecis etiam literis hansit. Adeo nt band facile crediterim similem
Timm nostro praesertim saecnlo, Qermaniam habaisse. . . Fuit in
Petro decora et innocentissima vita, nnlli molesta, mitis gravitas,
placida constancia, bland asqne vigor animi. . .
In parentes pins, in domesticos homilis, in aequales beniguus,
in Deom vero semper devotissimus fnit. . . Tranquillns mansuetas
et sobrins. . . landi propriae pertaesos, calta simples, yeste frugalis,
piaebendas ecclesiasticas cnmalare recnsans, etc. >
Aus Wimphelings Vorrede dat. ex pago Salce prope Mollischeyme
Argent direces. sexto Kalend. Sextiles 1498 — vor dessen Heraas-
gabe von Petri Schotti Lucnbratinncalae ornatissimae Argent. 1498.
4*>. Briefe, Gedichte und Abhandlangen Schotts and einiger Zeitgenossen
enthaltend. Ein far die Litterargeschichte am Ende des 15. Jahrhunderts
wichtiges, aber seltenes Bach. (Aas Roehrichs Mittheil. II, p. 91, 92.)
« Schmidt, p. 193. — Sein Andenken haben die vielen InscJwiften
erhalten, die er teils bei dem Alten-St. Peter, wo sein Bruder Johann
den Rang eines Dechanten hatte, teils in seiner Behausung bei dem
JungenrSt Feter aufstellen Hess. Zum Beispiel oben in dem Treppen-
haas ist folgendes za lesen: «Ita amicam habeas posse at facile
fieri hanc inimicam potes: Kai. aag. 1494.» (Strobel, III, S. 549.)
Siehe noch über die Scholastici im Bezirks- Archiv: • Constitation
d^ane rente sar ane maison sise entre les ponts, en favear de l'^col ätre
de St -Pierre-le- Jeane (1302). G. 4826.
— Aatorisation donn6e par le commandear de Klingenowe (Ordre
de St -Jean), lientenant da Grand-Mattre de TOrdre, en Allemagne,
ä Hngaes de Vegersheim, commandear de la maison de Schlestadt,
de vendre ane rente en favear de l'öcoUtrerie de St.-Pierre-le-Jeane
(1323). G. 4821.
— Acqnisition dMne maison in dem Tamenloch, par r^colätrerie
da St-Pierre-le-Jeune (1358). G. 4829.
4
— 46 —
KAPITEL VlI.
Das Stiftsarchiv.
tOben im den Kreuzgang sehend» war das cStiftsgewölb».!
Die cäussere und andere Thür des Geiwölbs ging inn ein
Stub»*' Hier befand sich das Stiflsarchiv. Die für die Inventar-
aufnahme des Stifts im Jahre 1584 gesandten Herren Stadt-
deputierten protokollierten in folgenden Worten den Stand dieses
Archivs :
In dem Gewölb war :
1. £in Kasten f mit 64 unterschiedlicJien Laden^ mit allerlei
des Stiffls Brieffen und Sachen den Praebenden und Pfründen
nach abgesundert. Auf der ersten Lade stund geschrieben :
Decanatus Nr. 1. (Die ältesten Briefe waren aus dem 14. Jahr*
hundert.) 2 : praebenda Thuiibulariae (Rauchfaaserehea'-^PFä-'
benden) de GoUatkme Deeanatus.
2. Ein Lmdenken9terlem mit 6 untersehiedHchen Laden,
dttrin des Stiffls Kapellaneyen-Brieff begrifiRin stndt.
3. Ein dreyff. beschlüssiffe Lad mit Ysen bandaui^
mit Litera B, darinn allerhand Gelty von kleinen und grossen
Sorten, so sie die Capitularen zu täglichem gebrauch bewahren. s
Bei der Inventarisierung i. J. 1633 fand sich da^ in dem lederen
Säckel:
1 vierfache Spannische Duf)lQBy so falsch.
1 Wolfacroa.
i^lt italienische eron.
2 sehotlendische €ron für 5 ß.
2 Goldgulden.
1 halb Engelisch Crönlin für 1^ ß.
1 halb güldener Albertus, so falsch,
/n dem kleinen rothen lederen Säckel:
29 thaler zu 13 balzen gerechnet, = 12 flf 11 ß 4 -J.»
Weiter fand man hier die über die Stiftskapitaliea, Pfennig
Zinss, Hauptgüter, gefertigi&n noiaridlen Briefe. Lauter Per*
gamentrolien^. die noch jetzt im Bezirkaarchiv liegen« Sie wwden
folgendermassen registriert : 150 ß (balzen) geben Herr Abbt und
Gonvenl des Klosters zu Gegenbach Jahrs ufJohannis Baplistae
fallenl, lössig mit 3000 ß
Darüber besagt ein Brief de dato 24. Juni Nr. 1618^ Dafür
ein Brief von Ertzherzog Ferdinand besagt 8000 ß zu unter
Pfund verlegt.
1 Inventarium 1584. Stadtarchiv. Lade 47. Nr. 3.
* Ibidem.
» Ibidem.
^ 47 —
Item 8 ß ^eltSy gibt Hanns Faust, Capelan zum Jungeu
St. Peter zu Strassburg auf St. Antonitag> Idssig mit . 200 ß
Darüber sagt ein Pergamentenerbrief anfangend : Wir
Christoff von Gottes Gnaden Markgrav, zu Badens mit 6 an-
hangenden Siegeln de dato uff Antcmi, Tag anno 1491.
Item 71 U Zinss Jars auf purificationis Maria uf dein Ho-^
spital zu Hagenau ablössig mit 3000 ß
gehört dem Legato Trunci absentium zu.
Darüber sagt ein deutscher Pergamentener Brief, anfangend :
Wir hienacb benannte etc., dessen Datum den 6. Februarii anno
161^ mit 3 anhangenden Insiglen.
Item 32 af 20 ß gibt die Stadt Hagenau Jahrs uf Laetare,
ablössig mit ... 1,300 ß
Darüber besagt ein Pergamentener Brief, mit der Stadt Ha*
genau anhangende Insiegel^ datiert den 26. Martii 1697
gehört auch m das Legat absentium.
Item 25 B gibt gemelte Stadt Hagenau Jars uf Udalrici,
lössig mit . . 1500 ß
Darüber sagt ebenmässig ein Brief mit der Statt anhangendem
Insiegel datiert den 4. Juli 1606, gehört ebenmässig in völliges Legat'.
— Item 100 tt uf Asumptjonis Mariae, uf detii Ampt
Berenstein, lössig mit 4,000 ß
Darüber ein pergamentener Brief von Erzherzog Leopold^
Bischof zu Strasshurg, mit sein und des Dechants Insiegeln, de
dato 14. Augusti 1609, gehört in das Legatum Hugonis J. Dithmari.
— Item 7 flf 10 ß geben die Gemeindt WaUenheim und
Mittelhausen jahrs uf Trium Regum, ablössig mit . . 300 ß
Daiüber sagt ein pei^gamentenfer Brief, mit 2 anhangenden
Insiegeln, datiert den 6. Januar 1608.
Gehört in das Legat Matutinal : Abb. et Kctgeneck,
— Item 25 Sl gibt die Gemeind Luttisheim in der Grafschaft
Hanau gelegen, ablössig mit 500 flf
Darüber besagen 2 unterschiedliche Briefe, jeder 500 ß
sambt beigefügter Abschätzungsbriefen, dessen Datum uf Me-
dardi anno 1607, gehört auch in das Lisgat Trunci Absent.»
Weiter Wurden im Stiftsarchiv auch aufbewahrt :
die bischoflichen und kaiserlichen Privilegia des Stifts,
lauter Dokumente in Pergament mit vielen angehängten Wachs-
Insiegeln (alle noch jetzt im Bezirksarchiv vorfindlich) ;
sowie die Protokolle der Stiftssitzungen^ die von den
Scholastici niedergeschrieben wurden und teils noch vor-
handen sind.i
1 Inventarinm 1633. Stadtarchiv. Lade 47. Nr. 8.
— 48 —
Endlich waren im Stifts^ewölb auch in «Trogen» die Kleiiv-
odien und Kirchenornate aufbewahrt, die im Inventarium des
Jahres 1633 wie folgt inventarisiert wurden.
«Trog Nr. 4, darinnen die Kleinodien und Kirchenornat :
Ein silbern zum theil verguldt Rauchfass.
Trog Nr. 3 : 1 vergülter Kelch mit der Patene in einer
hölzernen Büchse.
1 kleiner silberner Kelch.
1 inwendig vergülten Kelch sambt der Patene mit der
Jahreszahl 1516.
In einem vierecketen höltzenen Trog mit Eissen beschlagen
mit alten litera B. notirt:
1 silbern theils vergult CrucifiXy mit etlichen Edelgestein
oder Dupleten versetzt, an den 4 Ecken die vier Evangelisten,
wiegt 6 Marck 7 Loth.
1 klein christallin täfelin Christi und der Apostelbilder, mit
dieser Schrift : Pax vobis, accipite spiritum sanctum, in silber
vergult eingefasst, wiegt 2 Marck, 4 loth.
1 klein silbern vergult Critci/Lc, in der mitten ein vierfach
unterscheidt aus Kupfer mit 4 silbernen Evangelisten, und 4
Engelsköpilin, wiegt 1 Marck, 9 loth, 2 quintlin.
1 CrucifiXy in die runde gefasst, silber vergult, wie man
an die Chorkappen braucht, sampt 34 kleinen, einem grossen
Perlin und Saphire, wie man meint, wiegt 1 Marck und
i)s Quintlin.
1 christallen Kreutz mit silber vergülteten banden, und
Christi Bildnis, sampt einem Todtenkopf, wiegt i Marck und
1 Vs quintlin.
1 silber theils vergult Marienbild mit dem Kindlin Jesu,
wiegt 1 Marck, 4 loth 1 ifg quintlin.
1 klein Monsträntzlin silber vergult mit allerhand heilig-
thum, wiegt 14 loth 3 quint.
1 klein silbern Altärliny darinnen allerhand heiligthumb,
mit 6 Granaten wiegt 8 i/j loth.
1 grosser silberner vergülter Kelch j mit einer Patene gra-
virt und beschnitten, wie auch mit alten Bildern erhaben, und
allerhand Steinen versetzt, wiegt 4 Marck, 15 loth, 1 quintlin.
1 silber vergülter Kelch sampt der Patene, wiegt 1 Marck,
15 loth, 1 quinüin.
1 silbervergulter Kelch ohne Patene, wiegt 14 loth,
1 quintlin.
1 silbern, theils vergult heyligthumshandt wiegt 2 Marck,
10 loth, 1 quintlin.
1 grosse silberne vergulte Agnus Dei Kapsel, wiegt
1 Marck, 2 loUi, 3 quintlin.
— 49 —
1 silbern vergalt Altärlin mit zweien aus Elfenbein
geschnittenen fiildem Sancti Martin und St. Anna, wiegt
1 Marck, 7 loth, 2 quintlin.
2 silberne vergulte MesskäntUnn^ deren eines zum theil
christallin, wiegen 1 Marck, 13 loth.
1 silbern vergult durchbrochen Altärlin mit verschnittenen
Bildern in Perlenmuther, als Coronationis B. Mariae Virginis,
Apostolorum und ein Crucifix von Perlenmutter, sampt dem
heiligthumb vom heiligen Kreutz, videgt 1 Marck, 6 loth,
1 ifs quintlin.
1 kleines Altärlifiy silber vergult, mit 12 gefachlin, wiegt
6 loth.
1 kleine silber vergulte Monstrantz, mit einem geschnit-
tenen Kristall, wiegt 13 loth 1 i|t quintlin«
1 kleine silberne SchelL theils vergult, wiegt 8 loth und
i{s quintlin.
1 silbern hild mit dem Salvatore, wiegt 1 Marck, 5 loth,
3 quintlin.
1 höltzern Altärlifiy aus Ebenholz, in welchem 1 gülden
Bild des Salvatoris und der 3 Könige, wiegt 2 Mark, 2 quintlin.
1 Agathen-£rud/ia; in gold gefasst, wiegt 13 Marck und
6 loth.
1 grosse orientalische Robintafel auf einem Eck mit
einem Regenbogen, in einem güldenen Ring versetzt, wiegt
1 loth.
1 silbern vergult geschirlin sampt einem Deckel, wiegt
2 Marck, 10 loth.i
KAPITEL VIII.
Der Stiftsspeicher (Granarium).
Die Güter, die das Stift besass, waren unzahlig. Fast in
allen Ortschaften des Unter- und Ober-Elsass und von Kehl
hinauf bis nach Baden waren Stiflsäcker oder Stiftswiesen. *
1 «Diese Stuck sind den 16. Novemb. 1610 dem Stifft von dem
Bisthnmb Strassburgs zur Abzahlung dess im Blsass geworbenen
Keyserlicfaen Volks, um 2&00 flf Versetzt worden, und wiegen zu-
sammen» sampt anderen Stück, so nicht in dieser Designation be-
griffen gewesen 51 Marck, 6 loth und 3 quintlin. > (Inventarium
1633. Lade 47, Nr. 8.)
< Die *D%nghöfe* in den verschiedenen Dörfern spielten eine
besondere gerichtliche Rolle zwischen dem Stift und der Bevölkerung.
(Siehe über dieselben Strobel, Geschichte des Elsass, S. 234—236.)
— 50 —
Im Bezirksarchiv fanden wir die Namen : Achenheim, AltdorfT,
Altenheim, Andlau, Avolsheim und -Avenheim (1302), Baur-
bach , Balbronn , Barr , Batzendorf (1392) , Benfeld , Berg-
bieten, Bemolsheim, Bernardswiller (12. Ahrhundert), BibÜs-
heim, Bischheim, Bischoffsheim, Bisch^ller, Blodelsviler,
Brumath (1299), Burgheim, Golmar (1313), Dachstein und
Dahlenheiih (1307), Eckbolsheim, Ekendorif, Eckwersheim
(1346), Ernolsheim (1326), Erslein, Sand und Ettendorf (1311),
Hürtigheim (1333), Altsweyer, Appenweyer, Auenheim, Baden-
Baden, Bischoifsheim, Buhl, Kehl, Kork, Legelshurst, Orten-
berg. Renchen, Willslett, Wolfach und Hausen (1336), Hagenau
(1376) etc. etc. Öie Titel dieser Güter liegen noch alle im
Bezirksarchiv.
Von allen diesen Aekern erntete das Stift jährlich eine
Unmasse von Weizen, von Roggen, von Gerste em, die nach
Strassbui*g in den Siiftsspeieher gefahren vmrde. Derselbe be-
fand sich an der Nordseite der Kirche. In seiner ursprüng-
lichen Grestalt existiert er heute nicht mehr.^
Im Jahre 178 . . wurde er durch einen neuen ersetzt,*
der s^tdem baulichen Veränderungen unterworfen wurde.
Speziell dazu beauftragte Kapitelherren mussten ihn beauf-
sichtigen. Man hiess sie ^spicherherreni^ (domini granarii) ;
nur unter ihren Augen durfte der ^Komkouffer^ oder
«Kornwerffer» • (venditor annonae) das Getreide messen, das
zum Kauf auf dem Markte oder für die Probenden bestimmt
war. Dieser KornkoufTer, ein Laie, Mitglied der Zunft der Kom-
händler, musste jeden Markttag (Freitag) den Schaffner von
dem Preis des Korns benachrichtigen.
Bei Verfertigung des Inventariums im Jahre 1633 fanden
sich li9 Viertel €netie F^riichte^ auf dem Granarium, laut
folgender Rechnung:
^ «Extract Eines Blochs Tit Relationen von dem Pfenninjgthnrm
in a** 160Ö geschr. — c'Sijiift znm jungen S. Peter hat vori^an neben,
der Einfahrt thres Speiehers ein kleins Winckelin oder Allmend-
plätzlin (so Herrn Johann Schmassmann desselben StiJG^ Canonifii
durch Bauw Herren n. Drey umb VI ß. Järl. gelts su seiner Be-
hausung, ah er den gedeckten gang vömeii off seiner nüiur ge-
bawen vert&hen worden ist) belftbgefid^ ete » (Stodtarehiv, Lad. 4^
Nr. 17.)
* Herr KeUer, Komhfindler, Urgrossvater der (Gattin des Yer-
fassersy kaufte deü Bältsspeicher Äeth Staat ab, als das Hiius in der
Revolutionszeit mit dem übrigen Stiftsgut versteigert wurde.
3 Der «Kornwerffer in unserm Stifft». (Prot, tfeberheu Thomas-
archiv.)
— 51 —
«Frücltten so auflf dem Gatten iigendt
befunden
worde».
Item an Neuen fruchten, ohngefahrlich
, '
an Weitzen
60 Viertel
an Hocken
40
»
an Gersten
20
»
an Sack von Kömern
3
»
item alte Früchte an Weitzen
500
:>
Mehr gleicher Gattung
50
»
an Rocken
50
»
Mehr Rocken
6
^
Summa : 729 Viertel . »i
Im Jahre 4663 betrug der Verkauf von Roggen : 150 livres.*
Für das Jahr 1715 ßndet sich folgende Rechnung vor:
cO^pense en c^r^ies: 2329 reseaux, 2 setiers; — boni restant
en grains: 1372 r^zeaux ä setiers 2 Ms mesurettes.^e»'
KAPITEL IX.
Die Stiftskeller.
Unter dem Stiftsspeicher liegen die Stiftskeller, SSie sind
jetzt Privateigentum« Mit dem Hause, deiea Unterlage sie
bilden, wucden sie in der RevoUiiionszeii von dem Staat an
den Meisihietendett vepaieigert vmA sind jetzt^ wie sie es seitdem
wohl imiEer noveM^ an dmat Wemhändlier vermietet.
In zwei Stöcken liegen sie übereinander. Wer sie besucht,
ist erstaune, da unten ein kleines Labyrinth mit Strassen und
Seitengässlein, versteckten Kammern und Nischen, gewölbten
Durchgängen und vermauerten Ausgängen zu entdecken. Tief
drinnen steht eine schön bearbeitete uad ornamentierte Holz^
Säule.
Auf der Südseite der Keller sieht «um; die Fua^iinente der
Kirche, die gar gewsdtig massiv sich erheben. Noch liegcfn hier
Fässer^ die sehon am En<ie: des vov^peaJahrhwRdeFts ^b gelegen
haben müssen, and dem Alter naeh in (He Jia^rhunderfe' hinauf-
reichen.
Das*Stift war reich an Reben. In Rosheim (1323), in Dohlen-
heim^ in Avolsheim, in Mutzig, in Gimbret, in Scherlenheim, in
i InvonisaTilini. 1698. Stadiaarchiry Lauer 47, Ife. 8.
' BezirksarchiT 0. atl7.
3 Ibidem.
— 52 —
Wejje, in Westhofen, in Wangen und an vielen anderen Orten
besass es Weinberge.'
Der bezogene Wein wurde teils gebraucht, teils verkauft.
Es liegt eine Rechnung vor aus dem Jahre i62d — iGQO, nach
der wir uns einen Begriff von dem Weinvorrat machen können :
cSummarum alles weinss so diess Jhar erkaufit worden ist.
xiiij fuoder xxij Ohmen^ xviij mass das Remanet des vorigen
Jahrs darzuo gelegt ij fuoder
Sumarum alles Weins so sampt dem frueren wein in den
keller bracht worden Ihut zusamen
xvy fuoder ohmen xviij mass. Davon ist diss Jhar auf,
und in druossen abgangen zusammen :
1 Vente de Vignes k Rosheim an Cbapitre par J. Grünlin (1328).
Q. 4814.
— Walther et Fr6ddric de Wangen vendent au doyen du Chapitre
de St-Pierre-le-Jenne des vignes sises ä Wangen (1347). G. 4843.
— Marc Bnllin, chanoine dlttenwiler, vend h, Henri, de Sallen-
thal, prSbendier de St.-Pierre-le-Jenne, des vignes sises h Westhoffen
(1362). G. 4844.
— Catherine Bohrin de Molsheim donne ane rente snr nne maisoa
et des vignes ä Wege, an Chapitre de St.-Pierre-le-Jenne, poor fon-
dation d^anniversaire (1371).
1669. Dßpenses coUong^res kDahienheim; — 20 oct. 1669; pour frais
de voitnrage de vin: 4 livres 5 Schillings 6 deniers; — droit
de p6age de ce vin: 14 Schillings 3 deniers. G. 5122.
1660. Frais de transport du vin: 3 livres 16 Schillings. {DahUnheim
k Strasbourg.) G. 5114.
1661. Recette en vin & Ävcisheim: 25 ohmen ; — k Mutsig: 40 ohmen.
G. Ö115.
1662. D^pense poor vendanges; — 19 aoüt, an vigneron, pour frais
de jonrn6e: 18 Schillings; — pour vin: 1 livre. G. 5116.
1682. Recette en vin & Gimbrett; la commone fonmit 13 ckmen %
partager entre les capitnlaires. G. 5133.
«Umgeld oa p6age du vin.»
1657. Döpenses pour les vignes et vendanges. G. 5111.
1658. Ddpenses ponr vendanges k Matzig; 18 avril, frais de ronte:
2 livres 13 Schillings 4 deniers; — pay4 an vigneron 17 Schil-
lings 5 deniers G. 5112.
16r9. Frais de voiture ponr transporter le vin de Dahlenheim i
Strasbourg: 1 livre 12 Schillings. G. 5113.
1686. Recette de vin coüonger k Scherlenheim ; 14 octobre : le pr6v5t
dn lien fonmit 48 ohmen ; — 30 oct. : le pr6v6t du liea fooniit
26 ohmen. G. 1686.
— Bail de 3 ans concemant la dlme da vin et da bU ä Matzig;
fermiers Reyss et consorts (1768 ä 1783). G. 4881.
Rentes en vin k Matzig; les h6ritiers de J. Meyer donnent
1 o hmen 9 maas. G. 4941.
— 53 —
yj fuoder x ohmen
xviij mass.
Verbleibt also nach disser rechnung in dem Keller x fuoder.
So geschehen den 27. September 1630.»
Die Rechnung specificiert «Muscateller, weisser wein, rotter
Wein».
(Colligenda Canonicatus Fr. dicti Sculteti, Feudi in Herzveldt
et Gapeilaniae Stae Columbae virginis in Ecclesiae Sti Petri
Junioris Argt. (1629—1630).»
Der von den Mietern in den Stiftskeller gebrachte Wein
wurde von dem Pincema besorgt. Dieser Beamte mass auch
die Weinportionen für die Mahlzeiten im Refektorium, während
nach Aufhören des gemeinsamen Lebens er jedem Stiftsherm
seinen Teil für das ganze Jahr lieferte.
KAPITEL X.
Die Stiftsbäckerei.
Ausser dem Getreide, das die Stiftsherren als Eintrag
ihrer Präbende bezogen, erhielten sie noch Brotportionen (panes
claustrales).
Zur Bereitung dieser Brote lieferte bis zum 14. Jahrhundert
der Ceüerarius einem städtischen Stiftsbäcker (Pistor)« wöchent-
lich ein vereinbartes Quantum Frucht aus dem Stiftsspeicher, wo-
wofür der Bäcker so und so viele Brote buk. Aus Anlass mandier
Unzuträglichkeiten wurde im Jahre 1312 dieser Dienst der
Celleraria durch Beschluss des Bischofs Johann abgeschafft und
wurden seine Gefälle zu den Stiftspräbenden geschlagen. Dagegen
wurde das Bäckeramt {Officium pistrini),^ das in der Gross-
1 Stadtarchiv. Lade 46. Nr. 24.
2 Pistor s= ein Stampfer, der das Getreide in einem Mörser stampft
oder in einer Handmühle zerreibt, nach unserer Art ein Müller,
HandmuBeTy der zugleich auch Bäcker war. (Georges, latein.-dentsches
Lexicon.)
s Pistrinum = die Stampf mühle, der Ort, wo das Getreide vor Er-
findung der Mühlen in bohlen Klötzen oder Mörsern gestampft wurde.
Späterhin wurden solche Mühlen durch Pferde oder Esel getrieben
(Ibidem.)
Instrumentum super officio pistrini incorporato Capitulo anno
1312.
Reglement concemant l'incorporation du moulin fonlon relevant
du cellerier du Chapitre. (B. A. G. 4707. Nr. 3.)
Accord fait par le Chapitre, pour incorporer avec le Chapitre
les droits sur un moulin ä fonlon relevant du cellerier du Chapitre.
(1313.) (B. A. G. 4707.)
— 54 —
kirchgasse lag, dem Stift inkorporiert und abgethan, dei^stalt
«dass die fructus davon künftig in usus Canonicorum selten
angewendet werden, ein pfister (Bäcker) aber in das Haus
gesetzet, den das Kapital wieder zu beurlauben Nfacbt hätte», i
Im Jahre 1340 wurde ipit deni Bäcker Henußnn und
seinem Bruder Nikolaus^ Vikar an der Jung-St. Peterkirche,
ein Vertrag geschlossen, der den Backer verpflichtete^ wöchent-
lich 15 Weizenbrote jedem Canonicus 7x\ liefern. Aus einer
späteren Zeit datiei*t eine E^id^fomiely^ durch welche der
Bäcker dem Stift Treue schwor :
«Juramentum Pistons Ecclae St. Petri Junioris Argen-
Hnetisis.
<rlch G.(emeiner) Brotthecker meiner Herrn Probst Dechan und
Capitel der Stifft zu dem Jungen Sant Peter zu Strassburg,
schwer und verheisse, das Ich denselben minen Herrn Probst,
Dechan und Capittei getrewe (unleserlich)
«Item Ich will auch d^ tveia^ (Weizen) u. Bocken, den
man mir zu bachen gibt nit mischen mit anderm Korn, es
sye myn oder ander Lille (Leute), vnd wiUe dasaelbige kom malen
u. bachea also gutt, als man mir daa gilit u. allen symekm
(Semmelmehl) u. gwiesen ? by miner Herrn brott lassen hhfbe <n
alle geverde (gefUirde).
oritem Ich will auch kein Pfrufvdhrott buchen^ den (deoo)
miner Herren Pfruadbroi, Beeh niemande zu kauff«! geben, es
sei umb gelt oder umb weissen oa aUe geverde.
«Item Ich will auch alle wochen buc^ieii zwei humiert
u. dryen &^hzig Pfrutihro (66$ Pfrunbrow) ; ESn Pfmnde zu
geben an Zistagey die ander am ßorttslo^ u. • die dritte an
Saanbetagey mit vollem ii. gantzein gewicht.
«Item ich soll u. will auch alle wochen meinen Herr» geben
— fünfzelien pfrunden, jeder pfrundea acht? BAMükej» breit alle
sa^bstage. Doch voo dem ßertol Rocken Ix (6Q) h^^M u. nit
mr (mehr).
«Item dtarztt soMen mir milie Herrn der Probet Beebai» «.
Capitel nach Innehalten Ihrer Statuten mir alle wochen ateo
viel gutes weissen u. gutes rocken geben u. handreichen, als
vil dass zu den obgepan^^ten pfrundehrotten u. rockenbrotten
nottürftig sein würde.
«Ijtem yßh soll vn.d wi|)l auch kfiin synunelbrjott hache^, es
sy dan mit miner Herrn willen u. erlaubunge vnd also lang
mtne Herrn mir das vei^goeaten sollen.
1 Mb. Stadtarchiv. Lade 47. 7. Augxist 1312.
— 55 —
«Item Ich wil auch guet brott einem als dem andern auch
recht u. gantze gewicht geben, on alle geverde«
«Also helfife mir Gott u. die Heiligen Evangelisten.:»^
Noch im Jahre 1670 ist das «Beckenhauss in der grosse
Kirchgas^efi». ^JXifi Dire (Thür) im Qaohhau3$ ist verbrochen.»
(Au§ einem CffAtachten zwqier WerHi^^ist^r an d^n Rat. 3. Märt
1670.)
KAPIJ^EL XI.
Des Stiftes jäher XJnterg^f^rii^ in d€(r ]E\^voli^tion.
Bis zur grosQ^ ](leYOi|ution b^stan^ das im 1^. Jahrhundert
von Bischof Wilhelm L g^rü^dete Stift von. Jui^g-St. Pet^r»
Unmittf^lbar vor dem Ausbruch derse^iien schrieb Gran^
didier in seiner ipfi Jahre 17§7 als A^anviskript hint^rlass^ent
(und erst ifli i[^re 1878 gedru^l^teiO grossen W^rk «L'Eglise
de Sti^asbour^» :
«Das Stift von Jung-S.t. Peter existiert noch heute in
Strassburg; wir werden s^nderswo eingebender hierüber her
richten. Es ijpiesteht heuts^utage a\is 1J5 KanonikateAJ die mit den
15 ersteijL Buchstaben des Alphabets bes^eicl^et werden. Die
14 ersten sind die durch die Bischöfe Wilh^l;^ U^d Hetzel ge-
gründeten- Ds^s Iß. ist die ^,]pnmissaria Spudleti (des Schult heiss)^
die als Kanoni^at i^ Jahre 145P durch 4eQ B|sc]|;iof Rupre<^,t
von Bayern errichtet wurde. Es sind in diesen Kanonikaten
zwei Würben» die. Propstei und die Deqhaneiy und drei Per-
sonate, die Kustodie, die Kantorei und die Scholaria. Die Aemter
des CeüariuSy Portarius und Cameraritis sind erloschen und
ihre Einkünfte zum Gebrauch der F^bi^ik verwanc^.
«D^s germanische Konkordat wiixl in Anw^n^ung gebracht
für die I^rop^tei un,d die va^antei^ K9.nonik94e üi den Moi^aten
des hi^3^^ StM^. Pas Ij^püel ejwMU de^, Dea^hiint ^nd ver^
leiht die JRer^onüt^*
«In dem hiß(^'älk. PeterMift giebt es noah 14 priesterlicke
Vikariatej welche zu verschiedenen Zesien gegründet sind^
deren hier residiwende Inhaber nur 4oder &siBd^ und'19«andere
Vikariate oder Capellanieriy deren Besitzer nicht hier zu resi-
dieren verbunden sind.9<
Und heutey am Schluss des 19. Jah]chundert8» ist das
reiche, angesehene Jung-St. Peterstift, vergangen, vernichtet^
verklungen.
1 Stadtarchiv. Lade 46. Nr. 24.
> Oeuvres inödites IT, p. 16.
— 56 —
Die Revolution von 1790 hat alle Stiftsgüter mit einem
Schlag verschlungen, säkularisiert und damit die Geschichte eines
sieben Jahrhunderte alten Instituts zu einem jähen Abschluss
gebracht.
Am 27. November 4790 dekretierte die Pariser Reichsver-
Sammlung y dass alle Kanonikatey Prohsteieny Probenden und
alle anderen geistlichen Stiftungen und Bruderschaften^ wie sie
auch Namen haben mögen, <jetzt und ewig» in Frankreich ab-
geschafil sein und bleiben sollten.*
«Der Verkauf der geistlicJien Güter gmg aller Dro-
hungen ungeachtet ruhig von statten. Allenthalben fanden sidi
Käufer genug^ die diese Guter ohne Furcht an sich steigerten.
Nirgends wurde die öffentliche Ruhe gestört.
«Das Stift-Archiv wurde in das Archiv der Distrikts-Ver-
waltung überfuhrt» • (wo es sich noch befindet).
«Am Morgen des 15. Januar 1791 Hess die VerwaUurtg
des niederrheinischen Departements den Chorherren im Münster,
im alten und jungen St. Peter und bei Allerheiligen ankündigen,
dass ihr Amt aufhöre^ dass der Chor in allen diesen Kirchen,
dem Gesetz gemäss, sogleich geschlossen werden müsste.
«Die Domherren unterwarfen sich, und dieses Geschäft ging
gegen alle Erwartung ruhig vorbei. »«
In der Folgezeit wurden die mittelalterlichen Gräber der
Stiftsherren in der Kirche geöffnet und geplündert.
Dies das Ende eines der bedeutendsten Stifte Strassburgsl
1 Friese, Vatcrl. Gesch. V. S. 92.
* Als am 3. Jan. 1791 eine Kommission des Distrikts die Schriften
aus dem Archiv des Stiftes AU-St. Jung abholen wollte, um si^ in
dem Archiv der Distrikts- Verwaltung aufzubewahren, entstand ein
grosser Auflauf bei dieser Kirche, der durch übelgesinnte Menschen
angerichtet zu sein schien. Sobald aber die bewaffiiete Macht herbei-
geeilt war, zerstreute sich der Haufe, ohne dass ein beträchtliches
Unglück geschehen wäre. Die Nacht hindurch gingen starke Pft-
trouillen, und den anderen Tag wurden die Schriften unter einer
starken Bedeckung wirklich abgeholt und in das Archiv des Distrikts
gebracht. (Friese, Vaterl. Geschichte Y, S. 94.)
8 Friese 1. c, S. 94, 95.
— 57 --
Anhang.
1. VerjEeichnis tob Adeligen Stiftoherren.
(Ans Kindler von Knobloch : Das goldene Buch.)
I TEIL.
Hugo Abt, Cellaritu, 1424, 48, f 9. Angast 1450, wohl der letzte
seines Geschlechts. Sein Siegel an einer Urkunde von 1433 zeigt
im gerandeten Schilde einen Abtsstab. (Siehe Bild 1 Knobloch }
ülrieh Bertschin van Haue, Scholasticns 1487 (1517 Canonicus von
St. Thomas), lebte meist in Rom.
Niedlaus Bienckdy Kantor 1354, schon 1350 Canonicns.
Wcifgimg BöckUn wm Böcklinsau, J. D. D. (Propst von Alt-St. Peter)
Canonicns von Jnng-St. Peter und St. Thomas, lölO bis 1530.
Erhard Deutner, Dechant, führte 1432 das Wappen Bild 92.
Heinrich Ehenheim, Kantor, f l^^*
Phäipp Endingen, Dr., Canonicns, f 11. December 1505.
Läwekind oder Leo von Firdenheim, Domherr zn Jnng-St. Peter 1396.
Friedrieh Fleekenstein, Domherr, 1447.
Johannes GeispoUheim, 1423 Cnstos, später Thesanrarins (Chorkönig
des Münsters), f 1439.
Nieoiaue Geudertheinif Canonicns, f 1375.
Heinrich Grostein, Thesanrarins eccl. S. Petri arg., tot 1340.
WeUdo GrosUin, Canonicns 1337, 1343, 1377 Cellarins.
Cuno Grosteiny 1337 Canonicns.
Gotto Grostein, 1353, 1356 Canonicns, 1355 Decan, 1362, 1376 Propst
t 1376 in die beaü Galli.
Beimbolt Haslach, Canonicns 1293.
Anton Heämann, Dechant 1432 (1417—1450 Canonicns von St. Thomfi),
t 1457.
Heinrich von Hochfdden, cantor eccl. S. Petri arg. 1371.
Voitto Hueffel, 1370 Canonicus, 138:3 Kantor, f 1394 oder 95.
Heinrich Ottfriedrich, Canonicus
NicoUtus Friderici, 1346, 1366 Scholasticns, zuletzt Propst. Sein
parabolisches Siegel zeigt einen Doppeladler, darüber das Haupt
Johannis des Täufers in einer Glorie, darunter den Wappen-
schild, 1366.
Hugo PamphiUn (Pamphilin, eine Linie der Zorn), Canonicus 1298,
t 30. April 1303.
Wühelm von Parma, 1387, 1398 Scholasticns, 1391 Vicedekan, 1408
Thesanrarins, f 1411.
Leopold Beich von Reichenstein, Domherr von Jung-St Peter, führte
nach dem Armorial de la g^n^ralit^ d^Alsace : Des gueules ä
deux faces abaiss^es d*argent et en chef au lion naissant de
m^me. Dies Wappen gleicht dem der Reich von Kienzheim.
Georg Stehelin, Domherr vom Jung-St Peter, f 1431.
Iktcharius Trachenfels, Domherr, f 1450. Dies Geschlecht hat seinen
Namen von dem pfalzischen Rittergeschlechte von Drachenfels,
Burgruine zwischen Dahn und Weissenburg, von dem einzelne
Glieder in Strassburg wohnten und dessen Wappen (ein Hirsch-
— 58 —
geweih im Schilde} noch an dem Giebel eines Ebtnses in
der BraderhoüigaflBe sn sehen ist.
Beymbodus Veuer de Gamundia, canon. eccl. S. Petri arg. 1306,
1484 (Alt-St. Peter ?).
Mbertus Wiese, Decan 1406^ fühtte im parabolischen Siegel ein
Schildchen mit einer zweisprossigen Leiter (Bild 471).
Meiwich WodfeHn von Hochfelden^ cantor eccl. S. Petri arg. (Alt
St. Peter?).
Johannes Zorn, 1302 rector eccl. S. Petri arg.
Hugo Zorn, 1294, 1320 Propst, tot 1^2.
Berthold Zorn, 1314, idl6 Thesanrarins, tot lä32'.
<]ieorg Zorn von Eckerich (resignierte 1453 als Tnesaorarins von
St. Thomas), Propst 1453, 1466.
(Die Ahnhen*en des jetzigen Baron Hugo Zorn von Bulach in
Osthansen.)
Heinrich kolin, 1303 Scholasticos, f 1334.
^ötze Kolin, 1293 Thesaurarius, 1307 . Küster. (Sie warüi Bruder,
Ihre beiden gut erhaltenen Siegel stellen Heilige dar. Haben
aber keinen Schild.)
JKicolaus von Kuettolsheim, 1400 Canonicus, 1408 Propst, f 1420.
Egendf von Landiberg, 1272 canonicus, 1283 praepositus eccl.
S. Petri arg.
JPeter Merstoin, 1319 Canonicus.
JSifrid Merstoin, 1370 Propst.
€onrad Merewin^ Canonicus (auch von St. Thomas), tot 1391.
TL TKIL.
Miälenheim, MiUnheim (die Ahnherren des jetzigen Baron Hermann
von MfUlehheim-Bechberg in Stifässtorg) :
> Walter, 1296 Canonicus, 130ä Dekan, tot 1306.
> Walter, 1323, 1338 Canonicus, 1350 Custos, 1361, 136& Ka:ntor,
tot 1364.
> Conrad, I32i6 Theäaui-ariüs, f ^- ^^ ^'3^-
> Gosso, Custos 1356.
> Eberlin senior, 1381, 1416 Canonicus.
> Heinzo, 1396 Kantor.
2. Einzelne Notizen über SÜltiOiexifeii.
Berthöld de G^eroldseck, fröre de Bnrohard I*' et d'Othim U,
•chanoine de la cath6drale en 1160, 6tait, en 1193, grand-chantre de
la mSme ^glisö.
II 6tait en mtoie temps priv6t de Sttint-Pierre^-Jeume, «Bertoldos
prepositus S. Petri«, est nomm4 parmi les chanoüies de la cath6-
<lrale dans un acte de 11^. (Orandiiüer, 0. L DI, p. 5.).
Parmi les chanoines de Saint-Pierre-le-Jeune se rencontre en 1366
un Henri Erwin, dont je ne saurais 6tablir la filiaüon. (C. Schmidt,
Kote sur Erwin et sur sa famille. Bulletin 1876, p. 83.)
— 59 —
Bühler nennt in seiner Chronik 1545 einen Herlin, Canonicus zu
Jang-Si. P^er, dMsen Solmeetet den WdHberühiifttefi kiüistreichen
liator Jölumnet Bttldong (f St^AMbufg 1545) äür the gehabt. (Atitt
Bdhfioli*s Mik^r. KotiMli ^ die Sdhalen.)
Jean Knapp, clianoin^ de Saint-Pierre-le-Jeone, laissa lO livres
pour ötre partagies, en nne (ok, entre ton» les Uprevx pr^sents k
Strasbourgs indig^nes ou ötrangers (Liber Vitae). (C. Schmidt, Notice
sor r^glise rouge et la Uproserie de Strasbourg. Bnlletin 1876 h
1878, p. 258.)
3. Der anter Dr. Pappne cor eyang^-lath. Kirclie übergetretene
Stiftspropst Manritins Uebernea und sein Denkmal.
(1597-1607.)
Zu St. Marx in Sträsöbürg befindet sieb in der Schreiberstube
das schöne Denkmal von Mauritius üeberheu, Propst von Jüng-
st Peter, der (in seinem Alter) zur lutherischen Itirche übertrat und
Tor seinem vTode (f 1608) sein ganzes Vermögen (60,000 Gulden)
St. Marx stiftete, tirorunter ein Itapital von 8000 Gfulden zur Unter-
stützung für studierende Bürgersöhne, dessen Zinsen noch heute zu
dem bezeichneten Zweck fallen. (Eöhrich, Gesch. d. Elsass Qt, S. 60.)
•Die äusserst reiche Umrahmung des Bildes ist eine der schönsten
nnd stilvollsten Holzarbeiten der Renaissance im Elsass. Die das
Bild umstellende Säulenarchitektur ist geradezu vollendet.» (Kraus,
Kaast tfnd Altertum im Elsass I» p. 553.)
Die PhotogEsphie des Denkmals imd seiner Inschriften bei^det
sich ini «Dkilletiii de Uk Soei6t6 pour la consertatien des mottuments
hiiloriques de TAlsace» X, 200, 201.
Siehe auch Bezirksarchiv G. 4905 : Protokollbuch der Sitaungto
des Kapitels von Jnng-St. Peter, geschrieben von Mauritius Ueberheu.
Im Stadtarchiv siehe Ihe Citation des Propstes vor den Kardinal
von Lothringen.
4. Verhältnis des Stifts zur Anssätsigen-Rirche auf Gntleuten
(„St. Helena'').
n y avait quelques relutions mal d^finies entre Ste-Hüene et le
chi^itre de Saint-Pierre-le-Jeune ; la seule chose positive que Ton
Sache, c'est que le 25 avril, jour de Saint-Marc, les chanoines faisaient
k Bbthenhirchen (IVglise rouge de Ste-HöUne) la procession des rogations
dite la grande litanie. («25 aprilis fit processio in Rotenkirchen.»
lAber vitae de Saint-Pierre-le-Jeune. Grandidler, Oeuvres in^dites,
t. VI, p. 290.) (Aus : C. Schmidt, Notice sur Töglise et la l§proserie
de Sü-asb. Bulletin 1876—1878, p. 240.)
Tous les Upreux de la l^proserie de Strasbourg (Ste-H6Une)
qui se prßsentaient pouvaient assister au repas donn6 le mercredi de
la Semaine-Sainte par le chapitre de Saint-Pierre-le-Jeune. La ils
^taient sous la surveillance d^un agent; quand il sonnait 3 heures,
il les faisait sortir par la porte de Pierre. (Ibidem.)
- 60 —
5. Verhältnis des Stifts su dem Stift
1327 baute Bitter Heinrich van Müb^heim in der Steinstnoe
eine Kirche, welche er mit Gütern beschenkte und dem Jung-Si. Beter»
Stift unterstdUe, indem er sich und seinen Nachkommen das Palronat
Torbehielt. Er kaufte auch von dem Kapitel das Ho&errenxecht
(dominium) über den Pflngershof (grosser Gartneishof, den Otto
Pfluger als Erbkhn vom KapiUH zwn Jungen St, BeUr besessen hatte.
Siehe hierüber die Quellenarbeit: «DasBethaus von AllerheiÜgeji»
von Hermann von MÜUenheim-Bechberg, Strassburg 1860.
6. Die das Jnng-St« Petorstifl; WBliegendea Gassen.
(Aus C. Schmidt, fiiiiser- und Gassennamen.)
Als man am Anfang des 13. Jahrhunderts die Stadt nach dieser
Seite hin erweiterte, errichtete man unweit der Kirche, an der Hl
beim Eingang der Burggasse, einen Thorturm, Burgthor oder porta
S. Petri junioris genannt.
Die heutige Blanwolkengasse wird noch 1587 nicht anders
bezeichnet als *am Basemarkt (Brogliej um d<i8 Eck hinum nach dem
Jungen St. Peter hinab». In dieser Gasse stand u. a. :
Der Hof der Aebtissin von Andlau 1466, 1479.
Der Hof der MiUnheim, der Kirche gegenüber. 1396, 1449.
Eine Curia dicta zu dem Wolmecher, Hof der Kagenecke, gegen
der Kirche über, 1395, 1396.
Eine Curia dictorum Zorn de Bulach 1396, 1432.
Die Bnrggasse wurde 1291, 1687 nach dem vor alters bei der
Kirche zum Jungen St Peter stehenden Burgthor benannt.
In dieser Gasse stand im Mittelalter ein Kapiteihaus des Jungen
St. Peter im Jahr, 1317 von dem Canonicus Peter von Schöneck
bewohnt.
Die heutige Grosskirchgasse heisst in den Urkunden :
Vicus S. Petri junioris 1296, Kirchgasse 1376, 1427, die grosse
Kirchgasse 1587 ^ Grande rue de TEglise).
In der Gasse war :
1. die Bäckerei des Kapitels zum Jungen St. Peter 1376, 1466.
2. Domus zu Hübelin 1388; wahrBcheinlich dasselbe Haus wie
das zum Bühet, in dem 1568 Mathis Pfarrer starb. Hübel, Bühl
kleiner Hügel.
Dieser Mathis Pfarrer ^ Atnmeister 1527, 1583, 1539, 1545, 1551,
1 557, 1563, und Kirchenpfieger zu Jung-St. Peter, hatte zur Frsu
die Tochter des Seb. Brant^ Esther genannt (nach andern Euphrosine),
•hat gewohnt in dem grossem Eckhus urtten an der grossen Kirch-
gasse». vBühelers Chronik.)
Als, nach der 7. Wahl, er seines Alters und seiner Gebrechlichkeit
wegen das Amt verweigerte, machte der Rat, um ihn umzustimmen,
eine Ausnahme mit ihm und versprach ihm sein Nachtessen an
jedem Abend, den er vorschriftsmässig im Rathhaus zubnngen sollte,
in seine Wohnung zu senden, wo ihm auch erlaubt wurde, die öfFent'
liehen Angelegenheiten zu besprechen und zu regeln.
— 61 —
Et starb in diesem Hause im Jahre 1668, 14. Februar, «bey den
Guten leuten begraben». 2&00 Personen begleiteten seine Leiche.
(Piton, Strasb. ill. I, p. 59.)
Capito^ der erste evangelische Jung-St Peterpfarrer, bewohnte das
Stiftshaus auf dem Platz jetzt «H6tel de France» genannt (früher
»Zum Fünfzehnsolsstück».)
• Capito starb in dem grossen Eckhaus zum Jungen St. Peter
oben in der grossen Kirchengasse, wo der Orendei (d h. eine mit
Zinnen yersehene Mauer) am Hause ist, genannt zum Vogelsang. —
Hat aber nit lang darin gewohnt.» (Bühelers Chronik. Pp. RoBhrich.)
An dieses Haus knüpfte sich eine Sage, den auf einem starken
Knaufe inmitten der Zinnen sitzenden steinernen Hund betreffend.
Diese Sage wird erzählt in dem Indicateury gedruckt bei
Dannbach, im Jahre 1847. (Lambs, Die Jung St. Peterkirche, ö. 4ö.)
3. Curia Walthers von Mülnheim, Canonicus zum Jungen St. Peter.
(Schmidt, p. 96.)
Ueber die Thomannsgasse (die noch heute im Volksmund
„Dmumeloch" genannt wird) berichtet Schmidt: «Ursprünglich be-
wohnten die Canonici des Jungen St. Peter, ihrer Regel gem&ss, ein
gemeinsames Haus. Nun war aber im Dummenloch ein Baumgarten
(pomerium); könnte dieser nicht in der Zeit, als die Herren noch
nicht jeder eine eigene curia daustralis besassen, also etuHi vor der
Mitte des 12^ Jahrhunderts^ ihr gemeinsamer Garten oder Spazierplatz
gewesen sein?» — Als dann die Canonici eigene Hauser mit G&rten
bezogen, hatte der Spazierplatz keinen Wert mehr für sie; ein Teil
davon ward überbaut, und es blieb nur noch der von niemand mehr
verstandene «Dummenloch», d. h. Dume = Domini, loch = Qarten.»
(S. 61.)
Im Gässlein hinter der Kirche hiess Nr. 2 im Jahre 1395
Curia zu dem WöUneeher und noch 1757 Kanonikathaus Cagineck,
Cageneck oder Kageneck, genannt, neben dem grossen Glockenturm,
von dem chanoine de Reigemorte bewohnt 1757 (hatte TerrassCi
Qarten xmd Gloriette auf den Stadtgraben).
Die Kleinkirchgasse.
Anno 1365 verkauften die Erben des Ritters Rudolph Stuben-
weg dem Kapitel zum Jungen St. Peter die H&nser des cStubenwege-
gesselin« (= Gässlein), welches später Kkinkirchgesselin (1466, 1587)
Petite rue de TEglise genannt wurde. (Schmidt, S. 181.)
III.
Memorabilia
quaedam Ar^entorati observata.
Mitgeteilt von
Alexander Tille
in Leipzig.
Die im folgenden getreu wiedergegebene Handschrift aus
dem alten Strassburg beßndet sich im Besitze des Gutsbesitzers
Georg Falck in Friedberg in Hessen. Derselbe erhielt sie mit
allerlei Briefschaften gelegentlich von Bekannten. Ueber ihre
frühere Geschichte ist nichts bekannt.
Die hs enthält 2 Bogen, also 4 Bl. klein Folio. Bogen 1
enthält Memorabilia quaedam Argentorati observata. Bogen 2
statistische Aufzeichnungen von 1582 bis 1604 über die Aniahl
der Gestorbenen, Getauften, Hochzeiten, Gefangenen, der in den
Kirchen gesammelten Gelder und der aus der Stadt ausgeführten
Waren. Vertreten sind die Jahre 1582, 1586, 1587, 1603, 1604;
von 1586 an finden sich auch Nachrichten über die in den Spi-
tälern Gespeisten und über die Kindbettnerinnen. Auf Bl. 4 ^
(Bogen 2, Bl. 2^), also am Schlüsse, findet sich im Umfange
von nicht ganz einer halben Seite ein Verzeichnis der Profes-
sores Argentinenses und rechts daneben der Medici Argenti-
nenses. Dazwischen sind mit jüngerer, rot aussehender, schlech-
terer Tinte von einer anderen Hand allerlei z. T. sehr verwischte
- 63 -^
Bemerkungen über kneblein, Zwilling, Dreyling, vierliche ein-
getragen, die aber nur noch zum Teil lesbar sind. Die Pro-
fessores sind eingeteilt in 1. Theologi, 2. Jurisconsulti, 3. Me-
dici, Philosophi, Physicus.
Der erste Bogen ist gleichmässig von einer Hand geschrieben.
Der zweite Bogen weist etwas grössere Schriflzuge auf, der
Zug stimmt aber ganz genau mit der Hand des ersten Bogens.
In derselben Schrift., wie sie der zweite Bogen hat, weist
der erste einige Randbemerkungen auf, die ich als cursiv
wiedergebe.
Ergänzungen an unlesbaren Stellen unterpunktiere ich.
Im allgemeinen ist Frakturschrift angewendet. Die An-
tiqua gebe ich nicht besonders an. Bis auf die Bruchstellen
ist die Schrift deutlich leserlich. Die einzige Abkürzung, die
verwendet wird, ist 9 für us.
Ueber den Verfasser lassen sich nur Vermutungen auf-
stellen. Dem Inhalt der hs nach war er sicher weder Greist-
Hcher noch Professor an der Universität. Wie die Ueberschrift
zeigt, war er jedoch des Lateins kundig. Er war kein geborener
Strassburger, denn 1&, Z. 2 sagt er: «Das Steinstrasser thor
(da ich hinein Von Schilcken kommen bin).» Dies deutet sicher
auf eine Einwanderung. Das kirchliche Interesse war bei ihm
sehr ausgeprägt. Jedenfalls war er noch jung. Vielleicht ein
Student, obgleich dies an der Stelle, wo er von der Universi-
tätsgerichtsbarkeit spricht, nicht hervortritt. Oder ein gebildeter
Buchdrucker? Von den Handwerken weiss er in der Bäckerei
offenbar am besten Bescheid. Aber dies Hesse sich leicht da-
durch erklären, dass er bei einem Bäcker wohnte, dass sein
Vater oder ein sonstiger Verwandter Bäcker war. Jedenfalls
lohnt es nicht, darüber sich den Kopf zu zerbrechen.
Die hs enthält eine Reihe bemerkenswerte kulturhistorische
Angaben und ist für die Kenntnis des Strassburger Lebens im
Anfang des 17. Jahrhunderts nicht ohne Wert.
Nach dem Schlüsse der Memorabilia Bl. 2t> scheint die
hs bald nach dem Februar 1605 gemacht zu sein.
Das Verzeichnis der Professoren und Aerzte ist folgendes :
Professores Argentinenses. Mediei Argentinenses.
1. Theolog i. D. Joh. Lud. Hauenreuter.
D. Johan Pappus. D. Daniel Rixinger.
D. Philipp Marbach. D. Melchior Sebicius.
Licent. Faber. D. Israel Spachius.
M. Barthol Hesser. D. Lucas Eberling al. Verreobus.
M. Thobias Specan Hebrseus. D. Bingler.
M. Job. Pappus Extraordinarius. D. Saltzmann.
- 64 —
2. Jarisconsalti. D. Agerias Acker.
D. Georgras Obrecht D. Snltzeras.
D. Melchior Junias. D. Moub.
D. . . . Michael Reutems. D. Ebersperger.
D. JuBtns Meyerns. D. Marcxm.
3. Medici. ^- Ulricns Gigems Mes. feb. A.
D. Melchior Sebicins. ^^^- ^^^t.
D. Israel Spachius.
Philosophi.
D. Joh. Lndov. Hauenreater.
PhysicQS.
D. Daniel Rixinger Logicus.
M. Marcas . . . Rhetor.
M. Laur. Thomas Walliser Emicos (Mnsicus?).
M. Michael Busch Graecas.
M. Isacas Natholus Mathematicus.
Zu D. Ulricus Gigerus scheint Mes. feb. A. 605 obijt nach-
getragen zu sein. Demnach wäre das Verzeichnis vor demlFe-
bruar angefertigt gewesen und hätte dann nur noch eine kleine
Durchsicht erfahren.
Unter anderem enthält die hs die älteste bisher nach-
gewiesene Nachricht über den Weihnachtsbaum , welche seine
Erwähnung in Dannhauers Katechismusmilch, Strassburg 1646,
noch um 40 Jahre äl>erbietet.
Memorabilia quaedam Argentorati observata.
Eusserste Es seindt erstlich 9 Pforten an den Fürstetten. 1. das Stein- [BL la]
Pforten strasser thor (da ich hinein Von Schilcken kommen bin). 2, Weisser
der Statt, thnm, 3. Kronbargerthor. 4. Elisabethenthor. ö. Spitalthor.
6. Metzgerthor. 7. Neuthor. 8. Fischerthor. 9. Jadenthom. Fftr ^
diessen thoren masz allzeitt Schildtwacht gehalten werden.
Auff den thürnen masz einer stetigs sitzen vndt acht nehmen.
wan Rentter konunen so schlegt er vff die glocken so viel
schleg alsz der Rentter seindt, damitt er der Scharwacht i
ein Zeichen gebe, dasz sie sich zn ihren wehren schickten, auch ^^
sie ^ sprachten so es anszlendische weren.
Znm Juden thorn hinansz ist l. der Armbrust reyen.^ 2. die
Bleiche da man das thnch bleichet. Da musz man von einer ehlen
thuch 3 od 4 Pfennig geben, den es seindt gärten etlicher leute
die daselbsten wohnen. 3. der Schiesz reyen ^ da man mitt Büchse ^^
1 "Schar* ist durchstrichen.
s Ueber dem Raum kurz vor «sprachten» und das s dieses
Wortes ist mit der roten Tinte der 8. 4b unten ein Zeichen geuiacht,
das aussieht wie ein «be».
^ Auf das 7 ist mit der roten Tinte ein «i» korrigiert
— 05 —
achenst Oarauff stehen 15 Schiesz henszlein vndt 16 Scheiben.
4 die Lohemal, Spitalmtd, Palvermül, habermül,
Schleiffinül vndt Flachs od BlaüelmüL ö. die Schiessmatten
da marh die schiff machet, der kieffer Dauben, der Schreiner
thieln etc. 6. Der kieffer brenhütten darin sie branten wein so
brennen den keiner in der Statt brennen darff. 7. Der Be-
cker Seostall. Da selbsten hinansz knmpt man bey den Ziegel-
hatten hinansg auff die Bnpprecht auw, welches ist ein Dorff,
sehr weitt, stehet kein hansz bey dem andern, den was zn
einem hansz gehöret als Schenren, Stall, Acker, Wiessen, ^
Gerten das liget alles bey samen.
Die Schwartzbecken od. Hanszbecken dörffen nicht vber
Zwey Schwein halten, die weill ihnen das mehl ins hansz
gegeben wirt, die Weiszbecken aber mögen ihrer so viel halte
als ihnen geliebet, dieweill sie kenffen müssen was zn ihre ^
backen gehöret, davon sie viel kleihen vndt ands machen.
Die Weiszbecken haben ihre Schwein f&r dem Judenthnrn, die
Schwartzbecken aber in der Statt.
mestenl
So man einen Schwartzbecken ein Sester mehl bringt, zn
backen, so giebi er ihm zwey keine ^ brötlein welche sie Mittschelen ^^
nennen, bringt man ihm viel Sester. so bekumpt man auch viel
Mittschien, möchten bey vns zwey ein pfennig kosten, werden [Bl. la]
aber allhie nicht verkanfft.
Zmn Anderen Seindt die fömembsten brücken diese : 1 . S. Catharein
brücken, 2. Steffensbrück, 3. Thomasbrück, 4. Clanszbrücken, 5. Neu- ^o
brück. 6. Schiebrück. 7. holtzbrück. 3 Hoher steg. 9. 5 gedeckte
brücken. 10. 2 Steinen brücken. 11. 3 anffen Boszmarkt. 12. 1
beym Weisenhansz. 13. 15 andere, etc.
Zum dritten Märckte in der Statt 1. Roszmarck. 2. Fischmarck.
3. Saltzmarck. 4. kornmarck. 6. Wein vndt holtzmarck auff Bar- ^^
fösser Pflatz. 6. Schwein vndt holtz marck bey der Metzig.
7. Fronhoff- beim thiergarten, bischoffshoff vndt Münster. Da
ist allen freytag wen der wochenmarck ist allerhandt Essenspeisz
auch heffen od topfen etc. feyl. ^
[Bl. Ib]
Die Bauren dörffen nicht zum Pfennig thum auff den Freytag
einfahren mitt den holtzw&gen, bisz so lang der wein verkanfft ist.
Das meieste holtz aber wirdt auffem Wasser herein bracht.
Ein Arm des Rheins fleust in die Statt in die Brmsch,
welche für der Statt die 111 genömet wirdt. > [fleust auch durch
die Statt] *
1 In der angegebenen Weise überschrieben.
2 = kleine?
' Von dieser Zeile ist t welche für der Statt» und «genömet
wirdt« ausgestrichen und von einer späteren flüchtigen Hand mit
annähernd derselben Tinte hinzugefügt hinter «wirdt» : fleust auch
durch die Statt, so dass der Satz entsteht : «Die 111 fleust auch
durch die Statt«.
— 66 —
Fün£f seindt gefengnnsz in der Statt mitt dem Denmelthnm.
Es seindt sieben Pfarrkirchen zu Straszbarg.
1. Das Münster (vnser Frawen) welches ö74 Werckschne
hoch ist, hatt 547 staffeln bisz an die oberste Schnecken. Darinn
wirt allen tag dreymal geprediget mit dem frügebett od &üe ^^
predig, ohn aaff den Sontag vff welchem Viermal gepredigt wirdt.
der PfarrHerr im Münster (den ein iede kirchen hatt nnr einen
PfarrHer welcher seine Helffer oder Diaconos hatt) ist Caspamsi Schal
1er. 3 Helffer N. Schüring N. Gottwaltz N. Rentter.
Das Münster stehet alltzeitt offen dasz ein freyer gang dardnrch ist, i^
ohn anff den abendt machet man es zn. Darin ist das schöne
vndt künstliche Vhrwerck, für welchem alletzeit lentte stehen das sel-
bige zu beschauen, welches vmb II vndt umb 3 vhren gesäng [Bl. Ib]
schleget, vndt sonsten viel kunstreiche stück daran gesehen werden
2. S. Thomas. Ist Pfarr Herr Barthol. Nasser» Helffer Joh. Thonicns ^
Nicol. Herberger.
3. Jnng S. Peter Pfarr Herr Joh. Lipp. Helffer Tobias . . .
Petrus Phorhios.
4. Alt S. Peter Pfarr Her Pangratius Zenacker
Helffer Joh. Frey N. Schilli
5. S. Clausz Pfarr Her N. Speckser. Helffer N. Thomas. »
6. S. Wilhelm Pfarr Herr Carolus N. Helffer N. Pappus
M. Paulus Crusius. Molendinus. P. Caes.
7. S. Aurelien Pfarr Herr N. Crugius.
Helffer N N. Von Heiligenstatt.
D. Pappus prediget im Münster die Wochen zweymal. Am ^^
Sontag vmb 12. vndt am Dinstag frü am Bettag.
Licentiatus Faber frey Predig er, prediget wan er will.
M. Casparus klei.
Zu S Johannis Haupt halten die Papisten Mesz.
Zu S. Margreten seindt Nonnen welche Wunden, bösse ge- ^
schwvr etc. heilen darausz eine gen Offenburg kommen
welche 1603 besessen gewessen, od wie man darfür helt sie
sich also gestelt hatt Ist ein schön büchlein darvon im truck auszgäg
ein £s ist alle 4 wochen vff den Zinsztag allhier Bettag
Gross- Es wirt alle tag vmb 9 vhr die Bettglocken geleutet * *^
bettag Es predigen die ande pfarher vndt helffer auch im münster.
Zu S. Vrelien wirdt am Sontag zu mittag auch geprediget«
Es wirdt allhier alle Fest vndt Sontag zu morgen in allen [Bl. 2a]
kirchen zweymahl geopfert in ein Weissen vndt in einen
Schwartzen sack. Davon die Wilhelmitter oder Stipendiate
vndt vom andern die Arme leutte erhalten werden :
Zu S. Marx seindt auch Arme Schüler. ^
Es seindt 7 teutsche schüln zu Straszburg bey einer ie*
den kirche eine. 1. S. Vrelien 2. S. Thomas. 3. Alt
S. Peter. 4. Jung S. Peter, ö. S. Willhelm. 6. S. Nicolaus
7. Zum Statt Peiffern. Zum Münster gehörig.
^ Das Zeichen 9 wechselt mit us, ist aber noch in der Mehrheit
— 67 —
Wen die leutte zu Straszbarg in die kirchen kommen, so [Bl. 2a] lo
kehren sie sich schalt nach dem Altar obschon ihre stuhl darnach
nicht gewendet seindt Weibspersonen knien nieder vnd thnn
ihr gebett darnach setzen sie sich. Item So der Pfarr Herr ein
gebett spricht knieen die Weiber so sie es können, biss er ansz-
gebetet So die Weibspersonen in die kirchen kommen i^
oder daraosz gehen geben sie den nechsten lentten in ihrem
oder darbey stahlen vndt ihren nechsten die händt.
Es gehet kein Weibsperson allhier in Mänteln, so sie aber
Zmn Nachtmal oder auff die Sontag in die kirchen gehen so
haben sie ein klejnes mentlein ohne falten 2 handt breitt ^
i fernen omgekrepfet vmb. Die gartener weiber haben lange
^ schwartze beltz vmb ein leylachen vmb sich hencket.
^ So für ein krancke person fargebeten wirdt so kumpt ie-
mandt ausz des krancken hansze
Daranff dan stehet dass far ein solche od. andere person ein ^^
gebett die gemeine sprechen wolle vndt leget sie an ein
gewisz ort an den Predig Stnhl. Damach werden die selbigen
briefflein wen die predig halt ansz ist gesamlet vndt dem
Pfarr Herr gegeben, welcher eines nach dem andern verlieset.
Auf Weihenachten gibt man den kindem (ein woche znvor) ^
einen sprach einem itylichen, welchen sie 1. die knaben vff
Christag 2. die Megtlein aber aufP New Jahrstag beten
müssen, werden darnach einem ieden 1. 2. 3. 4. ^J od. anch
büchlein verehret.
Es darfF kein megtlein zu Strassbarg zum Nachtmal gehen ^
itkt es sey den Manbar. Die knaben aber nicht vnter 19 od 20 Jahre
K^ So ein feaer in der Statt entstehet muss ein ieder bürger
Jf^ ein brennende Incem für sein hansz hencken: Er aber
r^ mnss in der Rüstung stehen. Werden in ein ieder gassen
die zum Münster gehen geschütz geführet zur gassen hinein ^
gekehret. Es darff sich auch nimandt von gesindtlein auff
der gassen finden lassen. Seindt eigen leutt bestelt das
fener zu löschen.
Der Stattmeister zu Straszburg ist ein stattlicher vom Adel [61. 2b]
Doch wii-t alle Vierthel Jahr ein neuer.
Der Ammeister zu Straszburg muss (regularive) von seinen vier
anhem ein bauer oder Bürger zu Straszburg sein, welcher macht
hatt, einen ins gefengnüsz zu setzen, aber nicht losz zu lassen ^
den das musz der Stattmeister thun.
Form Ammeister werden anch die Studiosi verklagt vndt nicht
fürm Magnifico.
So sich iemandes versündiget doch nicht leibs straff verdienet od. . .
dasz ers mitt gelt ablegen möchte, musz er im Schellen Werck i^
am Wall bauen, doch wirt ihm kost vndt herberg gegeben.
So einer auff den Pfenningthurn kumpt od zu einem drey
er Herrn gesetzt würde, gibt man ihm 1000 fl. drey Jahr
80 er sie begeret zu gebrauchen ohn pension vndt Interesse
musz sie aber in dem dritten Jahr wider erstatten.
— 68 —
So man ettwas kaufft zu Straszbarg mdt sobalt das nicht
bezahlet, gibt man ihm einen Gottspfennig, (ist ein Pfennig)
daranff zur Versicherung, den brichet er. wirdt gemeingUch
armen leatten vmb Gottswillen gegeben.
Anff Weihenachten richtett man Dannenb&nm zn Straszbarg ^
in den stuben anff daran hencket man roszen aasz vielfarbigem
papier geschnitten, Aepfel, Oblaten, Zischgolt, Zucker etc. Man
pflegt darum ein viereckent ramen zn machen« vndt vorrn
«
der Stattmüller halb
Den 11. 12. IH. tag Febrüari. An. 1605 haben die Schreiner mitt
sampt ihren weibem ein Comoediam agiret, darinnen gewessen sein
die Gerechtigkeitt, Fürsichtigkeitt, Wahrheitt, die Yierzeitten des
Jahrs. Die 12 himlische Zeichen vndt was man alle Vierthel Jahr
handelt ^
Ein wilder Man, Ein wilde fraw, ein Bauer. Haben ein sehr
gross bildt ausz holtz gemacht vndt auff einen wagen welchen sie
auch darzu gemacht gesetzt. Item Ein Schiff darinnen ein Schlosz
gestanden. Ein schönen Sessel, vndt all ihr Werckzeug sehr grosz.
ausz holtz alles geschnitten. Ihre kleidung seindt all ausz Hobel- ^
spenen gemacht sehr artiglich, hüt, federn, kleidung etc.
Den 13 tag zu Abendt nach 9 vhren haben sie das Schlosz [Bl. 2b]
auff der Breusch mitt einem lustigen Feuerwerck welches ein
halbe stunde gewehret, verbrandt, haben Wasserkugeln ins Wasser
geworffen, welche brennende seindt geflossen. Racketen in die. ^
lufft fliehen lassen. Damitt sie haben wollen anzeigen, dass sie
nun nicht mehr bey licht arbeiten dörffen, welches sie das
Licht verbrennen heissen. Ist ein sehr grosz vnkosten darauff
gangen. Welche Schreiner noch gesellen nicht haben mitt in
dem Spiel sein haben ein ieder eine fl. dem handtwerck ^
geben müssen, nicht zn straff, sondn dass sie den vnkosten
möchte desto leichter abzahlen. Der einzige sessel nur 8 fl.
zu mahlen gekostet.
IV.
Auszug
ans d«r
Chronik der Stadt Ingweiler
Von
Fritz Letz
in Ingweiler.
Der dreissigjährige Krieg, 1618—1648.
Uieser schreckliche Krieg, in unserer Gegend nur der
Sehwedenkrieg genannt, hat furchtbare Verwüstungen auch in
unserem Städtchen angerichtet. 4622, als der Graf von Mansfeld
in das Elsass eingefallen, hatte der Graf von Hanau demselben
100,000 Gulden bezahlt, damit er sein Land verschone, und
dann in seinem ganzen Land bekannt gemacht, dass, wer
etwas an Kostbarkeiten, Geld u. dgl. habe, solle es . in eine
der vier Städte thun : Buchsweiler, Neuweiler, Pfaffenhofen und
Ingweiler. Unsere Stadt war damals gestopft voll Habselig-
keiten und Menschen, die sich hierher gefluchtet hatten. Bis
drüben von Ingenheim waren sie gekommen. 110 Personen
starben in diesem Jahr, nur ungefähr 30 waren von hier und
Menchhofen, alle anderen waren Flüchtlinge, welche sich von
Ende April bis Ausgang September hier aufhielten. — Es
bestand damals hier eine Schützengesellschaft. Dieselbe hatte
vor dem Unterthor draussen, auf der Stätte, die heule noch
tauf der Schiessmauer» heisst (ohne dass jemand von hier
mehr wüs.ste, was das Wort bedeutet), ihr Schiesshaus samt
— 70 —
Schiessrain und Schiessmauer (Kugeltang). Die Stadt gab der-
selben jedes Jahr einen Beitrag von iO Gulden zum Verschiessen
und liess den «Schiesbronnen zu fegen, gibt jahrs einer
Frau dafür 2 schilling^D. Diese Schützengesellschafl nahm an dem
Scharmützel bei Gichweyler,* am 3. Juni 1622 teil. Es sind
daselbst erschossen und tödlich verwundet worden 3 Mann von
hier und einer von Menchhofen, namens Wendung Schiess.
Die drei von hier hiessen Hans Kürschner, Peter Häusser und
Peter Förster, der ^Schmidt». 1624 erging eine Schätzung im
ganzen Land, die grosse Schuld abzubezahlen, «giebt dazu die
Judenschafl 50 Gulden» ; auch die Stadt wurde sehr hoch
angelegt. «Der Bürgermeister und Schultheis nach Buchsweiler
gangen, sich allerhöchst zu beschwehren der hohen Schätzung
halbens). — Unser Stadtchen blieb nun merkwürdigerweise
vor grösseren üebertallen lange vei^schont. PfafTenhofen und
Obermodern dagegen waren 1634 schon ganz zerstört; es
befanden sich von dort viele Flüchtlinge hier; Magister Böhringer,
Pfarrer von Obermodern, hielt sich hier auf bis 1642, weil
ein Dorf ganz ausgestorben war. Es scheint, dass in dieser
Zeit in der ganzen Umgegend kein Pfarrer sich mehr befand,
denn von 1632 — 36 sind aus der ganzen Umgegend die Kinder
hier getauft worden. Gross war auch hier die Sterblichkeit.
Früher starben in einem normalen Jahr 25 Personen, 1632
i^chon 58, darunter aber ein Drittel fremde Flüchtlinge,
1633 : 78, 1634 : 68, 1635 : 98 Personen. 1636 fingen auch
für unser armes Städtlein die Schrecken des Kri^es an. Den
21. August wurde dasselbe von Schweden überfallen, es waren
Reiter vom Kaltenbach'schen Regiment, welche im Sturm in
die Stadt eindrangen. Dieselben ermordeten drei Einwohner,
den Stubenwirt Melchior Riff, Michael Beuerlein, den Becker,
und Michael Hoffmann, einen Gerberjungen. Wie schrecklieb
sie hier hausten, zeigt uns folgender wortgetreue Auszog :
«[Dienstag den 30. Kunigund, hans Seltzers dochter von Wim-
menau, des Sternenwirths magd, so von den Buttern genoth-
züchtiget und dermassen zugerichtet, dass sie in 2 tagen gesund
und tod gewessen, begraben worden.» Schaudern durchrieselt
einen beim Auffinden solcher Notizen. Nach den Schweden
kamen die Kaiserlichen. Es fand ein Treffen hier statt, wobei
mehrere Reiter, samt einem Fähndrich und einem Obristwacht-
raeister fielen. Von Feldherren waren hier im Quartier Graf
Gallas, • Graf zu Solms-Laubach und der Baron de Shuisse.
^ Eine Klause samt Kapelle anderthalb Kilometer von hier;
darüber näheres in der Chronik, welche ans den Akten des Stadt-
und Pfarrarchivs geschöpft ist.
— 71 —
Der Stadtsclireiber, welcher während der Zeit die Beeth (Steuer)
einsammeln musste, schreibt, dass er solches gethan habe «unter
grösster leibes vnd lebens gefahr». Es starben in diesem Jahr
220 Personen. - Im Hornung 1637 kam ein Regiment schwe-
discher Infanterie vor die Thore, und der Oberst desselben von
Wurmbrand begehrte Einlass. Die Bürger, welche nicht wussten,
ob sie ihm willfahren sollten, begaben sich nach Buchsweiler
zu den Herren Räten. Diese gaben ihnen Bescheid, sich an
den gnädigen Herrn zu wenden, der Graf befände sich in
Hagenau, Strassburg oder im Schloss zu Wolfisheim. Man
schickte nun auf jeden dieser Plätze zwei Bürger, um Bescheid
zu holen ; unterdessen gab man den Soldaten Brot und Wein
vors Thor. Dieselben logierten sich über Nacht in den Mühlen
und Gerbershäusem ein und diejenigen, welche keinen Platz be-
kamen, zogen nach Weinburg. Des andern Tages kamen die
Boten zurück mit der Weisung, die Truppen einzulassen, was
auch geschah. In aller Eile wurde nun die Stadt in Vertei-
digungszustand versetzt, die Mauern wurden nachgesehen und
ausgebessert, neue Fallbrücken an den Thoren angebracht,
dieselben mit Pallissaden umgeben. Bei der Röthdarre wurde
ein Blockhaus errichtet. Vom Lichlenberger Schloss kamen etliche
Zentner Pulver und Blei, und der Seiler von hier musste etliche
Klafter Lunten machen. «Mittwoch den 41. Aprilis kamen die
Kayserlichen vnter dem Obristen Bamberger, und berannten die
Stadt, mit Reiter und Fussvolk 4500 Mann stark, aber durch
Gottes Hülf, vnd der officieren vnd Soldaten man liehe gegen-
wehr abgetrieben worden, dass vber 50 Mann vom feindt, von
uns aber nur 2 verletzet worden. Gott sey für diesse gn. hülf
gross lob ehr vnd danck gesagt. Amen. Amen.)) Diesem Lob
und Dank des damaligen Vikars und Pfarrers Göter schliessen
wir uns von Herzen an. Denn auch die Bürger hatten bei
der Verteidigung der Stadt mitgeholfen, und wenn die Kaiser-
lichen die Stadt in ihre Gewalt bekommen hätten, so wären
nach damaligem Kriegsbrauch die Bürger sämtlich nieder-
gehauen worden und die Stadt in Rauch und Flammen auf-
gegangen. Nach dieser glücklich überstandenen Belagerung
liess die Stadt weissen Wein unter die Soldaten austeilen, an
die Bürger aber, a welche sich auf Mauern vnd Wache gewehret,
2 Ohm rothen wein». Der Weisswein wurde bezahlt mit
4 Gulden, der rote mit 4 Gulden 2 Schilling die Ohm. Von
den Wurmbrandischen Soldaten, die Ingweiler nun besetzt hielten,
hören wir nicht, dass sie Grausamkeiten begangen hätten ; sie
hielten, wie es scheint, Mannszucht , denn gleich bei ihrer
Ankunft liess der Profoss einen Pfosten zum Stockhaus setzen
und denselben mit Ketten belegen. Nachher kam dann noch
— 72 -
das Schmidburgische Regiment. * Die Leute dieses Regiments
scheinen nicht immer sehr sauber gehandelt zu haben, denn
der Pfarrer nannte sie Bettelbuben und haben dieselben Herrn
«Musculi, Pfarrers zu Imbsheim Wittwe, welche hier krank
lag, dermassen geänstiget und traktiret dass sie gestorben».
Diese Einquartierungen dürfen wir uns nicht vorstellen wie heut-
zutage. Wenn solch ein Regiment kam, so war dabei ein
ganzer Tross von Weibern und Kindern^ fast jeder Soldat hatte
seine Frau, oder wie der Pfarrer sie betitelte — bei Angabe voo
Taufpatinnen «war des Soldaten Frau oder Köchin». Wenn
ein Regiment eine Zeitlang in einem Städtlein lag, so \Tar
dasselbe ausgefressen. So finden wir, da^s nach Abzug der
Schweden die grösste Hungersnot hier herrschte. Als die Kai-
serlichen im Anzug waren, die Stadt zu belagern, flohen viele
Bürger mit Weib und Kind ins Gebirg ; bis nach Puberg
kamen sie, vier Stunden von hier. Wir hören von vielen Personen,
dass sie Hungers gestorben seien ; nur etliche Beispiele wollen
wir anführen : «Der Bürgermeister, Philipp Kleiss hat sich,
durch die Wurmbrandische Einquartirung gar verdorben, vnd
hungers halben sich gen Strassburg salvirt, allda gestorben.»
«1638 den 31. Janarius. Mittwoch, Magdalena, w. H. Job.
Ruprecht Ziedle Stadtschreibers wittib: vnd Margaretha, w.
Peter Fritschen des schmids p. n. wittib, begraben worden:
seind vor hunger verschmachtet. Dieser Peter Fritsch gieng
von hier nacher Strassburg um Brod für die seinigen zu
kaufen, aber im Brumather Wald, auf St. Thoma tag, weil
nur wenig Speiss im Leib, erfroren.» Der Pfarrer fügt bei:
«Gott woll sich der armen u. nothleidenden hertzlich erbarmen,
vnd von aller trangsal, noth u. Hunger gn. erretten. Amen.»
Bei einer Leiche finden wir ein «NB. Diese frau ist armuth
halber hungei*s verschmacht; bey ihrer leich nit mehr als ein
Mensch, Thomas heinrich^ der Welker erschienen, also ich
kein Sermon halten, vnd ohn einige sonst gebräuliche iäfc-
1 Dem Obersten dieses Regiments, Freiherm von Schmidborg,
scheint^s in Ingweiler gefallen za haben ; er wurde später hier an-
sässig und verehlichte sich mit Fräulein Magdalena Margaretha, der
Tochter von Janker Kraft von Waldmannshaosen, gräflich Hanaoischer
Oberfalknermei&ter von hier. Diese Familie von Schmidburg bestand
hier bis zur Revolation, wo dann ihre Qüter als Nationalgut einge-
zogen nnd versteigert wurden; sie hatte ihr Erbbegräbnis im Lang-
haus der Kirche.
2 Diese Familie Heinrich ist die einzige, von der orkandlich
bewiesen ist, dass sie vor dem 3Qj ährigen Krieg schon bestand nnd
heute hier noch besteht.
— 73 -
monien sie begraben lassen. Ist aber kein Wunder, sintemal
als Sonn vnd Bettag schier niemand mehr in die Kirch gehet.»
Femer ein Beispiel dafür, wie hart und fühllos der Krieg die
Leute machte : «NB. Vorige Woche nämlich den 14. Augustus
ist Maria, Dürr Diebolts Wittib von Ober Motem^ allhier ge-
storben, vnd hatt niemand sie begraben lassen wollen : ist
also biss in den 7. tag vnbegraben ligen blieben, vnd ein
pestlich geruch von sich geben : als ich nun solches den 7. tag
erfahren, hab ich M. Böringern ihrem Pfarrer i zugesprochen,
vnd dahin bewegt, dass er sich erklert, als den todtengi*äber
Lohn 8 pf. zu steuern: ich aber hab den todtengräber be-
stellet, ia mit gewalt vnd betrohung des thurms nöthigen
müssen, dass er sie begraben I 6 des greuels I 6 der schände !
das wir Christen einander nit mehr begraben wollen.» Durch
diegrosse Hungersnot und die herrschentlen ansteckenden Krank-
heiten, als Pest und c Porpein » (schwarze Blattern), wurde unser
Städüein so entvölkert, dass 1640 nur 6 Personen starben,
1641 4, 1642 5. Die meisten dieser Leute starben an der
Schwindsucht, jedenfalls infolge der grossen Not und Ent-
behrungen, welche sie durchmachen mussten. 1638 fanden nur
vier Taufen statt, 1639 sogar nur eine. Die Rinderpest scheint auch
grassiert zu haben, denn wir .finden: «Geben dem Nachrichter,
weil kein Wasenmeister da war, 5 Hund zu verträncken vnd
etliche Stück Vieh so ums Städtel herum lagen, zu verdelben,
8 Schilling.» Von 1639 bis zum Friedensschluss blieb unsere
Stadt von grösseren Kriegsschrecken verschont ; sie war ständig
von den Franzosen besetzt, welche im Bund mit den Schweden
den Krieg gegen den Kaiser fortsetzten und des Rufs genossen,
gute Mannszucht zu halten* Wie entvölkert unsere Stadt war
and wie sehr der Ackerhau danieder lag, dafür finden wir
einen schlagenden Bele^^ in den Bürgermeistereirechnungen. Es
heisst da zu Ende des Jahres 1638: «Alle die hier nicht bezahlt
angegebenen Posten sind als verloren zu betrachten sintemal
die meisten Leute gestorben vnd verdorben sind.j» Die von der
Stadt verlehnten Guter waren nicht mehr bebaut ; so hatte der
Sternenbergs damals Reben, die nie mehr später bebaut
wurden, ja es währte über hundert Jahre, bis sämtliches Land
wieder bepflanzt wurde. In den 1650er Jahren musste die Stadt
etliche Häuser abbrechen lassen, weil niemand sie bewohnte
^ War daznmalen hier als Flüchtling, da.m Pfarrverweser, hielt
den 10. August 1638 eine Leichenpredigt, bei d:r er bemerkt, dass dies
seit 78 Wochen wieder die erste Predigt sei.
2 Berg, eine Viert clstnnde von Ingweiler, an Ranschenbnrg
grenzend, jetzt mit Fichten nnd Buchen bedeckt.
— 74 —
und sie baufalli^^ wurden. Von 1638 bis 1720 ist kein Haus
zu finden, welches in dieser Periode gebaut worden wäre;
alle sind älteren oder neueren Datums.
Es giebt bei uns noch alte Gresangbücher, in welchen auch
Gebete enthalten sind, und in denen es nach der Bitte um
Abwendung der Feuers- und Wassersnot, Pestilenz und teueren
Zeit, heisst : «Vor Turk und Schwed behüt uns lieber Herre
Gott.» Unsere Vorfahren, wenn sie die benachbarten Bauern
wegen der Aussprache des e gleich ä necken wollten, sagten
folgenden Reim «Bat, Bür, Bat, hit kumt dr Schwad, mom
kumt dr Ochsastärn, ' dar wurt och Bura bäta lärn.> Im
Ingweiler Dialekt wurde dies lauten: Bet, Bur, Bet, hit
kumt dr Stthwed, morgen kumt dr Ochsenst^n, der word
eich Bure beten lehm. Unsere Stadt hatte vor dem SOjähngen
Krieg einen völlig ausgebildeten Handwerkerstand, in mancher
Hinsicht vollkommener als heute. Es waren Kürschner, Haftner,
Hafner, Hutraacher, Schwarz- und Schönfärber, Goldschmiede,
Silberarbeiter, Wollspinner, Wollenweber, lauter Handwerker,
die heute nicht mehr vorkommen. Aber nach dem Krie^
mussten die meisten Arbeiten, welche die Stadt machen Hess,
von auswärtigen Handwerkern verfertigt werden.
Das eine Stunde von hier liegende Dorf Wimmenau starb
ganz aus; von 1637 bis 1655 war keine lebende Seele mehr
darin. Diesem Umstand ist auch zuzuschreiben, dass dieser
Ort keinen Wald mehr besitzt. Der ganze grosse Wald, heute
noch bekannt unter dem Namen «Wimmenauer Waldj», gehörte
vor dem 3Qjährigen Krieg dem Ort. Als aber alles ausgestorben,
fiel der Gemeindewald der Herrschaft «caduc» anheim, und den
später sich wieder Ansiedelnden wurde kein Recht mehr daran
zu teil. — Um unsere Gegend wieder zu bevölkern, liess der
Graf von Hanau Schweizer kommen und gab denselben
einiges Feld unentgeltlich ; auch waren dieselben einige Jahre
steuerfrei. Hier in Ingweiler war wenigstens die Hälfte der
von 1650 bis 1670 nachweisbaren Bevölkerung Schweizer.
Dieselben waren fast alle calvinistischer Religion, hielten sich
aber nach und nach zur lutherischen Kirche ; jedoch in manchen
Ortschaften im Gebirge, wo sie vorwiegend waren, hat sich
das reformirte Bekenntnis bis heute erhalten.
Von 1660 ab wurde in der ganzen Grafschaft eine Bann Ver-
messung vorgenommen, hier bei uns 1667. Es war nämlich
alles in eine solche Verwilderung geraten, dass niemand mehr
recht wusste, was sein Eigentum war. Es musste nun jeder
Axel Oxenstierna, der schwedische Kanzler,
— 75 —
durch einen «Titer» vorweisen können, was ihm gehörte. War
der «Titer» verloren gegangen, so genügten auch zwei glaubhafte
Zeugen. Nun war aber viel Gut da, zu welchem keine Erben
erschienen, auch Häuser, welche der Stadt anheimfielen ; dieses
herrenlose Gut fiel der Herrschaft «caduc» anheim. Sie wollte
aber solches doch nicht alles behalten und schenkte den
grossten Teil davon, wozu sie übrigens vollkommen das Recht
hatte, der lutherischen Kirche. Daher stammt der grosse Güter-
besitz der hiesigen Kirchenfabrik.
Durch die Annexion an Frankreich^ nach dem West-
fälischen Friedensschluss 1648, verlor schliesslich unsere
Stadt fast alle ihre Rechte und Freiheiten, welche ihr früher
die deutschen Könige und Kaiser erteilt hatten. Doch darüber
näheres in der Chronik.
V.
Drei Lieder
auf Strassburgs üebergabe 1681.
Mitgeteilt von J. Bolte in Berlin (1 und 2)
und von E. Martin (3).
1. Von der schandlichen Uebergab der
Statt Strassburg.
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Glickh zue, Glickh nie, ent - erb - tes Kind, Far»
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nit mer find, Nam GrcU 'li ha ' bea k • gea.
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linguam. Wie gfalt dir das fran - zö - sisch Gslechi? Ar
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You, wie recht, Et si • mi • lis es flen - tis.
— 77 —
G)
lickh zue, Qlickh cne, enterbtes Kind !
FcTtnuuk efum tgu;
In meiner Schoss dich nit mer find,
Nam GdÜi habes leges.
Ich fehle gwis, das ich mit dir
Nan Gaüi loquar Ungtiam.
Wie gfalt dir das französisch Gsfchjlecht?
Ex corde die, quid sentia?
Tranrig gehst da darron, wie recht,
M sinUlis es fUntis,
2. Was weinst, betriebte Dochter mein?
Sed quid te dico natam?
Kein Reichsglid kanst du nit mehr sein
06 ßdem GaBo datam.
Zu spatt komt dir dein Jongfranwitz :
Fax (üma sie saneivit,
Gar wohl der rechte Gottes Bliz
Bebeüem te punitit.
Ludwig wird lehmen, glaube mir,
Te gaüic^ parlare.
Ja, ja, er wird gwis zeigen dir
Et Fapam honorare.
3. Anstatt dess Adlerss zn deim Lohn
Hemt fistukan pro equo !
Trägst du den Gogglhan darYon,
Par eis ut sie iniquo.
Der Hanne dich mit seinem Gschrey
Vigüias docebit,
Ein Magt bist iezt : anf, Eille frey,
Cantinuo striddfit
Anstatt der kleinen Gaarnison,
Quam priiu Caesar misit,
Mit 12 Tansendt zn deinem Honn
Te Ludovicus visit.
4. Dess frommen Adlerss siesses Joch,
8i iugum est vocandum,
War dir zu schwer, ach hetst es noch!
Sed tum est revocandum.
Leopoldss Gnad vnnd Güttigkeith
In vanum es äbusaj
Erkenst zu spatt mit Traurigkeith
Et gemitu iüusa.
Es ist nur Schad um deinen Nam,
lam non es Argentina,
Abghauen bist vom Reichessstamm,
GaUorum es GaUina.
— 78 —
5. Zugleich aach aasgeschlossen bist
Ex Ubra nostrae fntae^
Das hast dir gschmidt durch eigne Lüst^
Mercedem habes ruh.
Lehmen mnst du, wilst oder nit,
Nunc gäüich parlare,
Oezwangen bist, da hiUft kein Bitt
Te GäOo subiugare,
Ein frene Beichstatt warst zuTor,
^ro Ubera es serva,
Dis Liedlein singt mann dir ins Ohr :
E$ Agar, non Minerva.
6. Gehe hin, brang iezt mit deinem Gschiz,
Es gloria inanis,
Dein Macht vnd dein vermeinte Wiz
GäUarum sunt insanis.
All Freyheit hin, nur lehrer Schein
Cum iuribus antiquis,
So dir mitheilt der Kayser dein,
Evanuisse cemis.
Ach! Suech sie nit, da hasts qoitiert
Cum magnis compUmentis,
Das da Ladwig hast salatiert
Explosis cum tormentis.
7. Die Sacrament sibn an der Zahl
lam diu respuisti,
Der römisch Kirch, dem alten Stall
JProtervh restitisti,
Das Pfaffenwerkh, den Rosenkranz,
Thesaurum devatarum
Hast ring geschlagen in die Schanz
Ädhucque plura harum;
Hast iezt empfangen von dem Rey
Extremam unctionem,
Bekommen wirst gar bald darbey
Bomanam unctionem.
8. Recht also dises heisse Bad
Tibimet praeparästi,
Da da za deinem Ynglickhsrath
Gällum ad te vocästi.
Ein gnette Zeit za deinem Flnech
Passa epüepsiam, .
Hast nit gewnst, das Lilgengrach
Causet apapkxiam.
Den Freyheitzakher, den zavor
Tu dukiter gustabas,
Da Ladwig hast aafgmacht die Thor,
Cum feUe permutabas.
— 79 —
9. Adhi, jang88 FrandiöBelein',
Borte V0U8 ben francese ! . .
Wie schickhst dich in die Heselein? '.
^tffic me citpis adesse? >
Wie gfallt dir der Franshosen Pflicht
Parcia et iUorum?
Ach, alles ist auf Schranffen- gricht,
Tata vita Gättarum
Mit ihren geschliffiien CompHment
Et Mcuhiaveliemo ;
Schon habenss manchen Hofif verbrendt
Et vero Ätheismo.
10. Zn TÜ hast traut ihrem Äccordt;
Simt mera eomplimenta.
Erfahren hast, dass ihre Wort
Ventosa eUmewta,
Versprechen als, nit halten Til
Hae leges simt Oaiüorum;
Dan dises Sprichwort ist ihr Zyhl:
Nan sdavi sunt wrborum.
Doch, Strassbnrg, kanst nit klagen vill,
Non vi se intruserwit,
Sonder ans deinem eignen Will
Hi daves acceperumt,
11. Znm lesten was ich gmacht dir hab,
Dcientes genas rigo.
Ein Epitaphium aufs Grab,
Quod moerens hie affigo,
Dis solt dir sein die leste Ehr
Ä qwmdam tua matre,
Dein Schwesteren ein Lehr,
Ut maneant cum patre.
Den Kayser Leopoldnm gross,
Simul Josephum Eegem,
Erhalt, o Gott, in deiner Schoss
Et Oermanorum gregeml
Epitaphium.
12. An disem orth (borst meine Worth)
Heu! Vestra iacet soror,
Ein alte Dam tou alten Stamm
Et regni öUm hanor.
Ihr erster Stamm vnndt alter Namm
Ach! fuit Argentina.
Nach brochner Pflicht hört, was geschieht
Oaihrum fit gaMina.
— 80 —
Jezt bruet sie ans mit Schmerz vnd Spoth
Aetemam servitutem.
An Adlers statt ein Han iezt hat,
Qui accUpat ei cutem.
Ende.
Aus dem Berliner Mscr. germ. oct. 230, einem am 1685 in Baiem
geschriebenem Liederbjache, S. 87—95.
In Str. 12, 9 ist wohl zu lesen : c Jezt bmet sie hat mit Schmerz
vnd Spoth >.
In derselben Handschritt sieht auf S. 248 — 249 von anderer
Hand und ohne Melodie nachfolgendes Bruchstück eines auf
dasselbe Ereignis bezuglichen Liedes« Vollständig (28 Str.) ist
dies Lied, eine Dichtung des Baumburger Chorherrn /. Albert
Poysel, aus dem Cod. germ. Monac. 4055, 122 abgedruckt bei
F. W. V. Ditfurlh, Die historischen Volkslieder von 1648 bis
1756 (1877) S. 67. — Der ebenda S. 76 gedruckte Dialog
zwischen Montclar und Sirassbui^ : ccNun will ich in dir leben»
ist auch in zwei fliegenden Blättern der Berliner Bibliothek
(Ye 7921 und 7922) erhalten.
2. Strassburgs Klage.
1. Ach was neyes Wehklagen
Erhebt szich an dem Rhein? —
Teutschland, darfst nit vill fragen,
Die Stimm ist leyder mein.
Kan nur nit lant gnneg schreyen.
Es zittret an mir allss:
Der mich hat wollen freyen,
Halts Messzer mir an Halss.
2. Argentorat ich hiessze,
Silber gab mir den Nahm.
Jezt fremdes Silber giessze,
So mir ansz Franckhreich kämm.
Mich Jungfrau von vill Jahren
Zu deflorieren szncht
Ein Krammer falscher Wahren:
0 Silber, szey verflucht!
3. Mein Gschmnckh und Kleinodt stochen
Frembd Werber in das Aug,
Die Trey und Glauben brochen,
AufFgoszen schärpfste Laug.
Mein Freyheit kunt nit szechen
Der weit auszsehendt Han,
Drumb that er mich anckräheu
Mit 40 000 Mann.
— 81 —
4. Ich spreizte mich vor Zeiten
Des Adlers Brant za sein,
Hab nun an meiner Seiten
Den Han zum Baeler mein.
Ich maint, das Spill war gwonnen,
Wan ich kein Kaiszer schwnr —
[Einen anderen Text des ersteren Liedes teilt Herr Pfarrer
Rathgeber aus einem auf der Strassburger Universitätsbibliothek
beQndlichen Druck o. 0. u. J. mit, in welchem auch eine
Antwort der Statt Strassburg an das H, Rom. Reich auff
den ReichS'Ahschied folgt, mit dem Motto: Pate^* et mater
dereliquerunt me. Dominus autem assumpsit me, Ps. 26.
Dreiundzwanzig Strophen in der gleichen Form, mit einer an-
gehängten Syngraphe finalis mit Binnenreimen:
LEOPOLD gross, bald glorios
Sole duplo micäbis. (a. R. Anagr : söle duplo s Leopoldus)
Den Tentschen Thron die Griechisch Cron
In unum adunabis.
Leb deim Vatter gleich 0 ROmisch Reich
jSitc et tu triumphäbis.
In dem ich schein armseelig zu seyn,
PcUre, matre orhata,
Nimbt mich Gott auff ö gsengter [1. gsegneter] Kauff
Vitam [1. Yitae] ecce post fata
INNOCENTÜ LUDOVICI
Sum filia amata.
Diese Antwort ist also ebenso wie das Lied von einem Ka-
tholiken verfasst. Cöln, Augspurg, Regensbui*g, Nürnberg, Frank-
furt, Ulm, Worms, Speyer, Schwäbisch-Gmünd, Hamburg
werden genannt und vor dem Ven'ate an die Türken durch
den ungarischen Grafen Tekeli gewarnt. Der Dichter frohlockt
über die Conversion Friedrich Augusts von Sachsen 1697 ; er
dichtete also zur Zeit des Friedens von Rijswick.
Für das oben mitgeteilte Lied lautet hier die Ueberschrift :
Letzter | Reichs-Abschied | Von der j Mutter f Dem Römischen
Reich I An die enterbte | Tochter \ Nun Frantzösis. Stadt
Strassburg. Auch im Text begegnen eine Anzahl Varianten,
von denen ich die sicher besseren (denn nicht alle sind besser)
hier verzeichne. 1,6 non Gallice discurram^ (darnach:) Ich
bleib gut Teutsch : verzeihe mir Matemnm servo linguam,
7 (eigentlich 9) Wie gfallt d'Frantzösisch Nation. 9 Ach traurig
gehest du darvon. 2,7 grechte. 5,12 es Agar et non Sara.
6,2 Est, 4 haec omnia sunt gallis. 7 die. 7,12 unionem,
9,11 verblendt. 11,7 Schwestern aber eine. 12,3 von Teut-
schem Stamm.
^
— 82 —
Eine vollständige kritische Ausgabe dieser Erzeugnisse einer
traurigen Zeit zu besorgen, fehlt es mir gegenwärtig an Zeit.
Auch anderwärts erhoben sich Vorwürfe gegen Strassbuiig.
Ganz volkstümlich gehalten ist das folgende Lied, welches in
Bettlach am Leberberg (Jura) aufgefunden und von Frz. Jos.
Schild in seiner mundartlichen Sammlung «Der Grossätti aus
dem Leberberg», 2. Bändchen, Biel 1873, mitgeteilt w<Hrden ist.
Volkstümlich ist hier die Beschuldigung der feilen Verräter,
sagenhaft die von dem Erbauer des Münsterturmes erzählte
Geschichte. Der Dichter wird bei oder in Rheinfelden zu Hause
gewesen sein. «Denn in der vierten Strophe setzt er dem Ver-
halten Strassburgs die ruhmvolle Erinnerung an den tapferen
Widerstand entgegen, den im Jahre 1634 das österreichische
Rheinfelden unter Oberst Franz von Mercy dem schwedisch*
deutschen Heere unter Rheingraf Johann Philipp leistete. Erst
nach einundzwanzig Wochen harter Belagerung hatten Hunger
und Not diesen kleineren WafTenplatz zur Uebergabe an einen
übermächtigen Feind gebracht.]» [E. H.]
3. Strassburger Lii^d.
Zu singen ich anhebe,
Bitt^ woir mich recht verstan!
Ein seliges End' Gott gebe
Den, die es hören an.
Ich will euch jetzt anzeiga
In diesem Lied zugleich,
Wie dass vor kurzen Zeiten
Strassborg bätt^ sollen streiten
Mit dem König aus Frankreich.
Es zogen französische Herren
Zu ihnen vor die Stadt.
Viel Geld thün sie verehren,
Sobald man^s genommen hat.
Es waren ihre f&nfzehn,
Die das Geld empfangen hand,
Ein jedä Hess sich belohnen
Mit hundertdusig Chronen,
Zu verrathen das Vaterland I
Franzosen thäten kehren
Vor ihre Thor^ geschwind,
Kein Mensch thät* sich da wehren
So wenig als ein Kind.
Sobald man akkordieret,
Macht man ihnen anf das Thor.
Dann liess man sie marschieren,
In der Stadt hemm spazieren,
Kein Mensch stund mehr davor. *
:— 83 —
Eine Stadt will ich euch melden,
Stiasabozger zämet nüt,
Dieselbige heisst Rheinfelden,
Selb sdnd wohl ander Lüt.
Tapfer hand sie gestritten
So lang mit ihrem Find.
Den Stand hand sie behalten,
Man möcht* den Kopf zerspalten —
Wamm bist du so blind !
Strassbnrg, du thust dich tmtzen,
Du wohlgezierte Stadt;
Hast viel konstreiche Schätzen,
Gross Maaren steif und satt
Dn trügest übermüthig
Gross HofFarth, Stolz und Fracht;
Jetzt trägst du Kammer and Sorgen,
Da möchtest schier erworgen,
Dass dir der Bnggel kracht.
Den höchst Tarm ohne Babel
Hast da in deiner Stadt.
Ich sag% es ist kein Fabel:
Der ihn gebaaet hat.
Sagt, er könnt einen machen.
Noch höher weder der;
Sobald er diess gesprochen,
Hesch da ihm d*Aagen asg^stochen,
Dram straft dich Gott der Herr.
Kommt Etwer za dir gegangen,
Ein Trank za than mit Bast,
Hast da ihn schön empfangen:
€ Willkomm, mein lieber GastI
Was will der Herr wohl essen,
Was will der Herr far Wein ?>
«He gaete Wisze and Bothe,
Gesotten and gebroten.»
«Der Herr kann^s lastig sein.»
Ist Etwer za dir kommen,
Handwerks- oder andere Leat,
Sobald da es vernommen,
Dass da nicht grosse Beat
Von ihnen könntest haben,
Massten sie ins Spital hinein,
Wo nichts als Flöh and Lüse,
Viel Ratten and viel Muse:
Gang, lig jetzt selber drin.
VI.
Bilder zum Siegfried slied
von 1580 (?).
Mitgeteilt von
E. Martin.
D.
'urch die Güte des Herrn Paul Heitz ist es uns möglich
auch diesmal unser Jahrbuch mit Bildern zu schmücken und
zwar mit Holzschnitten, für welche ein Interesse auch über den
Kreis unserer sonstigen Leser hinaus zu erwarten ist.
Die Firma Heitz 8c Mündel ist im Besitz einer Anzahl von
Holzstöcken, welche grösstenteils zu Volksbüchern des 16. Jahr-
hunderts die Bilder geliefert haben. Woran sich unsere Voreltern
erfreuten, was jetzt nur als grosse Seltenheit in einzelnen Exem-
plaren erhalten, zum Teil vollständig verschwunden zu sein
scheint, das lässt sich mit Hilfe dieser Holzstöcke auch jetzt
wieder gerade so herstellen wie vor dreihundert Jahren. Herr
Heitz gedenkt eine Ausgabe * dieser Holzstöcke in einem
Sammelband erscheinen zu lassen ; unserem Jahrbuch hat er
die für eines der wichtigsten Volksbücher, für das Siegfrieds-
lied bestimmten Holzschnitte vorweg zu bringen gestattet.
1 Eine Auswahl dieser Sammlung erschien bereits unter dem
Titel : «Originalabdruck von Formschneiderarbeiten des 16. und
17. Jahrhunderts etc. mit erläuterndem Text herausgegeboi tod
P. Heitz > gl. fol. Strassbnrg, Heitz & Mündel, 1890.
- 85 —
Die Ausgabe des Siegfriedliedes, wozu sie gehörten, ist
möglicher Weise die zu Strassburg bei Christian Müllers Erben
1580 erschienene. Leider hat' man darüber nur eine Notiz im
Katalc^ 28 des Buchhrmdlers Stargardt, Berlin 1857 Nr. 87 :
«Hüren Sewfried (gesangweis) mit Holzschnitten 8» cart.
76 Seiten. Die drei letzten Blätter beschädigt, 25 Thaler.» Wo
dies Exemplar sich heute befindet, ist nicht zu ermitteln
gewesen; so berichtet W. Golther, der nach den Vorarbeiten
von E. Steinmeyer : Das Lied vom Hürnen Seyfrid, Halle
(Xiemeyer) 4889 als Nr. 84 und 82 der Neudrucke deutscher
Utteraturwerke des XVL und XVH. Jahrhunderts herausgegeben
hat, S. VI. Auch unsererseits ist auf deutschen Bibliotheken,
in London und Paris vergebens danach gesucht worden.
Es lässt sich bei dieser Sachlage auch nicht sagen, ob die
Aasgabe noch mehr Bilder enthält als die 45 (oder eigentlich
nar 44) auf den Holzstöcken aufbewahrten. Eines davon ist
doppelt überliefert, offenbar ist der eine Holzstock (Nr 43), auf
welchem Krimhild eine verunstaltende Bildung der Stirn
erhalten hatte, verworfen und durch einen andern (Nr. 43 a)
ersetzt worden. Doch lässt sich die Reihenfolge durch den
Gang des Liedes feststellen, wobei die in Golthers Abdruck an-
l^egebene Reihe der Bilder in der Ausgabe Nürnberg bei Georg
Wächter (o. J. aber wahrscheinlich um 4540) leiten kann, nur
dass es hier 28 Bilder sind, die nicht ganz mit den unsrigen
zu stimmen scheinen. Aus dieser Ausgabe entnehme ich die
folgenden L^eberschriHen.
4. I Wie Seyfrid zu eynem Schmid kam und den Amposs
in die erden schlug und das eysen entzwey, und den meyster
und knecht schlug.
2. n Hie schickt der meyster Seyfrid auss in meinung
das er nit wider solt kummen.
3. HI Hie kam Seyfrid zu der Linden da der Trach lag,
vnd er schlug jn zu todt.
4. V Hie nympt Seyfrid ein few bei dem Koler, und
will die würm verbrennen.
5. VHI Als nun der Trach die Junckfraw auff den Trachen-
slein het bracht, leget er jr seyn Haupt in die schoss und
rüwet.
6. X Hie reyt Seyfrid und will jagen im wald.
7. Xn Hie nympt der Humen Seyfrid den Zwerg bey
dem haupt, vnd schlecht jn vmb die staynen wand.
7
^ 80 -
8. XllI Hie ficht Seyfrid mit dem Rysen Kuperan umb
den Schlüssel.
•
9. XIV Hie schwerdt der Ryss Kuperan dem Hürnen
Seyfrid, er will jm die Junckfraw helfen gewinnen von dem
stavn.
iO. Hierzu passt keins der fofgenden Bilder der Nürnberger
Au.^gabe, soweit sie aus den Ueberschnften sich erkennen lass-
sen; der Holzschnitt gehört etwa vor Strophe 95, in welcher
erzahlt wird : wie Siegfried den treulosen Riesen Kuperan noch-
mals überwindet, freilich sieht Siegfried die Jungfrau, welche
auf dem Bilde zuschaut, erst nachher.
11. XVHI Hie wirfTt der Hürnen Seyfrid den Rysen
Kuperan vber den Trachenstain ab, das er zu stücken falt.
12. XX Hie ficht der Hürnen Seyfrid auff dem stayn mit
dem Trachen.
13. und 13 a. XXIV Hie ligt Seyfrid in eyner onmacht
vor grosser hitz und müde.
14. XXV Hie ligt Seyfrid und die Magt, vnd sie ist
von seynetwegen kranck worden vnd seer betrübt, indem so
kumpt der Zwerg Engel unn gibt jr ein wurtz in mund, so
wirdt sie gesund.
Den Kunstwert der Holzschnitte zu erörtern, überlasse ich
Berufneren. Zu loben ist gewiss die Deutlichkeit der Dar-
stellung, die Naturbeobachtung, welche selbst dem Drachen, der
seinen Bärenkopf auf Krimhildens Schoss legt (5), eine gewisse
Gutmütigkeit zu verleihen vermag. Dass Siegfried auf 1 — 4,
ß — 10 als bartloser Jüngling erscheint, auf H, 13, 14, (12 ist
unsicher) als bärtiger Mann, lusst vielleicht auf verschiedene Vor-
bilder des Holzschneiders schliessen. Freilich erhillt auch der
Wanderbursche 2, 3, 4, in Nr. G plötzlich ein Jagdkostum und
in Nr. 8 schon ritterliche Rüstung.
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TIlO-n - -iNl^ATIONS.
VII.
Der Goethehügel bei Sesenheim.
Von
Ernst Martin.
«Die Stätte, die ein gnter Mensch betrat,
Ist. eingeweiht; nach hnnrlert Jahren klingt
Sein Wort, nnd seine That dem Enkel wieder. >
vJoethes Schilderung seines Strassburger Aufenthaltes von
Ostern 1770 bis in den Herbst 1774 ist allbekannt. In
diesem Teile seiner Lel)ensgeschichte, der er den bedeutungs-
vollen Titel «Dichtung und Wahrheit» gegeben hat, zieht die
dSesenheimer Idylle» uns immer von neuem an: nie ist ein
jugendliches Liebesglück reizender beschrieben worden. Ja
man darf sagen, dass diese Schilderung von Land und Leuten
wesentlich beigetragen hat zu der Sehnsucht., mit welcher wir
Deutschen vor 1870 nach dem Elsass hinuberblickten und zu
der Begeisterung, mit welcher wir in jenem Jahre die Wieder-
gewinnung des Landes begnisst haben.
Früh regte sich der Wunsch, noch mehr über jene Episode
in Goethes Leben zu erfahren, vor allem die Frage, ob es denn
wirklich so schon gewesen, was Goethe als erlebt erzahlte.
Schon im Jahre 1822 zog der Bonner Philologe Nake Erkun-
digungen an Ort und Stelle ein, deren Ergebnis freilich erst
durch Vamhagen von Ense 1840 > veröffentlicht wurde. Dann
^ Wallfahrt nach Sesenheim, von Angust Ferdinand Näke, weiland
Professor in Bonn, hg. von K. A. Vamhagen von Ense. Berlin 1840.
-^ 98 —
gab August Stöber 1838 und 1842* Gedichte von Goethe an
Friderike heraus, welche er aus dem Nachlasse ihrer Schwester
Sophie erhalten hatte. Den ersten Brief, welchen Goethe an
Friderike geschrieben, hat Scholl 1846« bekannt gemacht, aus dem
Konzept, welches gegenwärtig unserer Bibliothek angehört.
"Was seitdem an weiteren Spuren von Goethes Verhältnis zu
Friderike Brion bekannt geworden ist, hat der 1885 verstorbene
Pfarrer Lucius» trefTlich und abschliessend zusammengefasst.
Lucius wendete sich mit vollem Recht gegen die Verleum-
dungen, welche sich an das Andenken des jungen Dichters
und seiner elsässischen Geliebten geheftet haben. Als ich im
Jahre 1864 zum ersten Mal auf der Plattform des Münsters
stand und den Wächter nach der Richtung fragte, in welcher
Sesenheim liege, meinte er, dass Goethe doch recht schlecht
an Friderike gehandelt habe : er habe sie verführt und dann
verlassen. Und diesem Vorwurf begegnet man vielleicht noch
jetzt, auch hei Leuten, welche besser unterrichtet sein könnten.
Die vollste Widerlegung dieses widerwärtigen Geredes ist
der Besuch Goethes in Sesenheim 1779. Wir besitzen dar-
über einen unmittelbaren Bericht von Goethe selbst an Frau
von Stein, und dieser Bericht des dreissigjährigen, zu voller
Kraft und sicherer, ruhiger Klarheit gelangten Dichters, in dem
damals die Stimmung seiner Iphigenie lebte, möge auch uns
den Gesichtspunkt angeben, aus welchem wir über Goethe
und Friderike zu urteilen haben. Er schreibt:
«Den 25. Sept. Abends litt ich etwas seitwärts nach
Sessenheim, indem die andern ihre Reise grad fortsetj^ten,
und fand daselbst eine Familie wie ich sie vor acht Jahren
verlassen hatte beisammen, und wurde gar freundhch und gut
aufgenommen. Da ich jetzt so rein und still bin wie die Luft,
so ist mir der Atem guter und stiller Menschen sehr willkommen.
Die zweite Tochter vom Hause hatte mich ehmals geliebt,
schöner als ichs verdiente, und mehr als andre an die ich viel
Leidenschaft und Treue verwendet hal>e; ich muste sie in
einem Augenblick verlassen, wo es ihr fast das Lelien kostete,
sie ging leise drüber weg mir zu sagen was ihr von einer
Krankheit jener Zeit noch überbliebe, betrug sich allerliebst mit
soviel herzlicher Freundschaft vom ersten Augenblick, da ich
1 Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim. Basel 1842.
2 Briefe und Aufsätze von Goethe. Weimar, 2. Aufl. 1857.
3 Friederike Brion von Sessenheim. Geschichtliche Mittheilangen
von Phil. Ferd. Lucius, Pfarrer in Sessenheim. Strassbarg 1877. Die
Biographie «Friederike Brion von Sesenheim (1762—1813)» voa
P. Th, Falck, Berlin 1884, bringt wertvolle Nachträge ans dem
Nachlasse Lenzens in Riga.
-^ 90 —
ihr unerwartet auf der Schwelle in's Gesicht trat und wir mit
den Nasen aneinander sliessen, dass mir's ganz wohl wurde.
Nachsagen muss ich ihr, dass sie auch nicht durch die leiseste
Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken
unternahm. Sie führte mich in jede Laube und da must ich
sitzen und so war's gut. Wir hatten den schönsten Vollmond,
ich erkundigte mich nach allem. Ein Nachbar der uns sonst
halte künsteln helfen, wurde herbeigerufen, und bezeugt dass
er noch vor acht Tagen nach mir gefragt hatte, der Barbier
muste auch kommen, ich fand alte Lieder die ich gestiftet
hatte, eine Kutsche die ich gemalt hatte, wir erinnerten uns
an manche Streiche jener guten Zeit, und ich fand mein An-
denken so lebhaft unter ihnen als ob ich kaum ein halb Jahr
weg wäre. Die Alten waren treuherzig; man fand, ich sei
jünger geworden. Ich blieb die Nacht und schied den andern
Morien bei Sonnenaufgang, von freundlichen Gesichlern ver-
abschiedet, dass ich nun auch wieder mit Zufriedenheit an
das Eckchen der Welt hindenken und in Friede mit den
Gei.stern dieser Ausgesöhnten in mir leben kann.»
Dass Friderike sich auch in späterer Zeit noch der allgemeinen
Achtung erfreute, hat Lucius gezeigt. Zwei weitere Zeugnisse
dafür, die ihm noch nicht bekannt waren, kann ich anführen.
Das eine verdanke ich einer gütigen Mitteilung des Herrn
Geheimen R^erungsrat Albrecht. Er hatte einen hochbetaglen
Herrn aus dem Steinlhal kennen gelernt, der ihm erzählte, dass
er als Knabe Friderike dort, wo sie um das Jahr 1790 * lebte,
mit den angesehensten Familien habe verkehren sehen. Und
eben dies bestätigt ein vor kurzem veröflentlichter Bericht aus dem
Jahre 1794. Oclavie von Berckheim, welche später einen Baron von
Stein in Nordheim bei Meiningen heiratete, schreibt in ihrem Tage-
buch« vom Frimaire (November — Dezember) 1794, dass bei einem
Spaziergang von Rothau nach Fouday (Urbach), wo Pfarrer Oberlin
im damaligen Club Gottesdienst hielt, auch «Mlle Brion, bonne et
charilable fille, soeur du ministre» sie begleitet habe.'
^ Allerdings wird versichert dass Friderike beim Ausbruch der
französischen Revolution in Versailles sich aufgehalten habe; als
eine Nachkommin der Familie, in welcher sie sich dort aufhielt,
wurde mir eine Dame bezeichnet, an welche ich mich auch^ freilich
vergebens, brieflich um nähere Auskünfte gewendet habe.
' Souvenirs d^Alsace, Correspondance des demoiselles de Berck-
heim et de leurs amis. Neuchätel et Paris 1889, I, 94.
3 Es ist diese Erwähnung allerdings von anderen auf die jüngste
Schwester Friedrikens, Sophie, bezogen worden ; allein diese konnte;
weil sie hinkte, wohl nicht bei diesem längeren Spaziergang in Be-
tracht kommen.
- 100 —
VVohlthätigkeit, selbst im üebermass, wird auch sonst als
ein Gharaklerzug Friderikens in ihrer späteren Zeit bezeichnet;
in Meissenheim, hei Lahr, wo wir ihr Grab aufsuchten, hiess
es, dass sie dadurch wahrend der Kriegszeiten p^eradezu die
Ihrigen — sie starb bei ihrem Schwager, dem dortigen Pfarrer
— in Verlegenheit und Verdryss gebracht habe. Was uns in
Briefen oder Stammbuch versen von Friderikens Geistesart erhalten
ist, bezeugt Zufriedenheit und Zärtlichkeit gegen ihre Verwandten.
Ueber Goethes Stimmung während der Sesenheimer Zeit
sind wir am besten durch die Briefe unterrichtet, welche er
von seinem dortigen Aufenthalt aus an seinen trefflichen
Strassburger Freund, den Actuarius Salzmann geschrieben hat.^
Das innige Verhältnis zu diesem klugen und frommen Mann
ist zur Beurteilung Goethes in seiner Strassburger Zeit wohl
zu beachten; Goethe hat Salzmanns Aufsätze,« in denen sich
Leibnitzens Philosophie mit der Pädagogik Rousseaus auseinander-
setzt, noch 1776 in den Druck gegeben.
In einem gewissen Gegensatz zur Darstelluug in «Dichtun«;
und Wahrheit» stehen diese Briefe allerdings, und wir begreifen,
dass Goethe, als er von ihrer Auffindung in Salzmanns Nachlass
1842 erfuhr, sich ihre VerofTenl Hebung verbat. Tritt uns in
Goethes Lebensbeschreibung fast nur das Glück der beiden Lie-
benden entgegen, so selien wir in den Briefen, wie bald Groethe
einsah, dass dies Glück ein Ende haben müsse, dass eine
dauernde Verbindung unmöglicli war. Von einem Ausbruch
der Verzweiflung, die ihn darüber ergriff, hal)en wir vielleicht *
noch anderswo in Goethes Dichtung ein Abbild. In Werthers
Leiden ist es Ossians schwermütige Klage, welche der Leiden-
schaft des dem Tode Entgegengehenden den letzten Halt nimmt.
Die Scene ist so wahr und so eigentümlich, dass sie erlebt sein
muss.* Nun gut, Goethes Erlebnisse in Wetzlar boten dazu keiner-
lei Anlass und Gelegenheit. Dagegen gehörte zu den Gedichten,
welche Goethe in Sesenheim zurückliess, auch eine Uebersetzun$f
gerade jener Stelle Ossians : es liegt nahe, zu vermuten, dass
die Vorlesung dieses Stückes vor Friderike in ihm jenen Aus-
bruch des Gefühls hervorgerufen hat, welchen er nach seiner
Art später so wirkimgsvoll als Dichter verwertete.
1 Von Engelhardt zuerst 1838 veröffentlicht, dann in Stobers
«Alsatia» 1853, anch bei Lucius wiederholt.
^ Kurze Abhandlangen über einige wichtige Gegenstände ans
der Religion und Sittenlehre. Frankfurt a. M. 1776.
^ So vermutete schon Düntzer.
4 Dantes Erzählung von Francesca von Rimini erzählt freilich
ähnliches : ^An jenem Tage lasem wir nicht weiter.»
— lai —
Tiefster Seelenschmerz war ja auch bei Friderike die Folge
der Trennung. Und die masslose Trauer der Verlassenen
mochte wohl bei der rohen Auffassung der Leute auf dem Lande
den ersten Anlass zu jenen schlimmen Gerüchten über die Lie-
benden gegeben haben.
Es fehlte ihr übrigens auch nach Goethe nicht an Bewerbern.
Goethes Freund und Nebenbuhler, der Dichter Lenz, suchte auch
in Sesenheim dessen Stelle einzunehmen. Er besuchte die
Pfarrerfamilie im Jahre 1772 von Fort- Louis aus, wohin er seine
Zöglinge, livländische Edelleute, die in französische Kriegs-
dienste eintreten wollten, liegleitet hatte. Wir wissen von
seiner Bewerbung um Friderike freilich fast nur aus seinen
Briefen an Salzmann, und wir können nicht wissen, inwieweit
er berechtigt war, von einer Gegenliebe Friderikens zu reden.
Die liefe Trauer, in welcher er sie fand, hat er in einem
wunderschönen Gedicht ^ geschildert. Auf jeden Fall ist ihr
und den Ihrigen, welche wohl noch mehr geneigt waren, ihr
durch eine neue Verbindung Trost bringen zu lassen, bald klar
geworden, wie wenig Bestand die Hoffnungen hatten, die Lenz
hegte und auch bei anderen zu erwecken suchte.
Goethe hebt in «Dichtung und Wahrheit)» besonders die
humoristische Seite an der Dichtergabe Lenzens hervor, wie
trefflich er es verstanden habe, die mit dem Unsinn, ja mit dem
Wahnsinn spielenden Reden Shakespeares wiederzugeben.
Lenzens eigene Dichtung lässt vielmehr die Ueberspannung
erkennen, mit welcher er auf die durch Goethe entfesselte Poesie
des «Sturmes und Dranges» einging. Für die jungen Dichter
dieser Richtung ward der Spruch von Lenz symbolisch :
'Lieben, hoffen, fürchten, zittern,
Hoffen, zagen bis ins Mark,
Kann das Leben zwar verbittern,
Aber ohne sie wär^s Qnark.
So kraftgenialisch, wie er sich gebürdete, waren frei-
lich eher andere angelegt, namentlich Klinger, der, aus
Dürftigkeit hervorgegangen, als russischer General und Kurator
der Universität Dorpat starb. Der «sanfte» Lenz war ein wunder-
bares Gemisch von Schüchternheit und Prahlerei, von Zärtlichkeit
und Bosheit, von Schal kheit und tiefem Ernst. Den letzteren
Zug erkennen wir auch in der nationalen Gesinnung, mit
welcher er seine jungen elsässischen Freunde, die sich um Salz-
1 abgedruckt in Schillers Musenalmanach, 1798 S. 74, ist es
wiederholt worden im Arch. f. Litteraturgesch. 8, 166, und wird den
elsässischen Lesern wohl leichter zugänglich gemacht werden durch ein
von Herrn Christian Schmitt vorbereitetes Elsässisches Dichterbuch.
8
— 102 —
mann sammelten, zur Fliege deutscher Spiaclie uml Poesie
antrieb. Ernst, ja streng waren seine Lebensanschauungen,
ehe er Goethe kenneu lernte und, durch dessen scheinlmr von
jeder Fessel und Rücksicht befreite, aber freilich innerlich fe.^i-
beherrschle Lebensweise geblendet, ihm — wie Ikarus — nach-
zufolgen strebte. Ausdrücklich wissen wir von ihm selbst, dass
er früher Goethe mit sittlichem Hochmut getadelt halte. Und
ebenso kehrte in ilem Unglück, das ihn traf, diese ernste, ja
fromme Gesinnung selbst in der Verzerrung des Wahnsinns bei
ihm zurück. Nachdem er eben als Dichter geglaubt sich Goethe
an die Seite stellen zu dürfen und diesen in Weimar aufgesucht,
auch am Hofe nachsichtige Aufnalime gefunden hatte, machte
er bald selbst sein Verbleil>en unmöglich. Wie Tantalus vom
Göttertische in Nacht und Qual zurücksank, damit hat er selbst
seinen jähen Sturz verglichen. Er kehrte an den Oberrhein
zurück. Im Pfarrhaus zu Sesenheim brachte er durch einen
Selbstmordversuch furchtbaren Schrecken hervor. Man vfles
ihn nach denj Steinthal zu dem menschenfreundlichen Pfarrer
Oberlin, als dem einzigen, der iim noch heilen könnte. Hier
brach sein Wahnsinn aus. In den furchtbarsten Wutanfallen
rief er den Namen Friderike, wie er auch vorher versucht hatte,
ein Kind dieses Namens, das in der Gemeinde gestorlien war,
durch Fasten und Gebet vom Tod zu erwecken. Als er ruhiger
geworden war, fand er bei Goethes Schwager, dem Amtmanu
Schlosser in Emmendingen, teilnehmende Pflege. In die Heimat
zurückgekehrt, starb er nach mehreren Jahren, die er in halb-
umhülltem Geisteszustand verbracht hatte.
So fehlt denn der Sesenheimer Idylle auch ein titigisclier
Hintergrund nicht. Dass Lust in Leid zu enden pflegt, das
sagt ja schon das alte Heldenlied. Wir aber richten die Blicke
nur um so empfanglicher auf das sonnige Bild, das Goethe von
seiner Jugendlie])e gegeben, und das auch in manchen seiner
schönsten Lieder, von dem tändelnden «Kleine Blumen, kleine
Blätter» bis zu dem stürmischen : «Wie schlug mein Hei-z,
geschwind zu Pferde» heiTlich bezeugt ist. Vor allem aber
das «Haideröslein» mit seinem halb wehmütigen, halb kecken
Ton ist und bleibt der wahrste Ausdruck der Goethe*schen
Erlebnisse in Sesenheim und reisst auch uns mit seinem Zauber
zu der gleichen Stimumng fort.
Das von Goethe so anmutig geschilderte Döi-fchen ist seit
langer Zeit viel besucht worden, und der Wunsch, die Erinne-
rung an seine dortigen Erlebnisse auf angemessene Weise auch
äusserlich festzuhalten, trat umsomehr hervor, als die inzwi-
s(iheu dort vorgegangenen Veninderungen so manche OertUch-
keilen jener Zeit, vor allem das alte Pfarrhaus, beseitigt hatten.
— 103 —
Um 185^ war es insbesondere Herr Oberlehrer Grün, der
die^^en Zweck ins Auge f'assle und sich zu seiner Erreichung mit
Gleichi^esinnten, mit August Stöber, Gustav Muhl und Notar Hang
in Niederbronn verband. Es galt den Hügel, auf welchem die Laube
Fridrikenruh gestanden, der aber inzwischen abgeholzt und in ein
Kartoflelfeld verwandelt worden war, zu erwerben und mit An-
lagen zu schmücken. Grün brachte in Strassburg durch Vorlesung
seines Dramas «Friedrike»i ansehnliche Mittel zusammen. Allein
der Plan, dem die französischen Beamten im Elsass wohlwollend
gegenüber standen, ward von Paris aus vereitelt; man hatte
wohl Ursache, zu wünschen, dass das Andenken des deutschen
Dichters im Elsass nicht weiter gefeiert werde.
Erst etwa 30 Jahre später konnte der Plan wieder aufge-
nommen werden. Professor Scherer hatte mit dem Kreise jün-
gerer Germanisten, der sich in Strassburg rasch um ihn sam-
melte, die Wallfahrt nach Sesenheim wieder eröffnet, als noch
die Elisenbahn nicht gebaut war, die jetzt so bequem dahin
fährt. An der Wiederholung, die unter Erich Schmidts kun-
diger Führung stattfand, nahm auch ich teil. Der alte Gedanke
wurde von neuem lebendig; durch nicht unbeträchtliche Spenden,*
denen vor allem die frühere Sammlung Grüns zu gute kam,
ward die Ausführung möglich.
Anfang 1880 war das Grundstück in unseren Händen.
Ich hatte mir das Recht erworben, vor der Herstellung der
neuen Anlagen Ausgrabungen in dem Hügel vorzunehmen,
welcher durch seine Form die Vermutung erregte, dass er in
alten Zeiten bei der Bestattimg eines vornehmen Toten aufge-
schüttet worden sei. Dies Unternehmen, bei welchem der
gastliche Pfarrer Lucius mich wesentlich unterstützte, wurde
durch den Erfolg belohnt : es fand sich ganz unten im Kies des
alten Rheinbetts ein uraltes Grab mit wohlerhaltenem Schädel,
mit einem Armring und einem Fingerring von Gold, nach dem
Umfang zu schliessen, einer Frau angehörig, endlich mit einem
zerschmetterten Kupferkrug etruskischer Form; im Boden
zerstreut lagen sonst noch andere Schädel und Knochen,
Schwertstücke und Schildbuckeln, sowie eine Münze des Goten-
königs Totila um 550.8 Der Fund ward, abgesehen von der
1 Friedrike, Schauspiel. Strassborg 1859.
2 Auch später noch hat Herr Dr. Keich in Berlin zu den Kosten
der Erhaltung beigetragen.
8 Der Tote^ dem diese Münze beigegeben wm*de. könnte dem
Ort Sesenheim (urkundlich zuerst Sesinhaim) den Namen gegeben
haben, unter welchem er schon 775 erscheint: Heim des Seso. Seso
/ist Koseform für einen mit sisi^a, «Zaubergesang», zasammen gesetzten
Namen, wie Sesobod, Sesowald.
-« 104 —
Münze und den Goldsachen, die ich einstweilen für mich be-
hielt, teils der anatomischen Sammlung in Strassburg, teils,
mit Vorbehalt des Eigentumsrechts, der Gesellschaft für die
Erhaltung der historischen Denkmäler übergeben ; in dem Bul-
letin dieser Gesellschaft ^ erschien ein ausführlicher Bericht.
Dann ward die Grube mit Kies ausgefüllt, Anlagen ange-
pflanzt, wobei der Obergärtner der Orangerie, Herr Lejealle,
die Leitung übernahm; eine Hütte ward erbaut, zu welcher
Herr Architekt Jaggi den Plan gemacht hatte.
Am 18. Juli 1880 fand die Einweihung der neuen «Fri-
derikenruhej) statt. Lieder, von Herrn Professor Jacobsthal kom-
poniert, umrahmten die Feier. Herr Oberlehrer Grün übergab
die Anlage dem Bürgermeister von Sesenheim, Herrn Atze! ;
Erich Schmidt hielt eine weihevolle Festrede. Ein Bankett
schloss sich an, echt studentisch, mit Liedern, darunter eio
von stud. Hamburger auf Goethe und Friderike gedichtetes,
und zahlreiche Reden. Unter den Gästen befand sich auch der
um die künstlerische Ausschmückung der Grabstätte Friderikens
in Meissenheim verdiente Dichter Friedrich Gessler aus Lahr.
Eine Reihe von Festberichten bekundeten den schönen Eindruck
des Festes.
Seit dieser Zeit haben die Strassburger Germanisten all-
jährlich, meist mit Gästen, auch Damen, den Goethehügel
besucht. Erst wurden die Anlagen besichtigt, deren Pflege von
Strassburg aus freilich nicht leicht ist, an deren Erhaltung aber
die Strassburger Sektion des Vogesenklubs durch eine jährliche
Spende an den bestellten Hüter sich auf das dankenswerteste
beteiligt. Dann lauschten wir , an der Hütte versammelt,
ernsten oder scherzhaften Festreden; beim ländlichen Uahl,
meist im Grasgarten der «Krone» unter freiem Himmel, wech-
selten Trinksprüche und Lieder ab, bis ein Spaziergang an den
Rhein, oder nach Fort-Louis, oder an die Goethe-Eiche (mit
diesem Namen hat der Förster einen schönen Baum am Wege
nach Drusen heim ausgezeichnet) den Nachmittag beschloss.
Die Festdichtungen und Berichte sind mit anderen Erinne-
rungen in unserem ffSesenheimer Goethe-Archiv» vereinigt. Viel-
leicht darf sich ein Stück daraus vor das Licht wagen, welches,
seinen Inhalt meist aus «Dichtung und Wahrheit» schöpfend,
auch den gespenstigen Doppelgänger Goethes auftreten lässt,
den dieser auf dem Ritt durch den Wald nach dem Abschied
vermöge einer Art zweiten Gesichtes sich gegenüber erblickt
haben will.
1 Bulletin, 11^ serie, vol. XII (Str. 1886), p. 20-29. üeber TotiU
= Badvila s. J. Grimm, Z. f. d. A. 6, 540.
— 105 —
Festspiel zum 15 Juli 1888.
Sobald die Teilnehmer der Sesenbeim-Fahrt sieb durcb die RQsternallee
dem GoetbehQgel gen&hert haben, tritt aus dem Gebüsch
Lens. (Tracht des vorigen Jahrhunderts, aber einfach, wie es einem cand.
theol. zukommt.)
Halt! stört die Ruh der Ruhelosen nicht!
Seht dort das holde Mädchen, das Gesicht
Anf ihre Hand gestützt, in tiefem Gram.
Seit langem war kein Tag, da sie nicht kam,
Von hier zu schann auf jenen dunkeln Wald,
Vor welchem sie zuletzt noch die Gestalt
Des Götterjünglings sah. Sie denkt der Zeit,
So kurz entschwunden und jetzt schon so weit,
Da sie auf diesem Hügel mit ihm sass,
In seiner Näh' die ganze Welt vergass.
Ihn — kann sie nicht vergessen. Stark und mild
So schwebt vor ihr das einzig liebe Bild.
Sie denkt des Tages, da er zu ihr kam,
und ihr, dem Kinde, schnell das Herze nahm.
Sie denkt der Wonne, die sie dann genossen, —
Der Wonne, die zu Nichts dann ist zerflossen.
0 lasst euch rühren ihren tiefen Schmerz!
Kränkt nicht durch Mitleid, nicht durch lauten Scherz
Die starre Wehmut, die sie ganz eifüUt
Und ihr das Leben rings mit Flor verhüllt.
Vielleicht, wenn einst der Freundschaft leise Hand
Die Wunde, die noch blutet^ ihr verband,
Dass ihr ein frohes Leben sich erneut
und ihre Freude andre auch erfreut,
Dass ihre Schönheit noch einmal erblüht
Und uns beglückt ihr liebevoll Gemüt
0 wollte sie mir ihre Hand dann reichen,
Ich wollte mich dem Glücklichsten vergleichen!
Ich neidete selbst ihn nicht, der vor mir
Ihr Herz gewann — und der so schied von ihr.
und muss ich ihm den Kranz des Dichters lassen.
Ich wollte die Geliebte froh umfassen
und zu ihm sagen : Sieh hier, das war dein !
Jetzt ist dies Herz voll Lieb' und Güte mein !
Schorsch (der Wirtssohn von Drusenheim, von der andern Seite ouftrelend).
He, Musje Lenz! Sinn ihr schon widder do?
Leng, Ja, guter Freund. Das Sprichwort sagt es : wo
Der Schatz ist, ist das Herz. An diesen Ort
Bin ich gebannt wie durch ein Zauberwort.
Ach könnt' ich doch des Mädchens Trauer wenden
Und Trost und Hoffnung ihr von neuem spenden!
— 106 —
Sdicrsch, Jo jo, die Jamfer Bickele. ^s war schon rächt.
Sie trurt jo gar ze lang. Lem, Mein Freund, erwägt,
Um wen sie^s thnt Ihr kennt ja Goethen auch«
Ihr wisst, dass, wo er weilte, wie ein Hauch,
Was einen jeden drückte, rasch entflog,
Sein Blick, sein Wort uns alle nach sich zog.
Denkt, wie^s dem Mädchen war, das er erkor!
Denkt, wie's ihm war, als es ihn dann verlor!
Schorsch, Er hätt^ sie hirote mien. Lenz. Wie ihr es meint,
Habt ihr wohl Recht Doch, wenn es auch so scheint,
Ich kann ihn hart nicht tadeln. 0 ihr wisst
Nicht, wie des Dichters Sinn und Leben ist.
Es treibt ihn fort auf eine dunkle Bahn,
Und weiter, hoher zieht^s ihn stets hinan.
Wenn ihm des Lebens Lust am reichsten quillt,
So schafft ihm bittres Leid ein andres Bild,
Das, war es einen Augenblick verweht.
Nur strenger fordernd, wieder vor ihm steht:
Das Bild der Welt, die er im Geist umfasst
Und die zu schaffen, ohne Ruh und Rast
Ihn immer wieder drängt. Er sttirmt dahin.
Bald wonnig jauchzend, bald mit trübem Sinn.
Schal dünkt ihn dann, was eben ihn entzückt,
Die Blume welk, die seine Brust noch schmückt.
Er fasst das Glück — und sieht es vor ihm fiiehn.
Schorsch. I blib derbi, er hätt sie hirote mien.
Olioia (kommt eilig auf den Hügel zu).
Hör doch, Fridrike! — Rickele, wo bisch?
Lenz. Mein Fräulein, sie ist hier. Denn träumerisch.
In ihres Grams Gedanken neu versenkt,
Hat sie zur Bank dort ihren Schritt gelenkt.
Ich harrt^ indessen hier in ihrer Nähe.
0 dass ich sie zufriedner wieder sähe!
Olwia (eilt hinauf zu Friderike}.
Lieb Schwesterle, so komme doch zurück
Und gönn^ uns armen wieder einen Blick ! . . .
Bedenk, Herr Lenz bleibt hier zum Abendessen.
Die Mutter will — hast du das schon vergessen? —
Dass wir ihm zeigen, wir verstehn zu kochen . . .
Auf, Schwesterle! Hast du mir nicht versprochen,
Du wolltest endlich dich zusammennehmen.
Willst du dein Leben lang umsonst dich grämen?
Friderike (aufblickend). Ach liebste Schwester !
Olinia. Komm, erhebe dich !
Es wird schon besser, glaub mir's sicherlich.
Steh auf und komm !
— 107 —
Friderihe steht auf, plötzlich steht sie still ; man hört ein Pferd heran-
sprengen ; sie fährt tusammen und ruft :
Sieh dort! wer reitet da!
Er kommt, er kommt. CHivia. Wer demi ? Friderike. Er ist uds nah !
(Mvia. Wen meinst du ? Friderike. Sieh ! 0 Gott, wie halt ich^s ans !
(JUina. Wahrhaftig, Goethe selbst. Komm, schnell nach Hans!
Zu spät! schon steigt er ab, geht anf uns zu.
Kommt doch herbei, Herr Lenz ! Schorsch, komm auch du !
Letus. Tran* ich den Augen, kehrt der Freund zurück?
Schorsch. ^s isch en. I kenn ne glich vum erschte Blick.
Ein Jüngling (Goethe gleichend, im bekannten hechtgrauen, ^oldverbrftmten
Hock, kommt auf sie zu).
Wohl bin ich Goethe, und doch bin ich^s nicht.
Du hörtest doch von ihm, Freund Lenz, Bericht,
Wie er, beim Abschied von hier weggeritten,
Ein Traumgesicht sah in des Waldes Mitten.
Er sahy wie ihm entgegenkam ein Wandrer,
Ihm völlig gleich und doch zugleich ein andrer.
Sein Genius war's. Sein Genius bin ich.
Vergangenheit und Zukunft sind für mich
Verschleiert nicht, und was euch treue Seelen
Wohl trösten kann, will ich euch nicht verhehlen.
Fridrike, engelgleiche, dein Gemüt,
Wie es für Goethe war in Lieb' erglüht.
So wird es keinem andren mehr sich geben
Und wird mit allen doch in Frieden leben.
Doch deiner Schönheit, deiner Güte Preis
Wird dein Geliebter einst, als Dichtergreis,
Der Welt verkünden in so holden Tönen,
Dass du auf ewig lebst im Reich des Schönen.
Dir, lieber Lenz, ist auch ein Ruhm bestimmt,
Daraus dein — herbes Los Vergütung nimmt.
Du willst im Elsass deutsche Sprach^ und Art,
Die schwer bedroht, doch treu den Kern bewahrt,
Nea starken, neu beleben, neu erwecken. —
Eh hundert Jahr vergehn, sind deutsche Recken
Erstanden, die der welschen Arglist Bande
Mit Schwertern lösen und zum deutschen Lande
Das Elsass fügen, dass es treu und frei
Der Mutter zugethan von neuem sei.
Wird erst sich selbst das Elsass wieder kennen,
Wird^s dankbar, Lenz, auch deinen Namen nennen.
(Verschwindet^ Friderike sinkt an Oliviens Brust, Lenz und Schorsch reichen
sich die Hflnde.)
VIII.
Einige ungedruckte Gedichte
von
August Stöber.
Mitgeteilt von
Julius Rathgeber
Pfarrer in Nendorf bei Strassburg.
-Anlautes August 1888 starb zu Strassburg Herr Echmrd
Scliijueppenhäiisery Hauptlehrer dei* evangeUschen St. Thoinas-
schule. Er stammte aus der durch ihre verwandtschaftlichen
Beziehungen zum fürstlichen Hause von Battenberg bekaunten
pfalzischen Pfarrfamilie Schweppenhäuser ab. Sein Vater,
Ludwig Schweppenhäuser, war Pfarrer zu Oberbronn, und
seine Mutter, Wilhehnine Jäger, war die evangelische Pfarrers-
tochter von Mietesheim. Die FamiHen Schweppenhäuser und
Jäger verkehrten viel mit August Stöber, der in den dreis-
siger Jahren in Oberbronn als Hauslehrer eine kleine Privat-
schule leitete. Stöber blieb auch nachher in eifrigem Brief-
wechsel mit der Familie Schweppenhäuser, welche die Stoebe-
riana als wertvolle Reliquien aufbewahrte. Hier folgen einige
noch ungedruckte Gelegenheitsgedichte August Stöbers, welche
der verstorbene Herr Eduard Schweppenhäuser dem Herausgeber
mitzuteilen die Güle hatte.
— 109 —
I.
Lottchens Engelruf. ^
September 1830.
Nimm den Erdenschweiss mir von der Stirne,
Vater^ lass zum Himmel mich empor,
Schon geschaut hab' ich die Glanzgestirne,
Schon gehört der heil'gen Engel Chor!
Mntter, in das Singen deiner Lieder
Drang so oft ein wnnderseFger Laut,
Stille lanscht' ich — immer tönt er wieder,
Sprach so liebend, sprach mir so vertraut.
Zu dem Bettlein trat oft hold und leise
Dann ein Knabe mild im Lichtgewand,
Zeigt^ von ferne mir die Sternenkreiso
und des Schwesterengels Vaterland.
und da kam er auch zur letzten Stunde.
Winkte freundlich, und ich folgte gern,
Bracht' von Gott der ew'gen Liebe Kunde,
Führte mich empor zu meinem Stern.
Vater! Mutter! schaut mich losgebunden!
In den Himmel zog ich leuchtend ein,
Schweb' im Geisterfittig, walP verbunden
Mit dem lichten Engelschwesterlein.
Oft will ich den Gruss der Liebe bringen,
Wenn auch trauert das beklommne Herz,
Will umschweben euch auf Aetherschwingen
Dass in Wonn' aufgeht der Erdenschmerz.
Und wenn auch die frohe Stund' geschlagen,
Naht ein Engelpaar im Lichtgewand,
Von der Kinder Armen sanft getragen
Schwebt ihr auf zum grossen Vaterland.
i Lottchen (Charlotte) war ein liebes Kind von Pfarrer Schweppen-
häuser, welches ihm im Spätjahre 18B0 durch den Tod entrissen
wurde.
— 110 —
IL
Mein Lied.
Gebrochnes Herz, gebrochuer Stab,
£ach ziemt dasselbe Los!
Gegraben ist das stille Grab
In kühles, dnnkles Moos.
Nach oben immer schlägt die Brnst,
Sie sehnt sich tief hinab:
Die oben sind so voll von^ Lust
und ich bin voll von Grab!
Ein Kränzlein lieb' ich nur allein,
Von Rosen todesblass,
Ein Börnlein nur fliesst mir noch rein^
Das ist der Thränen Nass!
0 gerne, gerne möcht' ich ziehn,
Zur einen, süssen Ruh,
Und thun, im letzten Abendglühn,
Die müden Augen zu.
III.
Weihnachtslied .
Du lieber heiPger frommer Christ,
Weil heute dein Geburtstag ist,
Drum ist auf Erden weit und breit
Bei allen Kindern frohe Zeit.
Wir singen dir des Dankes Chöre,
Gott, der du uns gesandt den Sohn,
Wir preisen deines Namens Ehre,
Wir flehn empor zu deinem Thron.
0 gib uns allen deinen Segen,
Lass Jesu Geist in uns gedeihn;
Damit wir, hier auf deinen Wegen,
Einst gehn in deinen Himmel ein.
Dort singen wir dann heiPge Psalmen,
Nach dieses Lebens kurzem Traum,
Und pflücken grüne Siegespalmen
Uns von des Paradieses Baum.
— 111 —
IV.
Verse für ein Stammbuch,
Das Leben liegt im Fruhlingsschein
Vor dir, voll Duft und Sang,
Doch dringen Töne, trüb und bang,
Oft in den Frieden ein.
Wenn's aussen auch wildstürmend zieht ■
Und zuckt wie Wetterschlag,
So trifft doch nichts, was kommen mag,
Hast du ein rein Gemüt!
V.
Der Gänse Jubellied bei Erfindung der
Stahlfedern.
Not ist zu singen und zu sagen.
Und gänslieh fröhlich zu sein :
Uns gehn nicht mehr zum Kragen
So Dichter, als Schreiberlein !
Das sei in allen Landen
Geschnattert alsogleich,
Von allen Schnäbeln verstanden
Im ganzen Gänsereich.
Nach unserm Fittich trachten,
Schnattra ! sie nimmermehr !
In tiefen Bergesschachten
Wächst ihnen neue Ehr !
Kobolde, seid nun gnädig,
Schliesst auf die Schätze fein !
Lasst alle Adern ledig
Und die Schreiber lasst hinein !
Sie wollen fördern zu Tage
Manch gutes Schi'eibestift,
Draus spritze Lust und Klage
Und süss und bittres Gift !
Ein Flämmlein leucht^ und iiimme
Durch alle Gänge hell;
Nicht störe sie mit Grimme
Ein böser Unglücksquell !
— 112 —
Heranf, herauf zum Lichte
Sei das Metall gebracht!
Das freundlichste Qedichte
Quillt aus der Berge Nacht.
Wir Qänslein wollen rauschen
Dazu mit Flügelschlag,
Den längsten Mären lausch en.
Bis an den jüngsten Tag !
VI.
Volksliedchen.
YTer steckt das Näslein rund heraus?
Es ist die edle Jungfer Schmaus,
Die Löcklein wohl geflochten sind,
Die Bänder flattern in den Wind.
Sonst war das braune Zöpfleinpaar
Gar wunzig schmächtiglich fürwahr.
Nicht Regen und nicht Sonnenschein
Wollten ihnen günstig sein.
Drum lebe hoch die edle Schmaus!
Jetzt ist mein fröhlich Liedchen aus.
Ich kenn* ein Wesen sonder Art,
Es ist der edle Doktor Schwärt.
Sonst schritt er klein umher durchs Land
und ward auch Schwärtel drob genannt.
Doch jetzt ist ihm der Knopf gebrochen,
Er kommt als Riese doch gestochen,
Und überall das Volk sich schart
Und ruft: Es lebt der Doktor Schwärt!
IX
Dichtung.
Ein Steckelburjer-Ausfl.ug'.
Strassbarger Hnndart.
D
0 kumme Steckelbarjer, e ganzi Knmpanie,
's isch Sannda hit, do macht mer e lastigi Partie.
Sie hann sich zsammegfande üs alle Stadtqaartiere
ünn gehn zaem Metzjerthor nüs u£P Kehl am Rhin spaziere.
Gemächli geht's, gemüethli, dass mer sich nit erhitzt.
Saust könnt mer Schnuppe krieje vom Rhinwind, wenn mer schwitzt.
Mer kämmt jo noch bizite an d'Tawel-d'höte im Salme,
Sie sehn schnn dort e Krebssnpp unn Hammelsbrote qualme.
E Jeder het sin Stöckel unn schwingt diss biejsam Holz
Unn isch druff wie e Kinni uff sine Zepter stolz.
Sieh, wie sie hoch d'Cravatten unn d'Hüet üs alte Daaue
Unn kaffeebruni Röcklen unn Nankinghosse traaue.
Junggselle sinn's unn Wittwer von respektawle Johre, .
Isch doch schun Anno Zwanzig der Jüngst im Korps gebore.
So henn sie schun durchwandert a guet Stück Wej im Lewe,
Unn wer viel reist, kann Gschichten au viel zuem Beste gewe.
— 114 —
Dis8 merkt mer glich, denn d^Ältste vom SteckelburjeivKorps
Die bringe viel vom Kaiser Napoleon noch vor:
Sie sinn derbie gewese, wie er uff Strossboij kämme
Von Ansterlitz als Sieger, mit Feldmnsik ann Tramme.
Sie henn ne gsehn^ als Büewle, mit Marie Luis* hie,
Wo d'Borjerschaft nnn d^Büre gejüwelt henn wie nie,
Derwil sie diss erzähle, guck wie sie stolz sich blälge
Unn ihri Steckle drehje, als wäre^s Heldedeje!
Doch jungri Kamerade sinn nit so drin vernarrt:
Was henn mer denn ze danke de beide Bonapart?
E bissei Gloire — nnn Blnetström het's kost in heisse Schlachte,
Dass Völker hit enander noch hasse unn verachte.
«Na! saat der Vetter Daniel, es isch jo Sonnda hit;
Wozne diss Kannegiessre ? es bringt nnrr Zank unn Strit.
Mer wellen unsre Sunnda im Fridde ganz geniesse
Unn dTolitik desswäje üs unsre Gsprache schliesse.
Nurr *8 Elsass unser Ländel traat Zwietracht nit im Schooss,
Mer hewwe's fest am Bändel unn Ion 's bi Gott nit los.
Do sinn mer all! eini: jo hoch solPs Elsass lewe,
D'Stadt Strossbnrj unn ihr Münster unn 's Land voll Korn nnn Hewe!»
Guet gewe! saat der Schakob, doch sinn mer jetzt ze Kehl,
Unn nett isch 's badisch Ländel doch au, i hab's nit Hehl.
Unn d'Lit sinn gfälli, süfer unn noochberli gemüethli,
Unn Ion mer sie in Fridde, se sinn sie uns au güetli.
Vergesse mer, ihr Brüeder, den unglückselje Krlej !
Statt Bunmien unn Granate — Butelle her unn Krüej !
Unn anstatt Bayonette, unn anstatt Lanz unn Sawel
Ergrife mer als Waffe nurr Messer, Löffel, Gawel!
's Kommando füehrt der Hunger, unn 's Schlachtfeld isch der Tisch,
Unn d'Find, wo mer vertilje, sinn Oflejel, Brote, Fisch.
Statt Menschebluet in Ströme soll Rewebluet nurr fliesse,
Champagner nurr derf Zapfe bis an de Plafond schiesse.»
Unn Bravo, Schakob, Bravo! rueft's Steckelbnrjerkorps,
Unn ruckt jetz in den Salme bis in den Esssaal vor.
In Schlachtordnung zuem Angriff gehn jetz die Kamerade,
Unn ihri Hals' unn Mäje sinn d'Flinte, wo sie lade.
«Uns ist in alten Mären wundersviel gesait
Von Helden lobebaren, von grosser Kuonheit.»!
Doch unsri Steckelburjer sinn — mit Verlaub ze melde —
Im Schlachtfeld an der Tafel die lobebärste Heide!
> Des^ Nibelungenliedes erste Halbstrophe.
— 115 —
Ein Schifferstechen auf der IlL
Strassburger Mundart.
Hit fiere mir Schiffer druss üwwer em Reche, ^
Bi^m Herrewasser* e Raedersteche.
Üs unserm Revier, üfi der Krütenau,
Kommt Alles, was ruedert, zner Wettfahrtschan.
Do gilt^s, im Vornwwerfahren im Nache
De Garns dem flattrige Gänsel ze mache,
Wo dort üwwer^m Wasser an's Seil isch gebannt.
Das mannshoch vom Ofer zum Ufer sich spannt.
Jetz gewe d^Spielrichter zner Wettfahrt e Zeiche,
ünn gschwind snecht e Jeder die Gans zne erreiche,
Sie niedren nnn rnedren üs Liweskraft —
Sieh — dort zerbricht einem sin Rnederschaft.
Glich hinter dem kommt noch en Anderer gfahre,
Der thnet nix am hitzigsten Ifer spare.
Sin Schiffel kommt geflönen in rasender U,
Jnst 80, wie vom Bojen en abgschossner Pfil.
Der Hans isch's, er sieht schun sin Gänsel do flattre,
Arms Thierel ! er hört^s schun gar jämmerli schnattre.
Jetz will er^s erstechen, verfehlt isch sin Stich —
Plumps ! stürzt er ins Wasser kopfüwwersich.
Hahaha ! so lacht mer nen üs : jetz, Hansel !
Isch ^s SchwinHSien an dir, du bisch selwer e GänseL
Was bisch de so ungschickt? jetz hilf der erüs,
Unn rüst di en andermol besser znem Strüss..
So isch halt der Weltlauf, wie hit so au morje :
Wer Schade het, brücht fürr de Spott nit ze sorje.
Na, Hansel ! inskünfti vergiss nit d^Lection :
Blindhitziger Ifer traat Schade dervon.
Jetz ruedert e Dritter mit kräftige Schläje,
Doch sicher gemesse ; jetz zuckt er de Deje —
Unn sieh, wie am Brotspiess isch 's Gänsel durchspiesst.
Dem *s Bluet üs den Odren in Ströme fliesst.
1 Ein bewegliches Eisengitter quer über die 111 angebracht au
deren Einströmung in die Stadt.
2 Ein Badeplatz für Männer.
— «6 —
Ünn Bravo! rueft Alles, Bravissimo, Dännel!
Wie flink isch der Schiffer, wie gschickt isch diss Männel !
Es isch halt e Baldner, schlecht nnn recht,
Vom alte biderbe schiffische Gschlecht
Er kommt im Triumph mit sim Gänsele gfahre,
Am Ufer begrüesse ne Homer-Fanfare;
Unn d'Richter belowe ne: der isch e Mann,
Der Stärke mit G^schicktheit verbinde kann !
Knabenliedchen im Mai.
Maiereje ! mach mi gross,
I bin e kleiner Stnmbe :
Wachse machst de jo an d^Ros*
Unn d^jonge Schäfle gambe. ^
Loss mi doch nit, wie i bin,
So klein wie Damenikel;^
Nein, noch grosser möcht^ i sinn
Als unser Maidel, 's Rickel.
Maiereje! mach mi gross,
E Ries mach üs em Zwerri;
Rite möcht i hoch ze Ross
Ins Land, in unsri Bern.
Rite möcht i bis ins Thal,
Wo Schlang unn Drache hüse;
Möcht sie tödte mit mim Stahl
Ganz herzhaft ohne Gruse.
War doch d'Heimat frei unn los
Von alle böse Schlange 1
Maiereje! mach mi gross,
I will sie alli fange.
Adolf Stöber.
1 Hüpfen.
* Däumling.
— H7 —
An Adolf Stöber
mm fiinfiEigjährigeii Pfarrerjnbiläam, 89. Harz 1890.
«Die grüne Jugend soll man preisen,
Jedoch die Jagend allermeist,
Die in den schneegelockten Greisen
Erblüht durch den gewaltigen Geist.»
So hat einst Vater Arndt gesungen ;
Sein Wort, es wird von neuem wahr :
Wir bringen unsre Huldigungen,
Ehrwürdiger Greis, Dir jubelnd dar.
Den Dienst der Muse, den verkündet
Dein Vater einst mit hellem Klang,
Hast mit dem Bruder eng verbündet,
Du treu geübt Dein Leben lang.
Von Deiner Heimat wahrem Sinne
Gabst Zeugnis Du mit Mannesmut:
In des Elsässers Herzen rinne,
Sprachst Du, der deutschen Mutter Blut.
So lang durch unsres Bergwalds Hallen
Ertönen wird ein deutsches Lied,
So lang der Rhein mit mächtigem Wallen
Durch deutsches Land zu Thale zieht:
So lange klingt in diesen Gauen
Des Vaters und der Söhne Preis.
An Deinem Ehrentage schauen
Wir stolz auf Dich, Du edler Greis.
E. M.
Lebensvy^ege.
Sinnend blick^ ich in des Waldes Räume,
Wo die altergraue Eiche düstert,
Deren Wurzel klar ein Quell umflüstert —
Und mein Haupt umwehen Zukunftsträume.
Horch! da raunt mir zu die altergraue:
• Werde fest, wie dieses Stammes Knorren,
Lasse nicht die Kraft des Marks verdorren,
Nur wie ich in ew'ge Räume schaue!
Denn gemein ist, was am Boden kriechet.
Nur im Aether kannst du Aether trinken.
Kannst nur dort ans Herz der Allmacht sinken —
Wer am Boden schleicht, im Schlamm versiechet. >
— 118 —
Draaf mit honigsüsser Lispelstimme
Sprach die Weide mit beständigem Neigen:
«Eine andre Bahn will ich dir zeigen:
Beuge dich und so die Höh* erklimme!»
Wer sich b&ckt, der weichet ans dem Streiche,
Den die Herrenlanne nach ihm föhret,
Wer da küsst, die Weiberherzen rühret,
Und wer kriechet, ist bald Herr im Reiche.»
Doch ich nickte zu der altergranen:
«Trotzig will ich das Gemeine höhnen.
Fest wie du, nnr streben nach dem Schönen,»
Und fing an, die Znkonft aufzubauen. ^
Sieh! da ballt sich^s droben zum Gewitter,
Zorneshauch f&hrt über alle Fluren,
Fahle Furcht umschleicht die Kreaturen —
Und ein Blitzstrahl schlägt die Eich' in Splitter.
Eine Thräne quoll mir auf die Wangen;
Doch es seufzte die gefällte Eiche:
«Werde fest und nicht yqm Trotz abweiche,
Wenn auch Wetterwolken dich umhangen.»
Gustav Wethlj.
Ein Brautpaar.
Ein Brautpaar kenn* ich, wunderhold.
Umlacht von lichtem Sonnengold ;
Längst fand es sich zusammen.
Es prangt in ewig hehrer Pracht,
Und eins im andern hat entfacht
Gar heisse Liebesflammen.
Ob Jahre kommen, Jahre gehn,
Ob Lenzluft webt, ob Stürme wehn,
Stets stehn vereint die beiden.
Es teilt getreu des einen Brust
Des andern Schmerz und seine Lust;
Kein Schicksal wird sie scheiden.
Und doch: Kein Menschenohr erlauscht
Den Gruss, den ihre Minne tauscht
In züchtig süssem Kosen;
Der Mond allein hört ihr Gespräch
Und kündet's leis durch^s Blattgeheg
Den thaubeglänzten Rosen.
— 419 —
Eins aber ist uns allen klar:
Es bleiben treu sich immerdar
Die beiden Herzgenossen;
So lang der Weltban sich erhält,
Ist unter Qottes Schirm gestellt
Der Bund, den sie geschlossen.
Der Jnnker, fromm nnd tugendhaft,
Voll Anmut und voll Manneskraft,
Ist reich an Ruhm und Ehren.
Stolz zieht er seine freie Bahn;
An Menschenwitz und Menschenwahn
Mag er sich wenig kehren.
und sie, die Jungfrau gut und mild.
Gleich einem hehren Engelbild
Lacht sie hinaus ins Leben;
Hell strahlt der blauen Augen Glanz;
Die blonden Locken schmückt ein Kranz
Von Tannengrfin und Reben.
Und fragt ihr nun: «Wer mag wohl sein
Das holde Paar so keusch und rein,
Das liebend sich erkoren?»
So wiest: Der Rhein hat sich erschaut
Das Elsassland zu seiner Braut
Und hat ihm Treu geschworen! —
Glück zu, du jugendfrisches Paar!
SLlar soll dir scheinen Jahr um Jahr
Des Himmels Gnadensonne!
Glück zu, Du schaumgekrönter Rhein!
Glück zu, Du trautes Elsass mein,
Duj meines Herzens Wonne!
Dir Brüder, frisch das Glas zur Hand
Und lasst es füllen bis zum Rand
Vom Blut der Wasgaureben!
Lasst klingen euem Hochgesang,
Stimmt ein mit lautem Jubelklang:
«Hoch soll das Brautpaar leben!»
Der Rosheimer Kellerkrieg.
Im schönen Wasgaulande, da liegt ein St&dtlein traut,
Darauf Odiliens Kloster gar ernst hemiederschaut.
Im Wappen führt's die Rose, und Rosheim isVs genannt ;
Da hat manch edlen Tropfen die Sonne reifgebrannt.
Wie lieblich ist's geborgen in seinem Rebenkranz !
Dm seine Schläfe kosen Bergluft und Sonnenglanz.
— 120 —
Doch nicht zu allen Zeiten war^s still und friedlich dort;
Gar manche grimme Fehde dnrchtobte jenen Ort
Des Städtleins wackre Bürger errangen manchen Sieg;
Noch ist bekannt die Kunde vom alten « Kellerkrieg >.
Man schrieb zwölfhundertdreizehn, als Herzog Friedrich^ starb.
Der einst vom deutschen Kaiser Rosheim als Pfand erwarb.
«Doch fallt>, so stand geschrieben im Handel und Vergleich,
«Nach des Lothringers Tode die Stadt zurück ans Reich.»
Der Sohn des Herzogs aber, der finstre Theobald
Der wollte dieses wehren mit seines Arms Gewalt
Er kam mit seinem Meier, dem grimmen Lambyrin,
Die kaisertreue Feste mit Krieg zu überziehn.
Und sieh, die Zeit war günstig; der Deberfall gelang;
Verschüchtert flohn die Bürger zum Kirchlein todesbang.
Nun wühlt nach Raub und Beute des Herzogs rohe Schar;
Die Vorratskammern bieten gar manche Schätze dar.
Verheerend in die Keller wirft sich der Haufe frech,
Und in den düstern Tiefen beginnt ein wild Gezech.
Gar dumpf die Fässer dröhnen, des Traubenbluts beraubt ;
Doch schwerer wird und schwerer der Räuber wirres Haupt
Stets schlinmier treibt's die Rotte : Man flucht und schreit und trinkt
Bis einer nach dem andern bewusstlos niedersinkt. ^
Weh euch, ihr kecken Frevler! Mit ihren Herrn im Bund
Sind die getreuen Fässer im stillen Kellergrund!
Weh euch, ihr losen Spötter! Was hilft euch eure Wehr?
Den Bürgern mögt ihr trotzen, dem Weine nimmermehr!
Eb füllt zuletzt den Städtern gerechter Zorn das Herz;
Sie steigen in die Keller bewehrt mit Stahl und Erz.
Zum Wein, den man vergossen in tollem Uebermut,
Fliesst zu verdienter Strafe der Trunknen rotes Blut.
Die alte Chronik meldet, dass keiner fast entkam,
Und dass der Herzog kehrte nach Haus mit Schimpf und Scham. —
Den Sieg hat hier errungen die Feuerkost allein;
Drum werden Rosheims Reben auch stets gepriesen sein.
Strassburg-Neudorf. Christian Schmitt.
1 Friedrich, Herzog von Lothringen.
X.
Geor^ Gayelin
Von
Friedrieb Laueliert.
Johann Georg Gayelin wurde am 23. Mai 1812 zu Mül-
hausen geboren, wo sein Vater Backer und Wirt war, der evan-
gelischen Konfession angehörig. Er besuchte die Schulen seiner
Vaterstadt, hielt sich auch einige Zeit zur weiteren Ausbildung
im Französischen in Montbeliard auf, worauf er sich dem Kauf-
mannsstande widmete. Nachdem er in Mülhausen seine Lehr-
zeit bestanden hatte, war er zuerst etwa fünf Jahre, bis 18.36,
in einem Geschäfte in Sulzmatt thätig, von da bis 1845 in Lo-
gelbach bei Colmar. Seit dem Tode seiner Eltern, die 1832
and 1833 nach einander in ungünstigen Vermögensverhältnissen
starben, hatte er auch für zwei jüngere Schwestern zu sorgen.
Seit 1845 bekleidete er 32 Jahre lang eine Buchhalterstelle in
Lautenbach, im ßlumenthale, wo er 1853 heiratete. Hier ver-
brachte er ein ruhiges, idyllisches Leben; seine freie Zeit war
der Erziehung seiner beiden Kinder, der Pflege eines Gartens
und litterarischen Beschäftigungen gewidmet. Doch starb seine
Gattin schon 1864. 1879 zoir er, nachdem er etwa ein Jahr
- 122 —
vorher seine Stelle aufgegeben hatte, zu seinem Sohne nach
Rixheim, wo er am 30. Januar 1889 starbt
Durch seinen Anschluss an die neuen Verhaltnisse seit
1870 mag er in seinem Kreise manches Gute gewirkt haben.
Er trat in diesem Sinne in den letzten Jahren auch bei mehreren
Gelegenheiten öffentlich hervor ; so 1884 mit einem Trinkspruche
auf der Generalversammlung des Vogesenklubs in Strassburg.
Von Kindheit an war das Lesen sein grosses Vergnogen
und blieb es auch immer; von da kam ihm die Anregung zur
eigenen Produktion. Während der in Sulzmatt und Logelbach
zugebrachten Jahre erwarb er sich auch die Kenntnis des Eng-
lischen, ItaUenischen und Spanisohen, die er durch zahlreiche
Uebersetzungen aus diesen Sprachen bethätigte. Seine hinter-
lassenen Manuskripte, die nach seinem Tode der kaiserlichen
Bibliothek in Strassburg geschenkt wurden, legen Zeugnis davon
ab, wie er seine freien Stunden nutzbringend anzuwenden ver-
stand. Es sind sieben Bände, in der letzten Reinschrift,' mit
dem Gesamtlitel : «Dichtungen eines Altelsassers», folgendai
Inhalts: L «Musestunden im Blumenthaie.» (Hochdeutsche eigene
Gedichte.) IL «Milhüserditsche Gedicht. Aeiges un NobUdets.i
IIL «Lyrische Blumenlese aus ausländischen Dichtern.» (TV, 1
und 2: «Vier Perlen ausländischer Dichtung.»), IV, 1. Lalla
Rookh von Th. Moore, IV, 2. Zwei Novellen: Gesare Gantu,
Das Gnadenbild vom Imbevera ; J. E. Hartzenbusch, Die Königin
ohne Namen. Und zwei Gedichte von Ramon de Gampoamor:
Die Braut und das Vogelnest; die Verleumdung. V. «Drama-
tische Versuche.» (Uebersetzungen spanischer Dramen, hoch-
deutsch.) VI. «Milhüser-ditsche Theaterstick.» Ausserdem be-
findet sich bei diesen Manuskripten ein Exemplar des in den
«Musestunden» S. 173 genannten englischen Bilderbuchs von
John Gilpin, mit Papier durchschossen, worauf seine beiden
deutschen Bearbeitungen nebst einer französischen Prosaüber-
setzung beigeschrieben sind.
Gedruckt ist von alledem nur der kleinere Teil. Das erste,
was Gayelin veröffentlichte, unter dem Namen A. Ilgeney, waren
die beiden Lustspiele «Hans Dampf» und «Der Ordnungsstifter»,
in der in Colmar erscheinenden Zeitung «Elsässischer An-
zeiger», Jahrgang 1872. 1882 gab er ein Bändchen ausgewählte
1 Die biographischen Angaben entnehme ich den AofEeichnongeii,
die der Sohn des Dichters, Herr G. Qayelin, Herrn Professor Barack
übersandt hat.
s Vom im ersten Band steht die Notiz : «Die ersten Manuskripte
sind im Besitze meines Sohnes, die zweiten im Besitze der Stadt-
bibliothek zn Mülhansen.»
— 123 —
Gedichte heraus unter dem Titel: «Dichtungen eines Alt-Elsas-
sers. Erste Sammlung. Musestunden im Blumenthaie. Gredichte
TOD G. Gayeiin.» (Gebweiler und Leipzig 1882.) Es ist eine
Auswahl aus dem in den drei ersten Bänden der Manuskripte
gesammelten Vorrate, eigene Gedichte und Uebersetzungen, hoch-
deutsch und Miihüser-ditsch. — Es folgen: c Lebensregeln fär
Jünglinge und Handelsvorschriften. Gesammelt und heraus-
gegeben von G. Gayelin» (Gebweiler und Leipzig 1884), eine
Sammlung einzelner Lebensregeln in Prosa, meist aus andern
Schriftstellern entnommen, doch auch aus eigener Erfahrung
vermehrt ; das meiste entstammt den «Lebensregeln» des Grafen
August von Platen und Silvio Pellico's Schriftchen cDei doveri
degli nomini». — Noch im Jahre 1887 begann Gayelin eine
weitere Publikation : «Milhüser Monet-Bletter. Elsässische Marie,
Sage, Erzehlunge un Schwank von A. Ilgeney.» (Mülhausen,
Buchdruckerei von R. Münch.) Er eröffnete die Sammlung,
von welcher nur der erste Jahrgang (Nr. 1 — 12) erschien, mit
dem Gedichte «D' zwai Stiäfschwesterie», einer Bearbeitung
eines bekannten Kindermärchens.
Die Betrachtung der Dichtungen im einzelnen, wobei ich
mich natürlich hauptsächlich an das Gedruckte halten werde,
wird am besten eingeleitet durch eine chronologische Zusammen-
stellung der gedruckten Gedichte, die sich nach den Hand-
schriften herstellen Hess, wo jeweils das Datum der Entstehung
beigeschrieben ist. Zuerst die eigenen Gedichte, mit Weglas-
sung der ganz kleinen und unbedeutenden Dinge; die ange-
führten Seitenzahlen weisen auf die «Musestunden».
1842. Elsassische Volkssagen, S. 7 f. Das Nachtkalb, S. 9—11.
184218. Episoden aus Bad Sulzmatt, S. 18—29. [203— 208.] i
1848—46. Bruchstücke aus Bad Sulzmatt, S. 12—18.
1843. Lebenslust. Lebensschmerz, S. 30 — 32.
1844. Gewissensbisse. Gewissensruhe, S. 32 — 35.
[Zerknirschung, S. 193 f.] Abschied vom Vaterlande,
S. 35—42. Peter Fehr, S. 173—181. [Gott Mammon,
S. 212— 220.J
1845. Des Verwaisten Loos, S. 43 f. [Ode an Frühjahr und
Hoffnung, S. 194 — 196.] Das vertrakte Kompliment,
S. 48 — 50. Heimweh, S. 44 — 46. Der freigebige Geiz-
hals, S. 46 f. Der Freundschaft Sitz, S. 51—53.
1 In Parenthese füge ich die nicht gedruckten ersten hochdent«
sehen Formen der später in die Mundart umgesetzten und darin ge-
druckten Gedichte bei.
— 124 —
1846. Sehnsucht nach Mitgefühl, S. 54 — 56.
1847. [Lebewohl ; Abschieds-Ode, S. 197—199.] Abt von Mur-
bach, S. 59—63. Der Falter und das Licht, S. 67—70.
[Glaube, Liebe, Hoffnung, S. 196 f.]
1848. Zum Namensfeste; an einen Freund, S. 58 f.
1849. Glaube, Liebe, Hoffnung, S. 56 — 58. [Der Gelegenheits-
dichter, S. 208 f.] Meine Wahl, S. 64 f. Lebensläu-
schung, S. 66.
1851. Das Alpdrücken, S, 71 f. Die fünf Sinne, S. 72—75.
1858. [Zufriedenheit des Mittelstandes, S. 199 f.]
1855. Die Hahnen, S. 75 — 79. Einsam bin ich nicht alleine,
S. 80 f.
1864. Hans Dampf.
1867/8. Der Ordnungsstifter.
1870. 's Nachtkalb, S. 187 f.
1877. Einweihung des Rasthauses auf dem Beleben, S. 3^.
1879. Lebewohl an die Mitglieder des Vogesenklubs, Section
Gebweiler, S. 108.
1880. [Vier Adler, S. 201—203.] Die Dorfpumpier, S. 189—191.
Des Sünders Zuflucht, S. 87 f. Fortschritte der Sitten-
verfeinerung, S. 83. Der Monat Mai, S. 81 f. Zeitstufen,
S. 90—107.
1881. D' frumme Süllergreth, S. 188 f.
Ferner aus diesem Jahre alles weitere von S. 191 an,
meist elsassische Bearbeitungen von früher hochdeut^h
gedichteten Stücken.
1882. «D* zwäi Stiäfschwesterle.»
[1887.88. Zwei kleinere dramatische Stücke : «Herr Wunderlig>
und «D' Kiäfer.»]
Hieran schliesse sich ergänzend eine chronologische
Uebersicht der bemerkenswerteren [handschriftlichen und]
gedruckten Uebersetzungsarbeiten :
1844. Montgomery, Das allgemeine Loos, S. 111 f.
Cowper, John Gilpin, S. 113—121.
[Gedichte von Southey, Thomas Hood, Goldsmith.]
Um diese Zeit wohl auch der undatierte Feuerkönig von
Scott, S. 121—125.
1847. Milton, Adam's und Eva's Morgenhymne, S. 126 f.
Metastasio, Hymne an Venus, S. 134 f.
Ariosto, Birnbaum und Kürbis, S. 133. [Chiabrera, Das
Veilchen.] [Mehrere Lieder von B^ranger.]
— 125 —
184». Giambatt. Ck)tta« Gott, S. 144. Lor. di Medici, Die HofT-
nung, S. 137 f. [Rouget Delisle, Marseillaise.]
1848/9. [Thomas Moore, Die Feueranbeter.]
1849. Cienfuegos, Hymne an Bacchus, S. 157.
Moratin, Die Trümmer erloschener Völkerschaften, S. 145 f.
Lope de Vega^ Das Sonett, S« 158.
1849|ftO. Melendez, Die Tageszeiten, S. 147—155.
18«). Yriarte, Der Frühling, S. 155 f.
Parini, Ganzone auf den Tod des Barbierers, S. 139 — 14^.
1861. [Ges. Gantü, Das Gnadenbild von Imbevera.]
1804. Hartzenbusch, Hans Dampf [Juan de las Vinas], hocli-
deutsch [und elsässisch].
1866. Gi! y Zarate, Der Ordnungsstifter [el Entremetido], hoch-
deutsch.
1867168. [Dasselbe elsassisch.]
1871. Wahrscheinlich King John and the Abbot of Canterbury,
S. 165-168.
1879. Byron, Antwort auf Montgomerys Allgemeines Loos,
S. 128—130.
Byron, Das Gebet der Natur, S. 130—132.
Silvio Pellico, Seufzer, S. 136 f.
Bermudez, Die Zeit vergeht und kehrt nicht wieder,
S. 146.
1880. [Hartzenbusch, Die Königin ohne Namen, Novelle.]
[1880—1882. Bearbeitungen älterer deutscher Gedichte und
Schwanke, z. B. aus Hans Sachs,i Wickram, KirchhofF,
Pauli, Burkard Waldis ; zwei Gedichte Walthers von der
Vogelweide, und die Märe vom Sperber. Dazu kommt
aus dem Jahre 1881 : «Heliotrop oder dV prellt Hahnrey.
No-n-eme Pickelhärings-Spiel d'r änglische Kummediante
üs em 16. Johrhundert.»]
[1883. Zahlreiche ungedruckte Gedichte aus dem Englischen,
Italienischen und Spanischen, z. B. von Shelley, Long-
fellow, Wordsworth, Bums ; Ariosto, Parini, Giusti, Leo-
pardi, Angelo Poliziano; Moratin, Yriarte, Garcia de
Quevedo, Quevedo y Villegas, Luis de Leon.]
.1882 — 1886. Hartzenbusch, Das Gesetz der Rassen.]
1 Die bekannte Schlassformel wird einmal wiedergegeben :
<No Fliss an That sträb junger Sinn,
Das mahnt der Hans Jerg Gayelin.»
- 126 —
[1884/5. Thomas Moore, Lalla Rookh, d. h. die drei noch un-
übersetzten Gedichte daraus, nebst der Rahmenerzählung,
womit die ehemals selbständig gemachte Uebersetzung
der «Feueranbeter» vereinigt wird.]
[1886. Die zwei Dichtungen des Ramon de Campoamor.]
Wenn die Reihe dieser Arbeiten erst 1842 beginnt, so ist
doch wohl anzunehmen, dass Gayelin auch vorher schon dich-
terisch thätig war, nur dass die früheren Sachen entweder gar
nicht oder nur in überarbeiteter Gestalt in die spätere liand-
schriftliche Sammlung übergingen. Letzteres ist wohl der Fall
mit den auch nach der jetzigen Datierung ältesten Slücken, den
Volkssagen vom Schauenberg und Schäferthal, und den Bruch-
stücken und Episoden aus Bad Sulzmatt, welche auch nach der
Angabe von Gayelins Sohn schon in Sulzmatt entstanden. Als
erste Verse aus den Knabenjahren findet sich in der Hand-
schrift ein Spottlied auf die aMilhüser Pumper», die Feuerwehr
von Mülhausen, deren Hauptmann Gayelins Vater war, in einer
Aufzeichnung von 1882 mit Erzählung der Veranlassung.
An der Spitze der für uns in Betracht kommenden Pro-
duktion stehen also Bearbeitungen elsässischer Lokalsagen und
Legenden und Beschreibungen der Schönheit des Landes, Gegen-
stände, die allen elsässischen Dichtern, die sich in ernster Dich-
tung versuchten, naheliegen ; Ehrenfried Stöber war hier wohl
Gayelins, freilich nicht erreichtes, Vorbild. Dass er auch von
Bürger in der Balladendichtung etwas gelernt hat, beweist die
einige Jahre spätere Ballade vom Abte von Murbach, eines seiner
besten Gedichte.i Auch die Wahl der Strophenform dieses Ge-
dichtes scheint vom Beispiele der Lenore beeinflusst zu sein, nur
am Strophenausgang abweichend :
«und war' auch alles Dichtung nur,
So liegt's doch ausser Zweifel,
Den einen früh, den andern sp&t,
Es holet stets der Teufel,
Wer Unzacht treibet, saufet, flucht,
Die Menschen plagt und Gott versucht.
Sei selbst er Fürst und Priester.»
1 Die unschöne Beminiscenz an die Lenore:
<Und Hurra, Hurra 1 Hopp, Hopp, Hopp!
Qleich Wilhelms, flogen im G^opp
Die Pferde nach dem Ziele» —
hat Gayelin später in der Handschrift in richtigem Gefühle geändert:
«Und wie vom Schalte schnellt der Pfeil,
So flogen voller Hast und Eil
Die Pferde nach dem Ziele.»
— 127 —
Die von Gayelin gewählte Strophe mit dem nachklappenden
einxelnen Verse scheint mir allerdings besser zu einem komi-
schen Gegenstande oder wenigstens zu einer leichten Färbung
in diesem Sinne zu passen; man denke z. B. an Lichtenberg's
Gedicht auf die Belagerung von Gibraltar. — cDer freigebige
Geizhals]» schliesst sich in Form und Darstellung an die älteren
Fabeldichter an. Unter diesen Einflüssen guter Vorbilder stehen
Gayelins erzählende Gedichte.
Unter noch mannigfaltigeren Einwirkungen der jeweiligen
Lektüre steht die lyrische Dichtung mit ihren Abarten. So gab
die Uebersetzung von Montgomerys Common lot Veranlassung
zu dem eigenen Gedichte cDes Verwaisten Loos» im gleichen
Metrum (S. 43). Die Gedichte ähnlicher Art entstanden wohl
mehr oder weniger alle unter dem bewussten oder unbewussten
Einflüsse fremder Poesie. Am besten und am meisten selbst
gefühlt sind darunter die, in welchen sich ein zufriedener stiller
Sinn ausspricht, so cLebenslust» (S. 90), cZufriedenheit des
Hittelstandes» (S. 199). Andere Stücke handeln von Gefühlen
doch gar zu systematisch lehrhaft ; am wenigsten gelungen sind
die weltschmerzlich angehauchten, ein gutes Zeichen für den
Verfasser. Unangenehm berührt in diesen Gredichten auch das
Uebermass mythologischer Bilder, worin sich eben der Auto-
didakt verrät. Hervorzuheben aus diesem Kreise ist noch das
allegorische Gedicht «Der Falter und das Licht» (S. 67); die
unbildliche, sehr nackte Ausführung des Gedankens konnte
fireilich nicht gedruckt werden. Grayelin erwärmt sich in der
Vorrede der cMusestundeni an dem Gredanken, es könnte viel-
leicht einem oder dem andern seiner Gedichte vorbehalten sein,
ceinen Strauchelnden auf dem Pfade der Tugend zurückzu-
halten»; jedenfalls ist die Absicht lobenswert, um derentwillen
man auch einige Prosa mit in den Kauf nehmen kann..
Die Naturschilderungen sind oft sehr hübsch, besonders
da, wo sie nicht allgemein gehalten sind, in der Art der
Dichter aus der älteren Schule, sondern wenn Gayelin be-
stimmte Gegenden seiner Heimat im Auge hat, wo er natür-
lich immer wärmer wird. Das warme Gefühl für das schöne
Heimatland teilt er mit den anderen elsässischen Dichtern; be-
sonders schön spricht es sich aus in dem Gedichte «'s Elsass»,
einer Glosse über Verse von Ehrenfried Stöber (S. 171 f.; die
Entstehungszeit ist in der Handschrift nicht bemerkt) :
«Sag a, wo isch e Land so sehen,
Wo-n-e 80 frische Jnmfre bliäie.
So Triwel an de Bawe gliäie
So Borge nf de Bärge stehn ?
— 128 -
Wo 80 viel GwärbflisSy 80 Tiel Gwinn?
Wo-n-e 80 Tämpel Gottes prange,
So Fäld an Bäim voll Frichte hange ?
Wo 80 viel Mensche bschäftigt sinn ?
Sag a, wo lach e Land so sehen?»
Mit den elsässischen Gedichten Gayelins hat es eine eigen-
tümliche Bewandtnis. In den wenigen ursprünglich in der Mundart
gedachten und gedichteten Stücken, woran sich die ungedruckteo
grösseren Arbeiten schliessen, was nachher im Zusammenhange
betrachtet werden soll, hat er sein Bestes geleistet. Die Mehr-
zahl der elsässisch gedruckten Gedichte ist dagegen nichts anderes
als Umsetzung der älteren hochdeutschen Gedichte in den Dialekt,
wie schon oben die chronologische Zusammenstellung angab;
in den ersten achtziger Jahren scheint er in einem Zuge alles
früher Gedichtete in dieser Weise umgeschrieben zu haben;
weitaus das meiste ist in dieser doppelten Form vorhanden,
die meisten hochdeutschen Gedichte der gedruckten Sammlung
ebenso auch in der Mundart. Es ist dies eine bedauerliche Ver-
kennung des Wesens der Dialektdichtung; umsomehr, wenn es
sich, wie in mehreren Fällen, schon ursprünglich um Stoffe aus
einer dem Dichter unnatürlichen Sphäre handelt, die zu der
lebensvollen Volkssprache noch mehr im Gegensatze stehen. *
Was die Handhabung der pc»etischen Formen betrifft, so
haben wir auch hier den gleichen Fall wie in Bezug auf den
Inhalt : die einfachen Formen beherrscht er mit Geschick, weil
sie ihm natürlich sind. Dagegen die künstlicheren Formen
der italienischen Poesie, wie auch der Hexameter und das
elegische Distichon scheinen ihm nie recht im Gefühle lebendig
geworden zu sein.
Sein eigentliches Element, leider viel zu sparsam vertreten,
ist die humoristische Dichtung in der Mundart, besonders da
wo es sich um die Uebertragung oder Bearbeitung fremder
Dichtwerke handelt, da sich seine humoristische Begabung mehr
im einzelnen als in der Anlage eines Ganzen äussert. In
durchaus gelungener Weise lokalisierte er fremde humoristische
Dichtungen, die ihm zusagten, im Elsass. Der Tuchhändler
1 Die gewählte Orthographie des Elsässischen ist nicht sehr
glücklich. Das hässliche «bliähie, gliäfaie» etc. der gedruckten 6e*
dichte ist in den Manuskripten später korrigiert : «bliäie, gliäie^ waie,
nmmedräie, rüeie, Miäi» etc. Ungeschickt ist anch das e an i zur
Dehnung, wie : «sie (esse), der Kampf am's Dosie, bis züer Lütter
hie.» — En«,'ähnt sei hier noch, dass Herr Professor Martin von
Oayelin's Hand eine Znsammenstellnng einiger Idiotismen for du
Elsässische Idiotikon besitzt.
— 129 —
Jobn Gilpin aus London in CSowpers Gedicht wird zum Färber
Peter Fehr aus Mulhausen. Das Beste aber sind die Uebertra-
gungen der beiden s{)anischen Lustspiele Juan de las Vinas von
Hartzenbusch und el Entremetido von Gil y Zarate^ beide lei-
der nur in der zugleich gemachten hochdeutschen Uebersetzung
gedruckt^ und auch so nur in einer Zeitung. Als «Hans Dampfi»
und cDer Ordnungsstifler» sind die beiden Stücke ebenfalls in
Mülhausen lokalisiert (im Hochdeutschen das eine in Gebweiler,
das andere in Colmar), und zwar so geschickt, dass man sich
in der ergötzlichen Komödie vom Hans Dampf, dem alle Dumm-
heiten, die er macht, zum Glück ausschlagen, selbst daran nicht
stösst, dass der Bürgermeister von Mülhausen als Deus ex
machina an Stelle des spanischen Königs getreten ist, dem im
spanischen Drama von Alters her diese Rolle zukommt. Im
Uebrigen hat Gayelin ausser entsprechender Ersetzung der lo*
kalen Umstände nichts geändert, nur, um den Stücken für
etwaige Aufiführung den Charakter von Singspielen zu geben,
ein paar Lieder eingelegt und an einigen Stellen kürzere leb-
hatte Dialogpartien in Versen gegeben. Im Ganzen aber sind
es Uebersetzungen im eigentlichen Sinne, die nicht nur die
Handlung im Ganzen, sondern eine Rede um die andere sinn*
getreu wiedergeben. Die sprachliche Wiedergabe ist sehr gut
und lebendig (in den hochdeutschen Bearbeitungen viel steifer) ;
in Einzelheiten des Ausdrucks nimmt er sich Freiheiten, setzt
auch zuweilen sehr glücklich humoristisch individualisierende
Züge bei, was besonders dem matteren farbloseren Dialoge in Gil
y Zarate's Stück zu Statten kommt ; davon nur ein Beispiel :
Das Mädchen äussert gegen den Bedienten, der als Vertrauter
und Liebesbote erscheint, seinen Unwillen, dass der Geliebte
heute keinen Brief geschickt habe, worauf jener zur Verant-
wortung sagt : «Gomo ha apurado en sus cartas cuanto ha leido
en la nueva Heloisa y otras novelas, no sähe ya qu^ decir, y
por esta vez no ha saiido el correo.» Gayelin lässt ihn sagen :
<Do-n-er in sine Briäf scho alles gsait hat, was er in d'r scheue
Magellone, in d'r neie He-Lise un in Werthers Leide glase hat,
un dV Liäwessekretär scho-n-e paar mol abgschriwe hat, so
isch fir dasmol käi Post aku.» — Weniger glücklich sind die
ohne Quellenangabe in der Handschrift stehenden kleineren dra-
matischen Stücke <icHerr Wunderlig)) und «d'Kiäferi». Das
erstere ist eine Bearbeitung des bekannten Schwankes von
Hebel, dem Gayelin, um überhaupt eine dramatische Handlung
für ein paar Scenen zu bekommen, noch eine sentimentale
Liebesgeschichte und Wiedererkennung des als Kind verlorenen
Sohnes eingefügt hat, den der Holzbauer bei dem als Hexen-
meister konsultierten Schulmeister wiederfindet. — Sonst wäre
— 130 —
von den un^edruckten elsassischen Dichtungen aus den achtziger
Jahren etwa noch zu nennen eine Bearbeitung von cDer Kaiser
und der Abt:», teils nach Bürger, teils nach King John and the
Abbot of Canterbury, und das Gedicht c's Kandidat Hans Schön
Atritts-Predig in's Pfarramt», das, in der Handschrift ohne
Quellenangabe, eine Bearbeitung der in Jean Pauls Fixlein (in
< Freudeis Klaglibell gegen seinen verfluchten Dämon») erzählten
Geschichte von dem Predigtamtskandidaten ist, der unter dem
Kanzelliede, auf das Pult herabgebeugt, so in Gedanken über
die zu haltende Predigt versinkt, dass er erst nach langer Pause
die eingetretene Stille bemerkt und sich nun nicht mehr anders
zu helfen weiss als durch heimliches Entschlüpfen unter Zurück-
lassung der repräsentierenden Perrücke.
Wenn uns in Grayelins Gedichten nicht überall wahre Poesie
entgegentritt, so sichert ihm doch der tüchtige, redliche Sinn,
der sich darin ausspricht, ein ehrendes Andenken. Als Dichter
hätte er mehr Gutes und Bleibendes leisten können, wenn er
sich immer in einem ihm natürlichen Grebiete bewegt hätte;
aber was er im Grebiete volkstümlicher Komik hervorgebracht
hat, darf sich den guten Dichtungen dieser Art von anderen
elsässischen Dichtern an die Seite stellen.
XL
Elsässer Sagen
Von
Bargmann.
I.
JDei dem Dorfe Champenay, im Kanton Saales, befindet
sich im Waldorte La Falle ein Felsen, welcher den Namen
führt : pierre des f6es. In diesem Felsen sollen vor 150 Jahren
oder noch länger die Feen ihren Wohnsitz gehabt haben.
Im Dorfe Champenay selbst ist ein offener Brunnen,
welcher auch nach den Feen den Namen Fontaine des f^es
trägt. Diesen Brunnen sollen besagte Feen in einer Nacht her-
gestellt haben. Diese Feen wollten ausserdem vom Hause, in
dem jetzt der Wagner M. wohnt, quer über das Dorf Cham-
penay eine Brücke bauen. Letztere sollte das Dorf mit ihrem
Wohnsitze, dem Felsen, verbinden. Es ist dies eine Breite von
80 Meter. Die Feen scheinen aber bei dem Baue gestört zu sein.
Die Brocke ist nicht fertiggestellt worden.
II.
An der Strasse, die von Champenay nach dem (rHantz»
(Wirtschaft unmittelbar an der französischen Grenze) führt,
befindet sich — sudöstlich von der Strasse — ungefähr 500 Meter
von der Grenze eine Quelle. Dieselbe heisst im Volksmunde:
trou de Fesprit. An dieser Quelle sollen in früheren Zeiten
Gespenster jede Nacht gewaschen haben.
Im Waldorte Herb^outte (jetziger Distrikt 6 vom Staats-
walde Rothau) liegt etwa 100 Meter vom Wirtshause Hantz,
südlich der Strasse, die von St. Blaise herführt, eine Quelle,
die den Namen tragt : fontaine de Landau. Hier sollen gleich-
— 132 —
falls Gespenster sich aufgehalten hab«^n. Dieselben überfielen
und ermordeten die vorübergehenden Reisenden. Fanden sie
bei denselben kein Geld in der Tasche, so nahmen sie ihren
Opfern die Eingeweide heraus und wuschen sie in genannter
Quelle, indem sie vermuteten das gewünschte Geld in den
Eingeweiden zu finden.
III.
In Haslach sollen früher auch Hexen gewesen sein. Ein
Jäger schoss mehrere Male auf einen Hasen. Er glaubte den-
selben jedesmal getroffen zu haben, und doch lief das Stück
Wild immer davon. Da kam er endlich auf den Gedanken:
das muss eine Hexe sein. Statt Schrot zu laden, lud er des-
halb geweihtes Salz, suchte denselben Hasen wieder auf und
fand ihn auch richtig. Als es nun bei unserem Jäger knallte,
da hatte der Hase einen Lauf entzwei. Anstatt sich nun in
einem Gebüsche zu verstecken, lief das angeschossene Tier
auf Haslach zu und schlüpfte in ein Haus hinein. Der Jäger
ging ihm nach und fand — nicht einen angeschossenen
Hasen, sondern eine verwundete Frau, die ihn mit dem Tode
bedrohte, wenn er jemand von dem Vorgefallenen etwas
eröffnen würde.
IV.
In einer Nacht, als die Bewohner eines Hauses in Haslach
in tiefem Schlafe im Bette lagen, wurden dieselben durch
Rasseln einer Kette aufgeweckt. Es kam ein grosses Tier in
das Schlafzimmer. Hausherr und Frau waren halb tot vor
Angst. Keines der beiden wagte aus dem Bette zu steigen, um
sich zu erkundigen, was das für ein ungeheures Thier sei.
Endlich trieb die Angst doch den Mann hinaus, seine Frau
folgte ihm nach. Als die Frau nun Licht gemacht hatte, sah
sie ihren Mann auf ihrer Kuh sitzen, wie ein Reiter zu
Pferde sitzt.
V.
An der Strasse von PfafTenhofen nach Ingweiler, ungefähr
2 Kilometer von ersterem Orte nach Obermodern zu, ist eine Brücke
welche man das «dritte Brücke!» nennt. An dieser Brücke ist
in früheren Zeiten ein Galgen gestanden. Der Ort, an welchem
er errichtet war, führt heute noch den Namen «Galgen». Da
sollen auch Gespenster gewesen sein. Dieselben plagten die
Leute, welche nachts vorbeigehen mussten, indem sie denselben
auf den Rücken sprangen und sich eine Strecke forttragen
Hessen, so dass der Beladene vor Angst fast nicht mehr schnaufen
konnte.
I
Xll.
Elsässische
Kinder- und Wiegenlieder,
Kinderreime.
Mitteilungen von
C. Eber
in Oberbronn
JQj ia ! Poppeia ! schlof liewer ah du,
Wa mer's nit glanwe wit, laej mer emol zu.
£ia! Poppeia! die Süpple sin gut,
Wa mer brav Butter, un Eier drin thüt.
Ria! Poppeia! es rispelt im Stroh,
S'Katzel isch g'storwe, un s^Miesel isch froh.
A. B. C.
D'Katz leijt im Schnee.
D'Schnee geht eweck,
Un d'Katz leijt im Dreck.
Büsche, Batsche, Küchele,
D^Muetter bacht Küchele;
Bacht ganzi Pfanne voll.
Qibt im Kindele au devon.
10
- 134 —
Ni, Na, Bibele
Koch im Kind e Süppele ;
Mach im au e Gackele drin,
Hol im au e Schöppele Wyn.
Eine, meine, Dintefass,
Geh in d^Schul nn lerne wass,
Kummsch de heim an kannsch de nix,
Ze wnrsch de mit der Raeth g'fizt.
Lene, Bene, Bohnesupp,
Tra der Muetter d'Eier fürt;
Leij se uf de Offe,
Morje wnrsch getrofife.
Andere Variante.
Leij se in^s Laedel,
Morje wm*sch Soldaetel.
Reite, Reite, üwer de Grawe,
Fallt er nein so mnss er^s hawe.
Schimele trapp, trapp, trapp,
Un schmiss mer s^ Kindele grad drüwe nah.
D'Muetter sitzt im Garte,
Spinnt e grüene Fade :
D'Vatter sitzt im Wirtshüs,
Süft alli Glaesser üs;
Z^Nachts kämmt er heim,
Mit-m-e krumme Bein ;
Steht e Schussele uFm Disch,
Luejt wass drinne isch:
D'Muetter nimmt e Gabel,
ün schiebt im uf de Schnabel.
Ich un du,
S'Mülleri Küh,
S'Becke Stier,
Mache z^samme vier.
Eine, meine, Doneblatt,
ünseri Küh sin alli satt;
Siewe Gaise un e Küh,
Peter schliess di Thür zu;
Wirf de Schlüssel üwer de Rhin,
Morje solPs guet Wetter sin.
Giks, Gaks, Eiermueso,
D^Gäns gehn barfuess,
Barfaess gehn d' Gans,
D'Haemmel han Schwänz,
Schwänz han d^Haemmel,
— 135 —
Ich sitz af m Schemmel,
Ufm Schemmel sitz ich,
D^Nodel isch spitzig,
Spitzig isch d^ Nadel,
D'Katz hett e Wadel,
£ Wadel hett d^Katz,
Un d^Ramme sin schwarz,
Schwartz sin d^Ramme,
Scheen sin d^Dame,
D^Dame sin scheen,
Wann se in^s Theater gehn.
I will der eb*8 verzaehle,
Ynn de tippe tappe Elle,
Un de knrse Wache.
Do han mer nix ze koche,
Als e stückele Katzefleisch,
Ün e dürre Knoche.
Ritzel, Ratzel, Leffelstiel,
D^jnnge Wiewer esse viel,
D^Alte müen faste;
S^Brod leijt im Kaste,
D'Wyn leijt im Keller,
Wnrd alle Taa heller.
Haas, Haas, leij mer e £i,
Eins oder zwei,
In e bessele Heu oder Stroh,
D^ noh bin i gar ze froh.
Die kleinen Kinder werden auf den Knieen geschaukelt, wobei man
ihnen singt :
So reiten die kleinen Herrenkinder.
Un wenn sie grösser werden,
Ze reiten sie auf Pferden;
Wenn sie grösser wachsen,
Ze reiten sie nach Sachsen,
Wo die schöne Maidle wachsen.
Wenn ein Kind sich ein wenig gestosseu oder verwundet hat, streicht
man die leidende Stelle und spricht :
Heile, Heile Säje,
S'Kätzele-n-uff der Stäje,
S^Miesele-n-nfTm Mischt,
S^ weiss nieme was im Kindele-n-isch.
Heile, Heile, Hörn,
Heilfs hit nit, heilt^s Mor'n;
Heile, Heile, Kaelwels Dreck,
Bis Moi-je isch alles eweck.
— 136 —
Liebesfreud und Liebesschmerz
im els&ssischen Volkslied*
Min Schatz isch von Adel,
Heisst Anne Marie;
Hett hilzen Wade,
Un glesseri Knie.
D^Anne Marie isch üewel dran ;
D'Anne Marie bekammt ken Mann ;
D^Anne Marie hett alles verklopft,
D^Bettlad nn de Kaffeetopf.
Kikeriki, Bändle dran,
Hesch mi gennmme, nmesch mi han;
Hesch mi mit-m-e Baase gVhlaaae,
Wart i wiirs de Maetter saane.
Hopp! Maidel, hopp! «
Wie loddelt dir din Rock !
So hesch de noch ken Röckel g^hett,
Wie so scheen geloddelt hett.
Bolka, Bolka tanz i gern,
Mit^m-e scheene jnnge Herrn.
Isch es awer e Unteroffezier,
Deschto liewer isch es mier.
Katerinnele ! Katerinnele !
Geh mit mer in dis Holz!
Ich tröaej der nit.
Ich tröuej der nit,
Di Büwele sin ze stolz.
Wart nur Bambele, da warsch geharscht,
Morje kämmt die Tante.
Bringt e Blatt voll Lewerwürscht
Un die Musikante
Bisch e scheen Bürschtel,
Bisch e nett Bürschtel,
Awer min fi&rsebtel bisch de nit.
Derfsch zue mer kumme,
Derfsch de Narre mache,
Awer hirothe thae i di nit.
E Schussele, e Teller, an e Leffele derzae,
Dis gibt mer min Vatter, wenn i hirothe thae;
Un gibt er mer^s nit,
Z'hiroth i nit,
Geh alle Nacht zae de B lewe,
Un sa^s im awer nit.
— 137 —
Siropmaennel du bisch min!
Wann i stirb, sin d^Hoesle din,
Awer numme d*alte;
D*neje nimm i mit in*s Grab,
DasB i an e paar Hoesle hab.
Katerinnele I Katerinnele !
SIFie hesch denn da din Mann.
Im Dannewald, im Dannewald!
Er hett ken Bosse an.
Du hochfaehrdi Bürschtel,
Dn Stölzl Krott;
Wer hett di denn gennmme,
Wenn i di nitt wott.
Katerinnele! Katerinnele!
Steh nf an mach e Licht,
Es tippelt eb*s, es tappelt eb^s,
Mer meint es isch e Dieb.
Es isch ken Dieb, es isch ken Dieb,
Es isch s*Nochber's Seppele,
Der hett s' Katerinnel lieb.
Z^Nachts Hc^n der Mond schint,
Träppelt^s m de Bracke :
Fuhrt der flansel s* Gretel heim,
Mit de krumme Krücke.
Pfift die Küh,
Danzt der Baer,
D^Essel alli drumme.
Alli Mys wie wyse Wadel han,
Solle zue der Hochzit kämme
!
XIII.
Elsässische Sprichwörter
und sprichw^örtliche Redensarten.
Mitgeteilt von
Julius Rathgeber
Pfarrer zu Neadorf bei Strassborg.
Isch's wohr ? gibt's Kriej ?
Jo, ze Betschdorf gibt's genüe an aa Hafe.
Wortspiel auf Kriege und Krujre. In Ober- und Nieder-
betschdorf werden bekanntlich viel Krüge verfertigt.
Volksreime.
'^'1 Speck an Schwärt
i^ Sin von einre Art.
r^ Zitter (seither) ich e Kühjel (kleine Kah) hab'
l> Zejt mer's Käppel vor mer ab.
^r E Sprichwort
E wohr Wort.
Mit ganz kleine Axestreiche
^ Macht mer falle d'dickste Eiche,
- Doch wenn d'Eiche falle solle
:• Mass mer d'Streich oft wiederhole.
^t
%<
— i:39 —
Hopsa Mejele, hopsasa,
Komm, mer welle danze,
Nimm e Stückele Käs e Brod
Steck^s in dine Ranze.
Der Tod nifiess en Anfang han. — Uf de Leime gehn.
Im Handumkehren. — Dis isch e rechter Dürmel. (Strassburger
Ausdruck um einen hochmütigen, unfähigen Menschen zu
bezeichnen). — Er will den Uelrich rufe. (Strassburger Aus-
druck für sich erbrechen. Im vorigen Jahrhundert lebte nämlich
in Strassburg ein gewisser Dr. Ulrich, der vielfach in seiner
ärztlichen Praxis Brechmittel anwandte). — Wenn d'Düwe
fürt sin (die Tauben fort sind), ze macht mer de Schlaa (den
Taubenschlag) zue. — Der Sandmann (Schlaf) kummt d. h.
es ist Zeit zum Schlafengehen. — Mer müess Eim nit vor
d'Sunn stehn welle. — D' Kirsche soll mer mit den arme Lit
un d'Erbse mit de Riebe esse. Sinn : Am Ende der Saison
sind die Kirschen und am Anfang derselben die kleinen Erbsen
gut und wohlfeil, — Wenn's Schof (das Schaf) gemetzt ist,
ze kamer*s nimm! schere. — Mer soll nit Alles an Eine Lappe
hänge. (Französich : II ne faut pas mettre tous les oeufs dans
un seul panier).
Kinderliedchen.
Trutz nit so, tmtz nit so,
's knmmt e Zit bisch Tvieder froh.
Trutz nit so, tratz nit so,
's kummt e Zit wo du bisch froh.
Mer welle's Rössel b'schlaue
Wie viel Näjel solPs denn han?
Eins — Zwei — Drei — Vier —
Man schlägt dann de:n Kind auf die Füsschen und wiederholt : Eins
— Zwei — Drei — Vier.
Die Voüjele wo friiyh singe höre bal uf. — Vanante: Ion
bal noch mit pfifTe. — E Flade (tartine), e Butterflade, e
Syrupflade. Flade rer ist die alte Strassburger Bezeichnung
für Conditor. Fladerergasse (rue des tartines).
Wenn die Mutter auf den Markt geht, so fragen die
Kinder: «Mame, was bringt sie mit?» — Darauf antwortet
die Mutter: «E silwers Nixele un e goldig's Wart-e-Wilele»
(warte eine Weile). Mit diesem Spruch geben sich die guten
Kinder gewöhnlich zufrieden.
— 140 —
Hopp, hopp, hopp,
Pferdchen lai:^f Galopp !
Uewer Stock an üwer Steine
Awer brich mer nit die Beine.
Variante : Awer brich nit Hals an Beine.
Hopp, hopp, hopp, hopp,
Pferdchen laaf Galopp.
Ramerdi, Bamerdi, Holderstock
Wie viel Homer streckt der Bock?
Antwort des Kindes : Drej.
Hätt^sch de zwei gerothe
Hätt' i der e Hühnel gebrote.
Ramerdi, Bamerdi a. s. w.
Der Pfeffer hilft im Mann afs Pferd
ün bringt dTraa anter d'Erd!
E Schelm gibt meh ;als er het. — Der Wolf verliert
d'Hoor, awer d'Nuppe (die Ränke) nit. — Konstantinopolita-
nis'cher Düdelsackpßfer (schnell nacheinander zu sagen). Der
Richtum isch e Leiter; wenn d'Lit uf der eine Sit drowe
sin, 2e gehn sie uf der andere wieder herab. — Wie mer
Eine zejht ze het mer Eine (Sprichwort von der guten oder
schlechten Erziehung). — Maikäferjohr gutes Winjohr (Bauern-
Spruch). — Der blost in's nämli Hörnel. — Der kann esse
wie fünf Drescher. — Der Wolf frissl au d'gezahlte Schof
(d. h. alle Schafe, auch die Schafe der Heerde). — Mer gehl
nit uf eim Füess d. h. man darf auch etwas zweimal nehmen
oder machen. — Früh g'sattelt un spot (spat) geritte. — Mer
welle sehn, het zeller Blind' gsaat. —
Wenn d^Fasnacht kämmt bisch du min Mann
ün ich bin dini Fraa. Jüheh !
Um Fastnacht finden viele Bauernhochzeiten statt; da
haben die Landleute noch freie Zeit ; es ist noch keine schwere
Feldarbeit zu verrichten und sie haben noch einen Vorrat an
Wein und Feld fruchten.
Schwarz wie e Hut (Hut). — Sie leje (liegen) do wie
d'Jünger am Oelberj (Oelberg) d. h. sie ruhen und schlafen. —
Wenn e Wann e Ritter war
Ze war min Vater e Millionär.
Wenn's Bäbb' (Pappe) reit (regnet), ze het er ken Löffel
Un wenn's Dreck rejt, ze hett er zwei
Sinn: Er ist ein Pechvogel oder wie man im Elsass sagt ■€ Schla-
m asselvSujeU.
- 141 -
Kiaderreim.
•
G'Bchenkty geschenkt, isch geschenkt,
Dreimol an de Ga^e g^hengt
Stejele naf, Stejele na,
Bisa der Katz* den Wadel a (ab)
Wit vom G'schütz gibt alti Soldate. Variante : Alti Kriegs-
lüt (Ober-elsässisch).
Anne Margredel het's Esse verbrennt
Isch mit dem Kochlöffel noch Molse gerennt.
Fünf e fufzig Hechteköpf ! (Kraftwort). — Die kummt
hintenoch wie d'alt Fasnacht d. h. langsam. — Der isch
rappelköpfiscb. —
Viel Händ^ mache-ne geschwindes £nd!
Variante: Flissigi Hand bringe viel ze-n-£nd!
Wart' nur, wart' nur, kummsch in de Bambelsack. —
Du Kalb Mosisl — Dis isch e rechter Hasefuss. — Des Eine
Tod isch des Andere Brot. — Mer müss nit mehr kaufe als
mer mischte (misten kann). (Bauernspruch). — Der Has isch
am liebste wo er gebore-n-isch. — s'Mül wässert mer dernoch. —
Wo bache sie d'Eierküche nnr nf einere Sit?
In Schirrhein an in Sand.
In diesen beiden unter-elsftssischen Dörfern standen in früherer Zeit
die Hftuser nur auf einer Seite der Landstrasse.
Mer soll nit zürn Schmiedel gehen, sondern zürn Schmied
d. h. gleich zum rechten Mann. Variante : Mer soll nit zürn
Schuhmächerle gehn, sundern zürn Schuhmacher. —
Liewer Ofe i bet* dich an
Du brüchsch Holz nn ich e Mann.
We mer mit em e riebe Herre Kirsche isst, ze wirft er
Eim d'Stein in's G'sicht. — Wer ze viel nochdenkt, der thüt
sich licht hinterdenke. —
Ze littel an ze viel
Verderbt oft's Spiel.
— 14:2 —
In (lieser elsässischen Redensart kommt das Wort littel
(altdeutsch lutzel, eng^Usch little (klein) vor.
DJs heisst ös*m Reje in d*Dachtraiif kumme d. h. aus
Charybdis in Scylla fallen. — s'Wasser het ken Balke. —
Es kann jetz de Wert dervon nehme d. h. die Folgen davon
traj^^en. — Uf Wej un Stej isch s'em noch gfirt d. h, nach-
^^elaufen. — Er het d'Geduld verlöre un hat s'Hewele (den
kleinen Hebel) genumme un isch uf un dervon. — Die will
sich e Stuhl im Himmel verdiene. — Mer juchzt ererst we
mer vum Messti heimgeht. — Der will sich Spore verdiene. —
Eins het's Häfele verhejt un s'ander s'Deckele. — Do gfeht*s
au d'Matt' na, d. h. abwärts. — Kreuzbataillon noch emoH —
Der will Sand noch Hajenau traaue. Variante: Storke noch
Strossburj traaue- — Variante : Wasser in de Rhin traaue. —
Herrli zefriede sin. — Wenn er de Soüjfuss het, ze will er
d'ganz Souj. Variante: Wenn mer dem de kleine Finger gibt,
ze will er d'ganz Hand. —
Frage : Wanderfitzi sin was isch dis ?
Antwort: Wanderfitzle sin^s.
Wenn^s zwei sin beknmmsch au eins.
Wer gut isch kriejt Prejel in der Kirch'. — Der hebt
sich an ere tulc Wand. — Sie guckt mit vier Auje üs'ra
Bett erüs d. h. sie ist niedergekommen. — Der hängt am e
goldene Galje. — Am e schmutzige Lumpe macht mer sich
schwarz. — Fuggere d. h. verschachere. Dieser Ausdruck
kommt vom Augsburger Kaufherrn Fugger her und hat
sich bis heute im Elsass erhalten. — Dis isch e grower Ower-
länder. — E Luthringer Pexer. — Dis sin rechti Gebii^snickel
d. h. eigensinnige Gebirgsbewohner. — Giftnickel ist so viel
als ein schädlicher Mensch, der verletzende Reden ge$^
Andere führt. — Nikel kommt von Nikolaus her. — Der fahrt
uf Eine wie e liriger Drach. — 's het ken Sach' d. h. es will
nichts bedeuten. — Ich hab' langi Zahn bekumme. — Eim
langi Zahn mache, d. h. Lust machen. — D'r haw'i iscb
mer lieber als d'r hätt'i. — Die hett e fül's Hemd d. h. diese
Frau ist träge. — E Pfarrhös uf m Land isch e Gasthus. —
Ich hab' Hunger wie e Wolf. — Der (die) geht uf de letzte
Fusse. — Für de Roüje (für die Reue) gibt Eim Nieme nix.
— Was mer an eim Ort schejt (scheut) dis het mer am andere
doppelt. — Wenn de Zit lang hesch ze nimm sie herum un
sitz druf. —
We mer so alt isch wie e Kah
Ze müss mer noch lerne derzü.
I
— 143 —
Für d'Ffihr, fiihrig. Strasburger Ausdruck für : Zum Spass,
scherzhaft. — Mer inijs *s Beseht hoffe 's Bös kummt vun ase
(a se, von selbst). — Do geht's noch de Note d. h. pünktlich
und genau. — Wer nil esse will, der hett gesse. (Von Dienst-
boten, die der Herrschaft immer sagen, sie wollen nichts mehr,
sie seien satt. — Er isch durch d'Latte gange d. h. auf und
davon. — Wie mer d'Kinder zejht (zieht) so het mer sie. —
Der het au in's Gras müen hisse d. h. sterben. — E Wunder!
— Dis kummt in's Wucheblättel. Variante: in's Blattei. —
Variante: in de Kalender. — Dis isch eb's für's Bibbelspiel.
(Puppenspiel). — d'Sunn tribt ken Bür zum Land nüs, awer
der Reje. — Mit Schmiere un mit Salwe (Salben). — Der
het de Lunte g'schmeckt. —
XIV.
Münsterthäler Sprachproben .
Sprichwörter.
(Fortsetzung von Jahrgang II, Seite 166 — 169.)
I^litgftleilt von
J. Spieser.
xJie nachstehend abgedruckten im Münsterthal gangbaren
Sprichwörter sind nach denselben Grundsätzen gesammelt wie
die 85 bereits früher mitgeteilten. Es kam dem Sammler vor
Allem darauf an, zuverlässige Sprachproben zu bieten ; aus
diesem Grunde wurde auch vieles mit aufgenommen, was dem
Münsterthale nicht eigentümlich ist. £s dürfte übrigens für
den Sammler ziemlich schwierig sein, bei jedem einzelnen Sprich-
wort festzustellen, ob dasselbe nicht auch noch irgendwo ausser-
halb der Gegend, in der er sammelt; vorkomme.
Die nachfolgenden Sprachproben sind in der Mundart des
Dorfes Mühlbach geschrieben. Dabei sind die Abweichungen
der Sulzerer Mundart angemerkt. Um aber die Zahl der An-
merkungen nicht allzugross zu machen, sind nur die unregel-
mässigen Abweichungen angegeben. Wollte jemand die folgenden
Sprachproben in Sulzerer Mundart übertragen, so müsste er
— 145 -
alte
ä
in
e
alle
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in
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VI
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verwandeln. Samtliche Ausnahmen hiervon sind im folgenden
genau angemerkt. (Vgl. im vorigen Jahrgang Seite 127 und 128.)
Einige von den 85 Sprichwörtern in Jahrgang II, bei
denen Druckfehler vorgekommen waren, oder die ich seither
in anderer Form gehört habe, sind hier wiederholt worden.
5. auch : 9 kyuti ysr^t Mi Eine gute Ausrede schadet
nit.* nichts.
6. auch: ai* späts e tar haig Ein Spatz in der Hand ist
es pesar äs tsänas üf »m täX- besser als zehn auf dem Dache.
14. kryos ü Hetarli sai tswäi Gross und liederlich sind
fälar. zwei Fehler.
42. wä' mar äim net holt Wenn man einem nicht hold
esy st^kt mar äim k(h)^ m^ia. ist, steckt man ihm keinen
Strauss (bekränzt man ihm das
Haus nicht).
43. auch: wä' mar a paiQala Wenn man einen Knüttel
ärfiT a hart süi werft, prielt unter eine Herde Schweine
nämd'A tie, wü s ket. wirft, schreit nur die, welche
er trift («giebt»).
44. auch : wä' mar 1a säta Wenn man den Schaden hat,
hfet, tferf mar net fer ta Spot braucht man für den Spott nicht
sorja. zu sorgen.
50. auch : wän a saY;^sal Wenn eine Brennnessel
sarja wel, saiQalt sa äsa kläin. brennen will, brennt sie, wäh-
rend sie noch klein ist.
* Wo aber in M. yü für yo steht (vor m oder n), da entspricht
in S. nicht y9, sondern ü : früne frohnen ; jümara jammern ; jün
«Jahn», schmaler Streifen eines Ackers : lün Lohn; plüna lichte Stelle
im yTald; süma Same; trüm Balken; tun Ton; üm&/tik ohnmächtig.
** Doch nnr im Auslaut : kä, : k& geben ; sä : s& sehen ; k.s& : ksä.
geschehen n. s. w. ; im Inlaut steht für Mülbacher k in Salzern stets
ai ; vgl. ausser Anm 21 noch : fylaitsd faallenzen, haipfal, pl von
häpfal Hand voll ; laipa Wampe ; plaipla lose hängen ; praitsd nach
Brand riechen ; §laip9 eine Art Thürverschluss ; staipfdl Stempel ;
waitla Wanze.
-^ 146 —
57. auch : was mar erwipt, Was man erweibi, braucht
pry/t mar net tsa arhysa. man nicht zu ersparen.
59. was mar net wfeis, mkyt Was man nicht weiss, macht
^im net h^is. einem nicht heiss.
75. wie tar man es, es s Wie der Mann ist, sind die
kSer. Werkzeuge.
76. hlkana* hai khürtsi pfein. Lügen haben kurze Beine.
77. nüia [oder nüii] pdsa Neue Besen fegen giit (at»er
fäia kyut (äwar net ys äla ^k).« nicht aus allen Ecken).
78. in S. : wör kyat smiert, Wer gut schmiert, der wohl
\kr wViwal fiert. fahrt (transitiv).
81. wän s am ^sal tsa wyol Wenn dem Esel zu wohl ist,
es, ki^t ar uf ta is tätsa. geht er auf das Eis tanzen.
84. was mar net e tar hat) Was man nicht in der Hand
het, kha mar net h^wa. hat, kann man nicht halten.
86. §li« myol farwe(t)§a e§ Einmal erwischen ist keine
kh^ khiUt. Kunst.
87. ai « när mäyt tsäna. Ein Narr macht zehn.
< « ''
88. äma ieta^ när kfalt si Einem jeden Narren gefallt
khäp. seine Kappe.
89. äma kalierla es kyüt Einem Gelehrten ist leicht
prötja.8 predigen.
90. äma ksar^kta ros lyükt Einem geschenkten Pferd
mar net e s myl. sieht man nicht in den Mund.
91 . ä ma ryüsika khamat khd An einem russigen Kamin
mar ai net syfar riwa. kann man sich nicht rein reiben.
92. am hornü-r; s6t mar liewar Im Februar sieht man lieber
a wolf äs a man Ana wamst, einen Wolf als einen Mann
ohne Wams.
93. am hür^ar es kyüt kho/a. Dem Hunger ist leicht kochen.
94. am sümar, wän ti prama Am Sommer , wenn die
stay^a, müs mar spräYja met am Bremsen stechen, muss man
ra^a; net am wäjtar met am laufen mit dem Rechen; nicht
s^il, ün fryoka : ^ «es kh^ hoi am Winter mit dem Seil und
tyo föil?». fragen : «Ist kein Heu da feil?».
95. ä sina p6ra nämt mar s, An den eigenen Birnen nimmt
we ätarlita täika. mans ab, wie die anderer Leute
weich werden.
96. a fätar khä sewa khein Ein Vater kann sieben Kinder
arhälta, äwar sewa khein kh6 erhalten, aber sieben Kinder
fätar. keinen Vater.
- 447 —
97. d freiar wäjtar sieift a Ein früher Winter schleppt
lärfiT wätal nyor« lo einen langen Schwanz nach.
98. 9 ietar^ arnt, was ar Ein jeder erntet, was er gesät
ksäit bet. hat.
99. a khyü es we '* säk. Eine Kuh ist wie ein Sack,
wä' marniti tri tyüt, kh^ mar wenn man nichts darein thul,
nit I rvs nama. kann nichts heraus nehmen.
100. a knäyi im a mäkt ün Ein Knecht, eine Magd und
» stroihvül säi näma* fer a ein Strohhut sind nur für ein
jyor kyüt. Jahr gut.
dOl. 9 krop khernia tript a Ein grobes Körnchen treibt
kröwari^ hälma. einen groben Halm.
102. a kyülar dwisar es pesar Ein guter Anordner ist besser
äs a slä"/tar §afar. als ein schlechter Arbeiter.
103. a kyüiar nyo^par es Ein guter Nachbar ist besser
pesar äs a witar frait. als ein entfernter Verwandter.
104. a kyiilar wäi es nel wit Ein guter Weg ist nicht weit
um. um (kein grosser Umweg).
105. a kyüt worl far|t a kyüt Ein gutes Wort findet einen
ort. guten Ort (eig. : ein gutes).
106. a maTjar hb\ a kyüti Mancher hat eine gute Kuh
khvü ün weis-a-s net. -und weiss es nicht.
107. a maY;dr s^t met eim Mancher sieht mit einem
oik mi^r äs a ätarar met tswei. Auge mehr als ein Anderer mit
zweien.
108. a mar^ar kät a oik, tar Mancher galje ein Auge, der
ätar hat '^ khäns. andere hätte keines.
«
109. a r)üt mäyi ti knäpa Eine Rute macht die Kinder
kyüt. gut.
110. e tam, wü älas wel Sinn : «Wer alles wissen will,
wesa, würt krät üf ti näs k§ . . . erfahrt gerade am wenigsten.»
111. e ta ärma lit 6ri khäs Der armen Leute Käse und
«n e ta ri/a lit 6ri möitlar säi der reichen Leute Töchter sind
am ^rsta tsitik. am ersten reif.
112. o ÜT]karä/tdr pfanik frest Ein ungerechter Pfennig ver-
tsä J5 jitara. zehrt zehn andere.
c (
113. ewaräl es epas. Ueberall ist etwas (auszu-
setzen).
114. ewaräyt es net farsältsa. Gerade recht ist nicht ver-
salzen.
— 148 —
115. fkm w^is9 l^ia ti hienar Vom Weizen legen die Hüh-
ür^kh^isa, äwar fäm khorn ör§ ner ungeheissen, aber vom
morn. Roggen erst morgen.
llö. farpänti maipfal sai o Missgönnte Bissen sind auch
kyut. gut.
117. fil hüin s^i am häs si Viele Hunde sind des Hasen
tyol. ' Tod.
118. fil prietar mä^a §mäli Viele Brüder machen schmale
kietar, ün fil sw^^tar' wänik Güter, und viele Schwestern
s^Star. wenig cSester» (Flächemnaas
= 5,20 Ar).
119. for am t^ifal khä mar Vor dem Teufel kann man
si psÄia, äwar for ta piäsa lit sich besegnen, aber vor den
net. bösen Leuten nicht.
120. för tar t6r e§ tysa. Vor der Thüre ist draussen.
121. frei^i wüina säi kyüt Frische Wunden sind leicht
heila. ' heilen.
122. «häti* i kawesl!» khümt «Hätte ich gewusst !» kommt
här^a nyor. *o hinten nach.
123. kapränti khein P^xta s Gebrannte Kinder fürchten
fir. das Feuer.
124. klfein ü khak werft mar;- Klein und keck wirft oft
myol a kryosar e ta trak. einen Grossen in den Dreck.
125. kryosi maipfal kai fäisja Grosse Bissen geben (machen)
fökal.i5 *' " feiste Vögel.
126. kryt feit e ta pyüwa ti Kraut füllt den Knaben die
hyt. Haut.
127. Idtskapryx es o a ks^ts. Landsgebrauch ist auch ein
Gesetz.
128. mani/a säi frein met Manche sind verwandt mit
natar, pets-a-s ä s t^ila ki^t. einander, bis es ans Teilen geht.
129. mar es näma* äi* tyot Man ist nur einen Tod
sültik. schuldig.
130. mar khänt ta fokal >< ä Man kennt den Vogel an den
ta fatara ün ti mis ä ta watal. Federn und die Mäuse an den
Schwänzen.
131. mar mölt ta t^ifal äla- Man malt den Teufel immer
wi! nä swfertsar, äs ar es. noch schwärzer, als er ist.
132. mar müs älawil am Man muss immer dem Nach-
nätsto wora. sten wehren.
— 149 —
133. mar müs älawil a hair; Man muss jedesmal eine Hand
hä,"^ä' mar wel a fyst mkyijd. haben, wenn man will eine
Faust machen.
d34. mar müs älawil mäxa, Man muss immer machen,
äs ti khelix am lorf plit. dass die Kirche im Dorf bleibt.
135. mar müs älawil s kyüt Man muss immer das Gute
wärtai'' sä, s slä^t khümt ^ina- erwarten, das Schlechte kommt
wai. ohnehin.
136. mar müs ti froi pim Man muss die Frau beim
äi^ta l^iwla pryot tsika. ersten Laib Brot ziehen.
137. mar müs tsüm smet Man muss zum Schmied ge-
ki^, net tsüm smetla. hen, nicht zum Schmiedchen.
138. mis mäyjd mis. Mäuse erzeugen Mäuse.
139. nits es kyüt fer oika- Nichts (Augennichts) ist gut
wne. für Augen weh.
140. nys met, was khe hys- Hinaus mit, was keinen
tsäis treit ! Hauszins trägt !
141. p^sar a lys am kryt äs Besser eine Laus im Kraut
kär khe spak. als gar keinen Speck.
14*2. pesar a slekla pryot am Besser ein Stückchen Brot in
säk äs a mei«) üf am hyüt. der Tasche als einen Strauss
auf dem Hut.
143. pesar ewal kareta äs Besser schlecht gefahren als
kyüt kalofa. gut gegangen.
144. pi fila herta würt slä^t Bei vteZen Hirten wird schlecht
khiet. gehütet.
145. pim patla farterpt mar Beim Betteln verdirbt man
net, äwar mar würt ÜYjwärt. nicht, aber man wird unbeliebt.
146. ryüwa sai kyüt fer ti Rüben sind gut für die
pyüwa. Knaben.
147. s es khö mäia so kyüt, Es ist kein Mai so gut, es
s sneit am hert nä üf la hyüt. schneit dem Hirt noch auf den
Hut.
148. s es pesar, mar nämt a Es ist besser, man nimmt
torn e s hvs, äs hvslit: mar einen Dorn ins Haus als Miet-
kha na nä wetar nyskheia, wän leute ; man kann ihn noch
ar ^im näm kfält. wieder hinauswerfen, wenn er
einem nicht gefallt.
149. s bet älas si sä^. Es hat Alles Mass und Ziel.
150. s het nä nie khe wolf Es hat noch nie ein Wolf
ta wäilar kfrasa. den Winter gefressen.
11
— 450 —
151. s het sü mar^myol a Es hat schon manch mal ein
pleinar 9 rosisa kfur^d. Blinder ein Hufeisen irefunden.
152. s khiuni khe inrflvot iif Es kommt kein Vie!lra.sj< auf
li walt, ar wurt üfk9tsü(ka). die Welt, er wird (als solclier)
erzogen .
453. s kien fil katüllja'» Syof Es gehen viele geduldige
e äi* stäl. Schafe in einen Stall.
454. so läTi äs ti wara för So lange die Werren vor
j^rjatä wika, mien sa nyohär Georgstag (23. April) j<chreien,
na wetar swika. *^ so lange müssen sie nachher
noch wieder stille sein.
455. sunapiek mäxt ta raia Sonnenhlick macht den Regeo
tek dick.
450. s würt fä tar khelp Es wird von der Kiixrhweih
karfet, pets (äs) sa khümt. geredet, his (dass) sie kommt.
457. tär, wü-n-am si sa)r lost Der, welcher sich sein Eigen-
nama, e.s sa lietarli äs tär, wü tum lasst nehmen, ist so
s am nämt. schlecht als der, welcher es
ihm nimmt.
458. tar ferst khoif es tar Der erste Kauf ist der Beste,
pest.
459. tar hyo)rmyut*o es ätl- Der Hochmut ist herrenlos
mar< (s khä a ietar 7 tarfö nama, (Gemeindegut) (es kann ein
sa fil äs ar wel). jeder davon nehmen, so viel er
will).
460. tar man kha net met Der Mann kann nicht mit
ros ü wäka artsyü fiei'a, was ti Pferd und Wagen herzuführen,
froi am ferla fürt treit. was die Frau in der Schüne
forttragt.
161. tar pest hätal 21 es nit' Dei* heste Streit ist nichts
nüts. nütze.
162. tar poim fält net fäm Der Baum fallt nicht vom
ersta streiy. ersten Streich.
163. ti älta khei kai ti meli^, Die alten Kühe geben die
u ti jÜYja hienar Ifeia li feiar. Milch, und die jungen Hühner
legen die Eier.
464. ti krys kiet ä ta pürna, Der Krug geht an den Brnn-
pets (äs) sa farheit. nen, bis er zerbricht.
465. ti weif pisa änatar nel. Die Wölfe beissen einander
nicht.
466. tsa nayt säi äli khätsa Nachts sind alle Katien
swärts. schwarz.
— 151 —
167. tsyü kyül (si), e§ a Zu jrul (sein) ist ein Stück
§tek ta tar lietarlikh^it, oder : von der Liederlichkeit ; oder :
tsyü kyül es o nit. i zu gut ist auch nichts.
168. ümkakhiört s^ es o kfär^, Umgekehrt ist auch gefahren,
(äwar net krät). (aber nicht gerade).
169. um s kalt p9khümt mar Um das Geld bekommt man
tsükdr. Zucker.
170. um s kalt sär|t mar 6im Um das Geld schindet man
a ^sal, ü met kawält har^kt mar einem einen Esel, und mit Ge-
a keis am wätal üf. walt hängt man eine Ziege
am Schwanz auf.
171. wü' mar ewar epar nit 1 Wenn man über jemand nichts
weis, müs mar näma^ wärta^^ weiss, muss man nur warten,
pets (äs) sa wai höjrtsit mä/a. bis er heiraten will («sie h.
wollen»).
172. wä* mar fäm wolf ret, Wenn man vom Wolf redet,
es ar wit etar nyot. ist er weit oder nahe.
173. wä' mar wel hö^tsit Wenn man heiraten will,
mä/a, müs mar era tswfei sä. muss man zu zweien sein.
174. wän einar khätsameli*/ Wenn einer Katzenmilch ge-
ksoka h^t, kh^-n-ar s mysa sogen hat, kann er das Mausen
net losa. nicht lassen.
175. wän a pär änatar f6r- Wenn zwei einander vor das
nama, sa khünit einar mäm Gericht nehmen , so kommt
hamp tarfii, ü tar atar müs einer mit dem Hemd davon, und
nätik loifa. derandere muss nackend gehen.
«
176. wän s loip üf ta pari Wenn das Laub auf den Ber-
tsama khümt, ket s ür^watar. gen zusammen kommt (von
beiden Seiten des Berges vor-
dringend, den Gipfel erreicht),
gibt es Unwetter.
177. wän s tÜY;art üf ti plüta Wenn es donnert auf die
herst, fära ti malkar [oder kahlen Sträucher, fahren die
khümt s fe] spyot üf ti ferät. Melker [kommt das Vieh] spät
auf die Firste.
178. wän tar khopf awak es, Wenn der Kopf weg ist, hat
het s fetla firyowa. » das Hinterteil Feierabend.
179. wän tar par am lie/tmas Wenn der Bär an Lichtmess
ti sün arplekt, müs ar na wetar (2. Febr.) die Sonne erblickt,
seks wüx.a e s lo-/. muss er noch wieder sechs
Wochen ins Locii.
1
- IM —
180. wän tar patlar üf s ros Wenn der Bettler auf das
khümt, rit ar hi^ar** äs tar Pferd kommt, reitet er höher
h^r. als der Vornehme.
481 . wän ti myos fol es, loift Wann die Mass voll ist, läuft
S8 ewar. sie über.
18^2. wän tswei wiwar tsama Wenn zwei Frauen (in einer
khüma, e§ ^in tsa fil. Haushaltung) zusammen kom-
men, ist eine zu viel.
183. was e tar kswänta [oder Was in der Eile geschieht,
11] kset, hfet eina läYj tarwil tsa hat man lange Zeit zu bereuen,
ruia.
184. was mar ä feim ort .Kit, Was man an dem einen
far^t mar am Atara. Orte scheut, findet man am
andern.
185. was mar es, weis mar. Was man ist, weiss man,
äwar, was mar wära kha, net. aber was man werden kann,
nicht.
186. was mar kha par pa- Was man kann bar bezahlen,
tsäla, e^ net tsa tir. ist nicht zu teuer.
187. was päta öina ti f^rtals, Was helfen einem die Kunst-
wä' mar sa net pryyt? griffe, wenn man sie nicht ge-
hraucht?
188. was tar man müs met Was der Mann mit Pferd
ros ü wäka artsyü fiera, khä ti und W^agen herzufahren muss,
froi mäm khoylfefal fariera. kann die Frau mit dem Koch-
löffel zerrühren.
189. wör am nätsta am fir W^ei* am Nächsten am Feuer
e§, w^rmt si. ist, wärmt sich.
190. wör e niema trüit, e Wer niemand traut, dem ist
tarn es o net tsa truia. auch nicht zu trauen.
191. w^r fil afäTf;t, höt fil ys- Wer viel anfangt, hat viel
tsamä)ra. auszumachen.
192. w^r khö katäi^ka het, Wer keine Gedanken hat,
hat fie^. hat Füsse. (War zerstreut ist,
macht zwei Gänge für einen.)
193. wei' khöla pränt, würt Wer Kohlen brennt, wird
swärts. schwarz.
194. wer rar; kloil, wiirt rä/j Wer leicht glaubt, wird leicht
psesa [oder aksmiert]. betrogen.
195. wer nit wyokt, 2^ ka- Wer nichts wagt, gewinnt
wänt nit.i nichts.
— 153 —
196. wer si weis ts» k^eka, Wer sich zu benehmen weiss,
hM älawil ts9 peka. hat immer zu picken (naschen)
(hats immer gut).
197. wer ti hart anämt, müs Wer die Herde annimmt,
0 hieta. muss sie hüten.
198. wü kanyü es, tselalt Wo genug ist, streut man
mar am hut pfafar iif ti süp, dem Hund Pfeffer auf die
ü spretst ti sfü met el. Suppe, und spritzt die Stube
mit Oel.
199. wü roix eS, es fir. Wo Rauch ist, ist Feuer.
200. würt mar alt we khyü, Wird man alt wie eine Kuh,
li^rt mar ewa hälwar[s]tsyü. lernt man eben kaum genügend.
201. ys ama für^ka mä/t mar Aus einem Funken macht
a fir. man ein Feuer.
Anmerkungen (Abweichungen der Sulzerer Mundart) : ^ nitB.
' äi. 3 tsena. ^ nüma. ^ lyakend. ^ nüia pä.&a fäie wüwoli
äwdr ti alt» wes© ti weYjkel wüwol. '«o odei* auch jlte, tum. jetar.
Spretika. ^fröka. lo nüwa. ii wie-n-9. i^krowar. i^tse.
"hat 15 fäisika (fäisiki) fäil. icfoil. Hwärto. iskatülüki.
19 so laTfj ks ti wara för jerjatä sreia, mien sa nüwahär nä wetar stel
86 (wika nnd swika sonst nngebräuchlichK ^^hö/myat. ^^ haital.
«2 ümkakhört. 2» firöwa. 24 he/.ar. 25 wökt. '
XV.
Zum Elsässischen Idiotikon
iJas Wörterbuch dei* elsässischen Mundarten, zu des.<en
Herstellung wir im Jahrbuche des Vogesenclubs für 1887 aul-
fordeilen und übei' dessen Plan der inzwischen verstorbene
Dr. Mankel in der allgemeinen Sitzung desselben Jahres einen
trefflichen Vortrag gehalten hat, darf jelzt durch die Fürsorge
Sr. Excellenz des Herrn Staatssekretärs v. Puttkamer auf die
Unterstützung des Landesverwaltung rechnen. Am ü. Märad.J.
bescbloss der Landesausschuss diesem Wörterbuch eine Summe
von 2000 Mark, zunächst für dieses Jahr zuzuwenden, wovon
nach dem Antrag der Herausgeber, des Herrn Reallehrers
H. Lienhart und des Unteraeichneten, die Hälfte wesentlich zur
Entschädigung der beim StoÜsammeln sich Beteiligenden be-
stimmt ist. Wir arbeiteten eine «Anleitung zum StofTsammeln^
ans, wovon Exemplare jederzeit, ebenso wie Musterzettel, bei
uns zu Gebote sleh»in sollen; ich hielt am 16. Mära im Volks-
bildungsverein zu Strassburg einen Vortrag über das Unter-
nehmen, welcher in der «Strassburger Postj^ vom 23. März
zum Abdruck kam ; ich empfahl die Beteiligung daran in der
Allgemeinen Versammlung des Unterelsässischen Lehi'ertags am
16. Mai. Herr Lienhart besprach das Werk in den «Neuesten
Nachrichten» vom 6. und 9. Mai. Wir hoffen, noch öfter in
diesem Jahrbuch auf die Angelegenheit zurückkommen zu dürfen
und wünschen, dass die von vielen Seilen uns ))ereits ausge-
sprochene und liethätigte Teilnahme sich fernerhin erhalten und
noch weiter verbreiten möge. E. Martin.
— 155 -
Unseren Mitarbeitern mögen die folgenden Beispiele
zeigen, wie die Zette] t'ör die Sammlungen auszufällen sind.
Der Schreibung des mundartlichen Wortes nach der gewöhn-
lichen Art ist die nach Kräuters System in eckigen Klammern
beigefügt. Die Abkürzungen sind die allgemein üblichen : m. r=
masculinum, f. = femininum u. s. w. Rda. = Redensart.
Die Beispiele sind teils aus der Zomthaler Mundart ent-
nommen (Z., von Herrn Lienhart beigesteuert), teils aus der
strassburgischen (Str.), und im letzteren Fall meist aus Ar-
nolds « Pfingstmontag]». Die Zahlen weisen dann auf Aufzug
und Auftritt.
Geere [Kere] Schoss
m. i. Schoss: sitz m'r uf de Geere [sets mar üf ta K^ra]
setz dich auf meinen Schoss; juu, dem schiszt merr in de
Geere [jü, lem ^ist mar en ta Kera]. 2. Schossstück, welches
vorn in einen Frauenrock eingesetzt wird, wenn der vor-
handene Stoff nicht ausreicht; da die betreffende Stelle
durch die Schürze verdeckt wirdj kann dasselbe auch an-
dersfarbig sein als der Rock selber ; ich hab mV e nöüe
Geere in d'Kutt gsetzt [ex häp mar a noeya K^ra en t
Khüt ksetst]. Z.
. Letzel [Letsal] Alpdrücken
n. Alpdrücken, nach der Vorstellung des Volkes eine unsicht-
bare Hexe ; 's Letzel süft am, an ere [s Letsal syft am,
änara] ; das Letzel säuft an ihm, an ihr, wie der Säugling
an der Brust der Mutter. Um dasselbe zu vertreiben, wird
von einer zweiten Person ein über ein brennendes Licht
gestellter Topf abgehoben ; sowie es im Zimmer hell wird,
verschwindet das Letzel. Die Mädchen legen ihre Kunkel,
die Knaben eine Peitsche an das Fussende des Bettes, um
das Letzel fern zu halten, und den kleinen Kindern, die
sich nicht selbst zur W^ehr setzen können, werden Teile
ihrer eigenen Exkremente auf die Brustwarzen gebunden,
damit das Letzel sie nicht plagt. — Dieser Aberglaube ist
noch sehr verbreitet. Z.
Nas [Näs] Nase
f, pl. d'Nase-n- 3, 4; dim. Näsel [s Na^sal]. d Nas in ales stecke
1, 4; d Nas zue hoch traaue 3, 4. Synonyma : Schmecker
3, 4; Klowe, Löschhorn u. a. s. Pfm. 3, 4. Str.
bleed [plet] blöde
Adj., Komp. bleeder [pletar], Superl. bleedscht [pl^tst] 4. von
schwacher Gesundheit, zu Krankheiten geneigt, kränklich :
— 156 —
er het e bleedi Nadüür, er isch allewil halwer krank [ar
het 9 pl^ti Natyr, ar es älawil hälwar krank]; nit bleed
sin [nit plet sen] den Mut haben^ dreist sein : der het
wohl Zärz, er isch nit su bleed [ter hfet wöl Tsarts, »r
eh nit sü pl^t ; 2. öbtr. abgenutzt^ fadenscheinig, von
Kleidern: e-n-alts bleeds Hämd [a-n-älts pl6ts Harnt]; e
bleeder Ellebaüe [9 pl^tar filaptpya] ; d Strumpf wäre on-
fanges bleed am Fäärschte [1 'Strempf war» 6far|9s plM am
Färsta].
grei [knei] bestimmt
Adv. bestimmt, deutlich, genau, für den Gehörsinn : merr heerts
SU grei lite, 's git bal Rääja [mar hört s sü krai lita, s
ket pal Räis] man hört's so deutlich läuten, es gibt bald
Regen ; d'r Isebohn pfift su grei [tar Isep6n pfift sü krabi] ;
I main, die Gutsche kumme, merr heert's gerait (Pfingsfm.
5, 5).
griddi [kriti] gierig
Adj. und besonders Adv. g. d'Händ gedrukt 5, 4 ; so g. s.
versesse 2, 4 (auf einen Bräutigam) 3, 1 (auf einen Bruder,
Bratenwender). Meist mit essen und trinken verbunden,
inshes. bei Tieren. Vgl. Strassb. Stud. 1, 381. Str.
lang [lärj lang
Adj., Komp. länger [lar^ar], Superl. längscht [lärmst] 1. lang:
langi Zit han [läigi Tsit hän], sich langweilen, Langeweile
haben ; langi Zehn [lärji Tsön], stumpfe Zähne, nach dem
Genuss von unreifem Obst oder sauren Flüssigkeiten; aim
langi Zehn mache [£em lär^i Tsen mä/a] in jemand Lust
und Begierde nach etwas erwecken durch Wort oder Bei-
spiel ; wer lang het, luszl lang hängke [wer lär^ het, liist
lärj haYjka] ; wer lang fraoüt, geht lang irr [wer lär^ frwyt,
ket lär^ er] ; alle Vater unsers lang [äla Fätor ünsers \är],
in kurzen Zwischenpausen ; du solsch de längschte han
[ty söls ta laYjsto hän] du sollst meinetwegen Recht haben.
2. Füllwort ; noch so sehr : du kansch mir lang bable [ty
khäns mer lär^ päpb schwatzen]. — Zss. langläächt [lär,-
läyt] länglich. — Subst. e Gelangs un e Gebreits mache
[9 KaläTjS ün 9 K9pra'its mäya] recht umständlich über
etwas sprechen , unnötigerweise in die Breite ziehen.
Z.
bruche [pry/9] brauchen
Ind. ich bruch [e/ pryy], du bruchsch [ty pryy^], er brächt
[ar pr)xt], mir brüche [mar pryyg] ; Konj. liricbt [pri/j];
Part gebrücht rk9pryyt]. 1. brauchen, gebrauchen, nötig
— 157 —
haben : wü veel brüchsch [wy fei pry/s] ? disz bri'icht si
nit [tes pryy^t si nit] das ist nicht nötig ; du hatsch nit
brichte kumme [ty hals nit priyta khiima] du hättest nicht
kommen brauchen ; 2. Arznei nehmen, Heilung suchen :
er brücht schun lang derfür, awer es hilft nix [ar pryyj
sün läy; tarfer, äwar s helft niks] ; es luszt si brüche
derför [s lüst si prf/9 tarfer] es, das Mädchen, die Frau,
lässt sich brauchen dafür, gebraucht Geheimmittel. Z.
genn [kii'n] geben
Ind. ich gip (gi), du gisch (gibsch), er git; mer genn [haa gennj.
gäp, (jfäw, gäbt). Was het er genn derfor 3, i. Almuese
g. 3, 4. d Hand g. 2, 2. e Schmizzel g. 1, 1. Tritt g. 4,
5. Lehrgäld gän 2, 7. Bech g. ausreissen 4, 1. recht g.
2, 6. e Dochter g. 2, 2. 's Jowort g. % 3. aaclit g. uf
iy i. sich Muej g. 1, 2. verursachen : ier genn mir viel
ze schaffe 1, 4. hervorbringen : git Fyer 2, 1. dis gil e
rechti Hatz 2, 3. sol ebs e Hoke g. werden 4, 1. vor-
handen sein : s gitt in ganz Sachse ken Maidel so wie du
1, 1. s gitt alegelde ze lehre 1, 8. Composita : Geld usgenn
2, i. her g. 3, i. fürt g. 2, 1. Rda. : guet g. 1, 8: Lob
einer Rede, was gist was best : aus allen Kräften 1, 8.
Str.
fra [frä], vorab, vor allem, besonders, sogar
Adv. fra noch dgscheide Lyt 1, 4. er macht eim fra jo's Lewe
noch verlaid 1, 5. un fra e gspickter Haas 3, 1. am Fass-
nacht fra 4, 5. Str.
Einige mundartlicbe Kleinigkeiten, welche teil-
weise im Idiotikon Berücksichtigung finden werden, mögen sich
hier anreihen.
Zunächst ein paar Sprichwörter, die ich mich nicht er-
innere, schon gedruckt gesehen zu haben. Die Wendung: 's
wcer alles ercecht, wann numme dr link Arm nit wcer, ge-
brauchte hier in Strassburg Jemand offenbar um weiteren Aus-
einandersetzungen auszuweichen, da er die gegen ihn vorge-
brachten Grunde nicht widerlegen wollte oder konnte. —
Sprichwörter, die an bestimmte Personen, Ereignisse u. ä. an-
knüpfen, erhalten sich oft lange nachher. Du hesch (oder er,
sie hett) e Sack wie die Damhäche, wird scherzweise zu oder
von Jemand gesagt, der aus seiner Tasche überraschend viel
herauszieht. Die hier angeführte Frau war eine Diebin, die im
Münster ihr Handwerk ausgeübt hatte. Sie ist gewiss auch ge-
meint in E. Stöbers erDaniel oder der Strassburger» : i. Aufzug,
— 158 —
10. Auftritt : merr hett g meint d' Dambäche unn der Garde-
Daviddel hriele-n-e Duo mit nander; wozu in der Wörter-
erklärung bemerkt ist: Dambäche^ eine Verrückte, die in sleteni
Hader mit den Slrassenjunj^en lebte. — Unerklärt ist noch der
Ursprung der altstrassburgischen Redensart : Gut Nachty Spittd-
gässel, dich hett er: sie besagt, dass Jemand verloren ist, sei
es, dass er mit seinem Vermögen oder mit seiner Gesundheit
zn Ende ist.
Man bezeichnet als Volksetymologie die missbrauchliche An-
lehnung fremder Wörter an deutsche Stämme. Dazu musste
gerade im Elsass das Eindringen französischer Ausdrucke viel-
fach Gelegenheit bieten : Ponts couverts wurde bekanntlich in
Bunggewehr umgewandelt u. ä. Als eine verbreitete Verdre-
hung dieser Art wurde mir genannt : Keschtebank (Kastanien-
bank) für Caisse d*Epargne^ Sparkasse. Noch drolliger, aber
freilich wohl individuell, war der Name, der in einem Kranken-
hause von einem dienenden Mädchen dem calorifere gegeben
wurde: Kanonepferd.
Aug. Stöbers «Elsässisches Volksbuchlein», 2. Aufl., Mül-
hausen 1859, bringt unter Nr. 216 eine Redensart, die nicht
leicht in ihrer Anwendung verstanden werden möchte : [Ej
Düb isch e Vieh I Die Redensart wird oder wurde in folgender
Weise verwendet. Ein Kind sagt zum andern : Du bisch e Vieh,
d. h. du bist ein Tier ; wenn nun dieses sich beklagt, dass es
gescholten worden sei, deutet das erste das Gesagte ganz harm-
los, indem es unvermerkt den bestimmten Artikel vorschiebt:
/)* Düb isch e Vte/i, «die Taube ist ein Tier». Natürlich be-
ruht diese Neckerei darauf, dass die Wörter im Satze nicht
getreimt gesprochen werden, sondern unter sich zusammen-
hängend, so dass ein Buchstabe bald zum vorhei'gehenden, bald
zum folgenden gezogen werden kann.
Zu Stöbers schöner Sammlung lassen sich wohl noch Va-
rianten und Nachträge beibringen. Zu Nr. 50 und dem Nach-
trag S. 120 wird mir aus Dettweiler folgende Variante mitge-
teilt. Mau setzt ein Kind sich gegenüber und kitzelt es am
Knie, wobei es nicht lachen darf. Dazu sagt man :
Hepfeky Hepfele-n-uf dem Dach,
wer schmöüt oder lacht,
wer d^ZäJm pfleckt
oder d''Zung rus streckt,
der mu8 e Pfand genn.
Dasselbe Spiel kennt man in Holland ; s. J. van Vloten,
Nederlandsche Baker- en Kinderrymen (Leiden), II., p. '24,
Nr. 15.
— 159 —
Ein Liedchen, das bei Slöljer t214 etwas anders lautet :
Hett i nit e Mann genumtne,
war i nit ins Elend kumme.
Goldige Ring, taffete Band
Haw i getraue-n-im leddige Stand.
Freundliche Mitteilung von anderer Seite ji^ewährt mir fol-
gemle Stücke :
Zu Stöher 124 vo;l.
Fidde, Fadde, Fingerhuet,
Stirbt der Bauer, iach nit guet.
Stirbt der Bauer also gleidi,
Gehn d'Engele mit ins Himtndreich.
Mein Vater isch e Schnitzler,
Er schnitzelt mir e Bolz,
Da fahr i mit ins Hotz,
Da fahr i mit ins grine Gras.
Sagt der Vater: was ist das?
Geht e Frau ins Hinerhisel,
Holt Jdeini Bibbeli erüs.
BilZf Bolz, faJIir ins Holz!
Kikeriki!
Zu Sicher 125 vgl.
Eins, zwei, drei, i>ier, fünf, sechs, siwe, acht, nin.
Geh ins Gässel nin,
Im Gässel isch e Hüs,
Hinterm Hüs isch e Hof,
Hinterm Hof isch e Garte,
Im Garte steht e Baum,
TJfem Baum isch en Äst,
Ufern Ast isch e Blett,
TJfem Blett isch e Nest,
Im Nest isch e Pßütn,
Ufem Pflüm isch e Vqjel,
Unterm Vqjel isch en Ei,
Im Ei isch e Dutter,
Im Dutter isch e Pflutter,
Im Pßutter isch e Hos,
Der bisst dir (oder euch, den Zuhörenden) in d'Nas.
Stöi)er Nr. 67 wird als Abzähllied verwendet:
Eins zwei drei,
Bicke backe bei,
Bicke backe Hawermüs!
Gens gris (1. gehn) barfüs.
- 160 —
Barfüs gehn sie,
Hinter Ofe stehn sie.
Eins ewei drei,
Du bist am erste frei.
■
Das alles ist ja Kinderpoesie ; wer aber weiss, wie sie unsere
Kinder noch erfreut, und bedenkt, wie viele hundert Jahre die
Kinder sich schon daran erfreut haben, wird ihr das beschei-
dene Plätzchen hier nicht missgönnen.
Als ein altslrassburger Scherzgespräch wurde mir folgendes
überliefert :
Zwei SchiffiscJie (von der Schifferzunft), zwei Beisende
Erster Seh. Hans Dännel, mach de Wasserzoll uf!
Zweiter Seh. Hasch au Lit im Schiff?
Erster Seh. Jo.
Zweiter Seh. Was forichi? (was für welche )
Erster Seh. A Ditscher www a WcUscher.
Zweiter Seh. Erüs Wälscher!
Reisender. Kommang? (frz. Comment.)
Zweiter Seh. (der Gourmand, Vielfrass, versteht): Sa mer nur mi
lang Gurrmang, oder i schla dr eins ufs Latätel (la
t^te), das dr s' Fundament wackelt.
Dorfpublicität.
Ein Yolksscherz in ober-elsässischer Mundart.
Mitten in einem Dorfe am Gebirge bei Colmar ruft der Waiwel (Gemeinde-
DienerJ nach einem ertönenden Trommel-\\'irbeI mit kräftiger Stimme:
Der Harr Maar lässt bkannt mache dass a frammder Voiel
(Vogel) in dV Gmainn gsah isch wore unn hett sich in unsrem
Bann versteckt. Er hett a spitzie Schnaawell, halli wissgaii
Faadre (Federn), lanngi Fleiel, a brailer Wattell (Schwanz), a
schwarz Dipfle unn a klein Strissell ufm Kopf. Wi (weil) der
Voiel a verdachti Üsssah hett, kennt er d'Gmain schaade; drum
seile jetz alli Birrier suche un suche länn unter da Dacher, in
de Schüre (Scheunen), Schepf, Trotthusser, Gartle, Falter,
Raw^e, Baumslickle, an de Zünne unn in de Waldle eb er nitt
ze finde isch, lüge eb er nitt a Nesst gmacht edder in a hole
Baum gschluppft, unn der ne gsa hett, seil gli ufT d'Mareri geh
unn ess anzaige dass mer ne gli fangt.
[Endigt mit einem kurzen, raschen Trommelwirbel.)
XVI.
Volkstümliche
Feste, Sitten und Gebräuche
im Elsass.
1890.
Mitgeteilt von
Bruno Stehle.
iN achsteliende Beiträge haben meine Schüler an Ort und
Stelle gesammelt und grösstenteils nach Mitteilung alter Leute
wörtlich aufgezeichnet.
Advent.
Friesen (Kreis Altkirch). — Wenn sich in der Adventszeit Duft
an die Bäume ansetzt, so hofft man im nächsten Jahre auf einen
reichen Obstsegen.
KaUenhausen (Kreis Hagenau]. — Während der Adventszeit war
jeden Donnerstag «Schlempelnacht». Die jungen Leute warfen Korn
oder Welschkom an die Fenster. Apa letzten Donnerstag im Advent
aber nahmen sie Ofenröhren, £isenhäfen, überhaupt alles, womit sie
Lärm machen konnten, gingen vor ein Haus und lärmten hier. Einer
stellte sich mit einem Lappen, den er im Schmutz herumgezogen hatte,
nahe an das Fenster. Schaute jemand zum Fenster heraus, so schlug
er ihm den Lappen ins Gesicht.
Weihnachten.
Friesen (Kreis Altkirch). — Am 24. Dezember herrscht die Sitte,
die Bäume mit Stroh zu umwickeln, wenn um '6 Uhr alle Glocken
— 162 —
geläutet werden. Man glaubt dann, eine reiche Obsternte zu be-
kommen.
Lautettbach'Zell (Kreis Gebweiler). — Man glaubt fest, dass es
viel Obst gibt, wenn am Weihnachtsabend der Wind bläst.
Bdldersheim (Kreis Mülhausen). — In früheren Zeiten ging zur
Weihnachtszeit der Lehrer des Dorfes in allen Häusern umher. In
der einen Hand hatte er ein Gefäss mit Weihwasser, mit dem er die
Häuser segnete. In der anderen hatte er eine Büc)ise, in die er die
Geldspenden legte.
Nieder aept (Kreis Altkirch). — Früher ging an W^eihnachten der
Pfarrer mit dem Lehrer von Haus zu Haus, und es wurde Weih-
wasser ausgesprengt mit den Worten :
Heiliwo,*
Gottes Gob (Gab);
Glück ins Hüs (Haus),
Unglück drüs (draus).
Eoppentzweiler (^Kreis Altkirch). — Bis zum Jahre 1870 bestand
in Roppentzweiler und der Umgebung die Sitte, dass man am Tage
vor Weihnachten ,Heiliwog^ läutete. Der Pfarrer weihte während dieser
Zeit Weihwasser, cHeiliwogtaufe>^ genannt. Mit diesem geweihten
Wasser segnete hernach der Pfarrer die Häuser, um sie vor Unglück
und bösen Menschen zu schützen. Dabei sprach er:
«Heiliwog
Gottisgob
Gleck ins Hüs
Un Ungleck drüss.»
Während es läutete, banden die Bauern Strohbänder um die
Bäume. Sie glaubten nämlich, dass sie dadurch mehr Früchte tragen
würden.
Mit dieser Heiliwogtaufe segnete man bei einer Hochzeit das Bett
der Neuvermählten.
Münchhauaen (Kreis Gebweiler). — Mitten in der heil. Nacht wird
Wasser geschöpft und als Weihwasser aufbewahrt. Früher wurde die
heil. Wog ausgeteilt. Der Lehrer ging mit einem Diener von Hans
zu Haus, besprengte Wohnung und Stallung mit dem heiL Wog and
erhielt von jeder Familie einen Groschen.
Nieder aept (Kreis Altkirch}. — Wenn es am Tage vor Weih-
nachten Feierabend läutet, werden die Bäume mit Strohkränzen
umwunden und dabei die drei höchsten Namen ausgesprochen. Die
Bäume sollen dann nächstes Jahr mehr Früchte tragen.
^ So viel als heilige Woge. Wac mittelhochdeutsch s bewegtes,
wogendes Wasser, also heiliges Wasser, Weihwasser. Statt HeiUwo
wird in manchen Gemeinden Heiliwog gesagt. Aus diesem Worte
geht auch das hohe Alter des Spruches und des Gebrauches hervor.
2 Das am Tage vor Ostern geweihte Wasser heisst in meiner
Heimat <der Ostei-tauf.»
— 103 —
Niedersept (Kreis Altkirch). — Wem etwas gestohlen worden
ist, der sehe sich während des Gloria in der Mitternachtsmesse um,
and der Dieb erscheint ihm umgekehrt.
Ammerschtoeier (Kreis Rappoltsweiler). — Am Weihnachtsabend
sollen Hexen und böse Geister keine Gewalt haben.
Münchhausen (Kreis Gebweiler). — In der Weihnacht um Mitter-
nacht können die Tiere sprechen ; doch darf man sie nicht belauschen,
sonst wird man für seinen Vorwitz bestraft, wie eine Geschichte aus
Münchhausen beweist. Ein Meister hörte einst dem Gespräch seiner
Pferde zu und vernahm zu seinem Schrecken, wie das eine zum
indem sagte: «Morgen werde ich meinen Herrn zu Grabe tragen.»
In seinem Zorn ergriff der Meister einen Stock, um das Pferd zu
schlagen. Dieses gab ihm aber einen Tritt, und der Meister war tot.
(VergL IIL Jahrg. 1887 S. 132, Mittelbronn.)
Wenn man Nachts 1 2 Uhr während des Hochamtes beim Läuten
der Wandlung die Kirche verlässt, so sieht man die Toten, welche
prozessionsweise die Kirche umziehen.
WitUlaheim (Kreis Thann). — Mittel, dass die Hühner die Ei^r
nicht verlegen : Bevor man in der Christnacht zur Messe geht, füttert
man den Kühen Gerstenstroh. Nach der Messe hebt man das übrig-
gebliebene Stroh auf und bereitet den Hühnern Nester daraus; so
verlegt keine mehr.
Ammerschweier (Kreis Rappoltsweiler). — Die heil Nacht heisst
hier auch Sperrnacht, weil abends 10 Uhr das Spinnrädchen gesperrt
wird.
Dammerkirch Kreis Altkirch). — In der heil. Nacht wird das
ganze Haus ausgekehrt und gescheueH; denn ein Sprichwort sagt:
Lost me ewer Wienachte der alte Drack,
So bringt me ihn im neue Johr nimme ewack.
Hattstadt (Kreis Gebweiler). — Beim Beginn der Mitternachts-
messe wird in einer Flasche Wein auf den Tisch gestellt. Wenn der-
selbe während der Wandlung stark schäumt, gibt es ein gutes
Weinjahr.
BajipciltsweHer. — Sobald die Glocken zur Christmesse läuten,
pflegt man gewärmten Wein in die Weinfässer und auch in das
Essigfass zu schütten. Auch wird in dieser Nacht das Vieh gefüttert.
Niedersept (Kreis Altkirch). — Der Wind, welcher zwischen 11
und 12 Uhr am Weihnachtsabend weht, ist während des nächsten
Jahres der vorherrschende.
Lautenbach-Zeü (Kreis Gebweiler). — Am Weihnachtsabend kam
früher Kirschsnppe auf den Tisch; dazu ass man Kuchen. In den
grossen Kachelofen steckte man einen sehr grossen knorrigen Holz-
block, den sogenannten Weihnachtsklotz. Dieser sollte das Zimmer
recht erwärmen, damit das Christkind nicht friere. Die Ueberreste
dieses Klotzes wurden sorgsam aufbewahrt und bei schweren Ge-
wittern in den Ofen gelegt. Man glaubte auch, dass in der heil Nacht
das Vieh sprechen könne. Oft legte man sich in die Krippe, um den
Gesprächen zu lauschen.
— 164 —
In fler heil. Nacht glaubten die Jungfrauen erfahren zu können,
welchen Mann sie bekommen würden. Sie musBten fünf Vatenuiser
beten und dann bei einer Witwe einen Apfel holen. Diesen Apfel
schnitten sie in Yier Teile. Qingen sie dann zu Bette, so wurde der
Apfel verspeist. Darauf verfielen die Heiratslustigen in einen sanften
Schlaf und sahen dann in einem Traumgesicht ihren zukünftigen
Mann.
Ammerachteeier (Kreis Rappolt^weiler). ~ Von 10 Uhr bis 12 Uhr
liest man in heil. Büchern ; es werden drei Rosenkränze gebetet. Dm
11 Uhr wird mit allen Glocken geläutet, was man das «Schrecke-
läuten» nennt. Wenn es geläutet hat, schüttet man Wein ins Essig-
fass ; man stellt eine Jerichorose in^s Weihwasser ; blüht dieselbe
schön, so schliesst man daraus auf ein gutes Jahr. Früher fütterte
und tränkte man um 12 Uhr das Vieh ; man holte Wasser in die
Küche. Auch sucht man das Wetter des kommenden Jahres an diesem
Abend durch 12 Zwiebelschalen zu erraten. Wie die 12 Tage nach
Weihnachten sind, so sind die 12 Monate des kommenden Jahres.
Man nennt jene Tage Loostage.
Niedersept (Kreis Altkirch). — Eine Frau, die bis zum Weihnachts-
abend nicht neun Stränge Uarn gesponnen hat, wird von der Hechel-
frau geholt, und die Mäuse fressen das Garn.
Johaunesminne.
Friesen (Kreis Altkirch). — In Friesen wird am Stephanstag der
sog. Stephanswein geweiht und ausgeteilt mit den Worten: «Trinke
die Stärke des heil Stephanus und die Liebe des heil. Johanne«*.
Früher wurde er an beiden Tagen, St. Stephan und Johannes, ao»*
geteilt, aber wegen der vielen Kosten wurde diese Sitte nur auf den
Stephanstag beschränkt.
Sylvester.
Kreis Altkirch, — Wenn jemand am Sylvestertag die Maulwurfs-
häufen auf seinem Felde bricht, so soll er im folgenden Jahre keine
auf seinem Felde haben.
Sylvesterabend.
Rappoltsweiler. — Sobald die Glocke die zwölfte Stunde schlägt,
tritt die gesamte Polizei aus der Wachtstube heraus auf den Markt-
platz und stellt sich in einem Kreis auf. Einer tritt vor und ruft die
zwölfte Stunde :
Höret, liebe Bürger, was ich euch will sagen.
Die Glock hat zwölf geschlagen.
Lobet Gott, den Herrn!
Dann tritt ein anderer vor und singt das Neujahr an:
Das neue Jahr hat angefangen.
Das alte Jahr, das ist vergangen.
Das alte Jahr, das Gott uns gab.
Drum wünsch ich euch ein gutes Jahr.
— 165 —
Dann beglückwünschen sie sich gegenseitig. Die Nachtwächter
machen darauf die Rnnde in der Stadt nnd verkünden die zwölfte
Stnnde nnd den Beginn des neuen Jahres.
Keigahrsgmss.
Friesen (Kreis Altkirch). — Ich wünsch ech ne glickhaftigs neies
Johr, Gsnndheit nn ne langes Leben nn nach diesem die ewige
Seligkeit. Geb ech^s Gott ! Das isch das beste, was ich eich wünsche ka.
Antwort: «Ich wünsch ech o sa viel».
Fastnacht.
Liebsdorf (Kreis Altkirch). — Es herrscht die Sitte, dass am
Fastnachtstage die Leute zum Abendessen Schinken und «Schnetz»
(gedörrte, in vier Teile geschnittene Aepfel und Birnen) kochen. Des-
halb nennt man den Tag «Schnetzzischtig» (Schnitzdienstag).
Fastenzeit.
Liebsdorf (Kreis Altkirch). — Am ersten Fastensonntag gehen
die Knaben im Dorfe herum und sammeln Holz- und Strohwellen.
Dabei singen sie:
«Stangelswalle, Strau
Oder d'alte Hüsfrau!»
Die gesammelten Wellen werden auf eine Anhöhe geschafft. Hier
wird bei einbrechender Dunkelheit ein grosses Feuer angezündet. Die
Knaben schwingen brennende Fackeln und werfen brennende Holz-
scheiben den Berg hinunter.
Der 1. Fastentag.
Bisehofsheim (Kreis Molsheim). — An diesem Sonntage war früher
das Fest des Scheibenschiessens. Die Jünglinge des Dorfes begaben
sich auf eine Bergwiese. Ein jeder war mit einem langen Stabe und
vielen hölzernen Scheiben versehen, deren Durchmesser etwa 10 cm
betrug, und in deren Mittelpunkt ein Loch war, um sie auf den
Stab zu stecken. Weiter unten am Berge standen die Knaben, um
die Scheiben aufzufangen und diese an die Jünglinge wieder zu ver-
kaufen. Sobald ein Bursche die Scheibe fortschleuderte, sagte er
folgenden Spruch:
«Schiebdi, Schiebdi Hos,
Hob^s net gemocht,
HoVs doch gemocht;
Ich schläh^s über d'Rhin,
S'kummt weder herin.
Ich schläh's in^ Mechel und in Kathel
In^s Kammerlädel n*in.>
Von den Burschen etwas entfernt standen die Madchen und
Frauen, um zu hören, welchen Mädchen Scheiben geschossen wurden.
i Hier sagte der Jüngling seinen xmd den Namen seiner Ge-
liebten.
12
— 166 —
Fronfasten.
Bischofaheim (Kreis Molsheim). — An den Fronfasten darfte
niemand die Wäsche reinigen ; denn man sagte, das Fronfasten-
Mütterlein ginge umher nnd sehe nach, wer das Verbot übertrete.
Wen es antraf, den stellte es vor der ganzen Gemeinde zu Schanden,
und er war das ganze Jahr hindurch unglücklich.
Ebenso durfte man am Mittwoch und Freitag die Ställe nicht
reinigen und an diesen Tagen keinen Dünger auf die Aecker fahren,
da er keine Wirkung habe. Es gibt jetzt noch Leute, welche dies
beobachten
Charfreitag.
OstJiausen (Kreis Erstein). — Mittel, um buntfarbige Hühner zu
bekommen. — Viele Hausfrauen sammeln die Eier, welche die Hühner
am Charfreitag legen, und geben sie einer Henne zum Ausbrüten.
Die jungen Hühner bekommen dann ein buntes Federkleid. Die Farben
wechseln von Jahr zu Jahr.
Niedersept (Kreis Altkirch) — Wenn ein am Charfreitag gelegte«
Ei ausgebrütet wird, so verändert das Huhn jedes Jahr seine Farbe.
Ebenso bringt ein am Charfreitag veredeltes Bäumchen jedes Jahr
eine andere Obstart.
Bamenheim (Kreis Mülhausen). — Den Ostereiern wird eine
zauberkräftige Wirkung zugeschrieben. Auch schützen die am Char-
r ei tag gelegten Eier vor Fieber. Wenn man die Chai-freitagei^r einem
Huhn zum Ausbrüten gibt, so erhalten die Federn dieser Hühner
jedes Jahr eine andere Farbe.
5ttecÄwci7er . (Kreis Thann). — Am Charfreitag lassen manche
Bauern ihr Vieh fasten, denn sie glauben, es bleibe dadurch von
Krankheiten verschont. Alte Leute klopfen am Charfreitag an die
Obstbäume; aus dem Klange wollen sie schliessen, ob es viel Obst
gibt oder nicht.
Ammerscliweier (Kreis Rappoltsweiler.) — Wenn man am Char-
freitag Bohnen steckt, gedeihen sie viel besser, als wenn das an
irgend einem andern Tag geschieht.
Niedersept (Kreis Altkirch). — Am Charfreitag muss man den
Essig und den Wein schütteln, sonst wird ersterer zu Wasser und
letzterer zu Essig.
Charsamstag.
Liehsdorf (Kreis Altkirch). — Am Ostersamstag werden bei der
Kirche Ueberreste von geweihten Gegenständen und zerfallenen Crazi-
fixen vom Kirchhofe verbrannt. Die Leute sagen : <Der ewige Jad
wird verbrannt >.
Ostern.
Niedersept (Kreis Altkirch). — An Ostern ist es Sitte, dass die
Kinder bei ihren Taufpaten die Ostereier holen; kleineren Kindern
werden sie wohl auch vom Osterhasen gelegt. Dann sagen sie fol-
genden Spruch :
— 167 —
«Wir wünsche Euch ein glückhaftiges Alleluja,
Die Ostereier wa mer ha (wollen wir haben),
unschönste, wn dr heit (die schönsten, die Ihr habt),
S^megä staka, wn sie wei.» (Sie mögen stecken, wo sie wollen.)
Pflngüten.
Niedersept (Kreis Altkirch). — Am Pfingstmontag, Hirschmontag
genannt, sind bekanntlich die Franen Meister. Jetzt haben sie nur
noch das Recht, den Männern die Mützen zu nehmen. Früher gingen
sie am betreffenden Morgen in den Wald and hieben eine der
schönsten Eichen an. Die Männer vollendeten das begonnene Werk,
dann wnrde der Baum verkauft.
Pfaffenheim (Kreis Gebweiler). — Der Pfingstpfiiteri am Pfingst-
montag in Pfaffenheim. — - Am Pfingstmontag, am Nachkilbemontag,
versammeln sich die militärpflichtigen Jünglinge zu Pferd als Ritter
auf einem Platze vor dem Dorfe. Sie halten dann einen Ritt durch
dasselbe und besichtigen den Röhrenbrunnen, in welchen der Pfingst-
pfiiteri gerworfen wird. Hieraufholen sie denselben ab. Der Pfingstpfiiteri.
ein Barsche, ist mit einem Kleide angethan, welches mit Schnecken-
gehäusen bedeckt ist. Er sitzt auf einem Wagen, welcher von zwei
Eseln gezogen wird. Unter dem Gelächter der ihm nachfolgenden
Dorfjagend gelangt er zum Röhrenbrunnen. Hier angekommen, leert
der Pfingstpfiiteri auf das Wohl der zahlreichen fremden Zuschauer
eine Flasche Wein. Alsdann richtet er an sie einige scherzhafte
Fragen. Auf die Fragen eines der Ritter, welche den Brunnen um-
stehen, gibt er scherzhafte Antworten. Dann läuft der Pfingstpfiiteri
auf dem Brunnentrog herum. Ein Ritter gibt ihm einen Stoss und
er fällt in den Brunnen. Alsdann wird er herausgezogen. Ein Ritter
sagt zu ihm : «Du bist auswendig nass, du musst auch inwendig
nass werden.» Er wird sodann genötigt, fleissig zu trinken. Dies
geschieht dreimal. Alsdann sammeln die Ritter Geld, welches der
Pfingstpfiiteri bekommt.
Friesen (Kxph Altkirch). — Am Pfingstmontag bekleidete sich
ein Knabe mit einem langen weissen Hemde und schwärzte sich das
Gesicht. Man nannte ihn «Pfingstplüppel». Seine Begleiter sammelten
dann in jedem Hause Eier, Mehl oder Butter und Hessen in einem
Wirtshaus oder in einem andern Hause eine Mahlzeit zubereiten. Bei
dem Eiersammeln sangen sie folgendes Liedchen :
«Pfingstplüppel ho, ho.
Der Pfingstplüppel isch do,
Fliegt e Dibele übers Hüs,
Jungfrajele nämmet Eier üs,
und wenn d* Ihr uns kene Eier wend gä,
So mag der Marder eich d^Hihner all nä;
Und wenn d' Ihr uns kene Anke ^ wend gä,
So soll eier Kuh kei Milch me gä;
Und wenn d' Ihr uns ke Mahl wend gä,
So mag der Müller eichs halbe nä.>
' Butter.
- 168 —
Am Pfingstsonntag schauen die Leute darauf, ob es an diesem
Tage regnet. Wenn auch nur einige Regentropfen fallen, so deuten
dies die Leute auf eine nasse Heuernte.
Am Pfingstsonntag Morgen wird den Zugtieren (Pferden, Kühen
und Ochsen) an drei Stellen am Halse zu Ader gelassen. Man glaubt
dann, das Vieh würde das Jahr hindurch von jeglicher Krankheit
bewahrt bleiben.
Umzug am 1. Mai. — An diesem Tage wurde ein weiss gekleidetes
Mädchen mit Frühlingsblumen und Laub ganz geschmückt. Das Lanb
war Buchenlaub, und je mehr solches an diesem Tage an den Bäumen
war, desto grösser war die Freude. Das Mädchen stellte den Mai dtr
und wurde von zwei Begleiterinnen geführt, während die übrigen
Mädchen hinterdrein einen Zug bildeten. So gings durchs ganze
Dorf, von einem Haus zum andern. Vor jedem Haus wurde das unten
stehende Mailied gesungen und die dafür erhaltenen Gaben in Em-
pfang genommen (Eier, Butter, Milch, Mehl, Geld, etc ). Nachdem so
allerlei Geschenke in Fülle gesammelt waren, wurde in dem Hanse
einer Festgenossin eine ländliche Mahlzeit bereitet, bestehend in
Nudeln, Küchlein, Eiern u. s. w Für das erhaltene Geld wurde Wein
gekauft und getrunken. Nach dem Essen wurde oft noch getanzt und
gesungen. An andern Orten wurde anstatt des Mädchens ein Baum
geziert, der den Mai darstellte. Das Lied lautete folgendermassen :
Der Mai, ' der kam vom grünen Wald herein,
So fahren der Mai und die Rosen.^
Wir heisse ihn frindli willkomme sein = (freundlich)
So fahren der Mai und die Rosen.
Der Mai hat in der Mitte ^ne Krumm,
So fahren der Mai und die Rosen.
Er dreiht sich dreimal um und um = (dreht)
So fahren der Mai und die Rosen.
Die mit Laub und Blumen geschmückten Jungfrauen tanzten,
während sie das Mailied sangen, um den Maibaum bzw. die als
solchen geschmückte Jungfrau herum. Bei den letzten zwei Versen
musste die den Mai darstellende Jungfi*au sich dreimal im Kreise
drehen und Dank dabei sagen, die Mädchen aber sangen weiter :
Der Mai, der Mai, der lässt sich schwanke.
Er thut sich schön höflich bedanke.
Bei der folgenden Strophe nannten sie den Namen des Herrn
und der Frau des Hauses, vor dem sie sangen. Z. B. heisst der Hans-
herr Peter, die Frau Anna:
' Der Mai ist das Mädchen oder auch der gezierte Bannt
2 Dafür wurde als Kehrreim auch gesungen:
Fahr in d'r Mai! = (Fahr ein, Mai!)
J
. — 169 —
Der Peter ka gaet Schitele spalte = (Holzscheite);
Fahr in d^r Mai!
Die Anna ka gaet Kichle bache = (Küchlein) ;
Fahr in d'r Mai!
Die Diele liege stnbeslang;
Fahr in dV Mai!
Die Anna hat ne schöne Gang;
Fahr in d'r Mai !
Das Lied wurde oft in die Länge gezogen, je nachdem die Mäd-
chen besondere Wünsche hatten, z. B. :
Wenn d^r nns kei Geld wend gä,
So soll euch der Schelm die Beutel all nä.
Wenn d^r uns keine Eier wend gä,
So soll euch der Marder d*Hühner all nä.
Wenn d^r uns kei Salz wend gä^
So soll euch der Krämer s^Gwicht nimme gä
Wenn d'r uns kei Mehl wend gä.
So soll euch der Acker kei Korn mehr gä.
Wenn dV uns kei Anke (Butter) wend gä,
So soll Euch d'Kuh kei Milch mehr gä!
[ : So fahren der Mai und die Rosen ! : ]
oder
Fahr in d*r Mai!
Frohnleichnamsfest.
Friesen (Kreis Altkirch). — Am Frohnleichnamsfest achten die
Leute besonders darauf, wie die gestreuten Blumen dörren; denn
auch das Heu fällt gut oder schlecht aus, je nach dem Dürrwerden
dieser Blumen.
Johannistag, 24. Jnni.
Hattsiatt (Kreis Gebweiler). — An diesem Feste versammeln sich
die Knaben nach dem Nachmittagsunterrichte. Jeder von ihnen trägt
einen Besen, welcher mit Hobelspänen ausgestopft ist. Dann sammeln
sie im ganzen Dorfe Holz; dabei rufen sie vor den Häusern:
<St. Johannesfeuer!
Leut\ gebt was zur Feier.
Glück ins Haus und^s Unglück raus
Und ein Schittle Holz heraus »
Das gesammelte Holz wird auf einem freien Platze vor dem
Dorfe aufgetürmt. Unterdessen ist es Abend geworden; das ganze
Dorf versammelt sich draussen. Der Holzhaufen wird angezündet.
Zu gleicher Zeit zünden auch die Knaben ihre Besen an, und unter
Jubeln springen sie um das Feuer. Ist dasselbe bald erlöscht, so
springen die herzhaften Burschen über dasselbe. Fröhlich begibt sich
alt und jung darauf nach Hause.
— 170 —
Bedentan^volle Tage.
Oberhruck (Kreis Thann). — An dem Platze, wo am Feste de«
heil. Abdon Farnkräuter aasgerissen werden, wachsen nie mehr Fam-
kräater.
Am 8. Dezember, am sogenannten «Frauentag», wird Schnee-
wasser in Flaschen geschüttet. Brandwunden, die mit diesem Wasser
benetzt werden, heilen rasch und ohne Schmerzen.
Kaiser Heinrich will an seinem Gedenktage (15. Juli) drei Tote
haben : einen Ertrunkenen, einen Herabgestürzten und einen Ver-
brannten. Darum geht an diesem Tage niemand baden, der Land-
mann steigt nicht auf seinen Kirschbaum, um Kirschen zu pflücken,
und die Köchin tritt nicht so nahe ans Küchenfeuer wie gewöhnlich.
Wer am Feste des heil. Laurentius (10. Augusti an irgend einem
Orte die Erde aufgräbt, der findet sicherlich Holzkohlen
Die Andreasnacht, 80. November.
BUchofaheim (Kreis Molsheim). — Genau um 12 Uhr in dieser
Nacht leuchtet auf jedem Kreuzweg im Dorfe ein kleines Lichtlein
auf. Wer in dieser Zeit auf ein solches Lichtlein tritt, zu dem kommt
ein Männlein und bringt ihm so viel Geld, als er tragen kann, wenn
er ihm auf seine Fragen keine Antwort gibt.
24 Dezember. (Adam und Eva).
Friesen (Kreis Altkirch). — In der Weihnacht darf man vor der
Mitternachtsmesse keinen Apfel und keine Birne essen, weil an diesem
Tage i24. Dezember) Adam und Eva sündigten Wenn man ässe, be-
käme man Auswüchse, Geschwüre oder Kröpfe.
Ernte.
Friesen (Kreis Altkirch). — Bei Schlnss der Ernte lassen die
Leute auf dem letzten Acker ein kleines Büschel Aehren stehen.
Alsdann knien sämtliche Schnitter um dasselbe und beten fÜ2if
Vaterunser. Dann schneidet die jüngste Schnitterin im Namen der
drei göttlichen Personen das Büschel ab, bindet dasselbe zu-
sammen und stellt es in der Wohnstube hinter dem Kruzifix anf,
wo es das ganze Jahr bis zur kommenden Einte verbleibt. Dieses
Büschel wird «Glückshäufele> genannt, wahrscheinlich darum, weil
oft vom Hausherrn Geld in dasselbe gelegt wird, und dasselbe der
Schnitterin, die häufig noch im Kindesalter steht, als Geschenk ge-
geben wird, mit dem Bemerken, Gott habe das Geld während des
Betens hineingelegt.
Hochzeit.
Niedersept (Kreis Altkirch). — Wenn ein Mädchen einen Aas-
wärtigen heiratet und abgeholt wird, so haben die Burschen von
über 20 Jahr das Recht zu spannen. Vor dem Dorfe wird ein farbiges
Band quer über die Strasse gespannt.. Wenn der Zug kommt, so nmss
er anhalten und wird erst dann durchgelassen, wenn die Burschen
— 171 —
mit Geld befriedigt sind. Ist das Geschenk reichlich, so werden
Wagen nnd Pferde mit Bändern und Rlamen geAchm&ckt. Genügt
aber das Geschenk nicht, so wird weiter vorn eine Kette gespannt
und darch allerlei Hindernisse der Weg gesperrt ; oder es wird mit
Fesen hinter dem Wagen her gekehrt, am anzudeuten, dass mit der
Braut auch der Dreck zum Dorf hinauszieht
Oberbruck (Kreis Thann). — Sitten und Gebräuche bei einer Hoch-
zeitsfeier um 1830. — Am Morgen des Hochzeittages holte der
Bräntigam mit seinen Verwandten die Braut mit ihren Angehörigen
im Hause der letzteren ab. Die Braut hatte unterdessen, nachdem
sie mit ihrem Festtagsschmucke bekleidet worden, unter Gebet in
ihrer Kammer den Bräutigam erwartet. War dieser angekommen, so
trug man eine Schüssel mit Suppe auf, brachte aber nur einen LÖfiTel
auf den Tisch. Zuerst ass die Braut einige Löffel voll, dann reichte
sie den Löffel dem Bräutigam, damit dieser ein Gleiches thue.
Hierauf bewegte sich der festliche Zug nauh der Kirche. An der
Spitze des Zuges ging die Braut, geführt vom Vater des Bräutigams
oder von einem nahen Verwandten. Darauf folgte der Bräutigam,
geführt von der Mutter der Braut oder von einer nahen Verwandten.
Erst nach der Trauung durfte der Bräutigam die Braut führen (auch
heute noch so). An die Brautleute schlössen sich die verheirateten
Personen an. Hierauf folgten die Burschen mit ihren Mädchen. Jeder
war mit einer Flinte bewaffnet. Auf dem Gange zur Kirche feuerten sie
auf offener Strasse nach links und rechts Schüsse ab. N'ach der Trauung
wurde das Festessen im Hause des Bräutigams eingenommen. Während
des Mahles musste einer der Burschen der Braut ein Strumpfband
wegnehmen, welches dann zerschnitten wurde. Jeder Hochzeitsgast
heftete ein Stück davon an seinen Rock. Nach dem Mittagessen, das
gewöhnlich bis gegen 5 Uhr Abends dauerte, machte man einen
Spaziergang. Nach dem Abendessen wurde der Speisesaal in einen
Tanzsaal umgewandelt. Man hatte gewöhnlich nur einen Spielmann,
der bis in die späte Nacht hinein auf seiner Geige fidelte. Am fol-
genden Tage hielten die Familienmitglieder noch ein kleines Nach-
fest, — und die Hochzeit war beendet.
Kältenhausen (Kreis Hagenau). — Sind die Zeremonien in der
Kirche beendigt, so entfernt der Bräutigam den weissen Blumen -
straass, den er an der Brust getragen. Vor der Kirchthüre warten
die Messdiener und halten den Hochzeitszug an. Jeder muss sich
hier loskanfen Dm 1 Uhr beginnt das Essen. Während desselben
sucht der Brautführer, der ein Verwandter der Brautleute ist, der
Braut den Schuh und das linke Strumpfband abzuziehen. Der Bräuti-
gam sacht dies zu verhindern. Gelingt es jenem nicht, so sagt man :
«der Brautführer bekommt keine Frau». Gelangt er aber in den Be-
sitz von Schuh und Strumpfband, so wird der Schuh schön geziert*
In denselben wird eine Weinflasche gestellt^ und au den Hals derselben
wird das rote Strumpfband gebunden. Der Brautführer sagt einen
Spruch, und nachher leeren der Bräutigam, die Braut und die Zeugen
die Flasche. Das Strumpfband wird in kleine Stücke zerschnitten.
Jeder Teilnehmer heftet sich ein solches an die Brust.
— 172 -
Geburt.
KaUenhauaen (Kreis Hagenan). — Ist ein Kind geboren, so leihe
man ans dem Hause nichts weg und sage auch fremden Leuten
nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist, weil sonst die bösen
Leute Macht über das Kind haben So erzählt hier eine alte Fran:
«Als ich getauft wurde, kam eine alte Frau und sprach za
meinem Vater: ,Na N., was hast denn, einen Elnaben oder ein Mädchen?'
Der Vater sagte: ,Ein Mädchen.' Da wurde ich krank und schrie
Tag und Nacht. Die Leute sagten, ich wäre verhext, und »bereicherten'
mich ; d. h. sie hingen mir in einem Täschchen neun geweihte Sachen
um, es muBs aber ein Stückchen der Osterkerze dabei sein. Davon
wurde ich gesxmd.»
Man soll auch die Wiege nicht schaukeln, weil sonst das Kind
anwächst.
Todesfall.
Friesen (Kreis Altkirch). — Bei einem Todesfall in der Familie
herrscht der Gebrauch, das Vieh im Stalle aufzujagen, Wein, Essig,
Sauerkraut in ihren Behältern zu rütteln. Man glaubt nämlich, der
Segen Gottes weiche mit dem Abscheiden der Person.
Oherbriuik (Kreis Thann). — Ist ein Mitglied einer Familie aas
dem Leben geschieden, so wird dasselbe kurz nach dem Eintreten
des Todes angekleidet. Verheirateten Personen zieht man ihren
Sonntagsstaat an. Ledigen Personen wird ein Kranz aufgesetzt Jung-
frauen sind weiss gekleidet. Der Wöchnerin, die einen lebenden
Säugling hinterlässt, müssen Schuhe angezogen werden, denn sie
muss während sechs Wochen jede Nacht kommen, um das Kind zu
ernähren.
Nachdem der Tote angezogen ist, werden Kerzen angezündet, der
Spiegel im Zimmer mit einem weissen Tuch verhüllt, die Wandohr
darf ihren Dienst nicht mehr veiTichten, Vögel müssen aus dem
Hause gebracht werden, sonst sterben sie.
Während des Tages wird das Totenzimmer von den Bewohnern
des Ortes besucht. Nachdem sie den Toten mit Weihwasser besprengt
und ein Gebet verrichtet haben, wenden sie sich mit Trostworten an
die Angehörigen des Verblichenen. Letztere erzählen dann von der
Krankheit des Toten, welch' schöne Worte er noch in letzter Zeit
gesprochen habe, und wie man schon an verschiedenen Zeichen sein
nahes Ende habe erkennen können. Als solche Zeichen gelten: das
Ticken der Totenuhr, das sogenannte c Quakerle > (Käuzchen), die
Totenflecken (blaue Flecken an Füssen und Beinen des Krankeni,
das Anmelden des Sterbenden bei einem Verwandten durch ein seh-
sames Zeichen oder gar durch seine eigene Gestalt, das Vorhanden-
sein vieler Maulwurfshügel auf den Feldern des Kranken. Am Abend
ist das Totenzimmer gewöhnlich ganz mit Leuten angefüllt. Dann
wird gemeinschaftlich gebetet. Um 9 Uhr beginnt das erste gemein-
schaftliche Gebet. Es werden drei Rosenkränze und eine Litanei
gebetet. Darauf wird den Frauenspersonen Kaffee angeboten, den
Mannspersonen Schnaps und Brot. Um 12 Uhr beginnt das zweite
— 173 —
gemeinschaftliche Gebet und am 3 Uhr das letzte ganz in derselben
Weise
Am Morgen wird der Tote in den Sarg gelegt. Ledige Weibs-
personen werden von weissgekleideten Jnngfranen auf den Kirchhof
getragen. Sonst sind immer die Jünglinge die Totentagrer. Den
Trägem wird der sogenannte «Trägerwein» verabreicht. Entweder
wird ihnen der Wein in einem Wirtshaas gegeben, oder sie kommen
den daraaffolgenden Sonntag im Hanse des Dahingeschiedenen za
einem Abendimbiss zusammen.
Kcittenhausen (Kreis Hagenaa). — Za wissen, ob ein Kranker
stirbt. — Man nimmt ein wenig Speck, reibt des Kranken Fnsssohlen
damit und wirft den Speck einem Hände vor. Frisst ihn der Hand,
80 wird der Kranke gesnnd, wo nicht, so stirbt er. Ein Gleiches
kann man mit einem Stück Brot thun, wenn man damit die Stirn
eines Kranken bestrichen hat.
Friesen (Kreis Altkirch). — Wenn die Tarmahr schlägt während
der heil. Wandlang, so gibt es bald einen Sterbfall. Desgleichen
wenn beim Totengräber die Schanfeln amfallen.
Ebenso stirbt bald jemand, wenn bei der Nachbarsfrau des
Kranken die Asche knollig wird.
Wenn der neuaufgeworfene Grabhügel einsinkt (was im Winter
öfters vorkommt), oder bei der Beerdigung der Sarg hohl klingt, so
bedeutet das einen baldigen Todesfall in der Verwandtschaft.
Witteisheim (Kreis Thann). — Liegt ein Kind in den letzten
Zügen, das den Mund etwas verzieht, so sieht es die Engelein; es
lacht ihnen nämlich entgegen. Hat es lange mit dem Tode zu kämpfen
und sind die Taufpaten nicht bei ihm, so wartet es auf dieselben.
Hat es endlich den letzten Atemzug gethan und wird es dann nicht
gleich steif, so zieht es noch jemand mit in das Grab.
Kilbe.
KaUenhausen (Kreis Hagenau). — War der lang ersehnte Tag
endlich gekommen, so wurde schon früh ein grosser Tannenbaum
aufgestellt. Derselbe wurde mit Backwerk, bunten Bändern und
Taschentüchern geziert. Während dieser Zeit spielte die Musik, und
es wurden Flinten abgeschossen. Des Mittags um 3 Uhr begann der
Tans. Vorher wurde ein Umzug gehalten. Jeder von denen, die sich
das nächste Jahr stellen mussten, hatte eine Flasche Wein bei sich,
die er an einer roten Schnur trug. Auf diesem Umzüge holte sich
jeder seine Tänzerin. War man vor dem Hause eines Mädchens an-
gekommen, so wurde gehalten. Der Bursche ging hinein und trank
mit den Leuten den mitgebrachten Wein. Dafür wurde ihm ein
weisser Schurz, mit roten Bändern geschmückt, überreicht. Während
dieser Zeit spielte die Musik vor dem Hause. War der Zug auf dem
Tanzplatze angekommen, wurden zuerst drei Tänze getanzt von denen,
die sich stellen mussten, dann von denjenigen, welche das nächste
Jahr daran kamen. Die ersteren nannte man «Mestigburschen», die
letzteren die «Nachklasse>.
— 174 —
Um 8 Uhr wurde ein Halstuch oder ein Hahn heraosgetanzt
Ein kleines Licht wurde aufgestellt, unten daran wurde ein Faden
gebunden, an dem ein Glas hing. Ein Sträusschen machte bei den
Tanzenden die Runde. Der, welcher es hatte, wenn das Glas fiel,
gewann. Der Sieger schmückte seine Braut mit dem Halstuch und
tanzte drei Tänze allein. Wurde ein Hahn herausgetanzt, so verzehrten
ihn der Sieger und seine Tänzerin. Der Tanz dauerte bis zum Mitt-
woch Am Mittwoch wurde die Kilbe begraben. Man umwickelte einen
Betrunkenen mit Stroh, hing ihm Ketten an und führte ihn durch
das ganze Dorf. Auf einem Wagen wurde ein Bierfass nachgeführt
An den vier Ecken des Dorfes wurde ein Loch gemacht und ein Liter
Bier hineingeschüttet. Jeder, der am Zuge teil nahm, erhielt hier ein
Glas Bier.
Hexen.
Friesen (Kreis Altkirch). — Wenn man das Jahr hindurch den
Zahn von einer Egge findet und denselben in der Christnacht während
der Mitternachtsmesse in den Sack steckt, die Spitze nach oben, so
sieht man während der heil. Wandlung die bösen Geister, die in der
Kirche sind Sie kehren nämlich während der heil. Wandlung das
Gesicht nach hinten. Man sagt aber, dass man dann vor dem Ende
der Messe fortgehen solle, sonst würde man nicht mehr glücklich
nach Hause kommen.
jRoppentzweiler (Kreis Altkirch). — Früher glaubte man, es seien
an Weihnachten während des Mitternachtgottesdienstes die Hexen
zu erkennen. Zu diesem Zwecke musste man den Zahn einer Egge,
den man am Tage vorher gefunden hatte, in der Tasche haben.
Während der Wandlung sah man die Hexen, die dem Altare den
Rücken zukehrten. Hatte man sie gesehen, so musste man sich be-
eilen, noch vor Beendigung der Wandlung nach Hause zu kommen;
denn nach derselben war man in der Gewalt derselben bis morgens
2 Uhr.
Hipsheim (Kreis Erstein). — Wer die Hexen eines Dorfes kennen
lernen will, muss an Weihnachten mit 12 verschiedenen Holzarten in
der Tasche zum Schlüsselloch der Kirchthüre hineinsehen, dann wird
er sie in der Nähe des Altares erblicken. Der Betreffende muss aber
sofort die Flucht ergreifen ; denn falls er von den Hexen, die ihm
sogleich nachjagen, eingeholt würde, wäre er ein Kind des Todes.
Niedersept (Kreis A.ltkirch). — Wenn., ein Kind eine Krankheit
hat, z. B. Augenschmerzen, so glauben die Leute gleich, das Kind
sei verhext. Um es zu heilen, wird es «breicht»,i d. h. es werden
1 Das Wort «breichen» bedeutet beräuchern. Glaubt jemand, es
sei ein Familienglied oder ein Stück Vieh verhext, so wird über das
verhexte Geschöpf, sei es nun Mensch oder Vieh, ein Tuch gebreitet,
dann werden auf eine Kohlenschaufel glühende Kohlen gelegt und
auf diese geweihte Palmen. Mit diesem Räucherwerk geht man drei-
mal um. das verhexte Geschöpf herum, jedesmal die drei höchsten
Namen aussprechend und dafür orgend, dass recht viel Rauch unter
— 175 —
Palmblätter verbrannt, und das kranke Kind hält den Kopf in den
aufsteigenden Ranch.
Münchhausen (Kreis Gebweiler). — Wenn die Hühner öfters un-
geschälte Eier legen, so glauben die Leute, dass dieselben verhext
sind. Cm die Hexe zu vertreiben, hängen sie ein solches Ei in den
Schornstein und räuchern es.
Verendet ein junges Kalb plötzlich, so ist ebenfalls eine Hexe
schuld daran. Es wird desshalb das Herz des Kalbes heraus-
geschnitten, ein Nagel in dasselbe geschlagen, der aus einem Sarg
genommen ist, in den Schornstein gehängt und geräuchert.
Oder man nimmt einen Knochen, wirft denselben in einen ge-
heizten Backofen und wünscht, dass die, welche den Schaden zugefügt
hat, verbrennen solle.
Banzenheim (Kreis Mülhausen). — Wenn in Banzenheim eine Kuh
keine oder nur wenig Milch gibt, so wird die Kuh cbreicht». Dies
geschieht auf folgende Weise : Man nimmt Milch von der Kuh. Diese
Milch wird abends um 12 Uhr mit einer Rute aus Haselstränchern
gepeitscht, in dem Glauben, dadurch die Hexe, welche die Kuh
verhext haben soll, zu züchtigen.
Wenn ein Stück Vieh (Pferd, Kuh oder Schwein) krank wird, so
sagt man oft, es sei verhext. Es wird dann «breicht», und zwar auf
folgende Weise : Eine Person aus dem Hause muss einen neuen Topf
holen nnd Kräuter, die der Nachrichter bestimmt. Dieser Nachrichter
gibt alles an, was man zu thun hat. Die Person, welche den Topf
und die Kräuter holt, darf niemand auf dem Wege gi-üssen und
niemand sagen, wohin sie geht. Die Kräuter werden gekocht und
zwar des abends von 11—12 Uhr. Von den gekochten Kräutern
wird ein Teil dem vermeintlich verhexten Vieh gegeben. Das übrige
muss die Person, die den Topf geholt hat, abends von 11—12 Uhr
in den Rhein tragen, aber sie darf niemanden auf dem Wege grüssen
oder gar sprechen. — (Noch heute so.)
Bischofsheim (Kreis Molsheim). — Eine Wöchnerin darf niemals
etwas ausleihen ; denn sonst haben böse Menschen Gewalt über sie.
Zu einer Wöchnerin kam einstens eine andere Frau und begehrte
Streichhölzer, die ihr auch gegeben wurden. Als sie sich entfernt
hatte, konnte man den Säugling, der eingewickelt auf dem Tische
tagy nicht mehr von Ort und Stelle bringen. Man rief den Hexen-
meister herzu, der das Kind wieder befreite.
Eine Mutter war eines schönen Knaben entbunden; aber der
Kleine wollte von der Mutterbrust nicht trinken; dagegen durften
das Tuch und besonders auf die verhexte Stelle dringt. Wenn auf
diese <Kur> keine Besserung erfolgt, so wird dieselbe dreimal an
den darauf folgenden Tagen wiederholt. Dieser Gebrauch kommt
jetzt noch oft vor.
Dieses Wort bedeutet dann überhaupt «enthexen», wenn auch
ein eigentliches «Beräuchern» nicht dabei vorkommt. Siehe z. B.
unter Banzenheim auf dieser Seite, unter Friesen S. 179 und Kalten-
hausen S. 172.
— 176 —
ihn andere Mütter säugen und seine Mutter auch andere Kinder. Der
Knabe war verhext. Zuerst suchte man Hilfe im Dorfe, allein der
Hexenmeister sagte, dazu habe er nicht Macht genug, sie müssten
zu dem in Meisegott gehen. Der Vater des Kindes reiste sogleich
dahin. Dieser gab dem Vater einige Kräuter mit und sagte: cWenn
es Bettglock geläutet hat, soll ihre Frau den Säugling an die Brust
drücken, ein grosser Tuch über sich hängen und dann die Kräuter
verbrennen, sie darf aber ja kein Wort sprechen». Die Frau that es
genau so, wie es ihr Mann berichtete. Während sie es that, kam die
Nachbarin an die Thür, klopfte dreimal und rief sie beim Namen.
Allein von innen wurde keine Antwort gegeben, die Nachbarin ent-
fernte sich schleunigst, und das Kind war von dem Banne befreit.
KcdtenhatMen (Kreis Hagenau). — Schon oft ist es vorgekommen,
dass Leute von einer Kuh, welche erst 14 Tage gekälbert hatte,
keine Milch erhielten. Man sagte: «die Hexen haben sie ausgesogen»
Man suchte dies zu heilen, indem man folgenden Sprach aufschrieb
und in den Stall hing:
Schütz, 0 Gott, dieses Haus,
Wo wir gehen ein und aus,
Diesen Ort, der uns so teuer.
Bewahr ihn, Herr, vor Feuer.
0 heilige Agatha für uns bitte,
Wache auch in unserer Mitte,
Dass bis zu unserm End,
Dieses Unglück sich von tms wend.
Bischofsheim (Kreis Molsheim). — Nach dem Bettglockläuten
darf nichts von einer Kuh verkauft werden, denn sonst haben die
bösen Geister Gewalt über dieselbe. Wird jedoch Milch oder ähnliche
Sachen nach der bestimmten Zeit fortgetragen, so besprengt man
sie mit Weihwasser.
Eines Abends spät kam einst ein Wanderer zu einem Bauer und
begehrte eine Milchsuppe. Der Wirt hatte keine Milch und wollte
auch keine mehr holen, da es schon Bettglock geläutet hatte. Der
Fremde begehrte hierauf eine Axt, schlug sie in einen Balken, holte
einen Topf herbei und fing an, aus der Axt zu melken. Mit grossen
Augen schauten ihm die Hausbewohner zu und fragten ihn nachher,
woher die Milch wäre Dieser antwortete: «Die Milch kommt von
einer Kuh, die im Schwarzwald kniehoch im Gras steht». Alsdann
kochte man ihm eine Milchsuppe, aber um keinen Preis hätten die
Hausbewohner davon gegessen.
HixUstadt (Kreis Gebweiler). — Mittel gegen das Kindergespenst,
«Dokele» genannt. — Wenn der Säugling in der Wiege während der
Nacht weint, so glauben einige Eltern, das «Dokele» quäle ihn. Um
dieses zu vertreiben, wenden sie folgendes Mittel an. unter die Wiege
legen sie zwei Sicheln übereinander. An die Thüre zeichnen sie mit
der Kreide zwei Dokelefüsse (Drudenfuss). Es gibt dabei einen ein-
fachen und einen doppelten Dokelefnss.
Mit diesen Zeichen, glauben die Leute, werde das «Dokele» vom
Säugling femgehalten.
— 177 —
Gewitter.
Hattstadt (Kreis Gebweiler). — In dem Kloster Marbach bei
Vöklinshofen wurde bei schweren Gewittern die grosse Glocke ge-
läutet. Dieselbe wurde von den Leuten der Umgebung «der grosse
Hund» genannt (Sie befindet sich hente noch in Egisheim.)
Sobald die Glocke bei einem Gewitter geläutet wurde, sagten
die Leute:
«Hört ihr! wie es in den Lüften schellt,
Der grosse Hund von Marbach bellt.
Die bösen Geister, sie schreien alle,
Und der grosse Hund Yeijaget alle.»
Friesen (Kreis Altkirch). — Um sich gegen Blitz zu schützen,
legt man geweihte Palmen kreuzweise ins Feuer, kniet dann nieder
und betet den englischen Gruss und das Evangelium des heil
Johannes.
Ämmerschweier (Kreis Rappoltsweiler). — Während eines Ge-
witters werden geweihte Palmen und Kohlen verbrannt, um dasselbe
unschädlich zu machen.
Aberglauben.
Bischofsheim (Kreis Molsheim). — Fällt ein Zahn aus, so wird
er unter das Bettgestell geworfen mit den Worten:
«Müs, Müs, kumm herus,
Breng mer bald erneue drus.»
BappoUsweüer. — Man soll nie Haare zum Fenster hinaus werfen,
weil sonst die bösen Leute Gewalt über den Betreffenden haben.
Legt man Haare von einer andern Person in die Schuhe, so dass
sie durch den Schweiss nass werden, so muss die Person in eiligem
Laufe herkommen.
Davon erzählt man hier folgende Geschichte : Der Geliebte eines
Mädchens war in einem benachbarten Dorf auf der Kilbe und tanzte
mit einem andern Mädchen. Seine Geliebte hatte von ihm einige
Haare. Als sie dies erfuhr, nahm sie die Haare und legte sie in den
Schuh. Da zog es den Geliebten auf einmal vom Tanze weg, und in
eiligem Laufe kam er zu seiner Geliebten nach Rappoltsweiler
Böse Geister müssen immer mit der linken Hand unschädlich
gemacht werden
Auf ihre Fragen soll man keine Antworten geben.
Hattstadt (Kreis Gebweiler). — Mancher Zimmermann fällt,
wenn die Sonne im Zeichen des Krebses oder des Scorpions steht
kein Holz, weil er glaubt, der Wurm werde alsdann in dasselbe
kommen.
Hattsiatt 'Kreis Gebweiler). — Um stets schönes und starkes
Vieh zu haben, gibt ein Bauer aus Hattstatt folgendes Mittel an:
«Man nimmt den Hafer, welchen z. B. die Pferde nach ihrer Fütterung
nicht mehr fressen und in der Krippe liegen lassen, in die Hand
— 178 —
and fährt ihnen damit einige Male den Rücken auf cnd ab.» Das
wirkt sicher.
Ämmerschweier (Kreis Rappoltsweiler). — Wenn man in den
Fronfasten Obst von den Bänmen macht, so tragen sie nichts mehr.
Friesen (Kreis Altkirch). — Die Leate glauben fest, dass beim
Schlachten der Schweine der Mondwechsel grossen Einfluss habe.
So z B. glauben sie, dass beim schwindenden Mond das Fett aas-
triefe, hingegen beim wachsenden Mond Maden in das Fleisch kämen.
Deshalb schlachten sie am liebsten ihre Schweine an Voll- oder
Neumond
Kcdtenhausen (Kreis Hagenau). — Wenn jemand aus einer Familie
lange Zeit abwesend ist, so dass man von seinem Leben und Tod
nichts erfahren kann, so nimmt man Wundkraut (Fetthenne). Von
diesem Kraut breche man einen Stengel ab und stecke ihn an einen
Ort unter das Dach des Hauses. Ist die Person noch am Leben, so
wächst das Kraut fort und gewinnt oben neue Blätter, wenn die
alten auch verwelken ; wenn die Person tot ist, so verwelkt es ganz.
Friesen (Kreis Altkirch). — Wenn man an einem Samstag um-
zieht, so bleibt man nicht lange am neuen Wohnort.
Wenn man am gleichen Tage umzieht, da jemand beerdigt wini,
so gibt es einen baldigen Todesfall in der Familie.
Ämmerschweier Kreis (Rappoltsweiler). — Wenn man in den
Hundstagen badet, so bekommt man die Hundsblattern.
Krankheiten.
Hattstatt (Kreis Gebweiler). — Mittel gegen die Gicht — Die
Beeren des schwarzen Johannisstrauches sollen, wenn der Strauch
unter gewissen Ceremonien ausgegraben wird, die Gicht vertreiben,
wenn die kranke Person davon isst.
Ostlmusen (Kreis Erstein). — Mittel, eine Schnittwunde zu heilen.
— Wenn man sich schneidet, so soll man sogleich den eraten besten
Stein von dem Boden aufheben und denselben auf die Wunde legen.
Ist der Stein davon blutig geworden, so soll man ihn wieder genan
an dieselbe Stelle zurücklegen, und zwar soll er wieder mit dem-
selben Teil in die Erde kommen, mit welchem er vorhin darin ge-
legen. Wenn man dieses thut, so wird die Wunde schnell heilen.
Kaltenhausen (Kreis Hagenau). — Ein Menschenzahn, den man
an den Hals hängt, lindert sogleich die Zahnschmerzen. Noch besser
soll eine Bohne sein, in die man ein kleines Loch bohrt und eine
Laus hineinsteckt. Das Ganze wird hierauf in ein kleines Stück
Seidenzeug gewickelt und um den Hals gehängt.
Boppentzweiler (Kreis Altkirch). — Ist jemand an einem Beine
lahm, so soll er sich, während es die Wandlung läutet, die Stube
auf und abführen lassen und die Namen der drei göttlichen Personen
aussprechen.
Wenn einem kleinen Kinde der Nabel nicht heilen will, so soll
man, wenn man auf das Feld geht und einen abgebrochenen Eggen-
— 179 —
zahn findet, denselben in die Erde schlagen und fünf Vaterunser
beten.
Friesen (Kreis Altkirch^ — Geweihte Kohlen und Palmen, Drei-
faltigkeitssalz und Medaillen werden angewendet, um die Menschen
und Tiere zu «breichen», w^enn sie durch den Einfluss böser Geister
etc. geschwollen sind Diese Gegenstände werden dem Kranken um-
gehängt
Sprüche gegen Krankheiten.
Kaltenhausen (ELreis Hagenauj. — Für den Wurm an allen Gliedern.
— Wurm, ich beschwöre dich bei dem heiligen Tag; Wurm, ich be-
schwöre dich bei der heiligen Nacht; Wurm, ich beschwöre dich bei
den heiligen drei Nägeln Christi ; Wurm, ich beschwöre dich bei der
Kraft Gottes, du seiest grün, blnu. weiss, schwarz oder rot, dass du
liegest in dem Finger tot H — l — h. Drei mal gesprochen und bei
jedem der höchsten Namen darüber weggeblasen.
Gegen Grimmen.
Ein alter Scbnurrenkopf, ein alter Leibrock, ein Glas voll Rauiten-
Wein, Bärmutter, lass das Grimmen sein. -+--+- -4- .H mal.
Gegen Geschwulst.
Glückhaft sei der Tag, glückhaft sei die Stund, dass du weder
geschwillst noch geschwärst, bis Maria einen andern Sohn gebärt.
-4- -4- -+-.
Ein Anderes.
Geschwulst, Geschwulst, Geschwulst, ich gebiete dir im Namen
Jesu Christi, dass du dem N N. so wenig schadest, als unserm
Herrn Jesu Christi die drei Nägel geschadet, die ihm die Juden
durch Hände und Füsse geschlagen H — I — h 3 mal
Wenn man ein Bein verrenkt. — Ich oder du hast dein Bein
verrenkt, man hat Jesum Christum ans Kreuz gehenkt, thut ihm
sein Henken nichts, thut dir dein Verrenken nichts, -f- + + 3 mal.
fiinen Schues zu binden. — Schuss st«he still in Gottes Namen,
gib weder Feuer noch Flammen, so gewiss die Mutter Gottes eine
reine Jungfrau geblieben ist. -+--+--»-.
Sage vom wilden Jäger.
Rosheim ^Kreis Molsheim). — Der Stadtschreiber aus Rosheim. —
In Rosheim war ein berüchtigter Stadtschreiber, dessen die Bürger
gerne losgewesen wären; doch konnten sie sich seiner nicht ent-
ledigen. Als er gestorben war, glaubten die Bewohner, er käme
wieder, um sie zu plagen.
Um diesem vorzubeugen, rief man einen Geisterbeschwörer herbei,
und dieser beschwor ihn in eine Flasche, und diese wurde dann in
den Wald hinaus getragen. Von dieser Zeit an machte er den ganzen
Wald unsicher. Er setzte sich den Fuhrleuten auf den Wagen, und
sie kamen nicht mehr von der Stelle. Während der Nacht hielt er
— 180 —
mit seinen Genossen grosse Jagden ab, ja sogar während des Tages.
So erzählte ein Mann, er sei im tiefen Walde auf eine hohe Tanne
gestiegen, um Aeste abzuschlagen. Da hörte er plötzlich Büchsen
knallen, Jagdhörner und das Bellen der Hunde. Er glaubte, es wäre der
Förster, stieg rasch vom Baume und verbarg sich im nahen Gebüsch.
Jetzt brausten die Jäger, von ihren Hunden begleitet, mit Windes-
schnelle an ihm vorüber. Es war aber nicht der vermeintliche Förster,
sondern der Stadtschreiber mit seinen Gesellen.
Ortsneckereien.
Weil in Lautenbach sehr viel Speck gegessen wird, so führen die
Bewohner den Namen Speckschelmen. «Es ist nicht möglich, dsss
die Lautenbacher den Speck, den sie verzehren, kaufen kÖnnen>,
sagen nämlich im Scherz die Bewohner der Nachbargemeinden,
«notwendigerweise müssen sie ihn stehlen >.
An der Kirchenuhr von Bufach war früher der Kopf eines Mannes
angebracht. Wenn die Uhr schlug, so streckte dieser Kopf die Zange
heraus und zwar soviel mal, als der Glockenschlag ertönte. Daron
erhielten die Rufacher den Spitznamen «Lalli», womit man im EIssbb
solche bezeichnet, die die Gewohnheit haben, die Zunge herans-
zustrecken.
Volkssprache.
OstJiausen (Kreis Erstein). — Einem Mädchen, welches pfeift, and
einem Huhn, welches kräht, gehört der Hals herumgedreht
Wenn die Mädchen pfeifen, so weint die Mutter Gottes.
Wenn in einem Bauernhofe Gras wächst, geht der Bauer zn
Grunde.
Backt man in den Tagen zwischen Weihnachten und Neogalir,
so ist das Brod nicht schön das ganze Jahr.
XVII.
Chronik des Jahres 1889.
28. Jun. Dr. Williehn Mankel, Dialekt forscher, stirbt zu
Strassburg.
30. Jan. : Georg Gayelin, Dichter, stirbt zu Rixheim.
30. März : Das Kais:;rpalais zu Strassburg >vird von dem
Architekten, Herrn Landhauiiispektor Eggert, an das Kaiserliche
Hofmarschallamt übergeben.
"29. Mai : Grundsteinlegung des Slauweihers (Altweier) bei
Metzeral.
6. Juni : Einweihung der neuen Bibliotheksräume in
Schlettstadt.
16. Juni: Grundsteinlegung der neuen katholischen Kirche
zu Sti^ssburg.
14. Juli : Generalversammlung des Vogesenklubs in Schir-
meck.
6. Aug. : Einweihung des Baierndenkmals in Wörlh.
10. Aug. : 400jähriger Geburlstag des grossen Strassburger
Stettrneisters Jacob Sturm.
15 Aug. : Forstmeister von Bodungen stirbt in Colmar.
18. Aug. : Einweihung des Denkmals für die Gardeschützen
bei St. Privat.
20. — 22. Aug. : Kaiser Wilhelm II. und Kaiserin Augusta
Victoria in Strassburg anwesend, 23. Aug. in Metz.
9.-14. Sept.: Deutscher Juristenlag in Strassburg.
14. — 17. Sept. : Deutscher Verein für öfTentliche Gesund-
heilspflege in Strassburg.
15. Dez. : Eröffnung der Eisenbahn Buchswciler-Ingweiler.
t26. Dez. : Oherlandesgerichtsrat Alwenz stirbt zu Berg-
zabern.
13
XVIII.
Sjtzungsprotokolle,
Vor st andssitzung .
18. November 1880, im Seminar für dentsche Philologie
(Universität).
Anwesend: die Herren Barack, Eiiting, Franke, Harl»ordl,
Martin, Mündel, Schlumberger, Wiegand. Ihr Ausbleiben haben
entschuldigt die Herren Erichson, Herrenschneider und Luthmer.
Der Vorsitzende Prof. Martin lierichtet über einige Ein-
ladungen anderer Vereine, welche der Zweig- Verein im Laufe
des Jahrs erhalten hat. Es wird auf den Antrag von Wiegand
beschlossen, dem Gesamt -Verein der deutschen Geschichts-
und Altertums- Vereine beizutreten und davon dem Vorstand
des Vogesen-Clubs sowie der General- Versammlung Mitteilung zu
machen.
Die Mitteilungen für die General -Versammlung werden
vorbereitet sowie einige für das Jahrbuch eingelaufene Artjeiten
vorgelegt und zur Berichterstattung verteilt.
Es wird beschlossen, die nächste Vorstands- Sitzung erst im
März zu halten, da sich der bisherige Weihnachtstermin als
ungelegen erwiesen hat. Auch die Sonntags-Sitzung soll künftig
so gelegt werden, dass sie nicht mehr mit dem Heformations-
fest zusammenfallt.
— 183 —
Da Mitglied Luthmer um seine Entlassung aus dem Vor-
ijtande gebeten hat, so wird beschlossen, Herrn Gymnasial-
direktor Dr. Deecke von Mülhausen an seiner Stelle zu cooptieren.
Es foljirt die
Allgemeine Sitzung.
Prof. Marlin erölTEet die Sitzun^r und erstattet den Rechen-
schaftsbericht über die Entwickelung des Zweig-Vereins im ab-
gelaufenen Jahre. Die Mitgliederzahl betrug 986 und die Kasse
ergab einen Fehlbetrag von 17 uf 35 ^.
Der Kassenbericht des Herrn Mündel wird von zwei Mit-
«rliedern der Versammlung, den Herren Bechstein und Haus-
mann, geprüft und richtig befunden.
Prof. Marl in halt einen Vortrag über den Goethe-Hügel zu
Sesenheim und legt dann die Sammlungen und Vorarbeiten zum
Elsässischen Idiotikon vor.
Zum Schluss wird der bisherige Vorstand durch Acclarnation
wiedergewählt.
Nach der Sitzung vereinigen sich die auswärtigen Mitglieder
mit mehreren hiesigen zum Mittagessen in der Bahnhofs-
Restauration.
Yorstandssitznng.
12. März 1890, im Bezirks- Archiv.
Anwesend : die Herren Erichson, Harbordt, Martin, Mündel,
Rathgeher und Wiegand. Ihr Ausbleiben haben entschuldigt
die Herren Deecke, Franke, Hering, Herrenschneider und Ihme.
Die für das Jahrbuch 189() eingelaufenen Beiträge werden
vorgelegt, besprochen und zur Berichterstattung verteilt.
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JAHRBUCH
FÜR
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GESCHICHTE, SPRACHE UND LITTERATURj
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HERAUSGEGEBEN
VON DEM
HISTORISCH-LITTERARISCHEN ZWEIGVEREIN
DES
VOGESEN-CLUBS.
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DES
VOGESEN-CLUBS.
VII. JAHRGANG.
STRASSBURG
J. H. ED. HEITZ (HEITZ & MÜNDEL)
1891.
THE NEW :OHK
PUBLIC LIBRARY
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ASTOR, LENOX AND
TILDEN FOU-' DATION«.
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Inhalt.
Seite
I. Der Donon und seine Denkmäler von 0. Bechstein 1
Name des Berges 2
I. Entdeckung der Donondenkmäler f)
II. Uebersichtliche Zusammenstellung der Denkmäler .... 21
1. Die Umfassungsmauer. — Die Gebäude und die Siiule
(Votivaltare) auf dem unteren Plateau 21
2. Die Reliefbilder auf dem Gipfel 31
A. Relief mit Inschrift Belliccus Surbur 81
B. Die profanen Reliefbilder 39
C. Die Gölterbilder 45
D. Köpfe von Statuen ST
3. Kleinere Fundgegenstande vom Donon 5*7
4. Inschriften 59
5. Römerwege 66
Schlusswort 72
Nachtrag Die in dem Tempel auf dem Donongipfel aufbewahrten
Denkmäler betr 16
Bibliographien Ober den Donon 78
II Ein Förderer des Verkehrswesens in EIsass-Lothringen im
16. Jahrhundert yon OttoWinckelmann. . . . 83
III. Reichenstein oder das alte Schloss bei Reichenweier von
E. Ensfelder 101
VI. Das napoleonische Wappen von Strassbnrg von A.
Schricker 106
V. Notizen eines Strassbnrger Bürgers um 1625. Mitgeteilt
von E Martin 109
VI. Elsässische Litteratar zur Zeit Gottscheds von E. Martin 117
Vn. Ans einer elsässischen Familienchronik. Bilder ans dem
dreissigjährigen Kriege. Mitgeteilt von J. Rathgeber 123
VIII. Zwölf nngedrnckte Briefe von Pfeffel. Mitgeteilt von
J. Rathgeber 128
IX. Elsässische Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten.
Mitgeteilt von J. Rathgeber 141
X. Volkstümliches von A. U h 1 h o r n 146
jener längst verklung-enen Zeit geblieben sind. Leider sind
heutigen Tages fast alle diese Denkmäler von jenem Berge ver-
schwunden: unglückselige Sammelwut hat weggeschleppt, wa??
religiöser Fanatismus, blinde Zerstörungswut und Mangel an
Ehrfurcht vor jenen steinernen Zeugen einer alten Zeit, in die
kein Lichtstrahl der Geschichte fallt, übrig gelassen hatten.
Wären sie heute noch dort oben beisammen, geschützt g^en
die zerstörenden Einwirkungen des Wetters und der Menschen,
dann würde diese Sammlung mit mehr Recht den Namen eines
<rMus6e» verdienen, als der moderne römische Tempel auf dem
Gipfel mit den traurigen Ueberresten diesen stolzen Namen
trägt, und der Donon würde zu den merkwürdigsten Bergen
diesseits der Alpen zählen.
Die Verwirklichung dieses Gedankens ist unwiederbringlich
dahin ; denn nur sehr wenige Denkmäler existieren überhaupt
noch ; die meisten kennen wir nur aus Beschreibungen und
zum Teil recht mangelhaften bildlichen Darstellungen. An ihrer
Hand jene Denkmäler noch einmal zu versammeln und so ein
wenn auch abgeblasstes Bild von dem Aussehen des Berges in
jener Zeit zu bieten, wo die religiösen Anschauungen der ein-
geborenen gallischen Bevölkerung mit der eindringenden römi-
schen Kultur sich verschmolzen, hat der Verfasser in der fol-
genden Arbeit versucht, in der nach einer Uebersicht über die
Geschichte der Aufdeckung der Donondenkmäler diese seihst
zusammengestellt und nach den zum Teil schwer zugänglichen
Werken entnommenen zerstreuten Bemerkungen der Lokal-
forscher beschrieben werden. Genaue Angabe der Quellen und
eine möglichst vollständige Bibliographie am Ende des Aufsatxes
soll denen, die sich auch nach anderen Seiten hin näher über
diesen interessanten Berg unterrichten wollen, die Wege weisen.
Unseres Berges findet sich bei keinem römischen Schriftsteller
Erwähnung gethan. Erst im 12. und 13. Jahrhundert begegnet
er uns unter dem Namen Ferratus mons in zwei Urkunden.'
Dom Alliot, der älteste Forscher, dem wir genauere Nach-
richten über den Donon aus dem Ende des 17. Jahrhundert;;
verdanken, nennt ihn « Montag ne de Framont, ein Name.
^ Eine via ferrati montis wird erwähnt in «iner SchenkuDgsor-
konde des Herzogs Mathieu an die Abtei Beaupre bei Laneville Tom
Jahre 1172 (im Archiv zu St-Die, bei Gravier, Histoire de St-Die,
S. 334) ; die zweite Urkunde ist eine lateinische Handsf^hrift der
Kirche von St-Di6 vom Jahre 1272, citiert bei Calmet, Notice de
Lorraine I, S. 471. (Grandidier, Bist. d'Als. S. H6 giebt das Jahr 1273,
« Journ. des Savants 1693, S. 77.
— 3 —
den ihm die Umwohner beilegten, weil nach der Ueberlieferunj?
der fränkische König Faramund daselbst begraben sei (also
eigentlich = montagne de Faramund). Er fügt hinzu, dass
andere glauben, Framont sei = Mont des Francs, was wegen
der deutschen Bezeichnung Frankenberg nicht unwahr-
scheinlich sei. Eine Bestätigung dieser Volksüberlieferung findet
AUiot in dem, was Joh. Trittenheim (Trilhemius), der im An-
fang des iö. Jahrhunderts eine Geschichte der ersten Franken-
könige schrieb, aus Hunibald mitteilt, der nicht nur Faramund^
sondern auch noch andere Frankenkönige daselbst begraben
sein lässt, wenn Alliot auch an die Zuverlässigkeit der beiden
Historiker nicht recht glauben will.
"Wenn Schöpflin i demgegenüber auf die historische
Thatsache hinweist, dass die Franken vor der Schlacht von
Tolbiacum (496) niemals ins Elsass gekommen seien, und des-
halb glaubt, dass Trittenheim nicht den Donon, unsern Fran-
kenberg in den Yogesen, sondern den Berg gleichen Namens in
Hessen, sechs Stunden von Marburg, im Sinne habe,* so ist
daran zu erinnern, dass derartige sagenhafte Ueberlieferungen
— und nur um eine solche kann es sich hier handeln —
durchaus nicht an historische Thatsachen gebunden sind und
dass sehr wohl jene Sage, die anderswo entstand, von den
.später in unser Land eindringenden Franken mitgebracht und
hier lokalisiert werden konnte, ein Vorgang, für den es zahl-
reiche Beispiele giebt.
Und in der That scheint die Ueberlieferung, dass der
Frankenkönig Faramund auf dem Frankenberg gewohnt habe
und mit grossen Schätzen, die nach dem Glauben des Volkes
noch in demselben ruhen, daselbst begraben sei, schon seit
alter Zeit auch am Donon zu haflen.» Wenn wir also auch
1 Als. ill. I, S. 451.
^ Was aber keineswegs sicher ist. Nach einer Notiz bei Qravier,
Jonrn. de la See. d^^mul. VII, S. 25 hat der Jesuit Coccius in Mols-
heim, indem er von dem Begräbnis des Königs Faramund auf dem
Frankenberg spricht, diesen ausdrücklich in die Vogesen verlegt (in
editissimis Vosagi jagibns).
3 Mabillon ouvr. posth. II, S. 47 hatte behauptet, dass diese
Ueberliefemng schon in einer Urkunde der Abtei Senones aus dem
Jahre 12^31 erwähnt werde. Dem tritt indessen Calmet a. a. 0.
S. 470 f. entgegen, mit dem Nachweis, dass in der betr. Urkunde
zwar von Framont, nicht aber von Faramund und seinem angeblichen
Begräbnis die Rede sei. — Jene Sage hat einem anonymen reichs-
ländischen Dichter Veranlassung zu einer Ballade gegeben, betitelt
«Faramunds Leichenfeier», die als Dononsage in dem Feuilleton der
Strassburger Zeitung 1879 Nr. 103 vom 3. Mai veröffentlicht ist.
— 4 —
nicht an die Existenz jener mythischen Frankenkönige und ihren
Aufenthalt auf dem Donon glauben, so ist doch kein Grund vor-
handen, deshalb mit Schöpflin jene Etymologie von Framont
überhaupt zurückzuweisen, das in der That höchst wahrschein-
lich aus Franc mont = Frankenberg hergeleitet ist, wie Bk-
mont aus Blanc mont = Blankenberg; den Versuch dagegen,
in Framont den Namen des Königs Faramund wieder finden
zu wollen, wird wohl heutigen Tages niemand mehr unter-
stützen.
Schöpflin stellt dagegen andere Ableitungen auf, von denen
die, welche Framont aus Fractus mont (duo montes juxta se
positi et ex uno quasi in duo diffi^acti d. i. gr. u. kl. Donon)
noch die ansprechendste ist. Framont aber mit Ferratus mons
zusammenzubringen, erscheint unmöglich, wenngleich, wie wir
sahen, dieser Name der älteste uns überlieferte ist. i Letztere
Bezeichnung könnte er erhalten haben wegen seiner reichen
Eisenvorräle («Eisenberg») ; da diese freilich erst Mitte des
•13. Jahrhunderts* entdeckt worden sind, während, wie erwähnt,
dieser Name schon dl 72 vorkommt, so ist schliesslich die Ab-
leitung von den an seinem Fusse zusammentreffenden und
vorüberführenden Römerstrassen (s. u. S. (i6), die im Mittel-
alter viae ferratae genannt wurden,» nicht ganz von der Hand
zu weisen.*
Uebrigens hält es Schöpflin für gar nicht sicher, dass der
Donon selbst Framont genannt worden sei, ein Name, den
heutigen Tages noch der am Fusse des Beides gelegene Weiler
(früher Eisenwerke) führt. Er ist vielmehr geneigt, Framont her-
zuleiten von infra montem — eine Etymologie, die ganz unge-
heuerlich ist — und zu glauben, dass der Berg Montagne de
Framont nach jenem Orte genannt sei. Wäre das letzlere
richtig, so könnte man sich den Vorgang vielleicht so erklären,
dass der Ort ursprünglich seinen Namen von dem Bei^e er-
halten habe und dass dieser dann später, als die Etymologie
i Wenn Gravier (Journ. a. a. 0.) mitteilt, dass in französischen
Urkunden der Kirche von St-Di6 ans späterer Zeit der Berg Ferr6-
m o n t genannt werde, so ist dies der beste Beweis gegen die auch
von ihm verteidigte Etymologie Framont = Ferratus mons, denn Ferr6-
mont ist einfach die französische Uebersetzung des Ferratns mons,
and aas Ferr6mont kann niemals ein Framont werden.
2 Nach Calmet a. a. 0. S. 471 im Jahre 1259, nach GraTier a.
a. 0. 1247.
^ Vergl. Da Gange, Glossarium mediae et infimae latin. s. v. via.
* So auch Gravier, Journ. a. a. 0. und Eist, de St-Di6. S. 334.
des Namens im Volksbewusstsein verloren gegangen, «Berg von
Framont» genannt >vurde.
Den jetzt allgemein verbreiteten Namen Donon — die
deutsche Bezeichnung Hohe D.onne ist leider fast in Ver-
fressenheit geraten — erwähnt zuerst Ruinart i neben dem eben
besprochenen Frankenberg, der heut zu Tage ganz ausser Ge-
brauch gekommen ist, und leitet ihn ab aus duo montes
(Donont = Deux monts), quod revera sit velut mons alter, qui
supra ceteros exsurgit (weil er wie ein zweiter Berg über die
übrigen sich erhebt. )>
Dieser Etymologie gegenüber wird man der ziemlich allgemein
anerkannten, die Donon mit dem keltischen Don oder D u n =
Berg, das sich in den zahlreichen gallischen Städtenamen auf
dunum erhalten hat,9 zusammenbringt, auch dann den Vorzug
geben, wenn man nicht den Keltomanen zustimmt in der An-
nahme, dass der Donon «das hieratische Gentrum der keltischen
Urbevölkerung» war. Denn in der That muss jeder, der den
Donon kennt, der weiss, wie er besonders von der lothringischen
Seite her aus der einförmigen Höhenlinie der Vogesenkette
sich frei erhebt, zugeben, dass dieser durch seine Lage wie
durch seine Gestalt gleich ausgezeichnete Berg von den Um-
wohnern «als der Berg par excellence^) bezeichnet werden
konnte.
Fassen wir also noch einmal obige Ausführungen zusammen,
so ergiebt sich, dass für unsern Berg drei von einander unab-
hängige Namen vorhanden sind: 1. Ferratus mons, fr. Ferre-
mont; 2. Framont, deutsch Frankenl)erg und 3. Donon, deutsch
Hohe Donne.
I. Entdeckung der Donondenkmäler.
Bis gegen Ende des 47. Jahrhunderts ruhten die gallo-
römischen Denkmäler auf dem Donon, ohne die Neugierde ge-
lehrter Forscher auf sich zu ziehen. Nur eine Teilungsurkunde
der Grafschaft Salm aus dem Jahre 1598 erwähnt beiläufig die
1 Iter liter. in ouvr. posth. de Mabillon III, 443.
2 Das ist etwas dunkel ausgedrückt. Schöpflin, S. 451, giebt es
wieder durch mons monti impositus videtur, glaubt also, dass mons
alter der höchste Gipfel sei, der auf dem eigentlichen Bergrücken
aufgesetzt sei. Aber snpra ceteros !
3 Vergl. Böget de Belloguet, Glossaire gaulois. 2<^ ed. Paris 1872.
S. 140 f.
— H —
bedeutendste der dortigen Ruinen mit den Worten : un vieux
chäteau encommenc^ de batir. i Die ersten genaueren Nach-
richten über jene Denkmäler verdanken wir den beiden Brüdern
Dom Hyacinthus Alliot, 1676—1705 Abt von Moyenmoutier,
und Dom Petrus Alliot, 1684—1715 Abt von Senones,» die,
angeregt durch den Bericht (eines Ordensbruders ?) * im Jahre
161>2 zum ersten Male und in den folgenden Jahren noch öfter
den Donon besuchten . Ersterer , Hyacinthus Alliot, be-
richtete in verschiedenen Briefen über die dort gesehenen Denk-
mäler seinem Bruder, der J^eibarzt bei Ludwig XIV. (conseiller-
medecin ordinaire du Roi) war.
Nachdem er ihm in einem ersten Briefe auf Grund
einer ihm von anderer Seite zugegangenen Mitteilung übercden
Berg von Framont» (Montagfne de Framont) vorläufigen Bericht
1 Citiert bei Gravier, Journ. de la Soc. d'fimulation. N" VII, 18^7.
S. 18.
2 Die Abteien von Senones und Moyenmoutier lagen südwestlich
vom Donon in Rabodeauthal , unweit von Raou-V^tape an der
Mearthe.
s Herr Gaston Save, Kunstmaler in St-Di6, ein eifriger Forscher
der Altertümer in den westlichen Vogesen, besitzt eine sehr inter-
essante Sammlang bildlicher Darstellungen des Donon und seiner
Denkmäler. In derselben befindet sich u. a. ein Holzschnitt aus dem
16. Jahrb., eine Darstellnng des Donongipfels mit dem Belief Bellic-
cus Surbur, 6 Türmen und den Rainen eines Tempels, nebst hand-
schriftlichen Randbemerkungen : [tucte^ f er — tulmtntj ^pttiti —
templum — und der Titelaufschrift: iFraniienbeegf ober ^onnont^
monlmentd atlqua stq. fiemcu^ |urauc notia ab J^. Xeontto tnfcrtptiQ
teperta. Durch die freundliche Ueberlassung des Originals, wofür ich
dem genannten Herrn auch an dieser Stelle meinen Dank aasspreche,
ist es mir möglich geworden, die Herkunft des Bildes festznstellen.
Da hat sich denn das überraschende Resultat ergeben, dass jene
Darstellung ein Ausschnitt aus Sebastian Münsters Cosmographey.
Basel 1564. S. 590 ist, wo es aber gar nicht nnsern Donon, sondern
cAugusta Raurica» (= Augusta Rauricomm, j. Basel-Angst) darstellen
soll, und dass nicht nur die Aufschriften, sondern auch die Abbildung
des Reliefs Belliccns Surbur — was wegen der Uebermalang des
ganzen Bildes vorher nicht leicht zu erkennen war — spätere will-
kürliche Zusätze eines Unbekannten sind. Trotzdem bietet auch nach
dieser Entdeckung das Bild noch ein gewisses Interesse wegen der
handschriftlichen Zusätze, die nach den Schriftzügen jedenfalls alt
sind, da wir daraus den Entdecker jener merkwürdigen Inschrift
und damit wohl überhaupt den Auffinder der Donon denk mäler kennen
lernen : den Pater Leontius, über dessen Lebensveit und
Wohnort freilich leider nichts festzustellen war.
— 7 —
erstatlef, teilte er ihm in einem zweiten Briefe* seine
eigenen Beobaehtnngen mit :
Lajfe des Berges, den er für den höchsten in den Vogesen
hält und der sechs Stunden von Molsheim und ebenso weit von
Markirch, Saarburg und Raon-Pfitape entfernt, auf der öst-
lichen Grenze des Gebietes liegt, das der König Ghilderich der
Abtei Senones geschenkt hat. An seinem Fusse führt eine
Strasse vorbei, die früher die gewöhnliche Verbindung zwischen
Lothringen und Deutschland bildete. Der obere Teil des Berges
ist ein Plateau, ungefähr 100 Fuss breit und 400 Schritte in
westöstlicher Richtung lang, das auf drei Seiten von schroß' ab-
:>}türzenden Felsen begl*enzt ist und im Osten noch von einem
höheren Felsen überragt wird. Dann heisst es über die Denk-
mäler wörtlich folgendermassen :
«Hundert Schritt von dem Felsen (am westlichen Abhänge)
belinden sich die Reste einesGebäudes, dessen Umfangs-
inauern deutlich zu erkennen sind. Es mass im Innern 37
Fuss in die Länge, 28 Fuss in die Breite und 13 Fuss in die
Höhe bis zum Dach. Die beiden Thüren im Osten und Westen
waren 4' 7" hoch und 2' breit; die beiden Fenster im Süden
und Norden 5' hoch und 4' breit. Die Steine waren so fest
mit einander verbunden, dass, wenn man einen davon aus den
Fugen reissen wollte, er eher mitten durchbrach, als dass er
sich von der Verbindung loslöste. Beim Ausheben eines 4' tiefen
(ri^bens im Innern fand man Ziegel und Kohlen, welche be-
wiesen, dass das Haus einst vollendet war « und nur durch die
Zeil oder durch Feuer zerstört wurde. — 20 Fuss von da sah
man die Trümmer einer 39' hohen Säule; nachdem man
alle Stücke derselben zusammengestellt hatte, erkannte man,
•lass sie gleichsam drei Säulen, eine über der anderen, bildete,
t'ine jede mit Kapital und Base. Vermutlich stand auf der
obersten eine Statue. — t55 Fuss weiter gegen Osten traf man
'lie Ruinen eines anderen, ähnlichen Gebäudes.
Gegen Norden sah man den Platz, wo ein Brunnen war. —
200 Schritte von dem zweiten Gebäude schienen die Ruinen
eines dritten Gebäudes zu sein. Geht man immer weiter
* Abgedruckt im Journal des Savants 1693, Jan. S. 74. ff. Der-
selbe ist bisher merkwürdigerweise allen Forschern entgangen ; nur
Schöpflin erwähnt ihn, setzt ihn aber fälschlicherweise in das Jahr
1d97. Das Nähere darüber s. nnten. S. II Anm. 1.
- Früher war offenbar die Ansicht verbreitet, die auch in der
oben angeführten Urkunde aus dem 16. Jahrhundert ihren Ausdruck
gefunden hat, als ob das Gebäude unvollendet gewesen sei.
— 8 —
nach Osten, so kommt man auf den Gipfel des Beides, der
ein Oval, 150 Schritte in westöstlicher Richtung lang und 25
Fuss in nordsüdlicher Richtung hreit, bildet und von einem
15' hohen Felsen begrenzt ^wird. Auf der Südseite diese>
Felsens ist in einer 3' langen und 2' hohen Umrahmung ein
Basrelief eingehauen, das einen Löwen und einen Eber dar-
stellt. Der Löwe geht aufwärts mit geöffnetem Rachen auf den
Eber los ; darunter mit grossen Buchstaben die Inschrift
BELLICcVS, dessen zweites c kleiner als das erste ist. Der
Eber, höher als der Löwe stehend, schemt gegen einen Felsen
gedrängt zu sein ; darunter : SVRBVR. — Am Fusse de?*
Felsens, besonders auf der Süd- und Nordseite, hat man
mehrere Statuen^ gefunden. Die erste scheint einen Mann
darzustellen, der mit einer Art von enganliegendem Wams
(pourpoint) bekleidet war, dessen Zipfel auf den Unterleih
herabhingen. Auf den Schultern hatte er ein Fell, scheinbar
das eines Schafes, wie man aus den Hinterfüssen desselben
vermuten kann, die neben den Beinen sichtbar sind. Von einer
zweiten Statue sind nur noch Stücke der Schenkel, Beine
und Füsse, augenscheinlich von einer Frau, vorhanden. Die
dritte Statue ist ein Mercur, in der Linken seinen Herolds-
stab, in der Rechten einen Geldbeutel haltend. Der Kopf ist
ebenso wie bei allen anderen Statuen abgebrochen, vermutlich
infolge des Sturzes von dem Felsen herab. Die vierte Statue
könnte die einer Bacchuspriesierin sein, die in der Rechten
zwei ineinander verschlungene Nattern hält und den Kopf der
einen zerdrückt. Neben ihr sieht man ein Tier, das man nicht
deutlich erkennen kann und das vielleicht ein Bock ist. Die
fünfte Statue ist doppelt: ein Mann mit einem Kind au^
einem Stein gehauen. Die Tunica des Mannes reicht nur h\^
zur Mitte des Unterschenkels und ist mit einer Art von Mantel
überdeckt. Das Kind hat keinen Mantel, sondern nur eine dop-
pelte Tunica, von der die innere bis auf die Füsse, die
äussere nur bis zur Mitte des Unterschenkels reicht. Es hält
in der Rechten ein Spielzeug, das einer kleinen Keule ähnlich
sieht. Die drei anderen Statuen haben nichts Beson-
deres.» — Es folgt dann eine Auseinandersetzung über die an
dem Berge entspringenden Bäche, zu denen der
Verfasser ausser «Pleine» und «Säur» (Saar) auch fälschlicher-
weise die «Prusche» (Breusch) zählt, sowie über den Namen
des Berges. In Bezug auf die Bedeutung des selben
in alten Zeiten meint A., dass derselbe den Umwohnern als
1 D. i. Basreliefs.
— 9 —
Yersammlungsplatz ihrer gottesdienstlichen Handlungen oder
als Zufluchtsstätte in Kriegszeiten gedient haben könnte. Die
erstere Ansicht glaubt er bestätigt zu finden in Lucan. Pharsal.
III, 399 fF., wo der Dichter von dem Waldesdunkel spricht, in
dem die Gallier einst ihre Opfer darbrachten, ferner durch die
Statuen, besonders die des Mercur, der nach Caesar (bell.
pH. VI, 17) von den Galliern vorzugsweise verehrt wurde. Für
die zweite Ansicht führt er, merkwürdig genug, die Heiden-
inauer auf dem Odilienberge an, der nicht weit vom Berge
von Fraraont entfernt sei. «Vielleicht haben die Römer, die die
Gallier von hier vertrieben, den Löwen und den Eber
als ein Denkmal ihres Sieges eingehauen. Der Löwe stellt die
fremden Eindringlinge, der Eber die auf diesen Berg zurück-
gedrängten Eingeborenen dar. Bellicus ist das Beiwort des
Löwen, um den Mut der Angreifer, und Surbur das des Ebers,
um den Widerstand der Eingeborenen zu bezeichnen, die ihre
Verschanzung verteidigten.» Auf die Römer weise auch die
Inschrift in lateinischen Buchstaben hin ; weniger wahrschein-
lich erscheine die Annahme, dass das Denkmal von den
Franken stamme, was noch weiter ausgeführt wird. Was die
Gebäude auf dem Frankenberg betrifft, so können sie Grab-
inäler der ersten Fran ken herz öge oder die Woh-
nungen der Druiden gewesen sein.
Am Ende des Briefes stellt A. weitere Ausgrabungen füi*
das nächste Frühjahr in Aussicht, um ein sichereres Urteil über
die zuletzt berührten Fragen zu gewinnen. Doch scheinen sich
dieselben verzögert zu haben; denn erst unter dem 14. Sep-
tember 1696 folgt ein neuer, dritter Brief an dieselbe
Adresse. •
Er war in Begleitung seines Bruders, des schon genannten
Petrus Alliot, Abt von Senones, seines Neffen Hyacinthus
AUiot » und anderer Ordensbrüder auf den Donon gegangen und
hatte Arbeiter für die Ausgrabungen mitgenommen, um wo-
1 Derselbe ist abgediiickt nach einer die Orthographie beibe-
haltenden Abschrift — wo das Original aufbewahrt wird, ist nicht
angegeben, vermatlich aber in Epinal — von J ol 1 o i s, Memoire
8ar les antiquit6s du Donon (im Journal de la Society d' Emulation
du d^p. des Vosges, II. vol.; Sep.-Abdr. davon Epinal 1828) und
genauer: Id., Memoire sur quelques antiquit^s remarqnables du
d6p. des Vosges. Paris 1843. S 132 Anm
* Derselbe war religieux B6n6dictin de la Congregation de
S. Vannes und hat im JournaK des Savants 1696, S. 18, über eine
in Beauvais gef. Mercurstatue berichtet, wobei er auch der Funde
auf dem Berge von Framont Erwähnung thut.
— 10 —
möglich die Bestätigung seiner Vermutung, dass jene Gebäude
Grabstätten gewesen seien, zu finden.
In dieser Absicht Hess er durch das erste Gebäude seiner
ganzen Breite nach einen 4' breiten und 2' tiefen Graben aus-
heben, wobei man bald mehrere Stücke von verschie-
denen Urnen fand: A. zweifelte nun nicht mehr, dass
jenes Gebäude zur Zeit des Heidentums als Grabstatte gedient
habe. Infolge seiner weiteren Vermutung, dass auch die grosse
Säule ähnlichen Zwecken gedient haben könnte und dass sie
vielleicht über den Urnen der angesehensten Leute errichtet
war, Hess er ringsherum in der Nähe, besonders da, wo ihm
die Basis derselben einst gestanden zu haben schien, die Erde
umgraben ; und in der That, man stiess auf Stucke von drei
verschiedenen Urnen. Die Erde war hier aschfarbig,
vielleicht, dass bei früheren Ausgrabungen die Asche, mit
der die Urnen gefüllt waren, an der Erde zerstreut wurde;
vielleicht auch, da keine einzige Urne ganz war, dass der re-
Hgiöse Fanatismus der altchristlichen Bevölkerung, vermischt
mit der Hoffnung, in diesen Urnen Münzen zu finden, diese
Zeugen des Heidentums zertrümmert hat.
Auf dem obersten Gipfel des Berges, am Fusse
des denselben bedeckenden Felsens, forderten die Ausgrabungen
noch die Reste von 21 Statuen (d. i. Basreliefs) zu Tage»
die zum Teil unter den beinstarken Baumwurzeln und der
1 1|2 Fuss dicken Moosdecke hervorgeholt werden mussten. Von
den aufgefundenen Bildwerken waren einige noch vollständig
unversehrt, von anderen waren nur noch die Beine, Füsse,
Hände oder andere Teile vorhanden. Unter diesen Bruchslücken
war besonders eins mit einem Paar Füssen, an denen man
noch deutlich die Sandalen eikennen konnte, bemerkenswert.
Alle Köpfe, die man gefunden, gehörten scheinbar Frauen an.
Inbetreff der Einzelheiten verweist der Briefschreiber auf die
Abbildungen 1 und die dabei stehenden Bemerkungen.
Durch die oben angeführten Urnenfunde glaubt nun
A. seine Ansicht bestätigt zu finden, dass jene Gebäude be-
stimmt waren zur Aufnahme der Totenurnen, und eine ausser-
halb derselben gefundene Scherbe einer Urne führt ihn zu der
Vermutung, dass der ganze Platz ringsherum überhaupt diesem
Zwecke geweiht war. Sachverstandige denen er die Urnen-
fragmente vorlegte, erkannten sie als wirkliche Graburnen an ;
sie ähnelten sehr einer Urne, die man drei bis vier Jahre zuvor
in Strassburg beim Bau einer Bastion gefunden hatte. Der
1 Die sog. Rotstiftzeichimngen ; s. unten.
— 11 —
Briefschreiber zweifelt nicht, dass man bei weiteren Aus-
i^rabungen noch manches Stück Altertum zu Tage fördern
werde. Leute aus der Umgegend, welche kamen, um zu sehen,
was die Mönche da oben machten, haben den Bildern die Ex-
tremitäten zum Teil abgeschlagen. i
Einen Bericht aber seine Entdeckungen auf dem Donon
nebst Abbildungen der Reliefs hat Dom H. Alliot femer
an Dom Jean Mabillon^ Ben^dictin de la congregation de
S. Maur in der Abtei St. Germain des Pr6s, geschickt (Jahr?),
den dieser (wohl wörtlich) in seinem Discours sur les anciennes
•sepultures de nos Rois benutzt hat. 2 Derselbe stimmt meist
enau mit dem oben erwähnten Brief Alliots (Journ. des
ir
1 Einen Brief Alliots an seinen Bruder ans dem Jahre 1697
erwähnt SchÖpflin ; er befand sich handschriftlich in seiner Bibliothek
und ist nach seiner Angabe niemals gedioickt worden. (Als. ill. I,
S. 84 Anm. [a].) Ans den von ihm daraus citierten Angaben ergiebt
sich indessen, dass es kein anderer sein kann, als der oben be-
sprochene, im Journ. des Sav. 16 93 abgedruckte. Ein einziges Citat
könnte dieser Annahme widersprechen. S. 84 zählt nämlich Scböpflin
den Hyacinthus Alliot unter denjenigen Gelehrten auf, welche in den
mit den Sagum bekleideten Bildern (Doppel bild und einfaches Bild,
SchÖpflin tab. III) Druidenpriester erkennen wollen und verweist auf
obigen Brief, in dem indessen Alliot sich nicht in diesem Sinne aus-
spricht. Vergleicht man aber damit S. 454, wo SchÖpflin jene Ansicht
mehrerer Gelehrten über die Druidendarstellungen wiederholt und
wo er in Anm. [g] sagt : «Alliotus in Epistola Ms. dnbius haesit, ita
enim scribit: Aedificia in monte Dononis reperta vel monimenta
faerint priscorum Ducum Francorum, vel habitationes Druidum»,
so merkt man, dass dies die Worte sind, aus denen er auch S. 84
auf Alliots Ansicht von jenen Bildern geschlossen hat. Die beiden
andern Citate (S. 453 Anm. 0 und S. 455 Anm. u) aus Alliots Brief
finden sich klar und deutlich in dem oben erwähnten zweiten
Briefe. Man kann also die Identität von Schöpflins Brief aus dem
Jahre 1697 mit dem obigen im Journ. des Sav. 1693 abgedruckten
nicht bezweifeln und muss inbezug auf die Jahreszahl ein Versehen
Schöpfiins annehmen und ebenso die Angabe, dass der Brief niemals
gedruckt sei, auf Unkenntnis Scböpflins zurückführen.
An einer andern Stelle (S. 452 Anm. [i]) citiert SchÖpflin einen
Brief H. Alliots an seinen Bruder, der im Journ. des Sav. 1696
Jan. p. 25 abgedruckt sein soll ; auch dieses Citat ist falsch, was
aber nicht verhindert hat, dass dasselbe noch oft von andern Ge-
lehrten wiederholt worden ist.
2 Vorgelesen in der Pariser Akademie am 25. April 1702;
abgedruckt in Ouvrages po&thumes de J. Mabillon et de Thierri
Ruinart. Paris 1724 T. II, p. 43 suiv., und in den M^moires de
TAcad^mie des inscript. et helles lettres 1736 T. II, p 633 suiv.
— 12 —
Sav. 1693) überein, enthält aber noch einige wichtige Zu-
sätze :
Nachdem er Seite 45 von den Einzelheiten des Gebäudes
gesprochen, fährt er fort : ecMan kann nicht sehen, ob die
Steine mit Mörtel oder mit Eisen [Klammern] verbunden sind.
Die Ziegel, die dieses Gebäude bedeckten, waren flach,
10" breit und 1" dick mitlifs zölligem Rand.» Die Höhe der
Säule wird hier nur auf 29 Fuss angegeben. Erwähnt werden
femer die Inschriften auf den SteiniJn dieser Säule ; eine
derselben lautete :
L 0. M.
C. LVCVLLVS
LEPIDINVS
V. S. L. M.
In Bezug auf die Besti mmung der Gebäude: cEs
ist schwerlich anzunehmen, dass diese Gebäude zu etwas anderm
gedient haben, als zu Tempeln oder zu Wohnungen für
die Priester, i Vielleicht können die heidnischen Umwohner
(payens) auch ihre Begräbnisstätte hier gehabt haben»; Beweis:
Ürnenfunde, worunter auch die 3 unter dem Säulenfuss ge-
fundenen erwähnt werden. (Vergl. den dritten Brief AUiots !) —
Von Petrus Alliot, dem Abte von Senones, ist
uns ein kürzerer Bericht über den Donon und seine Denkmäler,
vermutlich ebenfalls aus dem Jahre 1692, erhalten, den ich,
obwohl er manches aus den angeführten Mitteilungen seinem
Bruders bereits Bekannte enthält, doch in extenso in deutscher
Uebersetzung wiedergebe, da er bisher nur in einem sehr selten
gewordenen Memoire sur les antiquit^s du Donon von Gravier
veröffentlicht ist, * Es heisst da :
ccVon der Abtei in Senones steigt man auf sehr schmalen^
holperigen Wegen mitten durch die schrecklichste Wildnis der
Vogesen ; aber nach einem zweistündigen Marsche wird man
angenehm überrascht durch den Anblick von weiten Hoch-
ebenen, von den Umwohnern Chaumes genannt, die sich bei
wechselnder Breite drei Stunden weit hinziehen. An diesen
wandert man gemächlich vorbei bis in die Nähe des Beides von
Framont ; dann geht's allmählich und mühelos wieder auf^irts
1 Ob diese Bemerkang auch von Alliot stammt?
2 Im Journ. de la See. d'fimulation Nr. VII, 1827 ; da& Original
wird vermutlich in Epinal aufbewahrt. — Irrtümlicher Weise
schreibt Gravier diesen Bericht dem Dom [Hyacinthus] Alliot, Abt
von Moyenmoutier, zu; äussere und innere Gründe lassen den
Irrtum leicht erkennen.
— 13 —
auf dem Wege, der in früheren Zeiten die grosse Landstrasse
aus Lothringen nach Elsass bildete, bis zu einer Wiese, wo
man eine frische, wasserreiche Quelle trifft. Von hier aus steigt
man noch eine Viertelstunde ziemlich bequem, dann aber wird
der Abhang so steil, dass man nur mit vieler Mühe empor-
klettern kann. ^ Kommt man endlich auf die Höhe, so findet
man ein ziemlich ausgedehntes Plateau (terre-plein), das im
Osten von einem noch höheren Felsen überragt wird.
Der ganze so hohe und schwer zugangliche Gipfel ist von
einer sehr ausgedehnten Mauer umschlossen, welche auf dem
oberen Rand des Abhanges ruht, der von dem Fusse der Mauer
an eine Art Glacis bildet. Dieses hat Menschenhand noch steiler
and fast unzugänglich gemacht dadurch, dass man die Erd-
massen überall zu diesem Zwecke entfernt hat. « Diese Mauer
war in gewissen Abständen gestützt durch viereckige Türme,
die aber in der Mauer selbst lagen und durch diese mit ein-
ander verbunden waren, so dass sie jener wiederum als Strebe-
pfeiler dienten.
In dieser ganzen Umfangsmauer war nur ein einziges Thor,
nämlich da, wo sich die Wege aus Lothringen nach Deutsch-
land vereinigten, die zwischen diesem und einem benachbarten
Bei^e, dem sogenannten Kleinen Donon hindurchführten. Dieses
Thor wurde gebildet durch zwei dicke Türme, deren Unterbau
man noch sieht.
iOO Schritte von dem ersten Felsen s gegen Osten trifft
man zunächst die Reste eines alten Gebäudes, das im Innern
37' lang, 28' breit und bis zum Dach 13' hoch, bis zur Spitze
des Giebels noch um 9' 3" höher war. Die beiden Thüren, die
eine im Osten und die andere im Westen, waren 5' hoch und
2' breit ; die Fenster auf der Nord- und Südseite ebenfalls
5' hoch und 4' breit. Es scheint, als ob sich über der einen
der Thüren eine Inschrift befand; sie war aber so verwittert
(efTacee), dass man nichts darauf erkennen konnte ; nur eine Art
quer liegender Keule (une espece de massue placke en travers)
war hier zu sehen. Man fand im Innern des Gebäudes Reste
von Urnen, Ziegeln und Kohlen, was zu der Meinung führt,
däss es einst vollendet gewesen und dass es nur durch die
^ Es ist dies der direkte Weg voq Grandfontaine, der von der
Südseite her das Plateau erreicht.
^ . . . nn glacis qae la natare et la main de T hemme ont es-
carp6 et rendn inaccessible par les terres qui ont €t^ rang^es presqae
partout.
3 D. i. der sog. Felsen von Grandfontaine am westlichen Abhang.
— u —
Zeit oder durcli Feuer zerstört wurde. Um den Felsen heiiim,
besonders im Norden und Süden, findet man die Resle mehrerer
Bildsäulen. Es waren, bevor wir an diesem Ort Ausgrabungen
veranstaltet hatten, nur ihrer drei zu sehen ; aber später haben
wir mehr als 30 gefunden, allerdings nicht alle ganz, aber
alles ansehnliche Stücke, obgleich wir nicht überall gegraben
haben.» —
Weitere Nachrichten über die Entdeckung der Donondenk-
mäler gegen das Ende des 17. Jahrhunderts verdanken wir
einem andern gelehrten Benediktiner.
Dom Thierri (Theodoricus) Ruinart nämlich war
durch seine litterarischen Arbeiten seinem gelehrten Ordens-
bruder, dem schon genannten Mabillon, zur Mitarbeiterschafl
an dessen Werke, der Geschichte des Benediktinerordens,
empfohlen worden. Zum Studium der Archive der Kirchoa,
Abteien und Klöster reiste nun Ruinart mit Mabillon von der
Abtei St. Germain de Pr6s aus, wohin ihn dieser zu sich ge-
zogen hatte, nach Lothringen und Elsass. Ueber diese Reise
hat uns Ruinart in einer ausführlichen Beschreibung berichtet
s. t. Iter iiterarinn in Alsatiam et Lotharingiam. ^
Ruinart war mit seinem Lehrer Mabillon am 20. Augus!
1696 von Paris aufgebrochen. Den 13. September kamen sie
nach Moyenmoutier, am 14. September nach Senones. Hier
traf Ruinarl nicht nur den Abt von Senones, Petrus Alliot,
sondern auch dessen Bruder Hyacinthus Alliot, den Abt von
Moyenmoutier, auf dessen Einladung er am folgenden Tage
noch einmal nach Moyenmoutier zurückkehrte, da er ihn bei
seinem ersten Besuche daselbst nicht angetroffen. Von ihnen
ging ganz offenbar auch die Anregung zum Besuch de>
D 0 n o n aus. «
1 Gedr. am Schlüsse des 8. Bandes der Oavrages posth. de
Mabillon et de Rainart. Paris 1724. Von dieser Reise Rninarts er-
schien im Jahre 1826 and 1827 von Prof. Matter eine französische
Bearbeitung mit erklärenden Anmerkungen zum Teil von Schweig-
häuser im Journ. de la Soc. des Sciences du Bas-Rhin III. u. IV. Bd. :
eine zweite französische Uebersetzung von Abb6 Marchai im Recueil
de documents sur Thistoire de Lorraine. Tome VII. Nancy 1862. -
Eine deutsche Uebersetzung aus dem latein. Original Yon dem den
Donon betr. Abschnitt lieferte Prof. Euting in der Literar. Beilage
zur Gemeinde-Zeitung für E.-L. 1882 Nr. 1 unter dem Titel: «Ein
gelehrter Tourist auf dem Donon».
2 Vom 14. September 1696 datirt der B. Brief H. Alliots as
seinen Bruder (s. oben S. 9}.
— 15 —
Am 16. September wurde aufgebrochen : während Mabillon
unter Begleitung der beiden Aebte rechts nach dem Elsass
reiste, * wandte sich Ruinart cum aliis (Ordensbrüdern, denen
der Donon jedenfalls schon bekannt war, und die als Führer
dienten) links, cum animus esset famosum montem Franken-
bergenseni perlustrandi. Wie lebhaft übrigens damals bereits,
vier Jahre nach dem ersten Besuch der beiden Aebte Alliot,
der Besuch des Donon war, ersieht man aus der Notiz Ruinarts,
dass am Fusse des Berges * Reste einer alten Behausung (anti-
quae cujusdam villae rudera) zu sehen waren, die der Abt
von Moyenmoutier hatte ankaufen und für die Bergbesucher al:^
Rasthaus, besonders auch für die Pferde, die man hier zurück-
lassen musste, einigermassen herrichten lassen.
Die Beschreibung der auf dem Donon vorhandenen
Denkmäler, die aber keineswegs erschöpfend ist, beruht aut
dem oben erwähnten Bericht H. Alliots (zweiter Brief
und Bericht bei Mabillon), den er später bei der Abfassun;r
derselben jedenfalls benutzt hat. 3 Er erwähnt :
1. Das noch ziemlich vollständig erhaltene Haus (wie bei
Alliot) ; 2. die dreifach übereinandergesetzte viereckige*
Säule; die Entfernung von jenem Gebäude hier 25 Schritte.
Von der nach Alliots Vermutung oben auf derselben stehenden
Bildsäule «konnte trotz der sorgfaltigsten Nachforschungen bis
jetzt unter den Gebäuderesten nichts aufgefunden werden.»
«Ganz unten an der Basis waren Inschriften eingemeissell ,
wie wir noch aus einzelnen verschwindenden, beinahe abge-
schliffenen Spuren von Buchstaben seh Hessen konnten. Trolz
aller Anstrengung, wenigstens einige Worte daraus zusammen-
zustellen, gelang uns das doch nicht, ausser den paar V^orten,
die schon einige von unserem Orden herausgebracht hatten».«'»
3. 25 Fuss weiter ein anderes Gebäude, 4. und in
gleichem Abstände noch ein gleichartiges drittes; 5. dem
zweiten gegenüber nach Norden zu die Spuren eines Brun-
nens; 6. Basrelief Belliccus Surbur an einem Felsen
auf dem Gipfel (wie bei Alliot). 7. Ueber die Reliefbilder
1 Ueber Saales, Steige, Weilerthal nach Schlettstadt. (Euting.)
* Nach Matters Vermntang da, wo jetzt Grandfontaine.
3 Wie schon Scböpflin, Als. ill. I, S. 452 Anm. (i) bemerkt hat.
* Alliot hat über ihre Gestalt nichts bemerkt; nach den Rot-
stiftzeichnnngen könnte sie rund erscheinen.
5 Wie diese Worte lauteten, erfahren wir von Rainart nicht ;
dagegen wird eine Inschrift erwähnt bei Mabillon s. oben S. 12.
Näheres s. unten S. 28.
— 10 —
auf dem oberen Gipfel sagt R. : « Es war kein einziges Stack an-
zutreffen in vollständigem Zustande, sondern orania medio tantum
corpore eminent, i Die Steine, aus denen sie gemeisselt sind,
stammen aus der nächsten Umgegend, mit Ausnahme einiger
weniger, die offenbar nicht so in der Gegend vorkommen. Die
Figuren sind, wenn meine Vermutung richtig ist, nicht gerade
von Barbaren, aber doch von Leuten verfertigt, die wenig UebuDg
in der Bildhauerei hatten ; einige verraten römische Hand, ja,
wenn ich mich nicht irre, habe ich das Bild eines Mannes
in römischer Soldatentracht gesehen. * Während
unseres Aufenthaltes in Moyenmoutier zeigte man uns einen
von hier w^eggeholten weiblichen Kopf in gut römischem Kunst-
Stil. 3 Ferner stellen diese Bilder heidnische Gottheiten
oder deren Priester dar. Darunter haben wir mehr als
einen Mercur bemerkt, den Flügelstab in der Linken, den
Geldbeutel in der Rechten haltend. Auch eine Frau ist da,
vielleicht eine Bacchuspriesterin,* welche umeinander-
gewundene Schlangen in den Händen hält, während zu ihren
Füssen noch anderes derartiges Gewürm liegt. Ich sah dort
noch eine andere weibliche Figur, mit einem Hahn zu
ihren Füssen — vielleicht eine Pallas. Auf einem weiteren
Stein ist ein D o p p e 1 b i l d von einem Manne und einem
K i n d e, 5 aber es sind auch viele andere vorhanden ohne
irgend etwas Bemerkenswertes darauf.^
In Bezug auf Zeit und Nation, der jene Monumente
angehören, verweist Ruinart ausdrücklich auf den Brief H. Alliols
an seinen Bruder im Joum. des Sav. [1693]. «Ich für meinen
Teil glaube, dass sie den Galliern angehören, die zur Zeit ihrer
Vermischung mit den Römern nach heidnischer Sitte hier auf
diesem Berge ihre religiösen Feiern abhielten.» —
Ebenfalls noch am Ende des 17. Jahrhunderts (1697) schrieb
Job. Schilter eine Abhandlung in deutscher Sprache
über die Donondenkmäler, von der wir aber leider nur
aus den Citalen Schöpflins' Kenntnis haben. Letzterer be-
wahrte sie unter seiner Handschriftensammlung, mit der sie
wohl 1870 verbrannt ist ; gedruckt scheint sie nicht zu sein. —
1 Was nicht ganz richtig ist ; vielen fehlt allerdings der Kopf.
» Jollois, PI. 36, 2.
3 Ob vielleicht der unter den Rotstiftzeichnnngen (Jollois. PL
35, 7. 8.) befindliche?
* PI. 36, 1.
6 PI. 36, 5.
« Als. ill. I, S. 84 Anm. (b) und 454 Anm. (t) u. ö.
— 17 —
Ausser den schriftlichen Nachrichten über die Denkmäler
des Donon verdanken wir dem Abte Hyacinthus Alliot oder
einem seiner Mönche auch die ersten bildlichen Dar-
stellungen derselben.
Es sind dies mit Rotstift hergestellte Zeich-
nungen, die jetzt noch in zwei Sammlungen vorhanden zu
sein scheinen.!
A) Eine Sammlung aus 20 Blättern bestehend^ die
Gravier um 1820 im Archiv zu St.-Di^ aufifand ; * wie und wo-
her sie dahin gekommen, war nicht festzustellen. Sie diente
Gravier und Jollois (s. u.) gewissermassen als Wegweiser bei
ihren Erforschungen und wurde in den dreissiger Jahren
auf des ersteren Veranlassung nach Epinal geschickt, wo sie
Jollois für sein Werk (Antiquit^s des Vosges) benutzen wollte.^
In diesem sind sie auch (PI. 35 u. 36), und zwar in einem
auf ein Viertel verkleinerten Massstab der Originalgrösse repro-
duziert. (Dazu die Erläuterungen S. 189 ff.) Da «man vergessen
hat, sie wieder zurückzuschicken», so beGnden sie sich vermut-
lich noch in Epinal. Nur ein einziges Bl/tt mit dem Belliccus
Surbur, auf der Rückseite eine männlic)^ Gestalt mit einem
Ziegenfell bekleidet,^ ist in St.-Di^ noch vorhanden (in Nr. 99
der Handschriften der dortigen Bibliothek). & Nach dieser hat
F. Dinago den Belliccus Surbur in der Grösse des Originals
1 Die folgenden Ausführnngen stützen sich aaf die Anschauung
der von Jollois reproduzierten Abbildungen, sowie einer Reihe mir
gütigst zur Verfügung gestellter Pauszeichnungen im Besitze des
Herrn Save in St-Di6; ferner auf die kurzen Notizen bei Gravier
und Jollois, sowie auf schriftliche Mitteilungen des Herrn Save und
entsprechen, wie ich glaube« in allen wesentlichen Punkten dem wirk-
lichen Thatbestand. Absolut sicher wäre dieser nur in Epinal,
wo beide Sammlungen vermutlich aufbewahrt werden, festzustellen.
Ein erster Versuch, dort die nötigen Erkundigungen einzuziehen,
fand aber so wenig Entgegenkommen — nur eine allgemeine Be-
stätigung von dem Vorhandensein jener Zeichnungen war zu erreichen,
— dass ich von weiteren dahinzielenden Versuchen glaubte abstehen
zu sollen. In erfreulichem Gegensatz dazu steht die Liebenswürdig-
keit, mit der Herr Save mir durch Rat und That zur Seite stand ;
ihm verdanke ich viele wertvolle Notizen für meine Arbeit. Ihm
sei auch hier nochmals mein aufrichtiger Dank ausgesprochen.
* Jollois, Antiquit^s du Donon, S. 6 ; Antiquit^s des Vosges,
S. 130.
3 Schriftliche Mitteilung des Herrn Save.
4 Jollois, PI. 36, 4.
^ Notiz von G. Save im Bull, de la Soc philomat. Vosg. St-Di6
1877, p. 47.
2
— 18 —
herausgegeben s. 1. Un Basrelief du Donon (im Bull, de la
Soc. philoniat. 187ö p. 205 ; auch separat).
Die einzelnen Blätter bringen folgende Gegenstände zur
Anschauung :
Einen Plan des oberen Plateaus des Donon^ auf
dem die verschiedenen Denkmäler zur Zeit Alliots einge-
zeichnet sind ;
den Grundriss des am besten erhaltenen Gebäudes.
Aufrisse der Lang- und Giebelseite dessell)en nebst
einigen Architekturdetails;
Rekonstruktion der 29' hohen Säule;
ferner die Flachreliefs, die auf dem Donon noch vor-
handen waren, nebst zwei Köpfen von Statuen.
B) Eine zweite Sammlung stammte von Dom
Galmet, i von dem sie ein Herr Guery in Senones erhielt, der sie
wieder der Gommission des Antiquit^s du departement des Vosges
(der späteren Society d'£mulation des Vosges) in Epinal schenkte,
wo sie jedenfalls noch aufbewahrt wird. Diese Sammlung be-
steht aus 24 Blättern. « Sie enthält ausser den Abbildungen
der Sammlung A noch einige andere, nämlich 3 Basreliefs,
1 Inschriftenstein und 1 Votivaltar mit In-
schrift, die wir, da sie bisher noch nicht veröffentlicht sind,
weiter unten reproduzieren (Fig. 4—8), wo bei den einzelnen
Abbildungen das Nähere nachzusehen ist. Ich verdanke die-
selben Herrn Save, der im Besitze einer Sammlung von Pau?-
zeichnungen ist, die der verstorbene Bibliothekar Simon in
St. -Die in den dreissiger Jahren für seinen Gebrauch herge-
stellt hat. — Jollois scheint sie nicht selbst gesehen zu
haben, 3 doch hatte er offenbar wenigstens Kenntnis von ihrer
Existenz, da er sie ausd ruck lieh von der Sammlung A nntei-
scheidet. *
Ob sich unter diesen beiden Sammlungen die Original-
zeichnungen Alliots befinden, ist von hier aus schwer fest-
zustellen. Sollte dies der Fall sein, so wurden dies die der
Sammlung A sein, da B handgreifliche Fehler enthält, die nur
1 Schweighänser erwähnt sie als in Senones befindlich im M^m.
de la Sog. des Antiquaires 1836, S. II.
2 Journ. de la Soc. d'fimulation. N» VII, S. 20 Anm. 2.
8 Man vergl. unten: Basreliefs N** 14 u. 17,
^ Indem er von dieser, damals noch in St-Die befindlichen
Sammlung spricht, sagt er im M^m. snr les antiqnit^s du Donon.
S. 7, dass sie absolument semblable ä celle cit^e dans le memoire
de M. Gravier (im Journ de la Soc, d'fimulat. VII) sei.
— 19 —
von einem un[;eschickten Abzeichner herrühren können. Dafür
nur zsvei Beispiele : Der Aufriss der nördlichen Tempelwand
(s. u. unsei'e Abbildung Fig. 2) in A enthält u. a. die hand-
schriftliche Randbemerkung : G. Fenötre plus ä Toccident qu'ä
Torient und demgemäss richtig das Fenster auf der rechten
Seite. Auf der entsprechenden Zeichnung in B liest man die-
selbe Bemerkung ; trotzdem ist das Fenster ganz links ein-
gezeichnet. Ferner: In dem Grund riss des Gebäudes in A sind
handschrifllich die Langenmasse der Seiten eingetragen : die
Langseite mit den Fenstern 40' und die Giebelseite mit den
Thüren 31' ; die Zeichnung entspricht genau diesen Massen.
In B dieselben Angaben ; trotzdem ist auf der Zeichnung die
G i e h e 1 s e i t e um */« länger als die Langseite; auch
inbezug auf die Einzeichnung der Thüren stimmen Plan und
Aufriss nicht überein. ^
Eine dritte Sammlung besass Schöpilin in seiner
Bibliothek ; sie ging mit letzterer in den Besitz der Stadt
Strassburg über« und teilte mit ihr 1870 das gleiche Schicksal.
Auf diese Rotstiftzeichnungen des Abtes Hya-
cintbus Alliot gehen nun alle Reproduktionen der Do-
nondenkmäler in den Werken des 18. Jahrhunderts
zurück.
Es sind dies :
Dom Bernard de Montfaucon, religieux B^n^ictin de
)a Gongregalion de S. Maur, L'antiquit6 expliqu^e
JL T. 2« Partie, Paris 2« 6d. 17 22: PI. 186. 187. 188.
Dom [Jacques Martin], religieux B^n^dictin de la Con-
gr^alion de S. Maur, La religion des Gaulois. Paris
172 7, Tome I. PL 6 el 9.
Schöpfli'n, Alsatia illustrata. Colmar 1751,
Tome I. tal). II et III. Seh. sagt S. 452 u. ausdrücklich :
Hyacinthi Allioti^ in Mediano Vogesi Monasterio Abbatis, schedis
adjutus.
Dom Aug. Calmet, Abbe de Senones, Notice de la
Lorraine. Nancy 17 56, Tome I. PL i et 2-
Diese Zeichnungen haben alle denselben Typus und unter-
scheiden sich von einander nur durch mehr oder wenige!-
grosse Unvollkommenheit ; die in Calmets Notice de la Lorraine
sind die fehlerhaftesten.'
1 Man vergl auch unten die Bemerkung zu Inschrift Nr. 2 letzte
Anmerkung.
^ Schweighänser, a. a. 0.
3 Vergl. da» oben zu Sammlung B Gesagte. — Selbständige
Zeichnungen nach den Originalen fertigte Mitte des
— 20 —
Erst 1821 hat J.-B. P. Jollois im Verein mit X. F.
G r a V i e r im Auflra^^e der Commission pour ]a recherche des an-
tiquit^s du d^partement des Vosges in Epinal es unternommen, den
Donon von neuem grundlich auf seine Denkmäler hin zu unter-
suchen und genaue Zeichnungen nach den Originalsculpturen
zu geben, die damals noch zu einem Teile an Ort und Stelle
^aren, ^ wobei er gewissenhaft die Angaben der früheren Ge»
lehrten geprüft hat. Das Resultat seiner Untersuchungen legte
J[ollois am 7. November 1821 der genannten Kommission in
einem Memoire sur les antiquit^s du Donon vor, das in dem
Journal de la Soci^t^ d'£mulation des Vosges vol. II abgedruckt
ist.s Das Gleiche that Gravier. Nachdem ein Auszug aus
dessen Memoire mit einem a:Plan topographique de l'^tat da
Donon, lors du 1*^ voyage de Dom Alliot, en 1092» eben-
Torigen Jahrhunderts Dom Pelletier, Car6 de Senones, an, die
er seiner Abhandlang über den Donon beifügte (a. a. 0. S. 393);
ob dieselben sich erhalten und wo sie etwa aafbewahrt werden, ist
mir nicht gelangen festzastellen. Die Abhandlung : D^scription de
la principautS de Salm avec une Dissertation sur les monuments
de la raontagne de Framont, welche Pelletier handschriftlich mit
einem Begleitschreiben im Jahre 1755 an den Grafen von Salm-Salm,
in dessen Gebiet der Donon lag, richtete, enthält nicht Neues; sie
beruht im Wesentlichen auf den Arbeiten der früheren Gelehrten,
unter denen vor allen Schöpflin, dessen Alsatia wenige Jahre zuTor
erschienen war, za Rate gezogen ist. Erst 1856 wurde sie von
Ferry-Millon, der das Manuscript in dem Archive der Forstverwaltnng
von St-Di6 fand, in der Revue d'Alsace (18)6. S. 385-405) — aber
ohne die Zeichnungen — herausgegeben.
i H. Alliot (in seinem 3. Briefe, bei Jollois S. 132} zählte
1696 noch 21 Bilder (Petrus Alliot spricht von mehr als 30?;;
Schöpflin (Als. ill. I, 453} sah im Anfang des vorigen
Jahrhunderts nur noch 14 teils unversehrte, teils verstümmelte
Rehefs, von denen er die 9 besten abgebildet hat; Jollois (S. 137]
konnte bei seinen Nachforschungen 1821 noch 8 Fragmente kon-
statieren, von denen 2 bis dahin unbekannt waren. Heutzutage sind
alle bedeutenderen Skulpturen vom Donon verschwunden. Mancher
Altertumsfreuud, der, wie L. Levrault sich drastisch ausdrückt, über
einen Wagen mit einem Paar Ochsen verfügte, hat sich damit seine
Sammlung bereichert; andere wanderten in das Strassburger Museom,
wo sie mit den übrigen Schätzen der Bibliothek 1870 zu Grande
gingen. Sieben Reliefs und der Belliccus Surbur werden im Musenm
zu £pinal aufbewahrt. (Catalog Nr. 88—94 u. 167.) Nur geringe
Reste finden sich noch in dem modernen, im Jahre 1869 erbantoi
Tempel auf dem Donon hinter einem Eisengitter vereinigt. (S. Nachtr.)
^ Ein kurzer Bericht über seine Untersuchungen erschien im
Ännuaire du dipart. des Vosges 1822, p. 74.
— 21 —
daselbst vol. VII 1827 erschienen war, gab Jollois seine obige
Arbeit in einem Separatabdruck heraus (Epinal 1828 mit zwei
Bildern: 1. Der Donon von Raon-sur-Plaine aus. 2. Ansicht
des Donongipfels von der grossen Strasse im Westen aufge-
nommen, — und zwei Tafeln mit Abbildungen der Skulpturen).
— Diese Arbeit wurde dann abermals abgedruckt mit einigen
Erweiterungen in dem oben erwähnten Werke: Paris 1843,
S. 126—146 nebst PI, 31 — 36 und dazu gehörigen Erläuterungen
S. 186-193 :
PI. 31 : Ansicht des Donon von Raon-sur-Plaine. — Ansicht
des oberen Gipfels mit den Tempel ruinen.
PI. 32: Aufriss (Südseite) und topographischer Plan des
Dononplateaus.
PI. 33 : Felsen auf der Spitze mit dem Relief Belliccus
Surbur. — Gnmdriss des Tempels und Detailzeichnungen ein-
zelner Architekturstücke.
PI. 34: Von J. aufgefundene Basreliefs vom Donon.
PI. 35 und 36 : Reproduktion der oben genannten Rotstift-
zeichnungen (Sammlung A).
II. Uebersichtliche Zusammenstellungr der
•Donondenkmäler.
1. Die UmfASBiingBniaiier. — Die Gebäude und die Säule
(Votivaltäre) auf dem untern Plateau.
Von der Mauer, die nach Petrus Alliot i den obern
Teil des Donon auf drei Seiten einschloss und durch dicke
Turme verstärkt war und die auch auf dem Plan des Plateaus
unter den Rotstiftzeichnungeh' eingezeichnet ist, konnten
Jollois und Gravier trotz der Ausgrabungen, die an verschie-
denen Stellen zu diesem Zwecke veranstaltet wurden, keine
Reste mehr entdecken;» überall stiess man etwa V« "^ unter
der jetzigen Oberfläche unmittelbar auf den anstehenden Felsen.
Nur eine Art Terrasse von 3 — 4 m Breite war vorhanden, die
von Menschenhand eingeebnet zu sein schien ; ferner . be-
merkte man in gewissen Abständen ungeheure Felsblöcke, die
1 Siehe oben S. 12.
2 Bei Jollois PI. 3ö, 1 und bei Gravier im Journ. dela See.
d'£mQlat. VII. Nach letzterem hat Bavenez ihn in seiner Uebersetzung
von Schöpflins Als. ill. reproduziert fll. Bd. Fl. compl^m. Nr. 1,
S. 524.)
' Jollois, Antiq. des Vosges, S. 128.
_ 2"2
scheinbar eine Bearbeitung zeigten und die die Fundamente
jener viereckigen Turme gewesen sein könnten. * Auch Voulot*
will auf der Nordseite einen Wall aus Erde und Steinen ge-
funden haben. Doch sind alle diese Spuren zu unsicher, aU
dass man darauf weitere Folgerungen über den Zweck der
Mauer aufbauen könnte, wie das Gravier (a. a. 0..S. 27 f.]
thut, der ihr eine militärische Bedeutung abspricht und sie auf
religiöse Einrichtungen des Druidenkultes zurückfuhrt. 3
Auf dem Plateau des Donon, das 375 m lang und
80 — 100 m breit ist und an das sich im Osten der eigentliche
Gipfel anschliesst, der jenes um ca. 40 m überragt und seiner-
seits wieder eine Art Plattform aus Felsen, 100 — ^110 m lan^
und 20 — 25 m breit,* bildet, wurden von H. Alliot die Reste
dreier Gebäude entdeckt, ^ die auch Schöpflin und Calmel
in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts noch ge-
sehen haben. Doch scheint schon am Ende des 17. Jahrhunderts
nur eines derselben noch in ansehnlichen Resten vorhanden
gewesen zu sein, da Alliot die beiden andern nur kurz erwähnt,
ohne auf Einzelheiten einzugehen. Von diesem einen dag^en
sind unter den Rotstiftzeichnungen genaue Pläne (Grundriss,
Aufriss der Giebel- und Langseite nebst handschriftlichen
Notizen über die Dimensionen und die Beschaffenheit einzelner
Steine) vorhanden, die uns gestatten, uns ein vollkommenes Bild
davon zu machen. (Fig. 1—3.) Es liegt 120 m östlich von dem
westlichen Felsabsturz des Plateaus und bildet ein Rechteck, das
im Innern 37' lang und 28' breit« (Jollois S. 131 : 11 m X
7,6 m) war. Die Stärke der Mauern betrug nach Calmet (S. 471)
3 ' (Jollois 80 cm) ; doch nahm dieselbe nach oben zu etwas
ab. 7 Die Höhe bis zum Dach gibt Alliot auf 13 ' an, Ruinart
fügt hinzu, wie man aus den noch vorhandenen Steinen schliessen
konnte. An dem oberen Rand der Giebel mauern, die bis zur
Spitze noch um 9 ' 3 " höher als die Längsseiten waren, waren
i Gravier, Journ. de la See. d'fimulat, Nr. VII, S. 21 f.
2 Les Vosges avant Thist., S. 147.
5 Wenn aber nun gar Fachot (Bull, de la See. philomat. 1883— W,
S 133 f.) von einer Mauer spricht, die sich vom Donon bis vm
Odilienberg erstreckte, so ist diese Angabe ohne Zweifel in du
Reich der Phantasie zu verweisen.
* Masse nach Jollois S. 128.
^ Journ. des Sav. 1693, S. 25.
€ Gerechnet ist nach dem pied du roi = 0,325 m.
7 Handschriftliche Randbemerkungen zu den Rotstiftzeichnungen.
— 23 —
Fig. 1 : Westlicher Giebel.
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Fig. 2 ; Nördliche Langseite.
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aa
Fig. '6 : Grundriss des Tempels
nach den Rotstiftzeichnnngen bei Jollois.
Einschnitte zur Aufnahme der Dachbalken. Das Gebäude war
erbaut aus viereckig behauenen Steinen von rotem Vogesensand-
stein, wie man ihn auf dem Berge findet, 4 — 5 ' lang^ von
denen jeder einzelne die ganze Dicke der Mauer bildete. Sie
hingen so fest mit einander zusammen, dass man sie eher zer-
trümmern, als aus den Fugen reissen konnte, ^ weshalb man
1 Alliot a. a. 0 ; Ruinart S. 444.
— 24 —
nicht sehen konnte, oh sie mit Eisen oder Mörtel zusammen-
gefügt waren. Jollois konstatieile, was schon Calmet hemerkt
hatte, in fast allen Steinen Einschnitte, die zur Aufnahme von
eisernen oder hölzernen Zapfen oder Klammern dienten« so dass
nicht nur die Steine derselhen Lage^ sondern auch die der
verschiedenen Lagen ühereinander zusammen verbunden waren ;
von Mörtel war keine Spur zu entdecken. Den Sockel bildeten
die zwei untersten Schichten mit einem einfachen Gesims. lo
der östlichen und westlichen Giebelseile waren zwei Thüren,
aber nicht in der Mitte derselben, sondern mehr nach der nörd-
lichen Wand zu gelegen. Sie waren 4 ' 7 " hoch, und an der
Aussenseite 2', im Innern 2*|2' breit. Jollois fand an der
westlichen Thürschwelle in der Ecke eine Art Zapfenmutter
zur Aufnahnie des Thürzapfens. Ueber der einen Thür war
nach P. Alliot eine Inschrift angebracht, die aber zur Zeit
schon so verwittert war, dass man nichts mehr daran erkennen
konnte ; nur eine Verzierung, die A . mit einer liegenden Keule
vergleicht, war noch zu sehen. Auch Calmet spricht von In-
schriften in verzierten, von zwei Genien gehaltenen Einrahmungen,
die nach seiner Meinung über den Thüren angebracht waren, <
doch scheinen sie schon damals (Calmet sah die Steine in den
ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts) nicht mehr an
ihrem Platze gewesen zu sein. Wie soll man diese Angaben
mit einander vereinigen, da beide offenbar verschiedene Dinge
im Auge haben? Ob vielleicht Calmets Steine zu einem der
beiden andern Tempel gehörten?
Die . beiden Fenster in der südlichen und nördlichen
Langseite liegen ebenfalls nicht genau in der Mitte, sondern
mehr nach Westen zu ; sie waren 5 ' hoch und 4 ' breit. Da?
Gebäude war mit Ziegeln von römischer Arbeit ge-
deckt, deren Reste man noch in und um das Gebäude herum
aufgefunden hat. >
Im Innern des Gebäudes fand Jollois einen Säulen-
1 Eine Abbildung davon befindet sich in der Sammlang B der
Rotstiftzeichnangen ; s. unsere Abbildung fig. 7. Das N&here darüber
unten u. Inschriften Nr. 1 und 2. — H. Alliot und Ruinart er-
wähnen nichts von derartigen Verzierungen; auch auf der Rot-
stiftzeichnung des Aufrisses der Qiebelwand findet sich keine An-
deutung davon.
2 Ruinart S. 444. t- AUiot bei Mabillon, Les s^pult OuTr. postL
n. 45, erwähnt platte Ziegeln, 10'' breit, 1" dick mit einem Vy
^and. — Auch Jollois S. 132 f. fand eine sehr gut erhaltene Flach-
ziegel mit Rand : 38 cm lang, 30—32 cm breit ; ebenso Stücke einer
Rundziegel.
— 25 —
Schaft von 0,50 m. Durchmesser und 0,40 m. Höhe; auf
der oberen und unteren Fläche waren in der Mitte Löcher
eingemeisselt zur Aufnahme hölzerner oder eiserner Zapfen, die
die einzelnen Säulentrommeln mit einander verbanden. Ob
Säulen das Innere des Gebäudes geschmückt, glaubt J. auf
Grund dieses einzigen Fundstückes nicht als sicher hinstellen
zu können. Ausserdem fanden sich innerhalb der Mauern Frag-
mente von Gefässen aus sehr feinem roten Thon. Schon
Alliot hatte ausser Ziegelbruchstücken und Kohlen ^ hier mehrere
Scherben von Urnen aufgedeckt. *
Von diesem Gebäude^ von dem zu der Zeit, als H. Alliot den
Donon besuchte, mindestens noch die Nord- und Westseite
ziemUch vollständig erhalten gewesen sein müssen (vergl. die
Rotstiflzeichnungen), sah Dom Calmet ums Jahr 1710 die
Mauern noch in einer Höhe von 4 — 5 Fuss. ' Seitdem ist das
Gebäude zertrümmert,^ indem man die meisten Steine nach
Framont hinabgeschafft und mit ihnen die Wasserbehälter für
die Eisenwerke daselbst gebaut hat. & Jollois fand im Jahr 1821
nur noch eine einzige Steinlage über dem Boden. ^ Heutigen
1 Journ. des Sav. 1693, S. 75.
2 Alliot bei Jollois S. 132.
s Notice de la Lorr. S. 471.
^ Scböpflin, Als. ill. I, 453: Templum, quod modo descripsi,
plane destractam est.
^ Nach einer Anmerkung von Matter zu Ruinarts Yoyage liit^-
raire im Jonmal de la Sog. des sciences etc. dn d6p. dn Bas-Rhin
III, 1826, S. Iö2 ist es im Jahr 1732 geschehen. — Eine sehr
charakteristische Mitteilung Schweighäusers über dieses —
um es milde auszudrücken — geringe Verständnis für die Denk-
mäler der ältesten Vergangenheit des Landes in früheren Zeiten,
findet sich im Kunst-Blatt 1823, S. 322 : «... Ja, um die über diese
Barbarei (nämlich eben die Verwendung jener Steine zu dem ange-
gebenen Zwecke) laut werdende allgemeine Unzufriedenheit durch
einen neuen Vandalismus zu beschwichtigen, wurden kurz dietrauf
Ton den damaligen Besitzern jener Behälter noch einige dieser
Steine, welche durch ihre nach aussen gekehrten Schriften oder
Bildwerke die Aufmerksamkeit fortdauernd an sich zogen, heraus-
genommen und verkehrt wieder eingemauert, so dass sie seitdem
auch mit dem besten Willen der auf die Zerstörer gefolgten Eigen-
tümer dieser Eisenwerke nur sehr schwer hätten gefunden werden
können oder es noch werden könnten, was jedoch noch immer sehr
wünschenswert und nicht ohne Hoffnung bleibt.» Vielleicht nimmt
einmal die Gesellschaft ftLr Erhaltung der histor. Denkmäler Gelegen-
heit, die Sache an Ort und Stelle untersuchen zu lassen.
^ Siehe die Abbildung PI. 31, 2 und den Grnndriss PI. 33.
— 26 —
Tages ist auch diese verschwunden, und nur noch die Funda-
mente sind sichtbar.
In einiger Entfernung östlich davon traf Alliot die Ruinen
eines zweiten Gebäudes^ und von diesem wiederum
weiter nach Osten die Reste eines dritten Gebäudes.*
Dem zweiten Gebäude gegenüber, gegen Norden, lag ein
Brunnen, der aber im Laufe der Zeit verschüttet ist (Rui-
nart). Der Brunnen oder die Gisterne ist heutigen Tages noch
in dem gleichen Zustand wie damals. ' — Nähere Angaben
über die BeschalTenheit dieser beiden Gebäude werden von
keinem der Gelehrten, die dieselben noch gesehen haben (ausser
Alliot und Ruinart noch Calmet und Schöpflin), gemacht ; sie
liegnügen sich mit allgemeinen Ausdrücken, wie : ein ähnliches,
ein jenem ersten ganz ähnliches Gebäude. Es scheint, als
ob diese beiden Gebäude schon damals in einem Zustande
ziemlichen Verfalls sich befunden. Jollois (S. 134) konnte trotz
eifriger Nachforschungen und Nachgrabungen an den sich aus
den Beschreibungen und dem Plan der Rotstiftzeichnungen er-
gebenden Punkten keine Spuren derselben mehr entdecken;
nur Trümmer bearbeiteter Steine, die da und dort am Boden
lagen, besonders nach dem obersten Berggipfel zu, waren xu
sehen. Darunter ist bemerkenswert ein 4,92 m langer, 0,60 m
breiter und 0,50 m dicker Stein mit vier parallelen, halb-
kreisförmigen bandartigen Verzierungen, die vermutlich den
^ Bei Calmet S. 473 ist die Lage der beiden Gebäade fälschlich
im Westen des ersten angegeben. -— Inbezag aaf die Angaben der
Entfernung herrscht bei den Gelehrten, die die Gebäude noch gesehen
haben, keine Uebereinstimmung : Nach Alliot im Journ. des Sav. 1693
betrug sie 20' ; bei Mabillon p. 45, 25'; ebenso bei Calmet, S. 473,
bis zur B'undstätte der Säulenfragmente und von da weitere 25' bis
zum zweiten Tempel ; Ruinart, Iter lit. p. 444, gibt 25 Schritte
und 25 Fuss; ebenso nach ihm Schöpflin.
3 Alliot (Journ. des Sav.) : «200 Schritte von dem zweit en>; den.
bei Mabillon p. 46 und Calmet a. a. 0. : «und etwas weiter entfernt
ein drittes» ; Ruinart und Schöpflin : «und in gleichem Abstand (wie
das zweite vom ersten) noch ein gleichartiges drittes.» — Die Ent-
fernungen sind wohl nur annähernd geschätzt, nicht genau gemessen.
3 Ueber diesen Brunnen sagt etwas geheimnisvoll F. Voulot
(Revue arch. 1876, 32. Bd., S. 47) : «Au sommet du Donon loi-mlme,
un puits, sans doute fun^raire (car il est assez pr^s d^un poits
d'eau), a utie forme absolument itteonnue. La partie sup^rieure, taill^e
en entonnoir, se termine ä la base par nne ouverture en crotMCwt,
donnant acc4s dans la partie inf^rieure. II n^est connu que de moi
et d'un ami discret, et ne sera fouill^ que dans des conditions dont
nous serons les seuls juges.»
— er-
oberen Abschluss einer Fensteröffnung bildeten (PI. 33, 5 und 6).
Schon AUiot hatte ihn bemerkt und ihn unter die Rotstift-
zeichnungen autgenommen. ^ Nach der Fundstatte zu 8chliessen>
könnte er zum dritten Gebäude gehört haben.
In geringer Entfernung 2 von dem ersten Gebäude gegen
Nordosten fand H. AHiot die Stücke einer Säule, die nach
seiner Annahme aus drei atrfMnandevgesetzten Säulen, jede mit
Basis und Kapital, bestand und zusammen 39 Fuss hoch war. ^
Eine Abbildung unter den Rotstiftzeichnungen nebst beigefügten
Randbemerkungen veranschaulicht uns dieses Säulenmonstrum :
die unterste hatte 2' 4", die Basis 3', das Kapital 3' im Durch-
messer ; die mittlere 2' 2"y die Basis 3', das Kapital 2' 6'' im
Durchmesser; die oberste 2' 2"^ das Kapital i' 3" im Durch-
messer ; Basis fehlte dieser. Die Säule war vierkantig,
wie Ruinart u. A. das ausdrücklich bestätigen,^ während es die
Zeichnung zweifelhaft lässt. Die Höhe von 39 Fuss ist bereits
von Alliot bei Mabillon S. 45 auf 29 Fuss ermässigt, eine An-
gabe, die auch Ruinart und Schöpfiin haben. Auf dieser
Kolossalsäule soll sich dann nach Alliots und Ruinarts Ansicht
eine Bildsäule erhoben haben, von der sie freilich trotz der
eifrigsten Nachforschungen nichts auffanden.
Ueber die Bestimmung dieser Säule hat sich
H. Alliot in seinem dritten Briefe an seinen Bruder^ ausge-
lassen. Er hält sie für ein vornehmes Grabdenkmal und glaubt
diese seine Ansicht bestätigt zu sehen durch Bruchstücke dreier
Urnen, die er an der Stelle ausgegraben, wo, wie er glaubte,
die Basis der Säule stand. ^
In dem an Mabillon geschickten Bericht (S. 45) erwähnt
er dann noch mehrere auf der Säule eingegrabene Buchstaben ;
«auf einem der Steine liest man folgende Inschrift, welche
beweist, dass sie für einen vornehmen Römer bestimmt war» :
I. 0. M.
G. LVCVLLVS
LEPIDINVS
V. S. L. M.
> Bei JoUois PI. 3d, 6; vergl. auch Schweighäaser, Kunstblatt
1823, S. 328 o. — Noch 1831 sah ihn Berge, (Annales de la Soc.
d'fmalai I. 3. Heft 1833, S. 139 f.) an Ort und Stelle.
2 Ueber die von einander abweichenden Angaben der Fjntfernang
siebe oben S. 26 Anm. 1.
3 Jonm. des Sav. 1693, S. 7d.
« Iter lit. S. 4M., Schöpfiin 8. 452 u. Pelletier S. 393.
& Bei Jollois S. 132.
^ Näheres siehe oben S. 10.
— 28 —
Ruinart, der sich über den Zweck der Säule nicht näher
auslässt, sagt nur, dass auf der untersten Basis Inschriften
eingemeisselt waren, wie man' aus den sehr abgeschliffenen
Buchstaben entnehmen konnte; doch gelang es ihm und seinen
Begleitern nicht, mehr herauszubringen als das, was vor ihm
schon Ordensbrüder entziffert hatten. ^
Der erste, der eine richtige Ahnung von dieser Säule hatte,
war Dom Calmet. Er sagt S. 473 : «Man sieht auch, oder
vielmehr man sah vor 40 — 45 Jahren (d. i. ca. 1710) vier-
kantige Steine, die höher als breit sind und welche, wie ich
glaube, Votivaltäre mit lateinischen Inschriften versehen
waren. « Diese Altäre waren etwa 4 — 5 Fuss hoch. Die am
besten erhaltene Inschrift lautete : I. 0. M. C. LVCVLLVS»
etc. wie oben. Letzterer Zusatz lässt keinen Zweifel an der
Identität mit jener von Alliot bei Mabillon erwähnten Säule. *
Schöpflin (S. 452) suchte die Inschrift bereits vergeblich. Nach
Matter (oder Schweighäuser ?)* hätte jede Basis der drei Altare
eine Inschrift getragen, von denen aber nur eine — die oben
angeführte — lesbar war, während die beiden andern viel mehr
verstümmelt waren ; doch konnte man gleichfalls die Buch-
staben I. 0. M. erkennen, ä woraus man auf einen gleichen
Zweck derselben schliessen kann.
1 Irriger Weise glaubt Schöpflin, dass Rainart diese Inschrift
mitgeteilt habe. Siehe S. 452 Anm. [h], womit zu yergl. S. 473,
Anm. [h].
* So anch Pelletier a. a. 0. S. 393, der sie aber um 1755 nicht
mehr an Ort und Stelle finden konnte.
3 JoUois hat offenbar nicht gemerkt, dass diese von Calmet er-
wähnten Votivaltäre gleich sind jenen drei aufeinander gesetzten
Säulen des Alliot. Die von ihm citierte Inschrift: Jovi Opt. Max. a
C. Lucullo Lepidino dedicata, aus Schöpflin S. 452 entnommen, ist
von diesem nur inhaltlich, nicht wörtlich angeführt. An der von
ihm (Jolloisl citierten Stelle bei Mabillon II, p. 46, steht sie dem
Wortlaut nach, ebenso bei Schöpflin S. 473. — Jolloin fand noch
einzelne der zu diesen oder ähnlichen Altären gehörige Steine am
Boden, nicht aber die Inschrift, glaubte aber, dass sie als Pfeiler
zu einem jener drei Gebäude gehört haben (S. \'M). Es ist sehr
wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass das von ihm PI. Xi, Fig. 2,
8 und 4 abgebildete Kapital einem dieser Altäre angehört hat.
(Langseite desselben 0,94 m, bei Alliot: 3 pieds du roi.)
* Anm. zu Ruinaii, Voyage litt^r. im Journ. de la Soc. des
Eciences du Bas-Rhin III, 1826, S. 149.
ö Woher diese Notiz ?
— 29 —
Neuerdings hat Zangemeister^ unter Hinweis auf die
Jupiter- oder Gigantensaulen von Merten, Heddemheim, Schier-
stein und Trier versucht, die frühere Ansicht von einer
einzigen Säule, wie sie Alliot und Ruinart vorschwebte,
wieder zur Geltung zu bringen, ohne indessen stichhaltige
Grunde dafür vorzubringen. *
Was nun endlich die Bestimmung jener drei Ge-
bäude anlangt, so sind die Ansichten darüber sehr aus-,
einander gegangen.
In seinem ersten ausführlichen Bericht an seinen Bruder >
lässt Hyacinthus Alliot es dahin gestellt, ob man sie als
Grabmäler der ersten Frankenherzöge oder als
Wohnungen der Druiden ansehen soll. Zu der ersteren
Ansicht führt ihn seine Etymologie von Framont = Mont des
Francs, die er in der deutschen Bezeichnung Frankenberg be-
stätigt findet,^ zu der zweiten die zahlreichen Funde von Mer-
curbildern, die darauf schliessen Hessen, dass der Donon den
umwohnenden Galliern eine Gultusstätte dieses ihres höchsten
Gottes gewesen sei. Diese Vermutungen hat Alliot, nachdem
er genauere Untersuchungen, besonders Ausgrabungen inner-
halb und ausserhalb des ersten Gebäudes veranstaltet hat, zum
Teil wieder aufgegeben.^ Da er nämlich in dem Gebäude Reste
mehrerer Urnen, andere ausserhalb desselben, darunter Frag-
mente von drei verschiedenen Urnen bei der Säule, aufgefunden,
nimmt er an, dass das ganze Plateau als Begräbnisplatz ge-
dient habe und dass jene drei Gebäude^ speziell Grabstätten in
der Zeit des Heidentums gewesen seien.
Mabillon, der, wie erwähnt, in seinen Discours sur les
anciennes sepultures de nos Rois' eine ihm von H. Alliot ge-
schickte Beschreibung dieser Gebäude und der andern Donon-
denkmäler eingeflochten hat, schreibt: «Es ist schwer zu glauben,
dass diese Gebäude zu einem andern Zwecke als zu Tempeln
1 Im Korrespondenzblatt der westdeutsch. Zeitschr. far Qesch.
xmd Kanst 1890, Nr. 8. (Ang )
* Vergl. meine Entgegnung ebendas. 1891, Nr. 1 (Jan.).
3 Joum. des Sav. 1693, S. 78 f.
* Vergl. oben S. 3.
6 3. Brief an seinen Bruder vom 14. Sept. 1696 bei Jollois
S. 132 f. Anm. S. oben S. 10.
^ Funde scheint er nur in dem ersten gemacht zu haben; in
betreff der beiden andern erwähnt er nichts.
7 Ouvr. posth. IL S. 46. — Aus ihm wörtlich entlehnt ist
die Beschreibung Dom Martins, La Religion des Gaulois. I. S. 338 ff.
— 3() —
oder Wohnungen der Priester erbaut seien. E& scheint
auch, dass die Heiden an diesem Oriei ihre Grabstätten
hatten. 9 £s ist leider nicht festzustellen, ob M. hier nur Alliols
Ansicht wiederg-ibt, oder ob er nicht vielleicht — was wahr-
scheinlicher ist — seine eigene mit der seines Gewährsmannes
vermischt, so dass er uns die Auswahl zwischen Tempel —
Druiden Wohnungen — Grabslatten lässt.
Ruinart,^ der es ablehnt, auf die Zeit und die Nation
einzugehen, der jene Donondenkmäler angehören , und der in-
bezug auf diese Frage ausdrücklich auf Alliots Berichte ver-
weist, sagt von dem ersten Gebäude : (cdass jenes Gebäude
einst bewohnt gewesen ist, geht mit Sicherheit henor
aus den Resten von Kohlen und Ziegeln, die man im Innern,
wenn man nur ein wenig die £rde wegschalTt, in ziemlicher
Menge antrifft.»
Schöpflin' scheint es als selbstverständlich zu beti-achteii,
dass das zu seiner Zeit (d. h. im Anfang des vorigen Jahr-
hunderts, dagegen nicht mehr, als er sein Greschichtswerk
schrieb) noch ziemlich erhaltene Gebäude ein Tempel war.
Dann heisst es weiter : «Der Tempel, der auf dem untern Plateau
der Berges* lag, war, wie die im vorigen (17.) Jahrhundert
noch vorhandenen Inschriften, von denen eine von Jupiter, eine
andere von Mercur spricht, zu beweisen scheinen, dem
Jupiter und dem Mercur geweiht.» Diese Angaben
Schöpflins sind ungenau : jene auf Jupiter bezügliche Inschritt
oder vielmehr Inschriften (s. oben S. 28) befanden sich auf
der Basis der 3 Altäre, von denen es doch sehr zweifelhaft ist,
ob sie zu dem Tempel gehörten. Dagegen wai^en wahrscheinlich
— aber auch diese Angabe ist, wie wir sahen, keineswegs
sicher — über den Thüren des Tempels Inschriften angebracht,
die, wenngleich verstümmelt, doch den Namen des Mercur
sicher erkennen Hessen. Schöpflin sah sie freilich nicht mehr,
wohl aber Calmet, der sie uns überliefert hat. » Und dass jenes
Gebäude ein römischer Tempel war, glaubt letzterer wohl
mit vollem Recht aus seiner rechteckigen Grundfläche, seinen
1 £n ce lieu-Iä: in den Gebäuden oder in ihrer nächsten Um-
gebung?
8 Her lit. S. 444, 446.
a Als. ill. I. 453.
* Schöpflin glaubt, dass auch auf dem obersten Gipfel ein
Mercurtempel gestanden habe
^ Notice de la Lorraine I. S. 473; das Nähere über diese In*
Schriften s. unten S. 71 ; vergl. auch oben S. 24.
— 31 —
Dimensionen und jener lateinischen Weiheinschrifi entnehmen
zu können. Demgegenüber kann die Meinung Grandidiers,i
dass diese Gebäude römischen Soldaten, die hier den Uebergang
aus Elsass nach Lothringen schützten, als Wohnslätten gedient,
keinen Anspruch auf ernstliche Widerlegung maclien.
Von den Inschriften fand Jollois keine Spur mehr; in-
bezug auf die Bestimmung der Gebäude spricht er keine be-
stimmte Meinung aus, sondern ist nur der — natürlich richtigen
— Ansicht, dass, wenn es ein Tempel war, dieser jedenfalls
in der Zeit nach dem Eindringen der Römer in Gallien erbaut
wurde.
2. Die Reliefbilder auf dem Gipfel.
Von einem Tempel, der nach der Ansicht einiger Ge-
lehrten, u. a. Schöpflin ' und Schweighäuser» auf dem
obersten Gipfel des Donon gestanden haben soll, konnte
Jollois (S. 135) nicht die geringste Spur entdecken.
Die Oberfläche des Felsens, der die Spitze des Berges bildet
und der die Grundfläche des Tempels hätte bilden müssen, ist
ganz uneben; nirgends Spuren der Bearbeitung. Es ist deshalb
wenig wahrscheinlich, dass jemals hier oben ein Tempel
gestanden.
A. Relief mit Inschrift Belliccus Surbur.
Dieses vielberufene Relief war in den anstehenden Felsen
des obersten Gipfels, und zwar in einer Einbuchtung desselben
auf der Südseite, * eingemeisselt ; die Länge desselben be-
trägt 80 cm. Hie Höhe 45 cm. Jollois sah es 18'21 noch an
seinem Platze, ebenso Schweighäuser 1823» und Berge« im
Jahre 1831 ; bald darauf scheint es aber von den Felsen los-
gelöst und nach Epinal geschafTl worden zu sein, 7 wo es in
der Hofmauer des Musee döpartemental eingemauert ist. (Catalog
No. 167.) Alle Abbildungen dieses Denkmals aus früheren
' Uistoire de TAlsace p. 99.
2 Als. ill. I. 452.
3 Kunstblatt 1823, S. 328.
* Vergl. die Abbildung PI. 33, 1 und den Plan PI. 32 bei Jollois.
5 Kunstblatt 1823, S. 328.
« Annales de la See. d'fimulation. Tome I, 3' cah. 1833 p. 140.
7 Nach Jollois 1843 S. 126 Anm. 1 ist es bereits in Epinal.
— 32 —
Zeiten gehen auf die Rotstiftzeichnung AUiots zurück, ^ die
F. Dinago in der Grösse der im Archiv zu St-Di^ aufbewahrteo
Originalzeichnung reproduziert hat. > Jollois fertigte eine neue
Zeichnung nach dem noch an Ort und Stelle beGndlichen Original
an (PI. 34, 1). Da dieses aber sehr hoch angebracht war, was eine
genaue Untersuchung der ziemlich verwitterten Formen sehr
erschwerte, so darf auch seine, dazu in sehr kleinem Massstabe
gehaltene Abbildung keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit
machen, wenn sie auch einige der gröbsten Ungenauigkeiten in
den früheren Reproduktionen beseitigt hat. Neuerdings bal
nun G. Save in St-Die wiederholt (1869 und 1877) das Original
in Epinal untersucht und Zeichnungen davon angefertigt, von
denen eine in ziemlich grossem Massstabe im Bulletin de la
Soc. philomat. Vosgienne 1877 veröffentlicht ist. Leider stellt
auch seine jetzige Aufstellung der genaueren Betrachtung grosse
Schwierigkeiten in den Weg.s Musste man nach den älteren
Darstellungen zugestehen, dass wir eine recht unvollkommene
Arbeit vor uns haben, die zwar mit den übrigen bildlichen
Denkmälern des Donon im Einklang, mit den schönen Schrift-
Zügen, die unter demselben stehen, aber im Widerspruch steht,
so finden wir in Saves Darstellung — vorausgesetzt natürlich,
dass sie wirklich dem Original entspricht — diesen Wider-
spruch gelöst : Die Körper formen der beiden Tiere zeigen ebenso
wie die Inschrift künstlerische Vollendung.
Was nun diese beiden Tiere betrifft, so bestand unter den
früheren Forschern über das rechts vom Beschauer stehende
kein Zweifel: alle sahen in ihm einen Eber,^ in ruhigern
^ Bei Jollois PI. 3d, 11. — Ich verweise inbezag auf die vor-
handenen Abbildangen dieses und der weiter unten za besprechenden
Denkmäler auf die S. 40 f. beigefügte tabellarische Uebersicht.
2 Ball, de la Soc. philomat. 1876. S. 205.
3 £& ist unter sehr angünstigen Beleachtangsverhältnissen in der
Höhe des ersten Stockwerkes in der Hofmauer eingelassen. (G. Save
a. a. 0. S. 49). Dies wohl auch der Grand, weshalb keine Photographie
davon existiert, wie ich auf Anfrage in Epinal erfahren habe. Es wäre
dringend za wünschen, wenn die hiesige Gesellschaft für Erhaltung
der histor. Denkmäler, in deren jetzigem Gebiet dieses interessante
Denkmal sich einst befanden, Veranlassung nähme, einen Gypsabgoss
anfertigen za lassen; erst dann wird man eine sichere Unterlage
gewinnen, auf der man an die Lösang der mannigfachen Fragen
herantreten kann, die ans dieses rätselhafte Denkmal trotz allen
Scharfsinnes, der auf seine Den tun g verwendet worden ist, noch
immer bietet.
* Nnr de Montfaucon nennt es an animal qai n'est pas recon-
naissable. (L'antiquite expliqa^e II, 2 1722, S. 417.)
— 33 —
Hallun«,^ d<?'' ©«^if*^» einen Felsen gedränj^t zu sein scheint.
Bemerkenswerl ist auf den älteren Zeichnungen die Form des
männlichen Gliedes, das dem des Menschen nachgebildet scheint.
Dieser Ansicht trat G. Save entgegen, der dieses Tier auf das
Bestimmteste als einen Stier erkennen will, der mit ge-
senktem Kopf und vorgestreckten Hörnern auf seinen Gegner
losgeht. 1 Inbezug auf das links stehende Tier bestand schon
unter den älteren Gelehrten keine Uebereinstimmung. Während
es H. Aliiot und Ruinart, dann de Montfaucon, und neuerdings
Jollois u. A. für einen Löwen ansehen, weist Schöpflin diese
Meinung energisch zurück und glaubt sicher in ihm einen
Hund zu erkennen ; ihm sind Galmet, Pelletier und Grandidier
gefolgt ; doch haben alle vier offenbar Unrecht. Der Löwe geht
mit geöffnetem Rachen und vorgestreckter Zunge (was Schöpflin
bestreitet) auf den Gegner los ; im übrigen scheint seine ruhige
Haltung mit diesem Ausdruck dtr Wut im W^iderspruch zu
stehen. Scböpflins Zweifel an diesem Ausdruck ßnden ihre
Bestätigung in G. Saves Abbildung. Save stellt ebenfalls einen
prächtigen Löwen dar, der aber in ruhiger Haltung, den Rachen
geschlossen, seinen Gegner erwartet; die vorgestreckte Zunge
desselben auf den Zeichnungen der älteren Zeit erklärt er für
moderne Vertiefungen im Stein, die bei ungünstiger Beleuchtung
die früheren Zeichner getäuscht haben.
Die Inschrift lautet BELLICcVS SVRBUR.
Das erste Wort derselben, unter dem Löwen stehend, ist trotz
des doppelten G* ohne Zweifel lateinisch. Dunkler ist das zweite :
Surbur, das man allgemein für keltisch hält. » Beide Wörter
sind durch einen wagrechten Strich von einander getrennt. *
Was nun die Deutung dieses Denkmals betrifft,
so sind die meisten Erklärer darin einig, dass wir es mit
einer symbolischen Darstellung zu thun haben.
Nur Dom Galmet (S. 486) sieht darin einfach die Jagd
eines Hundes gegen einen Eber. Das Wort Belliccus
ist lateinisch und kann einen Krieger bezeichnen ; Surbur ist
deutsch und bezeichnet «schneidig, kühn» (aigre, fier). Das
1 Schon Chevignard, der das Relief fär die Histoire de France
d'apres les monaments par Bordier et Charten 2 vols. Paris 1859—60
zeichnete, hatte es als einen Stier erkannt.
^ Das zweite ist etwas, aber nicht, wie auf der Rotstift-
zeichnang and ihren Kopieen, fast am die Hälfte kleiner als das erste.
^ Das Nähere über diese Inschrift s. anten S. 35.
* Nach Jollois nnd Save ,* die Rotstiftzeichnnngen haben ein
besonderes Zeichen^ )(, woraus Rainart ein H gemacht hat.
3
— :u —
Denkmal ist ein'femeisselt zum Andenken an eine Ja(^d, auf
der ein Herr der Familie Surbur einen Eber in den Wäldern
des Donon erlegt hat. So Galmet. ^ — Auch Grandidiei
(S. 101) sieht hier nur eine Jagdtrophäe, die ein Gallier seinem
Hunde Belliccus errichtet, der in den Wäldern des Donon
einen Eber überwältigt hat; Surbur ist der keltische Name für
dieses Tier.
R u i n a r t und de Montfaucon begnügen sich mit der
Beschreibung des Reiiet's (Kampf eines Löwen gegen einen
Eber), ohne auf die Bedeutung desselben einzugehen. Dagegen
hatte schon H. Alliot^ die V^ermutung ausgesprochen, das^
die Römer dieses Bild als ein Siegesdenkmal errichtet haben
könnten : Der Löwe bezeichne die nach Gallien eindringenden
Römer, der Eber die Einwohner des Landes, die sich auf dem
Donon verschanzt haben. Belliccus sei das Beiwort des Löwen,
um den Mut der Angreifer, Surbur das des Ebers, um den
W'iderstand der einheimischen Gallier zu bezeichnen, die ihre
befestigte Stellung verteidigten. Auch die Inschrift weise auf
römischen Ursprung.
Ausführlicher behandelt Schöpft in^ dieses Reliefbild,
der, wie schon erwähnt, in dem linken Tier einen Hund sieht.
Er hält es für ein religiöses, dem Mercur ge-
weihtes Denkmal, auf dessen Cultus fast alle auf dem
Donon gefundenen Denkmäler hinzuweisen scheinen. Indem er
dann untersucht, in welchen Beziehungen die beiden Tiere auf
demselben in der Mythologie der Römer, Germanen und Gallier
zu Mercur stehen, erinnert er daran, dass bei den Römern im
Monat Mai dem Mercur und seiner Mutter Maja ein Schwein
geopfert wurde. Bei den nordgermanischen Völkerschaflen war
der Eber das Symbol des Gottes, den sie Odin nannten; der
dem Odin heilige Eber hiess Serimner. Diese Gotterlebre
könnten die Tribocer aus Germanien in das von Mediomatricera
bewohnte Elsass gebracht haben. Odin aber war Wodan, den
römische Schriftsteller mit dem Mercur der Römer vergleichen.
Die Gallier endlich hielten den Eber für heilig; die Wild-
schweine wurden nach Strabo von ihnen gefuttert, so dass .<if
im ganzen Lande auf den Feldern umherstreiften und getahr-
licher als die Wölfe waren. Auf gallischen Münzen kommt der
Eber oft vor ; eherne Bilder eines Ebers sind in den Voge;?eD
1 Vergl. damit Schilters Ansicht, der diese «Familie Sarbur»
erfunden hat ; s. unten S. 35.
2 Journ. des Sav. 1693, S. 78, s. oben S. 9.
3 Als. ill. I, p. 462, 455 ff.
— a-i —
mehrere gefunden worden. Auch der Hund war nach
Plutarch ein Symbol des Mercur, der selbst bisweilen mit einem
Hundegesicht abgebildet und von Vielen für den Anubis der
Aegyptier gehalten wurde. Aus diesen Erwägungen, die freilich
vielfache Bedenken erregen, glaubt Schöpflin, dass der Eber und
der Hund unseres Denkmales eine religiöse Beziehung habe,
mag man dieselbe entweder aus der Religion der Gallier oder
der Germanen oder der Römer, die später unter jenen wohnten,
oder auch aus einer aus diesen drei gemischten Mythologie
herleiten.
Was nun die Unterschrift B e 1 1 i c c u s (orthographische
Verschiedenheit für Bellicus) betrifft, so sieht Schöpflin in diesem
Wort ein passendes Epitheton für Hunde, «die Unbekannten
gern den Krieg ansagen]». Auch eine römische Gens führte
diesen Namen. Surbur dagegen scheint nicht lateinisch zu
sein. Schöpflin hält es für ein kelto-mediomatrisches W^ort, das
aus sur — bur zusammengesetzt ist ; sur=: deutsch Sau, griech. (i:; ;
bur, bar, her = ferns ; also Surbur = sus ferus (= silvestris). i
Schöpflin nim(nt an, dass der Fels, in dem dieses Bild mit dem
Hund und dem Eber eingemeisselt gewesen, die Wand eines
Mercurheiligtums gebildet habe, dass von einem vornehmen
Manne jener Gegend — vielleicht einem von denen, deren
Bildnis selbst auf einem der weiter unten zu erwähnenden
Reliefs dargestellt war — geweiht worden sei.
Eine eigentümliche Ansicht hat Schilter^ aufgestellt.
Er glaubt, dass die Inschrift unter dem Bilde nicht auf die
beiden Tiere, sondern auf einen vornehmen, den Römern er-
gebenen Mann zu beziehen sei, einen Mann, dessen Name sich
in dem elsässischen Orte Surburg erhalten und dem wegen
seiner kriegerischen Eigenschaften von den Römern der Ehren-
titel Bellicus beigelegt worden sei. Ihm zu Ehren sei das
Dnkmal errichtet. Diese Meinung Schilters weist Schöpflin
durch den einfachen Hinweis auf die Etymologie von Surburg
(«Burg oder Feste an der Sauer») zurück.» Fügen wir noch j
hinzu, dass die Verbindung von Bellicus mit Surbur schon \
1 Dagegen wendet schon Matter (a. a. 0. S. 150 Anm.) ein, dass
wenn Snrbat der keltische Name für Eber sei, man es eigentümlich
finden müsse, dass unter dem Löwen ein latein. Wort stehe, das
noch nicht einmal der eigentliche Name des Löwen sei.
- In einer handschriftlichen Abhandlnng über die Donondenk-
mäler bei Schöpflin, S. 457.
» Nicht unerwähnt soll übrigens bleiben, dass sich auf einei
Urne im Zürcher Museom der Töpfername SVRBVRO (nominat.
findet. fMommsen, Inscript. Helvet. 85:^, Nr 198;.
— 36 —
wegen des Trennungsstriches zwischen den beiden Namen un-
möglich erscheint.
N.-F. Gravier 1 sieht in dem Löwen die Römer, in dem
Eber die Gallier symbolisiert, eine Vermutung, die, wie wir
sahen, schon Alliot ausgesprochen. Der Löwe, vor dem Ein-
dringen der Römer nach Gallien den Bewohnern dieses Landes
unbekannt, ist das Sinnbild der Stärke und des Mutes ; die
Inschrift ßelliccus druckt die feindliche Stellung des Löwen
dem Eber gegenüber aus. Letzterer war das dem Mercur,
einer der Haupfgottheiten der Gallier, heilige Tier, wie schon
Schöpflin ausgeführt hat; es bezeichnet auf unserm Denkmal
speziell ihre Priester : die Druiden. Der Phallus soll sein de
Symbol de la f§condit^ des gens du nordi». Das Bild drückt nun
nach Gravier's Meinunj^^ ge wisser massen einen moralischen
Triumph, den Sieg, den die Zivilisation über die Barbarei
davongetragen, aus : nämlich die Abschaffung der Menschen-
opfer, die durch den Kaiser Claudius befohlen, von den an den
Ufern des Rheins stehenden römischen Legionen vollstreckt
wurde, und damit in Zusammenhang stehend, t^ie Vertreibung '
der Druiden aus diesen dichten Wäldern, in die sie sich ge-
flüchtet hatten. Die grobe Ausführung — die freilich zweifelhaft ist,
vergl. oben S. 3t^ — dieses demnach aus guter Zeit stammenden
Bildes erklärt Gravier so, dass er es einem jener Legions-
soldaten als dem Verfertiger zuschreibt ; nur ein solcher konnte
auf den Gedanken kommen, hier in dieser abgelegenen Gegend
ein derartiges Denkmal zu errichten.
Jollois« stimmt Gravier insoweit bei, als auch er in
unserm Denkmal eine Anspielung auf das Eindringen der Römer
in Gallien sieht, ohne ihm indessen in seinen weiteren Aus-
führungen zu folgen.
Ich muss gestehen, dass mir diese Deutung jenes Denk-
mals, ohne über allen Zweifel erhaben zu sein, doch recht an-
sprechend erscheinen würde ; auch die Verschiedenartigkeit der
Inschrift: das römische Belliccus unter dem Löwen und das
keltische Surbur unter dem Eber hätte dann eine gewisse
Berechtigung, wenn, ja wenn wir — überhaupt einen Eber
in dem rechts stehenden Tier vor uns hätten. Aber, wie schon
angedeutet, ist dies durch G. Save, der das Bild wiederholt
genau untersucht und abgezeichnet hat, sehr in Frage gestellt :
nach ihm stellt es einen Stier dar. Save hat sich auch bemüht,
< Joam. de la See. d'£malaiion des Vosges VII, S. 29 ff und
Histoire de St-Di6. Epinal 1836, S. 19 ff.
2 Antiqnit^s des Vosges, S. 186 f.
— 37 —
für die Deutung dieses in neuer Gestalt vor uns erscheinenden
rätselhaften Denkmals das nötige Material zu sammeln. ^ Er
zählt mehrere in der Umgegend gefundene Stierbilder auf; er
weist ferner darauf hin, dass Münzen mit dem Kopt des Togirix,
des Fürsten der Leucer, auf der Rückseite einen Stier tragen,
und dass auf einer Münze desselben Fürsten auch ein Löwe
mit erhobenem Schweife zu sehen sei ; dass auch andere gallische
Münzen aus Caladunum ebenfalls den Stier auf der Rückseite
haben. Interessant ist sein Nachweis, dass auf dem Fries eines
Trink hornes (richtiger einer Amphora von langer, konischer
Form) aus dem Hildesheimer Silberfund dieselbe Scene wie auf
unserm Denkmal dargestellt ist : links der zum Angriff vor-
gehende Löwe, rechts der mit gesenkten Hörnern sich ver-
teidigende Stier. 2 In den beiden Wörtern der Inschrift will er
Eigennamen sehen ; inbezug auf den erstem entnimmt er die
Nachweise aus Roget de Belloguet, glossaire Gaulois (2« M.
Paris 1872) S. 2Ü1 ; inbetreff des zweiten verweist er auf das
schon citierte SVRBVRO auf einer Inschrift im Züricher Museum,
wobei er freilich zugestehen muss, dass die Etymologie dieses
keltischen Wortes auf den Eber hinführt.»
Trotz aller dieser dankenswerten Hinweise aber ist für die
Erklärung unseres Denkmals noch wenig gewonnen. Ich kann
übrigens einen gelinden Zweifel an der absoluten Genauigkeit
der Save'schen Abbildung nicht unterdrücken; es will mich
bedünken, als ob bei der Herstellung derselben der Künstler
mit dem Archäologen durchgeganj^en sei. Die ziemlich weit vor-
geschrittene Verwitterung des Steines, der über 1')2 Tausend
Jahre allen Unbilden der Witterung ausgesetzt war, sowie die
frühere und jetzige ungünstige Aufstellung des Denkmals- er-
klären die Schwierigkeiten vollkommen, mit denen alle Ab-
zeichner zu kämpfen hatten ; ich möchte des' alb nochmals
darauf hinweisen, wie notwendig es ist, dass eine Photographie
hergestellt wird, die ein naturgetreues Bild von dem Denkmal
1 Bull, de la Sog. philomat. Vosgienne, 3'' ann^e, St.-Di6 1877,
S. 47 ff. und in einer Anmerkung zu dem von ihm herausgegebenen
Memoire 8ur la principaut6 de Salm par Fachot. ibid. 9'' ann6e 1884,
S. 135.
2 Kicht unerwähnt soll indessen bleiben, dass auf demselben
Fries auch der Kampf eines Hundes mit einem Eber sich zweimal
dargestellt findet. Yergi. H. Holzer, der Hildesheimer Silberfund.
Hildesh. 1870 Taf. IV. 2 ; dazu S. 70 : <solcbe Tierfriese kommen
auf den etruskischen Metall- und Töpferarbeiten sehr häufig band-
förmig vor »
9 Glossaire gaul., S. 262.
— 38 —
uns vor Augen fuhrt; eine solche wird freilich erst uiöglicb
sein, wenn ein genauer Gypsabguss von demselben vorhanden
sein wird. Erst dann wird die sichere Grundlage geschaffen,
auf der wir weitere Folgerungen aufl)auen können.
Ich schliesse diese übersichtliche Betrachtung mit der
Ausführung F. Voulots^ über dieses Denkmal; sie ist jeden-
falls originell, wie sein ganzes Werk ; wie weit sie aber An-
spruch auf Berücksichtigung ernsthafter Forscher machen
kann, überlasse ich jedem Leser selbst zu beurteilen.
Er behauptet, dass die Inschrift — das einzige, was bis-
her an dem ganzen Relief als sicher galt — von allen Vor-
gangem falsch gelesen worden sei und dass das erste Wort
derselben nicht BELLIGcVS, sondern BEILIGcVS laute, in
dem G wie auf vielen archaischen Inschriften = s zu lesen sei.
Das Tier aber, unter dem dieses Wort steht und das man
bisher für einen Hund oder einen Löwen gehalten, sieht er für
einen Bison an.^ Dieser Beilissus (so auszusprechen) ist ihm
nun der Sonnenstier, der die Vermischung des Belcultus
mit dem des Issus (Beil = Bei, Issus = die phöni zische
Isis) bezeichnet. S u r b u r ist zusammengesetzt aus sur =:. lat.
sus = das gallische Schwein und ebur = Eber ; das zusam-
mengesetzte surbur findet sich in dem bairischen Dialekt:
Saubär = Eber. Surbur war also ein altes Symbol einer GoU-
heit der Vogesenbewohner. Beide Wörter sind getrennt durch
eine Pfeilspitze, eine Erinnerung an den heiligen Nagel, eines
der grossen Symbole der Ghaldaer ! Es handelt sich also auf
unserem Bild um zwei symbolische Tiere, zwei Gottheiten, die
die allen Gallier verehrten. Die Haltung des zurückgedrängten
Surbur gegenüber dem auf ihn losgehenden Bison stellt dar,
dass der autochthone Kult des Surbur von dem ausländischen
Kult des Beilissus, des Repräsentanten der semitischen Civiü-
sation der asiatischen Pelasger, ver- oder wenigstens zurück-
gedrängt worden ist M ^
^ Les Vosges avant Thistoire. Malhouse 18/2. p. 207 f.; dua
Abbildung, PL 78.
^ So auch aaf seiner Abbildang, die im übrigen der Save^schen
noch am ähnlichsten ist.
3 In einem gefälUgen Schreiben des Herrn Q. Save teilt mir
derselbe mit, dass demnächst im Ball, de la Soc. philomat. Vosgienne
eine Abhandlang von A. Foarnier erscheinen wird, in der dieser den
Nachweis führen wird, dass unser Denkmal keltischen, nicht
gallo-römischen Ursprungs ist. Man darf gespannt sein, welche
Gründe der Verf dafür ins Feld führen wird, da alle Anzeigen dieser
Ansicht entgegenstehen. — Bisher ist, soweit ich es übersehe, nur
— :39 —
ß. Die profanen Reliefbi 1 de r. i
Von den beiden auf dem Donon aufgefundenen Basreliefs, die
keine Gottheiten darstellen, erwähnt Jollois^ nur das eine ; das
zweile, ein Doppelbild, scheint zur Zeit seiner Untersuchung
(1821) nicht mehr existiert zu haben ; nach einer Notiz von
Malter 8 war es vor nicht lanjjer Zeit (vor 1826) zertrümmert
worden.* Beide Reliefs, aus Vogesensandstein gearbeitet, lagen
mit den übrigen, noch zu erwähnenden Bildern am Fusse des
Felsens auf dem obersten Gipfel. »
a) Das einfache Bild.
Eine genaue Abbildung nach dem Original hat uns
Jollois PI. 34, 4" von diesem Bild geliefert. Es stellt eine
männliche Person dar (Kopf imd oberer Teil der Brust fehlen),
bekleidet mit dem bis über die Kniee in Fallen herabhängenden
Sagum. Die Füsse sind zum Teil verstümmelt, die Arme gerade
und fast cylindrisch. Oben an <ler Bruchstelle bemerkt man
quer über die Brust liegende Binden, eine Art von Gürtel, die
ilas Sagum nach oben abschliessen. In der Rechten hat er eine
Geldbörse oder vielmehr ein Gefäss (gläserne Flasche?), in dei*
Linken einen Gegenstand von der Gestalt eines Rechteckes,
welchen Schöpflin wohl richtig als ein Buch oder eine Tafel er-
kannt hat. Mit derselben Hand hält er ein langes Schwert, oder
scheint es vielmehr nur gegen sein Kleid zu drücken. Bemer-
einmal dieser Nachweis versucht, und zwar von dem Keltomanen
L. Levranlt (La valUe de la Brnsche in Revue d^Älsace 1852),
der beiläufig in dem Tiere links einen Stier oder einen jungen Aaer-
ochsen erkennen will : also allmählich eine ganze Menagerie ! Er
hält es für einen symbolischen Schmuck des Felsens, der von einem
heiligen Ring, sog. Cromlech, eingeschlossen war. Auch mit der
römischen Inschrift weiss er sich abzufinden: er lässt sie in
späterer Zeit nachträglich darunter gesetzt sein.
1 S. die Uebersichtstabelle auf S. 40.
2 Antiquit6s du Donon Epinal 1828. S. 24 ff. ; Antiquit6s des
Yosges Paris 1843, S. 140 f.
3 A a. 0., S. 151.
* Vergl. auch Schweighäuser, Kunstblatt 1828, S 328:
«nur mit Ungewissheit konnte ich noch den untersten Teil desselben
erkennen»; u. S. 332: eich glaube es in meiner Jugend noch voll-
ständig auf dem Berge gesehen zu haben.»
^ Das einfache Bild auf der Nordseite desselben Jollois, S. 18S.
^ Wo nichts anderes angegeben, ist im Folgenden das grössere
Wort von Jollois, Antiquites des Vosges, gemeint.
— 40 —
Uebersicht über die vorhandenen Abbildul
Rotstift-
Dom de
iDom]
Gegenstand der Darstellung.
zeichnnngen
Montfaacon
Religi«
bei JoUois.
1
Antiq ezpl.11,2
Gao]
Belliccus Surbur.
PL 3n,ll
PI 188,3
Gallier: einfaches Bild.
36,2
188,1
PL«
> Doppelbild.
36,5
188.2
!
Götterbilder :
1. Mercurfragment.
t
2. Mercnr ohne Kopf.
36,3
187,1
m
3.
36,7
186,4
^
4. » unt. Hälfte : 2 Stücke.
35,10«
f). » Mittelst fick.
—
—
-
6. » Kopf und Brust.
1 35,12
187,2
-
7. > Kopf.
35,13
186,6
.«
8. » ohne Kopf.
36,1 (u. 34,7 bis)
186,3
i
9. » klein.
36,6
187,3
-
10. * ob. Hälfte mit Inschr.
36.8
186,5
-
11. > Kopf.
36,10
187,6
•H
12. * Fragment mit Hahn.
36,13
-j
13. » vollständig.
36,14
186,1
%
14. » fast vollständig.
[Samml. B.]*
186,2
i
15. Fragment mit Bock.
35,9
187.4
-^
16. Zwei Bruchstücke m. Tierfell.
36,4
187,5S
-1
1
17. Männl. Figur mit Hirsch.
[Samml. B]5
1
•^
18. Bruchstück: Beine mit Tier.
[Samml. B.je
—
^
Bruchstücke ;
a) Zwei Beine.
36,11
— 1
-
b) Zwei Unterschenkel
36,12
1
—
Köpfe von Statuen:
1. Weibl. Kopf.
35,7. 8
—
-
2. Kopf eines bärtigen Mannes.
36.9
1
—
—
3. » eines bartlosen Mannes.
—
'
Anmerkung: ^ Das in Klammern beigesetzte R yerweisi
auf den I. Bd (das blosse R — der betr. Tafel u. Nummer bei Schöpf
Stück. — * In der Sammlung der Abbildungen über den Donon im
— 41 —
teliefs und Statuen vom Donon.
Ipfiin
ilL I.
Dom Calmet
Notice de
la Lorraine I.
JoUois
Antiq. des
Yosges.
,3(RI,7)», PI. 2,17
,1(BI, 5i|
,2(RI,4.
,6(R)
,5(R)
,9(R)
,4(R)
,3(R)
,7(R)
»KR)
,2(R)
»8(R)
1,9
2,10
2,12
2,13
2,löu.l6
1,2
1,5
2,14
1,4
1,3
1,7
2,11
1,6
PL 34,1
34,4
Bordier et Charten, Histoire
de France d'apres les mo-
numts 1859-60, 1 p. 48.
Voalot. Les Yo»ges avant
rhist. PL 78.
Dinago, BulL de la Soc.
phil. vosg. St-Di6 1876.
G. Save, ebendas 1877.
34,2 (R II, 1)1
34.5 (R II, 3)
34.6 (R II, li
34.7 (R II, 5)
34.8 (R II, 8)
34,3 iR II, 2)
34,9. 10 i
Bache üebersetzung Schöpflins von Ravenez, und zwar bei Schöpflin
Mf den II. Bd. - '^ Nur das untere Bruchstück. — ^ Nur das obere
Save Nr. ify. (Fig. 4). — & Desgl. Nr. 64 (Fig. r). — « Desgl. Nr. -ly (Fig. 6).
— 42 —
kenswerl und tut* die geringe Kunstfertigkeit des Bildhauers
charakteristisch ist der Umstand, dass der Teil des Schwertes
unterhalb der linken Hand nicht genau in der Verlängerung
des oberen Teiles steht. Jollois hält das Relief für den
Grabstein eines Gallier s. Das ist gewiss richtige und
ich verweise zum Vergleich auf ähnliche Grabsteine, die aus
der Umgegend stammen : Jollois PI. 19, 7 stellt ebenfalls einen
Gallier im Sagum dar, iu der Rechten ein Gefass, in der
Linken eine Tafel haltend, aus Soulosse (Solimariaca) ; Golden-
berg in Bull, de la Soc. pour la conserv. IIL i8(J0, lig. 11 vom
Kempel ; de Morlet ebendas. II s6r. I. 1863, S. 163 vom Gross-
Limmersberg ; Beaulieu, Recherches sur le Comte de Dags-
bourg PI. I, 3 aus dem Freiwald bei Albersch weiter.
Hiervon weichen die früheren Gelehrten inbezug auf die
Abbildungen, die auf die Rotstiflzeichnung Alliots als gernein-
same Quelle zurückgehen, und die Ansichten über die darge-
stellte Persönlichkeit mehr oder weniger ab.
Ru i nart glaubte unter den von ihm auf dem Donon gefun-
denen Bildern das eines Mannes gesehen zu haben, der nach
Arteines römischen Soldaten bekleidet gewesen. Auch
Allioti spricht von einem Römer, dessen Statue sie ausge-
graben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass beide obiges Bild im
Sinne hatten. 2 Auf der Rotstit1;zeichnung und ihren Kopieen
bei de Montfaucon, Martin, SchöpAin und Gähnet sind die rohen
Formen sehr verschönert, insbesondere zeigen die Arme um-
risse, die das Original nicht kennt; die rechte Hand, welche
das Gefass umfasst, lässt fälschlicher Weise die unnatürliche
Innen- statt der Aussenseite sehen. An dem rechten Ober-
arm ist eine Art von Aermel sichtbar, den das Original
nicht hat. Der Gegenstand in der Linken erscheint auf der
Rotstiftzeichnung, so wie bei de Montfaucon und Martin
als ein Handschuh; Schöpflin hat ihn nach genauer Besich-
tigung des Denkmals richtiger dargestellt ; er halt ihn für
ein Buch (Schreibtafel); ihm ist Calmet (S. 481) gefolgt, der
aber geneigt ist, in ihm eine Serviette zu erkennen. ^ Das
' Bei Jollois. S. \H:\ Anra.
' Die Nebenumstände, die Alliot angiebt, stimmen damit freilich
nicht ganz ; er sagt, dass die neugierigen Bauern, die gekommen
waren, um zu sehen, was die Mönche auf dem Berge anstellten, dem
Bilde die Hand, einen Teil seines Mantels and einen Fnss abgeschlagen
hätten. Bei Jollois sind wenigstens die Arme noch vollständig er-
halten.
3 Der Catalog des Museums zu Epinal von F. Voulot bezeichnet
ihn als ein Trinkglas.
— 4;^ —
Schwert hat Martin (S. 215 ff.) für ein umgekehrtes Kreuz
oder vielmehr einen Schlüssel angesehen, der die Form eines
Kreuzes hatte, dessen unterer Arm sehr lang ist und das von
dein Halse wie eine Bulla herabhängt, das Symbol der
Druidenpriester. Denn für einen solchen hält Martin das
Bild, eine Ansicht, die vorher schon Schilter ausgesprochen
hatte. 1 Diese weist Schöpflin (S. 05 ; 84 f. ; 454 f.) mit
Recht zurück, indem er daran erinnert, dass die Druiden schon
durch die ersten römischen Kaiser veilriehen worden und dass
es deshalb unwahrscheinlich sei, dass man Leute, die durch
kaiserlichen Befehl proscribiert waren, durch Denkmäler geehrt
habe zu einer Zeit, wo die Römer in jenen Gegenden
herrschten. Auch die Kleidung lasse nicht darauf schliessen,
dass wir hier Druiden vor uns haben, die ein besonderes Or-
densgewand trugen ; ebenso wurde das Schwert gewiss nicht
von Druiden getragen. Alles das schliesst natürlich nicht aus,
dass die Wälder des Donon vor der Römerherrschaft eine
Stätte des Druidenkultes gewesen sind.
Schöptlin glaubt vielmehr aus dem Schwerte daran fschliessen
zu müssen, dass der betr. Gallier dem R i l t e r s t a n d e
angehört oder ein Amt bekleidet habe, wie beiden Aeduern
der Vergobret,« das ihm das Recht über Leben und Tod
der Bürger verlieh. Dass es aber kein Römer, sondern ein
Gallier war, ist ersichtlich aus der gallischen Kleidijng (tunica
quadrata striata vel virgata) ; auch das Schwert ist ohne
Zweifel der lange gallische Degen ohne Spitze. Den Gegenstand
in der Rechten hält Schöpflin für ein Gefäss, 3 nicht für eine
Geldbörse, wie es sich auf den Denkmälern der Mediomatricer
ofl findet.4
Calmet (S. 479(1) endlich stützt seine Deutung eben-
falls auf das gallische Schwert und sieht in dem Manne einen
' In der schon mehrfach citierten handschriftlichen Abhandlung
über die Donondenkmäler aas dem Jahre i6H7. — Wenn Schöpflin
S. 84 von de Montfaucon sagt, dass er dieses Bild ebenfalls für einen
Druiden gehalten^ so scheint dabei ein Irrtum seinerseits zu walten,
denn an der von ihm erwähnten Stelle spricht sich de Montfaucon
überhaupt nicht über diese Frage aus, ebensowenig wie Alliot.
Schöpflin scheint sich denn auch inbezug auf letzteren nur auf ganz
allgemeine Bemerkungen desselben zu beziehen. (Vergl. oben S. 11 ;
Anm 1.)
< Caes. bell. gall. I, 16.
3 So auch Pelletier, S. 397.
* Vergl. z. B. Jollois, Antiquit^s des Vosges. PL 18, 8 ; 19, 7 :
Grabsteine ans Solimariaca (j. Soulosse}.
— 44 -
^fallischen Krieger. Ihm ist Pel leti er (a. a. 0.) ge-
folgt, während G r a n d i d i e r (S. 35 ff.) sich Schöpflins Ansicht
angeschlossen hat. — Das Relief befindet sich jetzt im Museum
zu Epinal (Gat. Nr. 89).
b) Das Doppelbild.
Inbezug auf die Darstellung des Doppelbildes sind wir auf
die betreffende Rothstifl Zeichnung und die darnach genommenen
Kopieen angewiesen, da, wie schon erwähnt, Jollois das Bild
nicht mehr sah.
Es sind ebenfalls zwei Gallier, die hier auf einem Stein
nebeneinander dargestellt waren ; beide Köpfe sind abgeschlagen.
Das Bild war schon zur Zeit Alliots in der Mitte quer durt-h-
gebrochen. Der vom Beschauer links trägt ein bis fast auf die
Füsse herabreichendes, doppeltes gallisches Sagum mit Aermeln,
von denen das untere, längere unter dem oberen hervoi^uckt.^
In der Rechten hält er einen Stab mit einem birnenförmigen
Aufsatz, 2 die Linke ist nicht sichtbar. — Der rechte Gallier
hat ein kürzeres, nur bis über die Kniee herabreichendes
Sagum und über diesem einen Mantel, aus dem er die Rechte
herausstreckt, ganz wie die Römer mit Tunica und Toga. In
der Linken trägt er einen schwer zu erkennenden Gegenstand;
Schöpflin glaubt darin den Rucken eines Buches zu sehen.
H. Alliots hält beide für einen Mann (rechts) und ein
Kind (links) ; ebenso R u i n a r t.
Martin, der auch hier Druiden dargestelll sieht, sucht
einen Lehrer mit seinem Schüler in den beiden, Schöpflin
begnügt sich ex sanctimonia loci zu schliessen, dass es Gallier
in hohen Stellungen (in dignitate constituti) sein müssten,
die hier abgebildet.
Ca Im et (S. 482), ebenso auch Grandidier, sehen hier
einen Gallier und eine Gallierin: ihnen möchte auch
ich zustimmen, nicht nur, weil die Vereinigung von Mann und
Frau auf gallischen Grabmälern häufig ist, sondern auch weil
die linke Gestalt kleiner als die rechte und von dieser durch
die Kleidung unterschieden ist. Unterstützt wird diese Ansicht
durch den Vergleich mit dem bei Jollois PI. 18,8 abgebildeten
1 Oder wäre es nur ein breiter Streifen eines einfachen Sagüm?
So Calmet, S. 482.
* JolIoiE, S 192 : «une sorte de bäton termin6 par un bouton
de lotuß», der viel Aehnlichkeit hat mit den Augurstäben, den die
Götter oder die Könige der alten Aegypter in den Händen trugen.
8 Journ. des Sav. 1693, S. 76.
— 45 —
Grabstein aus Soulosse, der mit dem unsrigen, wenn man die
Unvollkommenheit der Zeichnung des letzteren in Betracht zieht ^
besonders inbezug auf die ganz romanisierte Kleidung des
Mannes (rechts) und der Frau (links) eine bemerkenswerte
Äehnlichkeit zeigt.
C. Die Götterbilder.
Die Rotstiftzeichnungen der Basreliefs vom Donon, welche
Gölterbilder darstellen und die, wie schon erwähnt, mancherlei
Ungenauigkeiten zeigen, bieten zwei Eigentümlichkeiten, die
den Scharfsinn der früheren Gelehrten, die jene ihren bild-
lichen und schriftlichen Darstellungen zu Grunde gelegt, her-
ausgefordert haben. Es ist dies :
1. Das Fehlen des männlichen Gliedes, das be-
einigen durch eine Art Band um die Hüfte verdeckt ist, bei
anderen gänzlich fehlt, wieder bei anderen durch einen oder
zwei ineinanderhängende Ringe, zum Teil an einem Bande be-
festigt, ersetzt ist ;
2. Die ganz weiblichen Formen der Gestalte.i :
runde Schenkel, sehr ausgebildete Hüften und Brüste.
Dom Martin, Schöpflin, Dom Pelletier und Dom Calmet
haben eingehende Untersuchungen über diese Frage angestellt;
letzterer (S. 476 fl.) sah in 3 — 4 Bildern, deren Köpfe fehlen,
weibliche Druiden und wollte in den ineinander geringelten
Schlangen das Symbol der Weissagekunst oder einer andern
magischen Kraft erblicken. Dass diese einen caduceus darstellen,
will er deswegen nicht glauben, weil der eigentliche Stab
fehlt, wie ihn Mercur trägt.
Alle diese Ausführungen sind hinfallig geworden, seitdem
Jolloisi nachgewiesen, dass unter den noch vorhandenen
Donondenk malern sich keines findet, bei dem nicht das männ-
liche Glied noch deutlich sichtbar, und dass jene eigentümlichen
Verhüllungen nur einem unangebrachten Schamgefühl der
Mönche von Moyenmoutier und Senones, der Urheljer jener
Zeichnungen, auf die Rechnung zu setzen sind.
Nachdem auf diese Weise jene erste Eigentümlichkeit
unserer Bilder in nichts zerronnen war, glaubte Schweig-
häuser 2 wenigstens die zweite, die weiblichen Formen, reiten
zu können, wobei er sich auf seine eigene — wohl nur ober-
1 Antiquites da Donon.
^ Memoire sar les monaments celtiques du d^partement du
Bas-Rhin in M6moires de la Soc. royale des Antiquaires de France.
Nouv. s6r. Tome XII. 1836, p. 10 saiv.
— 46 —
flächliche — Betrachtung der Reliefs herief und eine Art von
Mannweibern (:indro«jynes) konstruierte, über die er nun eben-
falls eine tiefsinnige Betrachtung anstellt. Aber auch diese
Hypothese tiat Jollois > später zurückgewiesen, indem er aus-
führt, dass einige zwar ziemlich stark ausgeprägte Haften haben,
dass aber die Körperformen durchaus männliche sind.
In betreff der Bestimmung dieser Basreliefs spricht
Jollois (S. 139 f.) sich folgendermassen aus: «Wir glauben,
dass die Mehrzahl der Reliefbilder Grabsteine waren. Einige
haben hier Statuen zum Schmuck der Tempel des Donon sehen
wollen. Doch ist dabei festzuhalten, dass alle diese Steine nur
auf der Vorderseite bearbeitet waren und keine eigentlichen
Statuen darstellen. Mercur war der von den Galliern vorzugs-
weise verehrte Gott. Die auf dem Donon bestatteten Leute
wollten deshalb vermutlich ihr Grab von dem Bilde desjenigen
Gottes beschützt h:iben, für den sie im Leben die grösste Ver-
ehrurg hegten. Ganz ähnliche Grabsteine fanden sich an
melireren Orten des Departement des Vosges, besonders in
Escies und Soulosse, dem alten Solimariaca.»
Indem ich noch auf die zahlreichen im Dagsburger Lande.
also in unmittelbarer Nachbarschaft des Donon, gefundenen
Mercurbilder hinweise, * bemerke ich zu diesen Ausführungen
.loilois\ dass ich mich ihnen nur bedingt anschliessen kann.
Denn nach meiner Ueberzeugung sind unter den Rehefs vom
Donon nur zwei Grabsteine, die beiden oben besprochenen mit
den Galliern ; alle übrigen waren Votiv steine, wie schon
der mit der Dedicationsinschrift versehene Stein (s. u. Nr. iO)
beweist, mit dem die übrigen im Wesentlichen übereinstimmen.
Alle Reliefbilder sind aus Vo g e s e n s a n d s t e i n, wie er
sich auf dem Donon fmdet. Bemerkenswert ist, dass fast alle
zertrümmert sind. Nicht unwahrscheinlich ist es, da???
dieser Umstand auf gewaltsa)ne Zerstörung, vielleicht von Seiten
der altchristlichen Bevölkerung zurückzuführen ist, die ihren
religiösen Fanatismus an diesen Zeugen des Heidentums aus-
li essen. 3
* Antiquit6s des Vosges, S. 138.
2 Man vergl u. a. die Abbildungen der vom Gross-Limmersberg
stammenden Mercurbilder. (Bull, de la Soc. pour la conserv.. III.
1860.)
3 Diese Zerstörung der Donondenkmäler behandelt eine Ballade
des schon einmal citierten anonymen Dichters, unter der Üeberschrift :
Deodat (der Gründer von St-Di6) in Strassb. Zeitg. 1879, Nr. 103.
3. Mai; wiederabgedr. in Gemeinde-Zeitg. f. E.-L. 1881, Nr. 46. —
— 47 —
a) M e r c n r b i l d e r.
Die meii<ten Reliefs sind M e r c u r b i l d e r, die durch den
Flügelhut (pelasus), den Heroldslab (caduceus) und die Geld-
börse (mai*supiunrk) charakterisiert sind ; manchen fehlt das eine
oder das andere Attribut.
Beginnen wir unsere Aufzählung mit denjenigen, die
durch die Zeic hn u n gen J o 1 lo i s* genau festge-
stellt sind:
1. Fragment, Brust und Kopf fehlen. Jollois (S. 138 f.)
fand es in einer Felsspalte auf dem Gipfel; vermutlich lag es
noch an seinem ursprünglichen Platz oder wenigstens nicht
weit davon. Die Gestalt häh in der Rechten einen Beutel, in
der Linken den Heroldstab; die Schlangen, die zwei längliche
Schleifen bilden, hängen an einem Stab abwärts. Obwohl von
roher Arbeit, gehöil das Relief doch zu den besten des Donons,
insbesondere zeigen die Beine ziemhche Nalurtreue ; die männ-
lichen Geschlechtsteile sind unversehrt. Der untere Teil des
Steines ist dicker als der obere, als wenn er einen Sockel hätte
bilden sollen. Das Bild fmdet sich nicht unter den Darstellungen
aus früherer Zeit, (jetzt in Epinal Gat. Nr. 88.)
2. * Kopf fehlt, der rechte Arm ist verstümmelt, doch kann
man noch erkennen, dass er einen Heroldstab trug, der ihm
an der Seite herabhing (Schlangen oben, Stab unten) ; der
linke Arm ist verkürzt, in der Linken eine lange Geldbörse.
Die Formen des Oberkörpers und der Beine sind die eines
Mannes, der Unterleib stark ausgebildet ; das männliche Glied
vollkommen deutlich. Eine Art Mantel (fast unsichtbar, aber
auf der Rotstiflzeichnung nicht zu verkennen) fallt von der
Schulter herab, an der er durch einen über die Brust und den
linken Arm liegenden Riemen befestigt ist. — Die Rotstift-
zeichnung scheint eine Art infibulatio des Gliedes zu zeigen;
bei de Montfaucon und Schöpflin ist der Ring deut-
lich ausgeprägt, Galmet zeichnet deren sogar zwei, die an
einem Bande hängen. Die Körperformen sind weiblich abge-
rundet, die Brust aber die eines Mannes ; der Geldbeutel fehlt :
der linke Arm hat normale Länge. Calmet (S. 474, 3 und
483) hält das Bild sonderbarer Weise für das eines Kriegers
und den Heroldstab für eine Art Keule oder Wurfspiess an
Gravier (Journ. de la Soc. d'EmuL, Nr. VII, S. 22 f.) denkt an den
heil. Florentins, den Gründer der Abtei Haslach und eifrigen
Kämpfer gegen das Heidentum in jenen Gegenden der Vogesen.
« Jollois, S. 141 f.
— i8 —
einem Riemen (j^aesum), worin ihm Grandidier gefolgt
ist (S. 35).
3. 1 Kopf fehlt ; in der Rechten ein Gegenstand, der un-
deutlich, aber eine Geldbörse zu sein scheint ; in der Linken
ruht der Heroldstab aufwärts gegen die Brust gelehnt. Eine
Furche, die sich um den Hals herumzieht^ scheint zur Auf-
nahme eines Halsbandes aus Edelmetall gedient zu haben;
letzteres ist herausgerissen. Die Hüften sind ziemlich ausge-
bildet. Das Glied, wenn auch verstummelt, ist deutlich zu er-
kennen;« der Unterleib sehr prononciert und durch eine Art
Schnur bezeichnet. Letztere ist in den Rotstiftzeich-
nungen zu einer Binde geworden, die die Schamteile ver-
hüllt. Die Körperformen sind vollständig weiblich, die Brüste
ziemlich ausgebildet. De Montfaucon (S. 417) und Martin
hallen die Figur für einen geschlechtslosen Mercur, Ca Im et
(475 f) für eine Druidenpriesterin des Mercur; Pelletier
(S. 397) vermutet die Frau eines Galliers ! — (jetzt in £pinal
Gat. No. 90).
4.3 Zwei Bruchstücke, beide nahe bei einander gefunden,
die scheinbar zusammengehören, obgleich sie nicht genau an-
einander passen. Das obere (Schenkel und Unterleib) gehörte
sicher zu einem Mercur, denn in der Linken ist der Herold-
stab SU sehen, von dem die beiden Schlangen noch vorhanden;
die Rechte ist geschlossen und zeigt die Innenseite. Die Ge-
schlechtsteile sind deutlich männliche ; der Unterleib stark aus-
gebildet . Das zweite Fragment (zwei Drittel der Beine)
ist gut erhalten, der Stein dagegen in der Nähe des rechten
Schenkels verstümmelt. JoUois glaubt eine Aehnlichkeit mit
der Rotsti ftzeichn ung PI. 36, 1 zu finden, die die ganze
Gestalt, aber ohne Kopf darstellt; die Haltung der rechten Hand
ist die gleiche, das Kniegelenk auf beiden stark ausgebildet.^
Auf der Rotstiftzeichnung sieht man neben dem linken Fuss
einen kleinen Sockel, auf dem ein Vogel, vielleicht ein Hahn,
das dem Mercur heilige Tier, steht. Dieses Sinnbild war zu
Jollois' Zeit ganz verwischt und nur noch an der Rauhheit des
J Jollois, S. 142.
^Schweighäuser, Kunstblatt 1823, S. 332 : € Geschlechts-
teile am Steine sehr undeatlich ; ein ganz neuer Verstümmler hftt
hier eine ehedem nicht existierende Vertiefung eingemeisselt, die sie
noch undeutlicher macht.»
3 Jollois, S. 143 f.
^ Das ist auf den meisten Rotstiftzeichnungen der Fall, also
kein entscheidendes Kennzeichen.
— 49 —
Steines an jener Stelle erkennbar. Letzteres ist jedenfalls un-
sicher. — Ich zweifle an der Identität dieser 2 Fragmente mit
der erwähnten Rotstiftzeichnung, glaube vielmehr, dass das
obere Fi*agment gleich ist dem bei Calmet PI. 2, 15 abgebildeten,
mit dem es ziemlich genau (Haltung der Hand !) stimmt. Möglich
wäre es, dass dann Nr. 16 bei Calmet dem unteren gleich zu
setzen wäre, * wobei ich freilich nicht verschweigen will, dass
auf letzterem etwas Wesentliches fehlt, nämlich der untere
Teil des Heroldstabes, der bei Galmet und auf der Rotstift-
zeichnung sichtbar ist. Was Jollois übersehen hat, ist der
fragmentarische Rand des Steines auf der Rotstiftzeichnung
{PI. 36, 1), während die von Jollois reproduzierten Stücke einen
gut erhaltenen Rand haben, der bei dem unteren Stück bei
Calmet (Nr. 16) ebenfalls vorhanden ist, während er an dem
oberen (Nr. 15) allerdings fehlt. — Ist meine Vermutung
richtig, so muss auch hier darauf aufmerksam gemacht werden,
dass an der Stelle der zwei ineinanderhängenden Ringe auf der
Calmet'schen Zeichnung das Original das männliche Glied
deutlich erkennen lässt. — Galmet (S. 476) hält beide Stücke
für Fragmente weiblicher Druiden.
5.« Fragment: Mittelstück; in der Rechten die Geldbörse,
linker Arm nicht vorhanden; das männliche Glied deutlich.
Jollois hält es für identisch mit dem bei de Montfaucon PI. 187, 5
abgebildeten, welches letztere ohne Zweifel gleich der Rotstift-
zeichnung PI. 36, 4 (oberer Teil) ist, so dass Jollois' Bemerkung,
es befinde sich nicht unter den Rotstiftzeichnungen, unzutreffend
wäre, wenn man die Identität beider (Jollois PI. 34, 8 und
de Montfaucon PI. 187, 5) überhaupt anerkennt, was aber sehr
fraglich erscheint. 3 (jetzt in Epinal Cat. Nr. 93.)
Ausser diesen von Jollois 1821 wieder aufgefundenen
Mercurbildem, finden sich unter den Rotstift Zeich-
nungen (Sammlung A) noch folgende, die er PL 35 und
36 reproduziert hat.
6. Fragment : Kopf und oberer Teil der Brust eines
Mercur. Auf dem Kopf der Flügelhut, an der rechten Seite
der caduceus aufrecht, der wie eine zweizinkige Gabel aussieht.
In der Originalzeichnung ist die Brust scheinbar bekleidet, so
auch bei Schöpflin und de Montfaucon ; bei Galmet ist sie nackt.
7. Mercurkof: Der Flügelhut ist durch wulstariige Auf-
1 Nr. 16 bei Calmet ist ohne Zweifel = Rotstiftzeichnang
FI. 35, 10; letztere zeigt auch am linken Schenkel das ausgeprägte
Knie, was bei Galmet nicht der Fall ist, nnd den gut erhaltenen Rand.
2 Jollois, S. 144.
3 Vgl. TL Nr. 16.
— 50 —
Sätze auf dem Kopf nur undeutlich angedeutet. Der Siein auch
an der rechten Seite bis an den Kopf heran beschädigt. Die
Abbildung bei Calmet hat ihn ergänzt.
8. Rehefbild eines Mercur, der durch den von der Linken
herabhängenden Heroldstab ckarakterisiert ist. Letzterer
besteht nur aus den beiden verschlungenen Schlangen ohne
Stab. Die weiblichen Formen (Brüste, Hüften, Oberschenkel)
sind stark ausgeprägt, die Geschlechtsteile durch 2 ineinander
und an einer Schnur hängende Ringe verdeckt. Bemerkens-
wert ist die Haltung der beiden Hände, welche die Innenseite
nach aussen kehren. Kopf fehlt. Unter den Schwanzenden der
beiden Schlangen, neben dem linken Fuss, steht auf einem
kleinen Sockel eine Art Vogel, vielleicht ein Hahn. — Es ist
dies das Bild, das J o 1 1 o i s in seinen beiden PI. 34, 7 abge-
bildeten Bruchstucken wiedererkennen will, wie ich glaube,
mit Unrecht (s. das Nähere oben unter Nr. 4). Die Abbildungen
bei de Montfaucon und Schöpft in stimmen genau mit
der Originalzeichnung. Trotz einiger Abweichungen bei Calmet
(natürliche Haltung der Hände, Fehlen des Sockels mit
dem Hahn) nehme ich doch an, dass auch seine Abbild uu«;
(PI. 2, 14) auf jenes Original zurückgeht, wofür die grosse
Aehnlichkeit beider im übrigen spricht. — Calmet hält da&
Bild für eine weibliche Druidin, die eine der Schlangen beim
Kopf hält und sie zu zerdrücken scheint. H. Alliot^ sieht
in ihm eine Bacchuspriesterin, in dem Tier am Fus^
einen Bock; ihm folgt R u i n a r t , der letzteres aber mit aiia
ejusmodi (= wie die Schlangen) reptilia bezeichnet, was schon
Matter zurückgewiesen hat. Pelletier (S. 397) vermutet
auch hier die Frau eines Gallier s.
9. Geschlechtslose Figur, bedeutend kleiner als die übrigen
Reliefs. Der von der Rechten gehaltene, un verhält nismässij^'
grosse Geldbeutel lässt in ihm wohl einen Mercur erkennen.
Andere Attribute fehlen ; auf dem Kopf eine eigentümliche, zu
beiden Seiten herabhängende Kopfbedeckung, sonst nackt. Sebr
schlechte Arbeit.
10. Obere Hälfte eines Mercur, der durch den Flügelhut
deutlich charakterisiert ist. Sein Gewand, das an drei über die
Brust liegenden Falten erkennbar ist,' scheint durch einen
von der rechten Schulter über den linken Arm laufenden
Riemen oder Band festgehalten zu werden. — Besonderes In-
teresse erweckt dieser Stein durch eine Inschrift, die
einzige auf einem Relief des Donon bekannte.
1 Journ. des Sav. 1693, S. 76, 4.
2 Fehlt auf Calmets Abbildung; nnr der Riemen ist vorhanden.
— 51 —
weiche auf dem oberen Rand desselben eingegraben ist, deren Ent-
zifferung aber einige Schwierigkeiten verursacht. Dieselbe lautet
auf der Rotstiftzeichnung, die Schöpf! ins Abbildung genau
wiedergibt :
DE M
PVC M
V • S
L . RI
Bei C a 1 m e t ist sie unvollständig, auf deMontfaucons
Abbildung fehlt sie gänzlich. De Montfaucon (S. 417)
liest sie folgendermassen : DEo Mercurio P. V. C. (Name
des Mannes)! Votum Solvit Lubens MeRIlo.
Ebenso Schöpfl in (S. 453 f.) und Pelletier (S. 395).
J o 1 1 o i s (S. 192) deutet den Namen PVblius Gaius. S c h i 1 1 e r
(bei Scliöpflin a. a. 0.) stellt die vier letzten rechts stehenden Buch-
staben anders und liest sie so : Miles I^egionis RIparialorum
oder Miles Legionis RI = tricesimae (T unci R in einen
Buchstaben zusammengezogen).
11. Kopf eines Mercur, dem vorigen ähnlich ; der Flügel-
hut nur durch die Flügel angedeutet. Der halbkreisförmige
Rand, der den Stein oben abschliesst, fehlt bei Calmet.
12. Fragmente eines Reliefs, von dem indessen kaum zu
erkennen, was es darstellt. Dagegen deutlich sichtbar ein
grosser Hahn. Da dieser Vogel dem Mercur heilig war, so
dürfen wir wohl auch in diesem Bruchstück ein Mercurbild
sehen. — Das Bruchstück findet sich nicht weiter abgebildet.
13. Ein vollständig erhaltenes Mercurbild mit allen Attri-
buten in einer flachen Nische : auf dem Kopf der Flügelhut,
auf den Schultern liegt ein Mantel, der auf der rechten mit
einer Art Spange (fibula) zusammengehalten wird; von dieser
läuft ein Riemen oder Band nach dem linken Arm, über den
eine Art Schärpe hängt. In der herabhängenden Rechten eine
Geldbörse von eigentümlicher Gestalt : de Montfaucon
(S. 416 f.) und Schöpfl in (S. 453) glauben, dass ein Band
an derselben hänge (vergl. auch Calmet S. 475). In der
erhobenen Linken den caduceus über die linke Schulter tragend.
Die Geschlechtsteile sind durch zwei ineinanderhängende Ringe
ersetzt. An dem linken Fuss ist ein Tier sichtbar, das schwer
festzustellen ist. Schöpfl in hält es für einen Bock, wobei
er daran erinnert, dass dieses Tier öfters auf Mercurbildern
vorkomme z. B. auf dem am Staufenberg bei Baden-Baden ge-
1 Andere Beispiele für die Sitte, dass der Dedicant eines Yotiv-
denkmals sich nur mit den Initialen bezeichnet, s. Bonner Jahrb. 69
S. 42 f.; 70, S. B ( Jupiter altar) u. in Allmer's ReToe 6pigr. 1885
(St, 33), S. 107 Nr. 533.
— 52 —
fundenen; ebenso Pelletier (S. 394). Ca Im et (S. 473, i) sieht
darin einen Hahn. Pelletier sah um 1755 das Bild noch
vollständig erhalten in der Mauer eines Wasserbehälters in
Fraraont. i
Daran schliesse ich noch ein anderes Mercurbild, das sich
unter den von Jollois veröffentlichten Rotstift-
zeichnungen nicht befindet, wohl aber bei den Ge-
lehrten, die ihre Abbildungen nach diesen Zeichnungen ange-
fertigt haben.
14. Fast vollständig erhaltener Mercur (nur der oberste
Fig. 4.
Teil des Kopfes ist abgeschlagen) in einer flachen Nische ; nackt,
mit weiblichen Brüsten (ausser bei Calmet) ; statt der Geschlechts-
teile die beiden Ringe. In der herabhängenden Rechten der
Geldbeutel wie ein Leinentuch, in der herabhängenden Linken
der Heroldstab, Griff nach unten. Neben dem rechten Fuss
ein Hahn (fehlt bei Calmet). — Ruinart hält ihn falschlich
für eine P a 1 1 a s , C a 1 m e t für einen Krieger mit einem
Wurfspiess am Riemen (gaesum);* ihm ist auch hier Gran-
didier (S. 35) gefolgt. — Pelletier (S. 394 f.) sah das
Relief noch an Ort und Stelle. Es ist wohl wegen seiner Voll-
1 Vgl. die Anm. ö, S. 25.
2 Vgl. üben Nr. 2.
— 53 —
ständigkeit bei allen Gelehrten des vorigen Jahrhunderts
(de Montfaucon, Martin, Schöpflin, Calmet) abgebildet, fehlt aber
merkwürdigerweise unter den Rotstiftzeichnungen bei Jollois,
dagegen ist es in der Sammlung B erhalten. Die Abbildung
(Fig. 4) verdanke ich Herrn Save (vergl. oben S. 18).*
b) Andere Reliefs.
Neben diesen zahlreichen Mercurbildem treten die übrigen
Bilder der Zahl nach sehr zurück. Es lassen sich folgende
feststellen :
15. Fragment : zwei Schenkel ohne Füsse. Neben dem
linken, sehr verstümmelten Bein ist ein Stück eines herab-
hängenden Mantels sichtbar. Das Interessante an diesem Stein
ist das vor dem linken Bein stehende Tier, das jedenfalls
ein Ziegenbock (so auch Schöpft in) mit einem Bart und
einem Halsband ist ; ein Hörn ist abgebrochen. De Montfaucon
(S. 417) nennt es einfach einanimal cornu (?), Jollois (S. 190)
sieht darin eine Hirschkuh (hiebe), was schon wegen des
Hornes ganz unmöglich ist, und hält deshalb den Stein für
das Fragment einer Diana; Kraus» für einen A e s c u 1 a p
mit der Ziege. Nach dem, was oben zu Nr. 13 gesagt worden
ist, könnte es sehr wohl einem Mercur angehört haben.
16. Zwei zusammengehörige Bruchstucke (Kopf und Brust
fehlen); die Glieder zeigen weibliche Rundung, das männliche
Glied eine inßbulatio. Die Gestalt scheint mit einem Tierfelle
bekleidet zu sein, von dem man den herabhängenden Fuss
neben dem linken Bein und die unteren Enden auf den
Schenkeln und dem Leib noch erkennen kann. 3 An den Füssen
Sandalen, deren Riemen aber nicht sichtbar; Attribute fehlen.
Jollois (S. 144) hat falschlicher Weise den oberen Teil mit
dem von ihm gefundenen, PI. 34, 8 abgebildeten Fragment
identifiziert. (Vergl. oben Nr. 5) ; dagegen ist der obere Teil
bei de Montfaucon reproduziert.
17. Zu keiner sicheren Entscheidung gekommen sind die
Ansichten über das von Jollois PI. 34, 3 nach dem Original abge-
bildete Basrelief, das er noch selbst auf dem Donon gefunden.
' Der Katalog des Mnseums in Epinal zählt noch ein Mercur-
bild auf, das ich sonst nirgends erwähnt gefunden habe (N*' 91:
Nackter Mercur in natürlicher Grösse stützt seine rechte Hand auf
einen Bock, der hinter ihm steht. Mit der Linken hält er eine Börse,
die fast ganz zerstört ist.)
' Kunst u. Altert, in E.-L., III, s. v. Donon.
3 S. Alliot, Journ. des Sav. 1693, S. 76 Nr. 1.
— 54 —
Unter den von ihm reproduzierten Rotstiflzeiohnungen befindet
sich das Bild nicht, er sagt sogar ausdrücklich (S. 139), dass
eine Abbildung unter den Rotstiftzeichnungen nicht vorhanden
sei ; dagegen existiert eine solche in der Sammlung B, nach der
es Galmet dargestellt hat, und zwar ist seine Abbildung iht^m
ganzen Typus nach verschieden von seinen übrigen Darstellungen,
so dass wohl Schweighäuser ^ richtig vermutet hat, dass er diese
einem anderen Künstler verdankt. — Der Stein ist nach
Jollois (S. 139} 1,40 m hoch, 0,70 breit und 0,25 dick. Er
stellt eine roh gearbeitete menschliche Gestalt dar, deren Oljer-
körper im Verhältnis zu den Beinen viel zu lang ist; das
Gesicht ist vollkommen abgeschlifTen, die Hände au den auf
beiden Seiten herabhängenden Armen und die Füsse sind ab-
geschlagen. Die Geschlechtsteile sind verstümmelt (also doch
wohl ursprünglich vorhanden). Alle Attribute scheinen zu
fehlen und waren wohl überhaupt nie vorhanden. Gut erhalten
ist ein Hirsch, der hinter der menschlichen Gestalt steht
und dessen Körper von der Seite, dessen Kopf dagegen von
vorn dargestellt ist (in Sammlung B und bei Calmet auch dieser
von der Seite). Bei letzterem steht auf der linken Schulter des
Menschen eine Art von Vogel (etwas anders auf der Rotstifl-
zeichnung der Sammlung B. s. Fig. 5), während er in der dazu
gehörigen Beschreibung (S. 473 f.) von der Spitze eines Wurf-
spiesses oder auch von einem Köcher oder von einem Bogen
spricht, der hinter der linken Schulter sichtbar sei ; bei Jollois
ist nichts der Art vorhanden. — Calmet glaubt, besonders
auch wegen des Hirsches, eine Diana in der menschlichen
Gestalt zu erkennen (so auch Matter «). Schweighäuser
a. a. 0.), der die Existenz eines männlichen Gliedes nach
Jollois* Vorgang als sicher ansieht, erblickt auch hier eines
seiner Mannweiber » und hält die Gestalt für eine männliche
Diana, mit der er einen Dens lunus auf alten Denkmälern
in Vergleich stellt. Jollois endlich erklärt das Bild für das
eines gallischen Jägers und hält den Stein, ebenso wie
die meisten der aufgezählten Basreliefs für einen Grabstein. —
Man wird zugestehen müssen, dass alle diese Erklärungen
wenig befriedigen, zum Teil unmöglich sind. Ich möchte deshalb
eine andere Vermutung aussprechen, die freilich keinen An-
spruch macht, mehr als das sein zu wollen. Zange meistert
1 In dem oben citierten Memoire sar les monnments celtiqnes
du dep. da Bas-ßhin, S. 14.
2 Anm. 1/2 zu Rainart, Voyage, S. 151.
3 S. darüber oben S. 45 f.
* Stades archeologiqaes d^di^es ä Leemans. Leide 1885, S. 239 it
hat auf einem in <ler Uii)ge;jend von Nietlei-bronn gefundenen
Stein ein Bild entdeckt, ilas zwar sehr abj^eschlißen, auf dem
er aber Qber den Schultern Kikiher und Pfeile, aisu die Attri-
bute der Diana, noch erkennen konnte ; die darüber stehende
Inschrift charaklerisierte es als das des Voseffus Silvestris,
dessen Name er auch noch auf einer zweiten Inschrift in Görsdorf
bei Wftrth konstatierte: also der SchutzgoU unseres Gebir^s als
Freund des Waidwerkes dai^eslelll. Sollten wir etwa auch auf
Fig. 5.
Fig. fi.
unserm Stein diesen Vosegus vor uns haben ? {Das Original
wird noch in dem Tempel auf dem Donon aufbewahrt ; siehe
Nachtrag.)
18. Ich schliesse diese Aufzählung mit einem Bruchstück
aus der Sammlung B (s. Fig. 6). Freilich ist nur noch der
untere Teil der Beine vorhanden, aber das dahinter stehende
Tier, dessen hinlerer Teil neben dem linken Bein noch deutlich
sichtbar und dessen Bauchünien auch noch zwischen den beiden
Beinen angedeutet ist Ider vordere Teil nelien dem rechten
liein fehlt), zeigt eine auffallende Aehnlichkeit mit dem auf dem
— 56 —
vorhergehenden Stein, so dass die Vermutung, wir hätten hier
das Bruchstück eines ähnlichen Bildes, wie Nr. 17, vor uns,
nicht allzu kühn ers<;heint. — Die Abbildung findet sich nicht
unter den Rotstiftzeichnungen bei Jollois und ist auch sonst
noch nicht veröffentlicht.
c) Kleinere Brachstücke.
Unter den von Alliot i gezählten, von ihm auf dem Donon
gefundenen Skulpturen gab es eine Anzahl Bruchstücke, auf
denen nur noch Extremitäten (Beine, Hände) und andere Teiie
zu sehen waren. Unter den Rotstift Zeichnungen bei
Jollois sind, ausser den schon aufgeführten, die durch bestimmte
Attribute charakterisiert sind, zwei davon abgebildet (ein drittes
aus Sammlung B ist unter Nr. 18 soeben besprochen).
a) PI. 36, 11 : Zwei Beine bis zum Unterleib ; Geschlechts-
teile fehlen, weshalb sie Alliot (Journ. des Sav. 1693 S. 76, :!)
als zu einer Frau gehörig betraohtet. Der rechte Oberschenkel
ist zum Teil abgeschlagen.
b) PI. 36, 12: Zwei Unterschenkel auf einem Sockel; be-
merkenswert durch die Sandalen an den Füssen. (Vergl.
Alliot bei Jollois S. 133 An'm.) Vergl. Nachtr. Nr. 4.
c) Ein Fragment mit 2 Beinen fand Jollois (S. 140) am
Nordabhang des Gipfels, das nach seiner ausdrücklichen Ver-
sicherung in keiner Sammlung abgebildet war. Wegen seiner
geringen Bedeutung und schlechten Erhaltung hielt er es nicht
für der Mühe wert, eine Abbildung davon zu geben.
In dem Gatalog des Museums zu Epinal von
F. Youlot finden sich in § 8 unter den Basreliefs vom Dor.on
noch zwei weitere Fragmente, die ich unter den oben
aufgeführten nicht identifizieren konnte, nämlich :
d) Fragment (eines Mercur?) : Schultern, Kopf und oberer
(? unterer?) Teil der Beine fehlen, ebenso die Attribute. Natür-
liche Grösse. (Cat. Nr. 92.)
e) Fragment (eines Mercur ?) : Kopf, rechte Schulter und
Beine fehlen. Die Gestalt war von einem Bock begleitet, von
dem das hintere Bein und die Grenzlinie des Bauches notli
sichtbar sind. Vergl. oben Nr. 18. (Cat. Nr. 94.)
Als Professor X. Kraus* im Jahre 1876 den Donon
besuchte, konstatierte er in dem modernen Tempel auf der Spitze
ausser zwei Inschriflensteinen (s. unten) noch zehn unbe-
1 Bei Jollois, S. 133 Anm.
2 A. a. 0. III, s. V. Donon.
— 57 —
deutende Fragmente, darunter vier kleine Architektur-
bruchstücke, von denen er folgende aufzählt (S, den Nachtr.) :
f) Unterteil eines Reliefs: zwei Füsse.
g) Relief: Bruststück.
h) Desgl. : Rücken einer menschlichen Gestalt,
i) Desgl. : Nackter männlicher Unterkörper, in der Rechten
eine Flasche (Geldbörse? wohl zu einem M er cur gehörig).
k) Unterer Teil zweier Füsse.
D. Köpfe von Statuen.
Gering an Zahl sind die Reste von eigentlichen Statuen,
die auf dem Donon gefunden wurden.
i. Ruinart (S. 446) erzählt, dass, als er auf seiner Reise
nach Moyenmoutier kam, man ihm einen weiblichen Kopf
gezeigt habe, der vom Donon stammte und der plane Romanorum
arte dignum est. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das der
PI. 35, 7 u. 8 (bei Jollois) abgebildete ist, auf den in der That
das von Ruinart Gesagte passt ; freilich ist das ganze Gesicht
abgeschlagen, dagegen zeigt die Behandlung des Haares ein
besseres Können, als die anderer! Denkmäler des Donon.
2. Einen zweiten Kopf findet man unter den Rotstiftzeich-
nungen PI. 36, 9: es ist der eines bärtigen Mannes,
de-ssen ganzes Angesicht aber ebenfalls fehlt.
3. Jollois (S. 144 f.) sah in dem Garten des Maire von
Allarmont (im oberen Plainethal), wo er lange Zeit gelegen
hatte, den Kopf einer männlichen Statue, der, wie ihm
von denn Maire bestimmt versichert wurde, von dem Donon-
gipfel stammte. Auffallig ist es, dass er nicht, wie alle andern
Bilder, aus dem roten Sandstein des Donon, sondern aus einem
kalkigen Sandstein (gr^s calcaire) von hellerer Farbe gefertigt
ist. Es ist übrigens geringe Arbeit (das eine Ohr ist viel grösser
als das andere), das Gesicht aber fast unversehrt, nur die Spitze
des Kinnes und der Nase ist abgeschlagen, i
3. Kleinere Fnndgegenstände Tom Donon.
Scherben von verschiedenen Urnen fand schon
H. Alliot bei seinen Ausgrabungen im Innern de< ersten
Gebäudes, und Reste von drei weiteren Urnen in der
1 Vergl. auch Nachtr. N" 7.
— 58 —
Umgebung desselben. (S. oben S. 10.) Auch P. Alliot er-
wähnt solche in seiner Reisebeschreibung. > Neuerdiojrs ent-
deckte J 0 1 1 0 i s (S. 1J33) bei seinen Nachfoi'schungen Bruch-
stücke von Gefässen aus sehr feinkörnigem rötlichen Thon
mit glänzender Glasur, andere aus ähnlicher Masse mit schwarzem
Ueberzug. (S. oben S. 25.)»
«Zahlreiche Grablampen» erwähnt Fachot ia
seinem schon erwähnten Memoire sur la principaute de Salm
(1784),» die aber alle verschleudert zu sein scheinen.
Ganz aufiallig ist die verschwindend kleine Zahl von
Münzen, die man auf dem Donon gefunden. Nur nebenher
spricht Pelletier (S. 394) von quelques m^ailles qu'on a
ronserv6es et qui sont d'un goüt moins barbare (nämlich als
die bildlichen Darstellungen). Die früheren Forscher, die uns
ausfuhrlich über die Donondenkmäler berichtet haben, erwähnen
nichts davon, und Fachot stützt auf die Abwesenheit römischer
Münzen in den Fundamenten der Gebäude auf dem Donon
sogar seine Vermutung, dass diese den Römern überhaupt ah-
zusprechen seien. In einer Anmerkung zu dieser Stelle macht
nun G. Save auf den einzigen wirklich nachweisbaren Munz-
fund aufmerksam, über den Gravier im Journ. de la Soc.
(rfimul. VII, S. 35, berichtet hatte. Im Jahre 4826 nämlich
wurden von einem der Arbeiter, welche die zur Landesver-
messung bestimmte Steinpyramide auf dem obersten Felsgipfel
J)auten, aus einer Felsspalte zwei ziemlich abgeschliffene
römische Münzen, Mittelbronze, herausgeholt, von denen
die eine das Bild des Antoninus, die andere das des
Domitianus trug. Sie gelangten in die Sammlung nach
Strassburg, * wo sie 1870 mit vielen andern gleiches Schicksal
teilten.
Ich schliesse hieran noch die Aufzählung der in der un-
mittelbaren Nähe des Donon gefundenen Gegenstände aus
der Steinzeit. Es sind dies die folgenden :
1 . Ein sehr grosses Steinbeil, 190 mm lang,
37 mm breit und nur 40 mm dick. Gefunden am Fusse des
' Bei Gravier, Journ. de la Soc. d'fimul. VII, S. 21. S. oben S. 13.
^ Ich vermute, dass diese jetzt im Museum zu Epinal aufbe-
wahrt werden.
3 Abgedr. im Bull, de la Soc. philom. Vosg. 9e annee, 1883-84,
p. 133.
^ Schriftliche Mitteilung Schweighäusers an Gravier (im ArchiT
der Society d'fimulation Vosg. in Epinal).
— 59 —
Donon. Mus. arch. lorr. in Nancy; beim Brand des Palais
der Herzöge von Lothringen 1871 beschädigt, i
2. Durchbohrter Stein hanimer, 120 mm lang, aus
schwarzem Serpentin gut gearbeitet. Dr. Bedei in Schirmeck
erwarb das Stück von einem in Blancrupt (oberes Weisses-
Saartbal) wohnenden Holzhauer. Museum in Epina).*
3. Sehr gut erhaltenes, durchbohrtes Steinbeil, gefunden
1882 bei Anlage des Verbindungsweges vom Donon -
Sattel nach der neuen Strasse Donon-Albersdiweiler. —
Sammlung der Gesellschaft für Erhaltung der histor. Denkm.
in Strassburg.s
4. Durchbohrte S i I e x a x t aus grünem Serpentin, gefunden
in der Umgegend des Donon. Sammlung des Dr. Marchai
in Lörchingen.*
4. Inschriften.
Von den auf dem Donon entdeckten Inschriften sind einige
schon gelegentlich erwähnt. Ich führe sie hier noch einmal mit
den übrigen auf, um einige Bemerkungen daran zu knüpfen,
und füge noch ein paar andere bei.
1. und 2. Im Jahre 1732 wurden auf dem Donon zwei Steine
gefunden,» auf welclien in verzierten Einrahmungen, die auf
beiden Seiten von Genien gehalten wurden, Inschriften einge-
meisselt waren. Nach Calmets Vermutung — er hat sie
oflenbar nicht mehr an ihrem Platze gesehen — dienten die-
selben als Schlusssteine der Thüren des Tempels.« Eine Ab-
schritt von der am besten erhaltenen Inschrift schickte Calmet
an Schöpflin, 7 die freilich recht fehlerhaft ist.
1 Bleicher et Faadel, Matdriaax pour une 6tade pre-
historique de TAlsace. Colmar. P« Pnbl. 1878, S. 22 Nr. 46.
2 EbeDda, S. 42 Nr. 233.
» Ebenda, III« Publ. 1883, S. 24 Nr. 481 Nach einer gefälligen
Mitteilung des Herrn Oberförsters Sachs in Metz, früher in Schirmeck,
warde in der Nähe, etwa 60 m von der im Dononsattel stehenden
Pferdebaracke, eine anechte Bernsteinperle gefanden, c wie
sie in fränkischen Fraaengräbern vorkommen».
* L. B^noit, Repertoire arch. etc. in M^moires de la See. d'arch.
lorr. n« s6r. IV, 1862, p. 19; Lorqain.
^ Sie verschwanden bald wieder (Schöpflin) and werden wohl mit
anderen Steinen in die Wasserbehälter von Framont gewandert sein.
^ Was indessen, wie wir sahen, nicht ganz sicher ist; s. oben
S. 24 a. 30.
7 Als. ill. I, 457.
— 60 —
Schöpflin lässt es dahingestellt, ob die Fehler auf Rechnung
des Steinmetzen oder des Abschreibers oder auf Rechnung
beider zu f^etzen seien. Sie lautet bei Schöpflin :
MERCVRIO SECATE
LSVLPO GELIO
VSL CAM
TRIAFANO DACI V
und ist so von Brarabach (Corp. inscr. Rhen. Nr. 4907) abge-
druckt. Schöpflin interpretiert sie so: Mercurio et Hecatae
L. Sulpicius Celio votum solvit (ubens (merito) Traiano Dacico
Y consule. (Dieses Consulat des Traianus fallt in das Jahr
103 n. Chr. und war berühmt durch den Sieg des Traianus
über die Dacier.)
Dieselbe Inschrift hat Calmet selbst in seiner Notice de
la Lorraine I 473 veröfl'entlicht, wo sie folgendermassen lautet:
MER .... VO ... . SECATE
LISS .... MEPO .... CELLO
V S LM
TRAIANO .... DACICO
Wiederabgedruckt mit einigen Veränderungen in
Calmets Histoire de Lorraine VII p. XXVI:
MERC .... VO ... . SECATE
LISS . . . MEPO . . . CELLO
V. S. L. M.
TRAIANO DACICO.
Von ei ner zweiten Inschrift waren nur noch die
Worte
. . . MERCVRIO . . . LENI
zu lesen.
Seh weig hau se r hatte nun Gelegenheit, mehrere alte
Abschriften der längeren Inschrift einzusehen und berichtet
darüber im Kunst-Blatt 1823 S. 322 f. : «Ich habe mehrere alte
Handzeichnungen derselben mit einander verglichen, aus
welchen sich blos dieses mit einiger Gewissheit herausbringen
lässt, dass sie mit
MERCVRIO VOGESO ET HECATE
anfing. Ganz bestimmt lesbar war von dieser ersten Zeile, wie
es scheint, nur:
MERCVR VOGES ECATE
so dass über den letzten Götternamen, den Schöpflin SECATE
schreibt, aber dennoch die stygische Herrscherin darin erkennt,
— 61 —
auch selbst nach dieser Verbesserunj^, die das S zu Vogeso
zahlt, wo aber immer das H fehlt, noch einige Ungewissheit
übrig bleibt, was um so mehr zu bedauern ist, da die römischen
hischriften, wo Mercur mit Hecate vorkommt, äusserst selten
sind.]» In einer Anmerkung fügt Schweighäuser hinzu : «Die
einzige mir bekannte, die gerade so lautet, kommt in Sattlers
Würtemberg. Altertümern vor.»
Wenn Schweighäusers Ansicht richtig ist, so hätten wir hier
eine sehr interessante Inschrift vor uns. Ein Deus Vosegus
war früher nur bekannt aus einer aus Bergzabern stammenden,
leider wieder verlorenen Inschrift, die uns Gruter überliefert
hat. 1 Neuerdings hat Zangemeister' den Namen des Vosegus
Silvestris auf zwei im Elsass (in Görsdorf bei Wörth und am
Fusse des Reiberges an der Strasse von Zinsweiler nach Off-
weiler) gefundenen Inschriften nachgewiesen. Diese inschrift-
lichen Zeugnisse bestätigen die Form Vosegus, während Vo-
gesus bisher nur handschriftlich überliefert war, also jenen
Zeugen gegenüber in Zweifel gezogen werden konnte. * Hier
hätten wir also auch für diese Form einen inschri filichen
Nachweis.
Was nun die Verbindung dieses Namens mit
dem des Mercurius betrifft, so ist zwar kein weiteres
Beispiel dafür bekannt, aber nicht wenige Inschriften bieten
uns die Beweise für die Sitte, römischen Gottheiten Beinamen
zu geben, die von gallischen Orten oder Lokalgottheiten herge-
nommen sind, unter denen ich besonders auf die Diana
Ahn ob a d. i. die auf dem Schwarzvvalde lokalisierte Diana,
die auch als [Dea] Abnoba vorkommt, * hinweisen möchte, weil
2 Bei Brambach Nr. 178^.
2 £tade8 archöologiques d^diöes ä Leemans. Leide 1885. S. 239 ff.
3 Näheres darüber s. bei Zangemeister, a. a. 0.
* Abnoba (Brambach 1626. 1690) ; Dea [Diana] Abnoba 1680 ;
Diana Abnoba 1654 (1655); Deana Abnoba 168H. — Andere Beispiele :
Mercurius Alaunus (I717j, genannt nach Alauniam in Gallia Narbon.
od. Alaana in Gall. Lngdun. ; Mercurius Arvernus (256. 257. 593.
1741. 2029\ nach den Arvernern in der Auvergne; Mercurius Cisso-
nius (400. 1461. 1739 ; Schöpflin, Als. ill. L 459), daneben Cissonias
allein (1831) ; Mercurius Visucius (1581 in Yerbindang mit einer Göttin
Visacia); Visucius Mercurius (1696); daneben Visucius allein (1704):
nach der gewöhnlichen Annahme Gott von Vesontio (Besannen). —
Mars Caturix (1588 k nach den Caturigern in der Dauphin^; Mars
Leucetius (930. 1540) : nach den Leucem am Westabhang der Vo-
gesen genannt; Mars Cnabetitts (in Erbstetten Württemb. u. Oster-
burken Baden). —
— m —
sie j^ewissermassen das Gegenstück zu unserem Mercurius Vi>-
gesus bildet. Trotz seiner Vereinzelung wurde also dieser Mer-
curius Vogesus nicht ausserhalb der Möglichkeit liegen. Dagegen
erregt der Name der H e c a t e in Gesellschaft des Mercur einige
Bedenken, die auch Schweighäuser nicht unterdrücken konnte :
denn selbst die von ihm angeführte Inschrift aus Württembei^
existiert in Wirklichkeit nicht, * sowie auch sonstwo keine In-
schrift mit diesen beiden Gottheiten nachgewiesen ist.
Die beigegebene Abbildung unseres Inschriflensteines
(Fig. 7) stammt aus Sammlung B, die früher im Besitz
Calmets war, und scheint bisher noch nicht veröfTentlicht zu
Fig. 7.
sein. Ich verdanke sie der Freundlichkeit des Herrn Save, der
sie nach der in seinem Besitze befindlichen Zeichnung durch-
gepaust hat. 2
3. Die auf einem Mercurrelief stehende In-
schrift ist schon oben S. 51 ausführlich besprochen, wes-
halb ich hier mich begnüge, darauf zurückzuweisen. (Brani-
bach Nr. 1908.)
1 Von Sattler gibt es kein Werk mit dem von Schweighäaser
angegebenen Titel, sondern nur : Gesch. des Herzogt. Würtemberg
1757 u. Topograph. Gesch. des Herzogt. Würtemb. 1784: in keinem
von beiden wird eine solche Inschrift erwähnt
2 Wenn der Stein, wie Schöpfiin berichtet, wirklich erst 1732
aufgefunden wurde, so könnte sich die Abbildung davon natürlich
auch nicht unter den von Alliot oder auf seine Veranlassung he^
gestellten Rotstiftzeichnungen befunden haben; der Umstand, dass
Alliot und Ruinart seiner keine Erwähnung thun, bestätigt ebenüalls
die Annahme, dass sie ihn nicht gekannt haben. Es ist daher höchst
wahrscheinlich, dass erst Calmet ihn abgezeichnet hat und dass also
auf ihn obige Originalabbildung zurückgeht.
— 63 —
4. Dasselbe ist mit der auf einem Votivallar
stehenden Inschrift: I. 0. M. C. Lucullus Lepidinu^
V. s. i. m. (S. oben S. 27 f.) der Fall. Zangemeister
(Korrespondenzbl . 1890 Nr. 8) zweifelt an der richtigen Lesun^^
des Namens Lucullus, wohl weil an dieser Stelle ein Gentii-
name stehen müsste, was Lucullus nicht ist, und vermutet
LVCVLLVS = Luculliusi (Brambach Nr. 1906).
5. Matter hatte, wie wir sahen (S. 28), die Notiz mitge-
teilt, dass auch auf zwei anderen Altären sich Reste von In-
schriften t)efunden, von denen aber nur noch die Buchstaben
I. 0. M. erkennbar gewesen seien.
Nun befindet sich in der Sammlung B
die Abbildung eines Altars mit einer In-
schrift, deren erste Zeile jene drei Buch-
staben I. 0. M. (lovi optimo muximo)
zeigt, von der im übrigen aber nur noch
einzelne Buchstaben erhalten sind, deren
Entzifferung Schwierigkeiten bereitet. Es
ist höchst wahrscheinlich, dass der Altar
einer jener von Matter erwähnten ist. Ich
gebe die bisher noch nicht veröffentlichte
Abbildung ebenfalls nach einer Kopie des
Herrn Save. (Fig. 8.)
6. Wegen der Inschrift Bell i c c u s
Surbur verweise ich auf die Aus-
führungen S. 31 ff.
7. Prof. Kraus fand bei
Fig. 8.
seinem Besuche des Donon im
Jahre 1876 in dem sogenannten «Musee» eine Inschrift,
die bis dahin nocht nicht veröffentlicht war ; sie lautet nach
ihm (III. s. V. Donon):
D M
GANEIVS
MARTI ALI
Dis manibus oder Deo Mercurio Ganeius Martiali(s). (Vergleiche
Nachtr. Nr. 10.)
8. Im Jahre 1869 fand Dr. ßedel, Arzt in Schirmeck, bei
Ausgrabungen, die in dem Sattel zwischen dem grossen und
dem kleinen Donon veranstaltet wurden, an einem alten We^^e
den Stumpf einer oben konisch zulaufenden Säule aus Vogesen-
1 Vgl. auch H et in er, Westd. Zeitschr. für Gesch. u. Kunst
V, 1885. S. 371.
— 64 —
Sandstein, 0,75 m hoch, 0,38 m oberer, 0,42 m unterer Durch-
messer, mit einer fünfzeiligen römischen Inschrift aus ziemlich
schönen, aber sehr abgeschliffenen Buchstaben bestehend.
F. V 0 u 1 0 1 , der den Stein damals besichtigte, schickte Ab-
schrift und Interpretation der Inschrift an die Gesellschaft der
historischen Denkmäler in Strassburg. 1875 fertigte er einen
wohlgelungenen Abguss für das Museum in St. Germain, einen
gleichen schickte er an das Museum in Epinal (Gat. Nr. 34),
während er zugleich schriftliche Mitteilung über seine Deutungs-
versuche an L^on Renier in Paris sandte. Da er von Seilen
Reniers keiner Antwort gewürdigt wurde, glaubte Voulot, dass
die Inschrift keinen Wert besitze, bis er durch Mowat in
Rennes, der durch einen Freund von dem Denkmal Kenntnis
erhalten hatte, eines besseren belehrt wurde. Dieser hatte zu-
erst in der Acad^mie des Inscriptions (Sitzung vom 4. Februar
1876) und dann durch einen Aufsatz in der Revue arch^lo-
gique 1876, Avril, S. 261 ff. «Dicouverte d'un vicus gaulois de
l'epoque romaine» die Inschrift in weiteren Kreisen bekannt
gemacht. Nunmehr veröffentlichte auch Voulot (ebendas. Juillel
unter dems. Titel mit Abbildung des Steines nach einer Pho-
tographie S. 46 ff) seine Ansicht und gab eine — wie ich glaube
richtige — Interpretation derselben. — Der Stein befindet sich
gegenwärtig in dem modernen Tempel auf dem Donongipfel
hinter einem Eisengitter eingeschlossen. Hier sah ihn 1876
Kraus, der die Inschrift freilich «infolge einer die Lesung er-
schwerenden Aufstellung» falsch wiedergibt. {Vergl. Nachlr-
Nr. 11.)
Die Inschrift lautet :
nach Mowat : nach Voulot :
D. M IHR D. M
L • VATINI • FEL L • VATINI • FEL
MILIARIA A- VIG MILIARIA A • VIC
SARA VC • LXII • C • I||| SARAVO L • XII • C • I
V. S. L. M. V. S. L.
Es handelt sich also um einen Meilenstein, aber nicht
von der gewöhnlichen Art, auf denen neben der Angabe der
Entfernung von einem bestimmt bezeichneten Ausgangspunkt
der Name des Kaisers genannt wird, unter dessen Regierung
der betreffende Stein gesetzt ist. Auf dem unsrigen finden wir
vielmehr den Namen eines — wenn auch gewiss vornehmen —
Privatmannes oder Beamten, des Lucius Vatinius Felix.
Merkwürdig ist ferner die erste Zeile D. M. in Verbindung mit
der letzten Zeile der Inschrift in etwas grosseren Buchstaben
V. S. L. [M]. Letztere weisen deutlich darauf hin, dass wir es
— 65 —
mit einer Dedicationsinschrift zu thun haben, denn das so
häufige V. S. L. [M] bedeutet bekanntlich = votum solvit
lubens merito. Was nun D. M. der ersteren 2feile betrifft, so
finden sich diese beiden Buchstaben oft auf Grabdenkmälern,
wo sie = Dis Manibus. Mowat glaubte hinter dem M noch die
Spuren eines ER zu sehen, was indessen Voulot bestreitet und
was allerdings auch deshalb nicht recht wahrscheinlich er-
scheint, weil dadurch die Symmetrie der Inschrift gestört
würde. Trotzdem ist auch er der Ansicht, dass D. M. hier die
Bedeutung Deo Mercurio hat, i weil Mercur nicht nur der Be-
^^chützer der Wege, sondern auch derjenige Gott war, auf den
ilie Denkmäler des Donon in erster Linie hinweisen, während
die Bei manes auf einem Meilenstein keinen Sinn hätten.
Einige Schwierigkeit bietet die Erklärung der dritten und
vierten Zeile der Inschrift. Ein vicus Saravus wird in
keinem der bekannten römischen Itinerarien oder sonstwo er-
wähnt, nur das ist sicher, dass Saravus der lateinische Name
für die Saar ist. Mowat, der die Inschrift so verstand:
L. Yatinius Felix Hess von Vicus Saravus an LXII Meilen-
steine setzen (condi jussit oder curavit poni), kam, von der
richtigen Voraussetzung ausgehend, dass dieser Vicus Saravus
an der Saar gelegen, von der er seinen Namen erhalten habe,
auf Saarbrücken als den Vicus Saravus, das ziemlich
genau 62 römische Meilen = ca. 90 km vom Donon entfernt
ist. Voulot, der es ebenso wie L. Renier« für unglaublich
hält, dass ein Privatmann eine so grosse Anzahl von Meilen-
steinen auf seine Kosten habe setzen lassen, liest L. XII =
leucis XII und übersetzt demnach : «L. Vatinius Felix liess für
die 12 Leuken vom Vicus Saravus an (nämlich bis zum Donon)
die Meilensteine setzen», so dass also miliaria hier im weiteren
Sinne für Leukensteine zu fassen wäre. (Die gallische leuca =
1,5 römische milia passuum.) Nimmt man nun diese Entfernung,
also XII leucac = XVIII milia passuum = 27 km an, so kommt
man nach Saarburg, das in der That eine grössere Nieder-
lassung zu römischer Zeit war, wie die Funde beweisen. ^
Damit stimmt auch vorzüglich der Name Saarburg, der genau
die üebersetzung des lateinischen Vicus Saravus ist. Leider
tritt uns dabei eine neue Schwierigkeit entgegen : es kann
1 Vergl. Brambach Nr. 1851—53.
^ Bei Mowat, Revae arch. a. a. 0. p. 265 ; derselbe hat übrigens
eine sehr eigentümliche Ansicht über diese Inschrift geäussert, in
der er eine Art von Palimpsest erblickt (Das Nähere a. a. 0.)
9 Krans III s. v. Saarbarg.
5
— m —
nicht zweifelhaft sein, dass Saarbur^^ die in dem Itinerariurn
Antoninum Pons Saravi, auf der Peutinger'schen Tafel
Pontesaravi genannte Oertlichkeit ist. Woher also der
Doppelname? Voulot sieht die Schwierigkeit nicht, da er Pon$
Saravi für Saarbrücken hält. Trotzdem ich keinen Ausweg sehe,
dieses Rätsel zu lösen, möchte ich doch Voulots Ansicht von
den 12 Leuken beistimmen, nicht sowohl deshalb, weil ich es
für unmöglich balte, dass ein Privatmann 62 Meilensteine habe
setzen lassen, sondern weil hier nur von einem Weg minderer
Ordnung, einem Handelsweg, die Rede sein kann, der sicher
in die grosse Heerstrasse Argentoratum-Divodurum einmündete,
während er nach Mowats Annahme sich über dieselbe hinaus
bis an die untere Saar fortgesetzt hätte. Aus diesem Grunde
ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass ein solcher, nur
lokalen Bedürfnissen dienender Weg, nach römischen
Meilen abgemessen war, während selbst die an den grossen
Heerstrassen in unseren Gegenden des nordöstlichen Galliens
gefundenen Meilensteine meistens die Angaben der Entfernun^r
in gallischen Leuken aufweisen.
5. Römerwege.
Sichere Spuren weisen darauf hin, dass der Donon von
den Römern mit der bewohnten Umgegend durch Strassen in
Verbindung gesetzt war, wobei jene vermutlich zum Teil schon
vorhandene Wege der eingeborenen Bevölkerung benutzt haben.
Da aber alle diese Wege keine grossen Heerstrassen waren, so
ist es nicht zu verwundern, dass uns die Itmerarien nichts
davon melden.
1. Donon-Saarburg. Die Verbindung des Donon mil
dem Vicus Saravus (Saarburg) durch eine Strasse ist durch den
oben besprochenen Meilenstein zur Gewissheil erhoben. Schwie-
riger ist es indessen, den genauen Verlauf des Weges anzugeben.
Wir sahen, dass die auf dem Steine angegebene Entfernung'
von 42 Leuken mit der wirkhchen Entfernung Dononsattel-
Saarburg stimmt, aber — fügen wir hier hinzu — auch nur,
wenn wir die direkte Linie berechnen. Dieser also müssen
wir folgen, wenn wir unsern Weg feststellen wollen, wo-
bei wir übrigens durch die Gewohnheit der Römer unter-
stützt werden, ihre Strassen möglichst geradlinig, soweit es die
Terrain Verhältnisse gestatteten, mil Vermeidung der en^jen
Thuler über die Höhen hinweg, anzulegen, ein Grundsatz, dem
zu Liebe sie selbst vor grossen Steigungen, die man heutigen
Tages unbedingt vermeiden würde, nicht zurückscheuten. Die>e
— 67 —
direkte Linie geht nun über den Bergrücken zwischen dem
Thal der roten und weissen Saar, Alberschweiler, Harzweiler,
Schneckenbusch nach Saarburg. Sehen wir also zu, ob er-
haltene Spuren diese Annahme rechtfertigen.
Folgt man vom Dononsattel aus dem alten Fahrweg, an dem
das S. 59 unter Nr. 3 erwähnte Steinbeil gefunden wurde, nach
Norden, so erreicht man nach etwa 20 Minuten die neue
Strasse, die vom Forsthause Donon durch das Thal der roten
Saar nach Alberschweiler führt. Nach wenigen Schritten zweigt
sich von derselben links wieder ein alter Fahrweg ab, der sich
am westlichen Abhang des Bergrückens hinzieht : es ist ein
alter Grenzweg, der durch die noch stehenden hohen Grenz-
steine mit dem Wappen des Klosters St. Quirin (9 Ringe in einem
auf der Spitze stehenden Dreiecke) bezeichnet ist. Oberhalb des-
selben (unweit der Malcöte), nur etwa 150 m von dem Wege
entfernt, steht der berühmte Sac de pierre oder Sac du march6,i
der, trotzdem keine Inschrift mehr auf demselben zu konstatieren
ist, s durch seine Gestalt ohne Zweifel sich als römischer Meilen-
stein und zwar von demselben Umfange wie der auf
dem Dononsattel gefundene, 3 dokumentiert. Es ist im höchsten
Grade wahrscheinlich, dass er aus der Nähe, d. h. von
jenem Römerwege, an dem er stand, hierher geholt und zu
seinem spateren Zwecke verwendet worden ist. Der Weg läuft
an dem westlichen Abhang weiter bis unterhalb des Fr^sillon-
kopfes; hier spaltet sich der bis dahin einheitliche Kamm in
zwei. Dem rechten folgte, wie ich glaube, unser Weg, auf dem
Messtischblatt Chemin de Pierre de St. Quirin genannt, und
senkte sich später über Lettenbach nach Alberschweiler hinab, 4
in dessen Nähe zahlreiche Reste von Wohnungen und Be-
festigungen auf eine starke Besiedlung in alter Zeit hinweisen.»
Indem er weiter seine bisherige Richtung beibehält, zieht ei
sich nach Weiher, wo Beaulieu « aus Substructionen und anderen
Funden auf dem benachbarten Hügel einen römischen vicus
1 S. darüber Dugas de Beanlien, le Comte de Dagsbourg S. 305 f.
Mündel, Vogesen 5. Aufl. S. 165. 6. Aufl. S. 175.
2 Möglich, dass überhaupt keine darauf war, wie auch sonst auf
Meilensteinen.
3 Seine Höhe beträgt 1,30 m, während jener Inschriftenstein nur
0,75 hoch, aber verstümmelt ist.
* Möglicherweise auch über «Zweikreuze», das Saarthal westl,
¥on Alb. schneidend.
ä Beaulieu a. a. 0. S. 267.
6 A. a. 0. S. 303 f.
— 08 —
und einen zweiten in dem nahen Walde von Barville glaubte
konstatieren zu können und wo ein We|? in der Richtung auf
Walscheid (sog. Ghemin des Princes) » sich abzweigte. Weitere
Spuren des Weges in der Hichtung auf Saarburg sind bei
Harzweiler (in dem Walde zwischen Harzweiler und Hessen)
und bei Schneckenbusch nachgewiesen.«
Misst man diesen Weg auf der K?irte ab, so ergeben sich
genau 27 — 28 km ; wir dürfen demnaih mit einiger Sicherheit
annehmen, dass dies der Verlauf unserer gesuchten Strasse
war. 3
Da wo unser Weg vor dem Frijs?i Hon köpf sich rechts ab-
zweigte, folgte ein anderer Weg dem westlichen Kamm nach
St. Quirin. Da sich nun Spuren eines i\\ien Verbindungsweges
von letzterem Orte nach Niederdorf und auf das linke Ufer der
Saar nachweisen lassen,^ so ist es nicht unwahrscheinlich, dass
eine Abzweigung des obigen Wegei den Donon mit dem stark
l)esiedelten linken Saarufer in der Umgegend von Fraquelfingen,
Lörchingen u. s. w.s in direkte Verbindung setzte.
2. Donon — Chemin allemand — (T a r q u i n p o 1).
Als ein zweiter Römer weg vom [Donon aus in nordwest-
licher Richtung wird von den Lokalforschern der sogenannte
Chemin allemand oder d'Allemagne betrachtet. Er
zweigt sich hinter dem Dononsattel von dem unter 1. be-
schriebenen Weg ab, zieht sich um das obere Plainethal herum
und folgt der Wasserscheide zwischen Plaine und weisser Saar,
hier einst die Grenze zwischen den beiden Departements
Meurthe und Vosges, jetzt zwischen den Bezirken Unterelsass
1 Vielleicht setzte sich derselbe auch westlich nach LÖrchingeD
zu fort. Beaulieu S. 291.
3 B 6 n 0 i t, Repertoire arch. de rarrondissement de S&rrebourg
in Memoire de la See. d'archeol. lorr. 1862 s. y. Hartzwiller S. 40
a. Schneckenbusch S. 48.
^ Zu einem ähnlichen Resultat ist auch Voulot, Revne arcL
a. a. 0. gekommen, doch enthält seine Beschreibung einige Unrichtig-
keiten : der Weg geht nicht über Haut-du-Bon-Dieu, sondern östL
daran vorbei; den Namen Chemin des AUemands fuhrt nicht dieser
(so auch Bönoit a. a. 0. S. 15 s. y. Abreschwiller), sondern der unter
Nr. 2 beschriebene Weg.
* B6noit, a. a. 0. s. y. M6tairie-de-St-Quirin S. 21 und dere.
Voies rom. in M6m. lorr. 1865 S. 23.
^ Ueber die Funde und die Literatur darüber s. Kraus IQ s. t.
Fraquelfing, Lörchingen, Schweizingen.
— 69 —
und Lothringen, und in seinem weiteren Verlaufe grösstenteils
die deutsch-französische Grenze bildend. *
Die an vielen Stellen zu Tage tretenden Reste zeigen ein
9Jlt — 3 m breites, aus cyklopischen Sandsteinquadern, dem
örtlich vorhandenen Material, zusammengefügtes Pflaster, auf
dem sich auf längere Strecken die tief eingeschnittenen Geleise
verfolgen lassen ; * ein besonders gut erhaltenes Stück des
Weges ist zwischen der Bezirksgrenze und La large Pierre vor-
handen, s Hintei" Lascemborn (LafrimboIIe) mundet unser Weg
in die Strasse zwischen Bertrambois und Hattigny bei der
Ferme Bonlieu. Hier befand sich, wie Ruinen von Gebäuden,
Ziegelreste, Münzen und andere Funde beweisen, eine römische
Niederlassung.* Von hier aus geht jede weitere Spur des
Weges verloren ; gehen wir aber in der bisherigen Richtung
weiter, so kommen wir nach Tarquinpol am Linder- Weiher,
dem Hauptort der Decempagi der Itinerarien. » Und nun ist
es überraschend, zu bemerken, dass in der That zwischen
Azoudange und Maizi^res die Spuren eines Römerweges zu
Tage treten,^ welcher die moderne Staatsstrasse rechtwinkelig
schneidet und sich demnach an die von uns verfolgte Richtung
anschliesst. Bald darauf aber macht er eine Biegung nach
Norden gegen Tarquinpol. Er ist nachgewiesen in der Nähe
der Weiher zwischen Videlingen und St. Clemens und in dem
Wald westlich der Ferme Alteville, den er auf einem Damm
durchschneidet. ' In Tarquinpol traf er die grosse Römer-
strasse, die von Argentoratum und Tres-Tabernae über Decem-
pagi nach Divodurum (Metz) führte. Ich halte es für keine allzu-
1 Der Weg ist genau verzeichnet auf der Messtischkarte. —
Yergl. auch B6noit, R^pei-t. 8. v. Raon-les-FEaa S. 22. LafrimboIIe
S. 19, Turquestein S. 24, Bertrambois S. 16.
^ Letztere stammen jedenfalls z. T aus jüngerer Zeit. Der Weg wurde
nämlich früher benutzt hauptsächlich zum Transport der Holzkohlen
nach den Glaswerken von Alberschweiler, Lettenbach u. s. w. und
den Eisenwerken von Grandfontaine u. Framont. Ans dieser Benutzung
aber darauf zu schliessen, dass der Weg zu dem Zweck angelegt
sei, halte ich nicht für begründet. — Ich verdanke .obige Notizen
einer gefälligen schriftlichen Mitteilung des Herrn Oberförsters Sachs
in Metz, früher in Schirmeck.
' Nach einer mündlichen Mitteilung des Herrn Mündel.
^ Kraus III s. v. Hattigny.
» Kraus III s. v. Tarquinpol.
^ Benoit, Rupert, s. v. Azoudange S. 35.
7 Beauiieu, archöologie de la Lorr. II S. 12 f.
— 70 —
kühne Vermutung, wenn wir in diesem Slück die Fortsetzung
der vom Donon kommenden Strasse erblicken.
3. Donon — Breuschthal — (St rass bürg).
Die unter 1. und 2. beschriebenen Strassen, die aus dem
Xfediomatricergebiet zum Donon fährten, hatten ihre Fortsetzung
nach Osten in die Rheinebene durch das Breuschthal;
schon Schöpflin* hat auf diesen Römerweg aufmerksam ge-
macht und uns den volkstümlichen Namen Sarazenenweg*,
((was in der Terminologie der Gegend Heiden- oder Zigeuner-
weg heissti),8 überliefert, der heutigen Tages verschwunden zu
sein scheint. Er führte vom Dononsattel aus vermutUch auf
der Grenze zwischen dem Gemeindewald von Schirmeck und
Wisch am West- und Südabhange des Kohlberges herum und
von der Ostseite dieses Berges in gerader Richtung über den
Bergrücken, zuletzt ziemlich steil abwärts nach dem Dorf
Wisch. Schweighäuser fand Reste des alten Pflasters,
«das zwar schmal, aber sehr wohl gelegt gewesen zu sein
scheint».* Von Wisch aus folgte die Strasse dem Laufe der
Breusch. De Morlet, der die Römerwege im Unter -Elsass
beschrieben hat, glaubte * die Spuren derselben in den langen
sterilen Kiesstreifen zu erkennen, die sich mitten durch die
Wiesen des Breuschthales hinziehen und die in den Grund-
büchern unter dem Namen Langallmend bezeichnet sind.*
Das erscheint mir recht unwahrscheinlich ; denn hätte der Weg
wirklich in unmittelbarer Nähe des Flusses hingeführt, so wäre
er fortwährenden Ueberschwemmungen und Zerstörungen aus-
j,^esetzt gewesen, und eine solche Kurzsichtigkeit dürfen wir
den praktischen Römern nicht zutrauen. Ich glaube deshalb,
dass wir ihn vielmehr au den letzten Ausläufern der gegen das
linke Breuschufer herantretenden Berge zu suchen haben, in
der Nähe oder unter der modernen Strasse, was auch
Schweighäuser' bestätigt, der erwähnt, dass man in der
1 Als. ill. I 253.
2 Derselbe (cfaemin des Sarrasins) findet sich schon in einer
Teilungsarkunde der Grafschaft Salm v. J. 1598 (Gravier, Jonm. de
la See. d'fim. ji» VII S. 26)
3 Schweighäoser, Kunstblatt 1823 S. 331.
« Kunstbl. 1823 S. 331 u. Golböry a. Schweighäuser, Antiqnit^s
de FAlsace 1828 U, S. 28 f.
^ Bull, de la See. ponr la conservat. etc. lY 1861. Mem. p. 63.
* Ueber diese sog. Langallmend und die verschiedenen Ver-
mutnngen aber ihre Bedeutang s. Levranlt, La vail^e de la
Bruche S. 10.
'^ Annnaire du Bas-Rhin 1822 S. 35'i.
— 71 —
Thal Spui-en eines alten Weges längs der jetzigen Strasse ge-
funden habe. Ebenso wenig will es mir einleuchten, dass die
Römerstrasse am Fusse von Heiligenberg vorübergegangen sei.
Ich weiss nicht, ob vorhandene Spuren darauf hindeuten —
de Morlet erwähnt nichts davon, sondern beruft sich nur auf
handschrifthche Aufzeichnungen Schweighäusersi, — aber da
in Heiligenberg die Existenz eines romischen Castrums nachge-
wiesen ist, 2 so wäre es gegen alle Regein der römischen Be-
festigungskunst, wenn die Strasse nicht durch oder unmittelbar
an ihm vorbei über den Berg hinweg geführt worden wäre.
In Dinsheim, wo ebenfalls Funde auf eine römische Nieder-
lassung hinweisen, hat unsere Strasse jedenfalls die Thalsohle
wieder erreicht, s um dann etwa bei Mutzig die Breusch zu
überschreiten und nunmehr bis Strassburg dem rechten Ufer
des Flusses zu folgen. Spuren derselben fand man zwischen
Dinsheim und Dorlisheim, sowohl ober- als auch unterhalb von
Mutzig. ^ Ueber den weiteren Verlauf der Slrasse bis Strass-
burg geben einen Anhalt die in Dorlisheim» und Altdorf« ge-
machten Funde : sie beweisen, dass sie sich nicht wesentlich
von der jetzigen Strasse entfernte. In der Nähe von Strassburg,
wo sie sich (bei Königshofen) mit der von Helvetus (Ehl) und
Zabern (Tres Tabernae) kommenden grossen Heerstrasse ver-
einigte, soll sie sich unter dem Namen Herren weg wieder
finden. ?
1 Schweighäiiser a. a. 0. sagt dagegen ausdrücklich : «Eine
kleine gepflasterte Strasse führt von Heihgenberg in das Brensch-
thal hinab > Vergl. Raven^z (II 82 f), der, wie ich nachträglich sehe,
jene Aufzeichnungen Schweighäasers abgedruckt hat.
3 J. Schneider, Befestigungen in den Vogesen 1844 S. 36 f Auch
andere Spuren einer römischen Niederlassung, u. a. mehrere
Ziegelöfen wurden aufgedeckt. (^Golb^ry und Schweighäuser, Antiqui-
tes II S. 91, Schweighäuser, Annuaire du Bas-Rhin 1822 S. 352 ff.i
Levrault, a a. 0. S. 7.) Funde von merovingischen Münzen neben solchen
römischer Herkunft scheinen darauf zu deuten, dass diese feste
Stellung auch später von den Franken besetzt gehalten wurde. Sehr
wahrscheinlich ist es, dass die in 2 Urkunden, von Karl dem
Grossen aus dem Jahre 778 und von Ludwig dem Frommen aus dem
Jahre 817 erwähnte regia strata unsere Römerstrasse im Breuschthal
ist (Grandidier, Bist. d'Als. S. 82 f.)
s Coste, Alsace romaine S. 115 nimmt eine Verbindung aus dem
Breuschthal mit dem Odilienberg über Rosenweiler, Börsch an.
* Levrault a. a. 0. S. 3.
^ Scfaweighäuser u. Golb^ry S. 68.
« Bull, de la Soc. U P.-V. p. 84.
7 De Morlet a. a. 0.
4. Donon — Plainethal — [Langres]. Eine
vierte Strasse endlich, eine Verbindung vom Donon durch
das Gebiet der Leucer nach Andemantunum, der Haupt-
stadt der Lingonen, führte in südwestlicher Richtung durch
das Plainethal. Sie nahm ihren Anfang jedenfalls im
Dononsattel, 1 wo sie mit den oben beschnel)enen Strassen zu-
sammentraf, und begleitete dann die Plaine von ihrer Quelle
bis zu ihrem Einfluss in die Meurthe bei Raon-Tfltape auf dem
linken Ufer. Die Spuren derselben, die schon Schöpf lin « er-
wähnt, sind jetzt verschwunden, da sie von Raon-sur- Plaine
aus der modernen Strasse als Unterbau gedient hat. Oberhalb
von Raon-r£tape überschritt sie die Meurthe, an deren linkem
hohen Ufer sie dem Flusse eine Strecke aufwärts folgte, um
dem Dorfe St-Blaise gegenüber die Höhe des Bei*ges von Repy
(Röpit) zu erklimmen, w^o Reste von Befestigungen mit zahl-
reichen Funden römischer Altertümer die Stelle eines castra
stativa bezeichnen, s Ueber den Rücken des Bei-ges lief sie
weiter abwärts nach Rembervillers, überschritt die Mosel
zwischen Chatel und Portieux lauf dem linken Ufer, auf dem
Hügel von Beaucamp Spuren eines römischen Lagers ; bei La
Marche ein drittes Lager) und erreichte Langres, das römische
Andemantunum.
Zum Schluss möchte ich noch einmal, die gelegentlich ge-
machten Andeutungen zusammenfassend, auf die Fnige nach
der Zeit, der unsere Donondenkmäier angehören, und nach
dem Volk, dem sie entstammen, sowie nach dem Zweck
und der Bestimmung derselben zurückkommen.
Ich gehe dabei aus von den beiden Reliefs mit den römi-
schen Inschriften, die uns sicher auf die Zeit hinführen, wo
im Lande bereits die Römerherrschafl aufgerichtet war. Da
aber auch die andern Bilder, so unvollkommen auch die uns
vorliegenden Abbildungen derselben sein mögen, im Ganzen
1 J ol 1 0 i s (Antiqnit^s da d^p. des Vosges 1843 [m. Karte].
Introduction p. XXIV sniv.), dem ich im übrigen folge, lässt sie aaf
seiner Karte — der Text lässt die Entscheidang unklar — von
liaon-sur-Plaine ans aufwärts der jetzigen Strasse westlich am Donon
vorbei über Grandfontaine-Schirmeck gehen. Sicher ist, dass im Mittel-
alter der vielbegangene Weg aus Lothringen in das Elsass Ober
Schirmeck führte, aber ebenso unwahrscheinlich ist es, dass zur Zeit
der Römer erst in Wisch die Verbindung mit den obengenannten
Strassen hergestellt sein sollte.
* Als. III I 451, annot. (x.)
^ Näheres darüber Gravier, Histoire de St-Di6 S. 24 ff.
— 73 —
denselben Typus wie jenes Mercurhild aufweisen, so trage ich
kein Bedenken, es als sicher hinzustellen, dass auch sie jener
Zeit zuzuweisen sind. Man hat zwar geglaubt, dass diese
letzteren auch der vorrömischen Zeit angehören könnten und
sich dafür auf das Zeugnis Caesars berufen (ball. gall. VI, 47:
Deum maxime Mercurium colunt : hujus sunt plurima simulacra),
der uns allerdings bestimmt überliefert^ dass schon damals, als
die Römer in das Land kamen, bildliche Darstellungen der
gallischen Götter vorhanden waien. Demgegenüber ist aber
Folgendes zu erwägen : Wenn Caesar den von den Galliern
vorzugsweise verehrten Gott Mercurius nennt, so folgt er dabei
einer auch bei andern Schriftsiellern (u. a. Tacitus in Bezug auf
die Germanen) üblichen Gewohnheit, die Götter fremder Völker
nach der Aehnlichkeit ihrer Funktionen mit dem römischen
Namen zu benennen ; so auch an jener Stelle, wo er hinzufügt :
hunc omnium inventorem artium ferunt, hunc viarum atque
itinerum ducem, hunc ad quaestus pecuniae mercaturasque
habere vim maximam arbitrantur. Hiermit haben wir aber
für die bildliche Darstellung jenes gallischen Mercurius
vor der Römerherrschaft, den die Gallier selbst Teutates (Lucan.
Pharsal. I, 445) nannten, auch nicht den geringsten Anhalt ;
wie diese ihren Teutates dargestellt, dai über ist uns auch nicht
eine Andeutung erhalten ; alles, was darüber geschrieben ist,
ist eitel Phantasie. Unsere Mercurbilder — um zunächst ein-
mal bei diesen zu bleiben — zeigen ebenso wie die unzähligen
andern im westlichen Deutschland und in Frankreich gefundenen
rein römische Attribute : den Heroldstab mit den Schlangen
(caduceus), den Flügel hut (petasus) und die Geldbörse (marsu-
pium). Und nicht anders ist es mit den andern Gölterbildern
vom Donon und aus seiner weitem Umgebung.
Auf römischen Ursprung weisen ferner die Gebäude, die
anderen Inschriften, die Münzen, Urnen und Sacrallampen hin,
auf die Gallier sicher nur die Kleidung auf den beiden Grab-
stelen, höchst wahrscheinlich der Name Surbur auf dem sonst
römischen Reliefbild. i
Somit kommen wir zu dem Resultat : Die Denkmäler des
Donon gehören jener Zeit an, wo in unserer Gegend sich eine
Mischbevölkerung bildete, die ihrer grossen Masse nach gallisch
(in der Ebene auch germanisch), sich von den der Zahl nach
viel geringeren Römern eine höhere Kultur aneignete ; von
^ Es bedarf kaum der Erwähnung, dass die Fände aus der Stein-
zeit sicher einer älteren Zeit angehören ucd den einheimischen GaUiern
zuzuweisen sind ; ebenso die Mauer, falls sie wirklich existiert hat
— 74 —
letzteren entlehnten sie auch die bildliche Darstellung ihrer
Götter nebst deren Namen. Wäre die angeblich von einem der
Tempel stammende Inschrift authentisch, so würde sie eio
charakteristisches Beispiel für jene Zeit bieten : Der gallisch-
römischeMercur lokalisiert durch den Beinamen Voge s u s
in Verbindung mit der griechischen Hecate.
Und nun zur zweiten Frage : Welches war der Zweck
und die Bestimmung jener Denkmäler?
Es hat eine Zeit gegeben, die übrigens noch nicht über-
wunden ist, wo man in jedem Felsblock, in jeder Vertiefung,
in jeder Rinne in denselben die Spuren des alten Druidenkultes
hat sehen wollen ; dass auch die auf dem Donon liegenden
Felsen davor nicht sicher waren, ist ja bei der sonstigen Be-
schaffenheit des Berges ganz natürlich, i Man ist noch weiter
gegangen und hat in dem Donon sogar «das hieratische Centrum
der gallischen Urbevölkerung» unserer Vogesen seheii wollen.
Alle diese Ausführungen beruhen ebenfalls auf einer ausgebildetea
Phantasie : ein Körnchen Wahrheit steckt aber gewiss darin.
Ich habe schon oben meine Meinung über die Reliefbilder
dahin ausgesprochen, dass man in ihnen der grossen Mehrzahl
nach Votivsteine sehen müsse. Auf eine Kultusstätte
weisen auch die Votivaltäre mit den Dedicationsinschriflen für
Jupiter, ferner die Gebäude, die wir vermutlich als Tempel
anzusehen haben. Stammen, wie bemerkt, alle diese Zeugen
auch aus römischer Zeit, so ist es doch höchst wahrscheinlich,
dass jener Ort nicht erst damals diesem seinem Zweck ge-
weiht wurde : der Donon scheint in der That schon von den
Galliern zu einer Kultusstätte ausersehen gewesen zu sein.
Es ist bekannt, dass die heidnischen Völker mit Vorliebe auf
den Höhen ihren Göttern opferten, wo sie ihnen näher zu sein
glaubten, und der frei sich erhebende Felsgipfel des Donon
forderte geradezu dazu auf. Wenn wirklich, wie uns P. Alliol
überliefert, eine Mauer den Gipfel umschloss, so hat sie sicher
nur religiösen Zwecken gedient, und es ist wohl nicht zufällig,
dass alle Reliefbilder gerade um den Felsgipfel herum lagen.
Wir finden solcher «Ringe» auf den Bergen des Dags-
burger Landes noch mehr, in oder bei denen ebenfalls solche
1 Bei V. Seydlitz, Touristenfübrer für die Vogesen ^, S. 114 xäUt
ein bekannter Keltomane unseres Landes davon Folgendes auf : Einige
megalithische Denkmäler, einige Schatzfelsen (sog. Abris-sous-rocheX
Schüsseln, zwei menschliche Fnsstapfeu and eine Pferdetrappe, die
alle von F. Voalot in seinem merkwürdigen Werke sorgfaltig Te^
zeichnet sind (PI. XXXIX, XLII a. LXXIXi. — Man vergl. aach die
Phantastereien Levraults, Vall6e de la Brache. S. 36 f.
— 75 —
Volivstelen {gefunden wurden ; sie sind überhaupt weit über
die Grenzen unseres engeren Heimatlandes hinaus verbreitet.
Es ist also gar kein Grund vorhanden, den DoRon zu einem
Cent r um des altgallischen Gottesdienstes zu stempeln.
Dass aber die Höhe des Donon nicht nur als eine Kultus-
Stätte, sondern auch als Begräbnisplatz gedient hat,
dafür können wir uns auf das Zeugnis H. u. P. Alliots be-
rufen, welches durch Jollois' Funde eine Bestätigung erhalten
hat, die ausdrücklich berichten, dass sie Graburnen auf dein
Plateau des Donon aufgedeckt haben. Fügen wir hinzu, dass
wir wenigstens in zwei Reliefbildem Grabsteine vor uns haben.
Diese Verbindung von Kultus- und Begräbnisstätte ist deshalb
bemerkenswert, weil die Römer es streng vermieden, in der
Nähe der Heiligtümer ihre Toten zu begraben. Wir müssen
also hierin eine Sitte der einheimischen Bevölkerung
erblicken, wie denn auch bei den Germanen und andern
Völkern eine innige Beziehung zwischen Kultus und Grab be-
standen hat. Wir können an der Thatsache um so weniger
zweifeln, als uns auch andere Orte der Umgegend zahlreiche
Beispiele dafür vor Augen führen. So finden wir auf den Drei
Heiligen bei Walscheid, auf dem Kempel, dem Gross-Limmers-
berg, der Schlosserhöhe und dem Falberg bei Zabern u. a. Orten
neben Graburnen und Grabdenkmälern Votivstelen in grosser
Anzahl, i
Aber eben dieser Vergleich führt uns wieder auf einen
wohl zu beachtenden Unterschied. Nirgends findet man an den
genannten Orten die Reste eines römischen Tempels, und
ferner, während überall die Urnen in zum Teil sehr charakteri-
stischen Steinen eingeschlossen oder mit ihnen bedeckt waren,
ist davon auf dem Donon auch keine Spur entdeckt worden.
Eine Erklärung dieser Erscheinung habe ich noch nicht fmden
können.
Ich schliesse meine Arbeit mit einer Bitte an alle Freunde
unserer vaterländischen Altertümer, mir sei es durch Berich-
tigungen, sei es durch Zusätze dieselbe verbessern zu helfen.
Derartige Beiträge sollen dann mit Dank an derselben Stelle
im nächsten Jahre Verwendung finden.
^ Man vergL: Beanliea, le Comt6 de Dagsboarg S. 318 ff.;
Goldenberg im Bull. I. 86r. III, 1 S. 127 ff.; L. B6noit in
Mem. de la Soc. d'arch. lorr. II. s6r. X. vol. 1868 S. 361 ff . ; d e
Morlet in Bull. IL s^r. I, S. 163.
— 76 —
Nachtrag.
Die in dem Tempel auf dem Donongipfel anfbewahrten Denk-
mäler betreffend.
Leider war es mir unmöglich, vor Drucklegung vorstehender
Abhandlung noch einmal persönlich die in dem modernen Tempel
aufbewahrten Denkmäler zu untersuchen : die bis spät in den April
hinein auf dem Donon lagernden Schneemassen vereitelten einen
dahin zielenden Versuch. Erst nachdem die erwärmenden Sonnen-
strahlen in überraschend kurzer Zeit die Schneedecke weggenommen,
konnte ich Anfang Mai an die Ausführung des Planes gehen. Da
indessen der Druck damals bereits fast vollendet war, so dass eine
Verwertung des gefundenen Resultates in der Arbeit selbst unthun-
lich erschien, so gebe ich dasselbe in einem Nachtrag.
Es sind im ganzen 11 Steine (1 vollständiges ELeliefbild,
6 Bruchstücke von solchen, 2 Architekturfragmente und 2 Inschriften-
steine), die als letzte Ueberbleibsel der einst so zahlreichen Denk-
mäler dort oben hinter einem Eisengitter aufbewahrt werden. Freilich
ist der Zustand, in dem sie sich befinden, ein recht trauriger. Denn
nicht nur arbeiten die auf dem hohen Gipfel besonders wirksamen
atmosphärischen Einflüsse fortwährend an der Zerstörung der alters-
grauen Steine, sondern mehr noch haben dieselben unter den fort-
währenden mutwilligen Beschädigungen der modernen Besucher za
leiden, gegen welche selbst die energischen Bemühungen des Hern
Försters Heyer die seiner Obhut anvertrauten Denkmäler nur un-
genügend zu schützen vermögen. Es wäre unter diesen Umständen
jedenfalls wünschenswert, wenn die Denkmäler je eher je besser jenen
Einflüssen entzogen und an sicherer Stätte geborgen würden, ehe
sie durch vollständige Zerstörung wertlos werden.
1. Unter den Skulpturen ist noch ein vollständiges Relief-
b i 1 d vorhanden ; es ist das von mir oben S 53 f. Nr. 17 beschriebene.
Das Bild hat in neuerer Zeit noch weitere Verstümmelungen erfahren:
so ist ihm der obere Teil des Kopfes und ein Teil der Beine abge-
schlagen. Der Gegenstand hinter der linken Schulter ist auf der von uns
reproduzierten Abbildung ziemlich genau dargestellt, die Bestimmung
desselben aber schwer zu erkennen. Es scheint mir nicht unmöglich,
dass ein Riemen von der linken Schulter über die Brust nach rechts
lief; die starke Verwitterung des Steines lässt indessen die Frage
nicht sicher entscheiden. — Wie es gekommen, dass das Bild seiner
Zeit nicht mit den übrigen nach Epinal geschafft wurde, vermag ich
nicht zu sagen. Nach Aussage des Försters Heyer ist es schon seit
Anfang der 70er Jahre an seinem Platze.
B ru chstücke :
2. Relief: Bruchstück mit Unterleib und dem oberen Teil der
beiden Schenkel.
3. Desgl. : nackter, männlicher Unterkörper, in der Rechten eine
Geldbörse; Füsse fehlen.
— 77 —
4. Unterteil eines Reliefs : 2 Fasse auf einem Sockel. (Vergl. Jol-
lois PI. 36, 12.)
5. Desgl. ; neben den Füssen noch andere Skulptnrreste sichtbar^
u a. Fnss einer Ziege (?).
6. Bruchstück eines bekleideten Oberkörpers (?) : Falten des
Gewandes dentlich.
7. Bruchstück, das einer Vollfigur anzugehören scheint : Gewand-
falten auf Vorder- und Rückseite vorhanden; die auf der Brust
liegende linke Hand hält einen Gegenstand. Es scheint das von
Kraus, der den Stein vermutlich nicht umgedreht hat, als Rücken
einer menschlichen Gestalt bezeichnete Fragment zu sein. Das Ganze
ist stark verwittert.
Architektur fr agmente :
8. Säulenbasis auf einem viereckigen Sockel.
9. Desgl.^ dem vorigen sehr ähnlich.
Inschriftensteine :
10. Die oben S. 63 Nr. 7 erwähnte Inschrift. Der erste Buch-
stabe des Namens in der 2. Zeile ist sicher ein C, nicht wie bei
Kraus, der sie zuerst veröffentlichte, ein G.
11. Das wertvollste Stück, der oben S. 63 f. ausführlich be-
sprochene Meilenstein, ist, was sehr zu bedauern, ganz besonders
das Ziel menschlicher Zerstörungswut gewesen; ein moderner Van-
dale hat aus der Inschrift, die auch unter den Witternngseinflüssen
sehr gelitten hat, ein grosses Stück mutwillig herausgeschlagen, ein
anderer auf der Rückseite seinen Namen in grossen Buchstaben
eingemeisselt. Ich gebe ein Bild von dem gegenwärtigen Zustand
der Inschrift, indem ich unter Zugrundelegung des Wortlautes bei
Voulot die fehlenden Buchstaben unterstreiche, die infolge Verwitte-
rung kaum noch erkennbaren punktiere :
D • M •
L • VATINI^ • FEL *
MILIARIA A • VIC
SARAVb L • XII C • I •
V • 's ' L '
Inbetreff der auf dem Alliot^schen Plane eingezeichneten Ring-
mauer sind infolge einer allerdings nur flüchtigen Besichtigung
unter Führung des Herrn Försters Heyer meine Zweifel an der
Existenz derselben wesentlich abgeschwächt worden ; um zu einem
sicheren Resultate zu kommen, bedürfte es jedenfalls einer genaueren
Untersuchung mit der Hacke in der Hand, da eine sehr hohe Moos-
decke die allerdings auch so deutlich sichtbaren Fundamente bedeckt.
Eine gleiche Untersuchung wäre inbetreff der Cisterne zu
wünschen.
— 78 —
Bibliographie über den Donon.
Die mit * bezeichneten Bücher konnten, weil auf den hiesigen Bibliotheken
nicht vorhanden, nicht von mir selbst eingesehen werden.
£xtrait d'une lettre de TAbbe de Moyenmontier [Hyacinthe Alliot]
ä M. Alliot, conseiller-m^decin ordinaire du Roi. (In: Journal da
Si^avam 1693. S. 74— 7«.)
Dom Mabillon, Disconrs snr les anciennes sculptures des rois
de France. (Abgedr. in : Ouvrages posthumea de D. Jean Mabillon et
de D. Thierri Ruinart, par D. Vinc. Thuillier. Paris 1724. T. H
S. 44 — 47. — und in : Mhnoires de VAcadimie des inscr. et belle»-
lettrea 1736. Tome II. S. 633-637.)
D. Theodor ici Ruinarti, Iter lüterarium in JJsatiam et Lotha-
ringiam (in den oben citierten <Ouvrages posthumes» III, S. 442 bis
446). Dazu französ. Oebersetzung mit Anmerkungen tob
Prof. Matter, Voyage littSraire en Alsace, par Dom Ruinart, im
Journal de la Soci^te des sciences, agriculture et arts du depart
du Bas-Rhin. Strasbourg 1826. T. m. S. 144—153. — Eine
zweite französ. üebersetzung von Abbe Marchai ia
Nancy in Recneil de docnments sur Thistoire de Lorraine. T. VII.
Nancy 1862. Der den Donon betr. Abschnitt S. 50—56.
Eine deutsche Üebersetzung ebenfalls mit Anmerkungen Ton
dem den Donon betr. Teil der Reise lieferte Prof. Euting (-gj
in der Literar. Beilage zur Gemeinde- Zeitung für Elsass-Lothr.
1882, Nr. 1 : cEin gelehrter Tourist auf dem Donon.» — Auch
separat, Strassburg bei Schultz u. Comp. 1882, mit Skizzen :
Ansicht des Donon von Südosten. — Uebersichtskarten der Oert-
lichkeit. — Plan der Altertümer. — Das Relief Belliccus Surbur.
Dom Bernard de Montfaucon^ religieux B6n6dictin, L^anti-
quite expliquee. T. II, 2. Paris. 2« §d. 1722. S. 416—418; dazu
PI. 186. 187. 188.
Dom [Jacques Martin], religienx B6n^dictin, La religion da
Gaulois. Paris 1727. Tome I, p. 215—218, dazu PI. 6; und
p. 338—343, dazu PI. 9.
J. D. Schöpflin, Älsatia illustrata. I. Colmar 1751: Dononis mo-
nimenta. S. 451—458, 473, 71 sq., 84 sq.; dazu Tab. II u. IIL
Derselbe, L'AUace iUustree. Traduction de L. W. Ravenez Mul-
house 1849. I, p. 145, 184; dazu auf PI. I u. 11 : Reproduktion
der Schöpflin'schen Abbildungen; II, 508—522. — Hinzugefügt ist
ein Kapitel : £tat actuel du Donon (fast vollständiger Abdruck von
Jollois, <M6moire sur les antiq. du Donon> s. unten) nebst PL
compl6ment. I : Plan topographique du Donon en 1692 (nach
Gravier) und PI. II : Bas-reliefs (nach Jollois, Antiquit§s des Yosgcs
PI. 34).
— 79 —
Dom Aug. Calmet, Abb§ de Senones, Notice de la Lorraine. Nancy
1756. Tome I: au mot Framotit p. 470—486; dazu PI. 1 u. 2.
Derselbe. Histoire de Lorraine. Nancy. Nouv. ed. 1757. I, p. 270;
Vn, p. XXVI.
Dazu vergl. Dissertation sur les divinit^s payennes adorees autrefois
dans la Lorraine et dans d^autres pays voisins. Oeuvres in^dites
de Dom A. Calmet, par F. Dinago (in Bull, de la Soc. philomat.
vosgienne. St-Di6. U, 1876, p. 137, 154, 163).
Dom Ambroise Pelletier^ cur6 de Senones, La Montagne de
Framont et U Donon [1755], herausgeg. von Ferry-Millon in Uevue
d'Alsace 1856, S. 385—405.
Abb6 Bexon, Histoire de Lorraine 1777. Tome I (einziger): Prem.
disconrs p. XXVI suiv. u. Notice des hommes. ill. p. 312—314.
Facbot Fain^, Memoire sur la principaut^ de Salm en 1784 (hrsg.
und mit Anmerkungen versehen von 6. Save in St-Di6) in Bull,
de la Soc. philomat. vosgienne 1883—84, p. 127 suiv. (den Donon
betr. p. 131—135}.
Abb6 Grandidier, Histoire de la province d'Alsace. Strasbourg
1787. Tome I (einziger), p. 95-101, 36—37.
J.-B. P. Jollois: 1. Kurzer Bericht über die von ihm auf dem
Donon veranstalteten Untersuchungen im Annuaire du dep. des
Vosges 1822, p. 74.
2. Ausführlicher ; Memoire sur les antiquites du Donon in Journal
de la Soc. d'£mulat. des Vosges. Vol. IL Dasselbe separat unter
dems. Titel. Epinal 1828 mit 4 Tafeln.
3. Wiederabdruck mit einigen Erweiterungen in Memoire sur quelques
antiquites remarquables du d^part. des Vosges. Paris 184d, p. 126 bis
146; dazu PI. 31—36 nebst Erläuterungen p. 186—193.
N.-F. Gravier^ Extrait d^un Memoire sur les antiquites du Donon
in Journal, de la Soc. d'fimulat. des Vosges Nr. VII. Epinal 1827.
S. 18—3«.
Derselbe, Histoire de St-Di6. Epinal 1836. p. 17—21.
J. G. Schweighäuser, Antiquites du döpart. du Bas-Rhin in
Annuaire du d6p. du Bas-Rhin 1822, S. 305, 313 ff.
Derselbe, Altertümer in den Vogesen, in Kunst-Blatt [ohne Angabe
des Orts] 1823, Nr. 81-83.
Derselbe [Golb^ry et Schweighäuser], Antiquites de l'Alsace. II T.
Bas-Rhin von Schweighäuser 1828, p. 92 f.
Derselbe, Memoire sur les monuments celtiques du dep. du Bas-
Rhin in Mem. de la Soc. des antiquaires de France. Nouv. &er.
Tome II. Paris 1836. p. 10—19.
Derselbe, Enumeration des monuments les plus remarquables du
dep. du Bas-Rhin. Strasb. 1842. p. 5.
- 80 —
* [Friry], Essai snr les origines et antiqaitSs de Tarrond. de Be-
miremont. Remiremont 1835. p. 11 ff.
H. L 6 p a g e, Le departement des Vosges, statistiqae, historiqae et
administrative. II. P. Nancy 1845 au mot Raon-snr-Plaine ^nach
Jollois).
L. L e V r a u 1 1, La Taille de la Brache, Haslach, Girbaden, Nideck
et le Donon. (Revae d'Alsace 1852. p. 369 sniv., 385 sniv., 433 soIt.)
Anch separat Extrait de la Revae d^AUace : Donon. S. 33 — 39 (rom
Standpankt eines Keltomanenj.
F. X. Kran s, Kanst and Altertham in Elsass-Lothringen. III. Bd. :
Lothringen. Strassbarg 1889. s. v. Donon (Hohe Donne) mit Bi-
bliographie.
Beliiccus Surbur:
Bordier et Charton, Histoire de France d^apres les mona-
ments originanx. 2 vols. Paris 1859/60. (Abbild, des Bell. Sarb.
T. I p. 48.)
F. Dinago, Un bas-relief da Donon: Belliccas Sarbar in Balletin
de la Soc. philomat. Yosgienne. )£• ann6e. St-Die 1876. p. 205—206
mit Abbild. ; (anch separat erschienen.)
Gaston Save, Note sar le Belliccas Sarbar (ebendas. 1877 — 78.
S. 47-52). Mit Abbild.
F. V o a 1 o t, Les Vosges avant Thistoire. Malhoase 1872. S. 205 bis
209 (mit Abbild. PI. LXXVni).
Roget de BeUogaet, Ethnog^nie gaaloise : I. Glossaire ganlois.
2« 6d. Paris 1872. S. 261—263. (Erkl&rang der Worte Beliiccus
Sarbar.)
Inschriften :
Brambach, Corpas inscript. Rhenan. 1857. Nr 1906—1909.
Meilenstein :
Roh. M o w a t, D6coaverte d'un vicus gaulois de T^poqae romaine
(in Revae arch6ol. Paris 1876. Noav. s6r. voL 31. p. 261—267).
F6lix Yoalot, Derselbe Titel (ibid. vol. 32. p. 46—49 mit Abbüd).
Säule (Votivaltflre) :
Zangemeister, Juppitersäule auf dem Donon (in Korrespondeni-
blatt der westd. Zeitschr. f. Gesch. a. Konst 1890, Nr. 8 [Ang.].
S. 197—200).
Bechstein, Zu den Jt^ppitersäulen (ebendas. 1891, Nr. 1 [Jan.],
S. 24 ff. Entgegnung auf Z.).
— 8t —
Name :
Elsässischer Patriot (Wochenschrift) 1776. l. Viertelj. S. 31 :
Frankenberg, fr. Framont, lat. Ferratus mons.
Der Name Donon: unterzeichnet oe. (in Lit. Beilage zur Ge-
meinde-Ztg. für Els.-Lothr. 1881, Nr. 2o, S. 100.
Sagen und Erzählungen :
A. St ob er, Sagen des Elsass. 2. Ausg. St. Qallen 1858. S. 196:
König Pharamands Grab auf dem Wasgenstein. S. 201: Der
Teufelsgeiger (am Lac Lamaix).
Festina Lente (Pseudonym), Sagen vom Donon. i.Strassb. Ztg.
1879, Nr. 108, 3. Mai. 2 Gedichte: I. Faramunds Leichenfeier.
II. Deodat (Zerstörung der heidn. Denkmäler auf dem Donon.)
Letzteres auch wieder abgedr. Gemeinde-Ztg. für £.-L. 1881, Nr. 46.
Erckmann-Ghatrian, L'invasion ou le fou Y^gof. (Ort der
Handlung : Umgebung des Donon während des Krieges 1814.)
E.-A. S e i 1 1 i e r e, Au pied du Donon. Scenes de moBurs vosgiennes.
2' ed. Paris 1861. (Ort der Handlung : Das obere Plaine- und
RabodeauthaL)
Schilderungen :
F. M. [Paul Merlin], Promeuades Alsaciennes. Paris 1824. Pro-
menade au Donon p. 9—104.
£d. Berge, Promenade au Donon eu 1831 (in Annales de la Soc.
d'Emulation da d6p. des Vosges. Tome I, H" cah. Epinal 1838.
p. 125-142}. (Feailletonistische Schilderung mit kurzer Erwähnung
der damals noch vorhandenen Denkmäler.)
* de Bazelaire, Promenades dans les Vosges. Paris 1838.
* D 6 s i r e C a r r i e r e, Oeuvres choisies. Souvenir ä ses parents et
ä ses amis. l8ö3/öo. Mirecourt. p. 400. (Reise durch das Dags-
burger Land.)
Ch. Charton, Les Vosges pittoresques et historiques. Paris 1862
S. 258-261.
La Lorraine [illustreej. Paris 1883. (Schilderung des Donon in dem
Abschnitt: Les VosgeSj von Louis Jouve. S. 330 f.)
Geologische Charakteristik der Donongruppe :
Merkwürdige Vogesenberge^ von [Gerlan]d, in Gemeinde-Ztg. f. E.-L.
1880. Nr. 11.
Reiseliteratur.
Cdüection des Guides-Joanne : Vosges et Ardennes. Paris, Hachette
et Cie, (I8fJ8: S. 425 ff.i.
A Schricker, In die Vogesen. Ein Führer. Strassb. 1873. S. 40 f.
6
— 8t> —
C. Mündel, Die Vogesen. Ein Handbach f. Touristen. Strassborg.
Trübner. 5. Aufl. 1888. S. 184 f. 6. Aufl. 1891. S. 193 f.
G. V. Seydlitz, Touristen-Führer für die Vogesen. Metz, Lang
2. Aufl. 1881. S. 114. 3. Aufl. 1891.
Kruhöffer, Oberförster, Wanderungen im Breuschthale. (S.Heft
der Streifzüge und Rastoi'te im Reichslande.) Strassburg. Heitz c.
Mündel, o. J. S. 59—64. (Mit Abbild, des modernen Tempels auf
dem Gipfel.)
J. Näher, Panorama vom Donon i. Eis. Strassburg. Heitz u. Mündel,
o. J.
II.
Ein Förderer
des
Verkehrswesens in Elsass-Lothringen
im 16. Ja.lii"'hiiander't
von
Otto Winckelmann.
Uie volle Erschliessung der Vogesen, welche es dem Natur-
freunde ermöglicht, mit leichter Muho das Gebirge bis in
die entlegensten Winkel zu durchstreifen, ist bekanntlich erst
eine Errungenschaft der letzten zwei Jahrzehnte, ein Werk,
dessen Verdienst der Vogesenklub, ohne unbescheiden zu sein,
grossen Teils für sich in Anspruch nehmen darf. Allein wenn
früher zur Hebung des Touristenverkehrs auch nur wenig ge-
schehen ist, so darf doch nicht übersehen werden, dass während
der französischen Herrschaft des 18. und 19. Jahrhunderts in-
folge des Bestrebens, Elsass mit Frankreich fester zu verknüpfen,
eine Reihe trefflicher Kunststrassen quer über das Gebirge ent-
stand, durch welche die Entwicklung des Handels und nament-
lich der Industrie in den Vogesenthälern mächtig gefördert
worden ist.
Was die französische Epoche in dieJser Hinsicht geleistet
hat, tritt in besonders vorteilhaftem Lichte hervor, wenn
man es mit den traurigen Zuständen der Verkehrswege
wahrend des Mittelalters und bis ins 17. Jahrhundert hinein
vergleicht. Zu jenen Zeiten war das Gebirge nur von wenigen,
schlechten Strässchen und Saumpfaden durchzogen, welche meist
— 84 —
noch der Römerzeit ihre Entstehung verdankten. Neue Wege
anzulegen oder die alten zu verbessern, fiel ni^ht leicht jemandem
ein; vielmehr geriet mancher alte Römerweg während des
Mittelalters in Verfall, weil niemand sich um seine Unterhaltung^
kümmerte. Die Erklärung hierfür zu finden, ist nicht schwer:
die Vogesen galten eben in den Zeiten der deutscheu Reichs-
Oberhoheit nicht als ein Bindeglied zwischen den benachbarten
Landschaften, sondern als Grenzgebirge, und zwar besonders.
für die Bewohner des Elsasses als ein sehr brauchbarer, natür-
licher Schutzwall gegen feindliche Absichten der westliclien
Nachbarn. Man hütete sich deshalb wohlweislich, selber durch
Verbesserung der Wege und Pässe Breschen in diese Ver-
teidigüngsmauer zu legen und damit dem Feinde das Eindringen
zu erleichtern. Lieber nahmen die elsässischen Herren und
Städte die mannigfachen Unbequemlichkeiten und Hindernisse
in den Kauf, welche für den Handel mit dem Welscliland
aus der Unwegsamkeit des Gebirges entsprangen. Wagte hier
und da einmal jemand dieser herrschenden Anschauung zum
Trotz auf eigene Faust Verbesserungen oder Neuanlagen von
Wegen vorzunehmen, so musste er auf heftigen Widerspruch der
benachbarten Landstände gefasst sein. Diese Erfahrung machte
besonders der Pfal zgraf Georg Hans von Vel den z-Lüt /ei-
st ein bei seinen im letzten Drittel de.s 16. Jahrhunderts unter-
nommenen Versuchen, die Verkehrsverhältnisse des heull<^ea
Reichslandes zu heben. Verdienen seine Bestrebungen schon des-
halb, weil sie in jener Zeit ganz vereinzelt dastehen, eine nähere
Würdigung, so steigert sich die Teilnahme für dieselben noch
erheblich bei Betrachtung der eigenartigen Mittel und Wege^
durch die er seine Zwecke zu erreichen suchte.
Zunächst sei es gestattet, die Aufmerksam keil auf die
äusseren Lebensschicksale, den Charakter und die Ziele dieses
merkwürdigen Mannes zu lenken. ^
Georg Johann war der 1543 geborene Sohn und Nachfolger
des Pfalzgrafen Ruprecht, welcher als Stifter der Veldenzer
Seitenlinie des Pfalz-Z weibrück en'schen Hauses anzusehen ist.
Er erbte ausser dem Stammschloss Veldenz a. d. Mosel und
einigen andern Gerechtsamen hauptsächlich die Grafschaft
Lützelstein, welche durch die Eroberung Friedrichs des
Siegreichen 1452 in den Besitz der Pfalzgrafen gekommen war.
Als unmündiges Kind gelangte er zunächst unter der Vormund-
1 Vgl. u. a. besonders PatriotiRches Archiv für Deutschland
( l79u) t. XU und den Aufsatz von Dagobert Fischer über die Oe-
schichte der Grafschaft Lützelstein in der Revue d^Alsace, 1880.
— 85 —
schafl seines Vetters Wolfgang von Zweibrücken zur Herrschaft
und ei^riff 1563 nach erreichter Volljährigkeit die Zügel der
Regierung. Alsbald zeigte sich nun, was für ein seltsamer,
wunderlicher Herr dieser junge Pfalzgraf war. Er überragte
wohl die meisten seiner fürstlichen Zeitgenossen an natür-
licher Begabung und geistiger Regsamkeit ; dabei fehlte es ihm
aber leider vollständig an sittlichem Ernst sowie an praktischer
Einsicht und an nüchterner, ruhiger Beurteilung der Verhält-
nisse. Er war mit einem VVoiie ein Phantast, der sich sein
ganzes Leben lang mit den grossartigsten Ideen und Entwürfen
trug, der die ganze Welt beglücken wollte und doch schliesslich
nicht einmal sich selbst und sein kleines Fürstentum vor Not
und Schaden bewahren konnte. Häufig lagen seinen Plänen
überraschend richtige, originelle Gedanken zu Grunde, Gedanken,
welche dem Geist und dem Verständnis des Jahrhunderts weit
voraufgeeilt zu sein schienen ; ging er dann aber an die weitere
Ausgestaltung seiner Entwürfe, an die Versuche zur Verwirk-
lichung^ so scheiterte er stets, weil er kein Mass zu halten
wusste, die eigenen Hülfsmittel überschätzte und die entgegen-
stehenden Schwierigkeiten in keiner Weise zu würdigen ver-
stand. Auch durchkreuzten sich in seinem Hirn zu verschieden-
aiiige Pläne, als dass er die nötige Ruhe und Beharrlichkeit
bei der Ausführung jedes einzelnen gehabt hätte.
Unstet wie sein Geist war auch sein Wesen und Charakter.
Von grenzenloser Heftigkeit und lächerlichem Eigendünkel, der
mitunter fast in Grössen Wahnsinn ausartete, schwankte er zu
Jämmerlichem Kleinmut und völliger Verzagtheit, von despo-
tischer Willkur und Selbstsucht zu sentimentalen Anwandlungen
von Grossmut und Aufopferung. Mit den Häuptern der andern
pfalzischen Linien lag er bis an sein Ende in fortwährendem
Zank und Streit; die Akten seiner Prozesse am Reichskammer-
gericht füllen dicke Bände.
Es gab kaum eine grosse Frage der Zeit, mit der sich
Georg Hans nicht eingehend beschäftigt, zu deren Lösung er
nicht ein nach seiner Meinung unfehlbares Mitlei gefunden
hätte. So arbeitete er — der übrigens Protestant war — ein
weitläufiges Gutachten darüber aus, wie der religiöse Gegensatz
zwischen Katholizismus und Protestantismus beseitigt und die
Einheit der Kirche wieder hergestellt werden könnte. Er machte
sich ferner anheischig, die grossen Parteigegensätze, unter
welchen Frankreich damals zu leiden hatte, auszugleichen ; er
spielte sich als Finanzgenie auf und entwarf, während er in
seinem eigenen Ländchen von der Schuldenlast schier erdruckt
wurde, umfas.sende Reformpläne zur Vermehrung der Reichs-
<'innahmen in Frankreich sowohl wie in Deutschland. Der Grund-
— 86 —
gedanke, von Nvelcliem er bei seinen deul sehen Finauzprojekteii
ausging^ ist übrigens — wie so häufig bei ihm — von über-
raschender Eigenart. Er verlangte nätnUch durch Reichsgesetz-
i^ebung die Schaffung einer Einrichtung zum Schutz des
deutschen Seehandels in der Nord- und Ostsee. * Die althen^e-
brachten oder verbrieften Rechte der deutschen Hansa, deren
Macht und Ansehen damals schwer darniederlag, sollten wieder
aufgerichtet und thatkräftig gestützt, dem Seeräuberwesen ge-
steuert, Zölle und Abgaben fest geregelt weixlen. Ein vom
Kaiser ernannter Admiral sollte die Wahrnehmung der deut-
schen Handelsinteressen besorgen und nötigen Falls mit Hilfe
einer kleinen Flotte seinen Massnahmen Nachdruck verschaflen.
Eine solche Organisation hätte bei verständiger Durchführung
und weiser Schonung berechtigter Privatinteressen vielleicht
wirklich grossen Nutzen stiften und zur Hebung des nationalen
Wohlstandes beitragen können; allein man durfte doch auch
nicht die ungeheuren Schwierigkeiten verkennen, welche sich
einem solchen Projekt infolge der unglaublichen Zerfahrenheil
und Selbstsucht der deutschen Reichsstände entg^enstellten.
Unser Pfalzgraf aber war hierfür vollständig blind und schadete
seiner Sache gerade durch den Ungestüm, mit welchem er auf
allen Reichs- und Standetagen den Antrag immer von neuem
befürwortete. Es entstand dadurch der natürliche Argwohn,
dass er bei der ganzen Angelegenheil nur seinen eigenen Vor-
teil im Auge habe. Und so ganz unbegründet war dieser Vor-
wurf in der That nicht; denn selbstverständlich war der gute
Georg Hans der Uebei-zeugung, dass nur er selber zum Reich*-
admiral tauglich sei. Auch erscheint seine bei jeder Gelegenheit
prahlerisch an den Tag gelegte Begeisterung für das Heil des
römischen Reichs deutscher Nation in einem eigentümlichen
Licht, wenn man erwägt, dass er mit dem Herzog von A^njou,
dem Bruder des französischen Herrschers, einen engen Freund-
schafts vertrag abschloss, und dass er sich bei König Heinrich HK
für die Wohlfahrt Frankreichs nicht minder besorgt zeigte wie
bei Maximilian H. für diejenige Deutschlands.
Dass ein Mann wie unser Pfalzgraf den weit verbreileten
c<geheimen Künsten» der Alchymisten nicht fremd blieb, sondern
sich mit Vorliebe namentlich auf das «Goldmachen» verlejrte,
kann nicht Wunder nehmen. Aber auch sonst beschäftigte er
sich sehr eingehend mit technischen und gewerblichen Anlagen
und Erfindungen und rühmte sich selber der grossartigsteo
Erfolge. Freilich wird man sich kaum eines Lächelns erwehren
I Näheres bei Höhlbanm, Mitteilungen ans dem Stadtarchiv von
Köln, Heft 18.
— 87 —
könneu, wenn man vernimmt, was für Erfindungen auf dem
Gebiete der Kriegskunst er beispielsweise dem Könige von
Frankreich zum Kaufe anbot. Da will er einmal einen von
eisernen Reifen umspannten ledernen Ballon konstruiert haben,
welcher, mit 20000 Pfund Pulver gefüllt, tausend Fuss weit
geschleudert werden könne, so dass^man damit imstande sei, die
grösste Stadt mit einem Schlage in die Luft zu sprengen!
Ferner rühmt er sich einer Erßndung, welche es ermöglichen
5oll, den tiefsten — sei es trockenen oder nassen — Wallgraben
binnen einer Viertelstunde auszufüllen ! Auch eine neue Bewaff-
nung des Fuss Volkes hat er ausgedacht, um dasselbe in den
Stand zu setzen, sich mit Erfolg gegen die gleiche Anzahl
Reiter zu verteidigen etc.
Der französische König scheint für diese merkwürdigen
Maschinen allerdings wenig Verständnis gezeigt zu haben ;
wenigstens behandelte er den Urheber, der persönlich zu ihm
nach Paris kam, in so wenig zuvorkommender Weise, dass der
empfindliche Georg Hans sich in seinem Selbstgefühl höchlich
gekränkt fühlte und später von seiner Residenz aus einen von
Grobheit strotzenden Brief an den König richtete. Dabei war
er aber doch naiv genug, in demselben Schreiben nochmals
seine Erfindungen zum Kauf anzubieten.
Während der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit — etwa
seit i573 — wurde Georg Hans dann namentlich von dem GrC-
danken beherrscht, Handel und Verkehr durch Schiflharmachung
der natürlichen Wasserläufe und durch Anlage von Kanälen zu
heben. Es war das wohl von allen seinen grossen Entwürfen
noch der verständigste und im Prinzip brauchbarste. Nur wusste
er sich auch hierin nicht auf das nach dem Stande der da-
maligen Technik und nach Lage der politischen Verhältnisse
Mögliche und Durchführbare zu beschränken. Für Anlage von
Kanälen war d-tmals in Deutschland noch sehr wenig geschehen .
Seitdem Karl der Grosse die Verbindung des Mains mit der
Donau geplant, al)er nicht zur Ausführung gebracht hatte, war
in Deutschland nur eine künstliche Wasserstrasse angelegt
worden, der von Lübeck gegen Ende des 14. Jahrhunderts ge-
iiaute Stecknitzkanal zwi.schen Stecknitz und Trave einerseits,
Delvenau und Elbe andrerseits. Weitere Kanalbauten im
grösseren Masstabe entstanden erst im 17. Jahrhundert in der
Mark Brandenburg durch die Fürsorge des Grossen Kurfürsten,
welcher die Oder mit Spree und Havel verband. Somit fehlte
es dem Pfalzgrafen Georg Hans zu seiner Zeit noch sehr an
Vorbildern für seine Entwürfe : ein Umstand, der bei der Be-
urteilung seiner Thätigkeit auf diesem Gebiete nicht unberück-
sichtigt bleiben darf.
— 88 —
Anlass, sich mit dem Studium der Wasserhaukunst zu be-
schäftigen, gab ihm zunächst jedenfalls der Wunsch, dem
Handelsverkehr seines eigenen Ländchens durch Anlage eines
Kanals aufzuhelfen ; indessen bei seinem unruhigen, immer über
das nächste Ziel hinausstrebenden Ehiyeiz blieb er bei diesem
Gedanken nicht stehen, sondern wollte alsbald alle Welt mit
Kanälen, Entwässerungsanlagen u. dergl. beglücken. So dacht <*
er daran, den Lech durch Isar und Amper mit dem Inn zu
verbinden, ferner die Mosel mit der Maas, und noch ;;e«^en
Ende seines bewegten Lebens erwarb er sich von Kurtrier,
Kurköln und den spanischen Niederlanden Privilegien, welche
ihn zu Kanal isierungsarbeiten in diesen Gebieten ermächtigten. <
Zur Ausführung kamen diese kühnen Pläne jedoch ehensi»
wenig wie das ihm besonders am Herzen liegende Projekt ties
Zorn-Saar- Kanals, auf welches ich, da es Elsass- Lothringen
betrifft, etwas ausführlicher eingehen will.«
Die Grafschaft Lützelstein war durch ihre geographische
Lage ein äusserst wichtiges Mittelglied für den Verkehr zwischen
Elsass und Deutschland einerseits, Lothringen und Frankreich
andrerseits. Besonders galt dies von den südlich an die Zorn
stossenden Gebieten von Einarzhausen, Lützelbui^ etc., wo sich die
Zaberner Senke, diese Hauptverkehrsader mit ihrer uralten
Heerstrasse l)efand. Mit Recht bezeichnete man im 16. Jahr-
hundert diesen Landstrich als den ((Schlüssel des Reichs».
Pfalzgraf Georg Johann wusste die Bedeutung desselben auch
wohl zu schätzen und suchte sie noch auf jede W^eise künstlich
zu steigern. So baute er im Jahre 1570 an Stelle des Dorfe.<
Einarzhausen, d. h. an dem Punkte, welcher die Zaberner
Steige im Westen beherrscht, mit kaiserlicher Genehmiorun;;
eine befestigte Stadt, der er den Namen Pfalzburg beilegte.
Sodann richtete er sein Augenmerk auf eine bessere Ausnulzun;:
der natürlichen Wasserwege in seinem Gebiet, besonders der
Zorn und der Zinzel, wobei er zunächst hauptsächlich die grund-
liche Verwertung des Holzreichtums der Vogesen Ijezweckte.
Nun war ja Holzflösserei auf den Nebenflüssen des Rheins da-
1 Strassb. Bezirksarchiv, G 945.
2 Dieses Kanalprojekt ist bis jetzt am ansführlichsten von Pfannen-
schmid in der literar. Beilage zar Gemeindezeitnng für EIsass-Loth-
ringen, 1881, Nr. 6 — 8 besprochen worden. Flüchtige Andeutungen
ünden sich anch bei Grandidier oeavres inöd. VI, S65, bei A. Benoir
Phalsbourg et Sarrebourg p. 222 und bei Dagob. Fischer, a. a 0
Unseren Ausführungen liegen ausser den von Pfannenschmid benutzten
Akten des Strassb. Bezirksarchivs G 940 namentlich die des Stadt-
archivs G ü P 184 zu Grunde.
— 89 —
mals nichts Ungewöhnliches mehr, i allein kunstliche Regu-
lierimgsarbeiten, wie sie der Pfalzgraf zur Hehung des Verkehrs
auf den Flüssen vornahm, erregten denn doch mannigfachen
Widerspruch. > Dazu kam, dass Georg Hans bald darauf aus-
ging, die Flüsse nicht blos für die Flösserei besser zugänglich
zu machen, sondern sie überhaupt der Schiffahrt zu öffnen.
Bischof und Stadt Strassburg, Hanau und Leiningen erhoben
ihre Stimme gegen solche Unternehmungen, von denen sie
nichts als Störungen für ihre Mühlen, Wiesen und sonstige
Gerechtsame erwarteten, und Hessen sich nur schwer von der
Nützlichkeit überzeugen. Auch konnten sie sich nicht von dem
Argwohn frei machen, dass der Pfalzgraf sie listiger Weise zu
übervorteilen suche. Indessen setzte dieser 1573 doch zunächst
die Flösserei auf der Zinzel durch und erwarb von Strassburg
gegen Entgelt einen Stapelplatz im Banne von Dossenheim. ^
Sein weiterer Plan ging dann dahin, die Zinzel bis fast
zum Ursprung ihres nördlichen Quellbachs in der Nähe von
Lützelstein auch für Schiffe fahrbar zu machen und ebenso die
nicht weit davon entspringende Eichel, welche in die Saar
mündet, derart, dass die Schiffsladungen von einem Fluss zum
andern nur noch eine halbe Meile weit über Land geführt zu
werden brauchten. Er wusste sogar den Kaiser für dieses Pro-
jekt zu interessieren und zu bewirken, dass Graf Philipp der
Aeltere von Hanau und Johann Sfraiff, Amtmann von Xassau-
Saarwerden, als kaiserliche Kommissare beauftragt wurden, eine
Ortsbesichtigung vorzunehmen und bei brünstigem Ausfall der-
selben den Widerwillen der angrenzenden Stände gegen daj*^
Unternehmen durch gütliche Vermittelung zu beseitigen ; denn
es könne, wie der Kaiser sagt, grosser Nutzen für das ganze
Reich aus der Verwirklichung des Plans erwachsen. Die Kosten
berechnete Georg Hans in einem zur Befürwortung an Karl
von Lothringen gerichteten Schreiben auf 24 — 30000 Gulden. *
Sei es nun, dass die Kommission gegen die Ausführun;^
Bedenken erhob, oder dass anderweitige Schwierigkeiten sich
' Vgl. Pfannenschmid, a. a. 0 , besonders bezüglich der Zorn,
auf der nachweislich schon seit mehr als lOO Jahren Flös:;erei ge-
trieben wurde.
- Die Regalierang der Breasch durch den Bischof und die Stadt
Strassburg zu Beginn des 15. Jahrhunderts ist wohl ein vereinzelt
dastehender Fall in jener Zeit. Vgl. Schneegans. Strassb. Geschichten,
Sagen etc. p. 261.
3 Strassb. Stadtarchiv, Protokolle der XXL
* Pfannenschmid a. a. 0.
— IK) —
erjjMben, Jedent'alts hat der Pl'alzgraf in der tolgenden Zeil von
diesem Plan Abstand genommen und seine Aufmerksamkeit
mehr der Zorn zugewendet, welche er 1578 von Hasel bürg* bis
Lützelburg schiffbar machte. Zu gleichet Zeit bewog er den
Grafen Philipp von Nassau- Saar werden, ähnliche Räumungs-
arbeiten auf der Saar vorzunehmen. Nicht denselben Erfolg
wie bei Nassau hatte er bei dem Stras$bui*ger Bischof, welchen
er lange vergeblich zur Regulierung der Zorn unterhalb Lützel-
burgs zu bestimmen suchte. Die Stadt Zabern hatte sich schon
früher mit aller Macht gegen die Durchführung einer Massregel
gesträubt, von welcher sie die grösste Schädigung zu gewärtigen
meinte, und eine inständige Bittschrift- deswegen an ihren
Landesherren, den Bischof, gerichtet. So wirkten Unverstand
und engherzige Interessenpolifik zusammen mit allerlei tech-
nischen und finanziellen Schwierigkeiten, um dem Pfalzgrafen
die Ausfuhrung seiner Pläne zu verleiden. Anstatt sich aber
dadurch einschüchtern zu lassen, wurde Georg Hans immer
kühner in seinen Entwürfen und brachte den Gedanken an
einen Zorn-Saarkanal immer mehr in sich zur Reife. Im Jahr
1580 zog er den berühmten Strassburger Baumeister Specklin
darüber zu Rate. Ein sehr bemerkenswerter Bericht des letzteren
an seine Herren, die Dreizehn von Strassburg, fasst die Mit-
teilungen des Pfalzgrafen über das Projekt in folgenden
Worten zusammen : '
«Es haben Ihre fürstlichen Gnaden auf hohen bergen —
als nämlich auf der hohen und grossen Thonn [Doiion], uf dem
Man [Grossmann] und andern bergen — vil kleine Bächle,
welche da entspringen, zuletzt zusammenfliessen und die Saar
giebt, welchs in die Mosel lauft, nachmalen bei Goblenz in
Rhein. Wan aber solche flüss und bäch würden uf der höhe
der thäler gefangen und solche neben uf den bergen einge-
senkt und durch die berg und felsen geleit, kan solches uf
der höhe bis gen Pfalzburg gefürt werden; von dannen kan
mans wenden durchs thal bis gen Lützelburg in die Zorn oder
nach Wilsberg durchs thal hinab in die Zinzel und also fortan
bis in Rhein. Es kann aber bei Niederweiler etliche schleissen
gemacht werden, das man bald in der Saar kan sein. Wan
das gemacht were, köndte man leichtlich von Strassburg vom
Rhein hinauf in die Saar und dan in die Mosel schiffen, de:»
gleichen herauswärts auch.i>
Bleibt nach diesen summarischen Angaben noch mancherlei
Ungewissheit über die Art der geplanten Anlage, so giebt
1 StrasEb. Stadtarchiv G ü P 184.
— m —
eine noch erhaltene, merkwürdige Kartenskizze des Pt'alz^raten »
willkommene Aut'klärun<|;. Allerdings vergeben wärti^ft dieser
Plan, welcher vermutlich 1591 dem Bischof zugestellt wurde,
das Projekt augenscheinlich in einer etwas vorgerückteren Phase
der Entwickelung — besonders hinsichtlich der Fassung der
Saarquellen — , im Ganzen jedoch pas.it sie noch zu der von
Specklin gegebenen Schilderung und kann zur Erläuterung der-
selben dienen.
Hiernach war es die Absicht des Pfalzgrafeii, die Quell-
häche der Roten Saar bei Zweibach, wo sie sich vereinigen^
— eine Stunde oberhalb Alberschweiler — aus dem natürlichen
Flussbett abzuleiten und in einem künstlichen Weiher aufzu-
fangen. Von hier sollte dann der Kanal beginnen und zwar»
vom Flusslauf rechts abzweigend, zunächst parallel mit dem-
selben, jedoch etwas höher thalauswärls bis gegen Albersch-
weiler hin geführt werden, wo sich das Gebirge zum welligen
Hügellande verflacht. Sodann sollte er nördlich und nordöstlich
immer im gleichen Niveau gegen Biberkirch hin verlaufen^
hier die Biber, ein Nebenflüsschen der Saar, durchschneiden
und weiter bei Niederweiler voiülier, ferner ül>er Arzweiler
und Mittelbronn bis nahe an Pfalzburg herangehen, schliesslich
eine scharfe Wendung nach Süden machen und bei Lützelburg
in die Zorn münden. Von seinem Beginn bei Zweibach bis
Pfalzburg hätte der Kanal demnach keine erheblichen Niveau-
unterschiede zu bewältigen gehabt, da beide Punkte fast die
gleiche Meereshöhe (etwa 320 m) besitzen , und das zwischen
ihnen liegende Gelände nur wenig hügelig ist. Zwischen Pfalz-
burg und Lützelburg dagegen beträgt der Höhenunterschied bei
horizontaler Entfernung von nur 4 Kilometern etwa 110 m, so
dass schwer zu begreifen ist, wie ein Kanal selbst mit Hülfe
mehrerer Schleusen hier möglich sein sollte. Dieselbe Schwie-
rigkeit musste sich auch einer etwa beabsichtigten Leitung des
Kanals über \^ilsberg in die Zinzel entgegenstellen. Um
andrerseits die Verbindung nach Westen mit der Saar herzu-
stellen, wollte der Pfalzgraf bei Niederweiler eine Kanal-Ab-
zweigung südwestlich zur Biber eintreten lassen und durch
dieses schiffbar zu machende Flüsschen etwas unterhalb Saar-
burgs in die Saar gelangen.
Welche Zwecke er bei dieser ganzen Anlage hauptsächlich
im Auge hatte und welche Vorteile er sich versprach, darüber
giebt uns Specklin nach eignen Aeusserungen des Fürsten zu-
verlässigen Aufschluss. Wir erfahren, dass es dem Lülzelsteiner
> Strassb. Bezirksarchiv G 945. In der diesem Aufsatz beige-
fügten Skizze ist der projektierte Kanal hiemach eingetragen.
— yt> —
in erster Linie darauf ankam, seiner Schöpfun^^ Pfalzbur^^ zu
raschem Emporblühen zu verhelfen. Er wollte dieses neu ge-
schaffene Slädtchen um jeden Preis zu einer der ersten
Handelsmetropolen Europas machen und hoffte durch Anlage
des Kanals am sichersten und vollkommensten zum Ziele zu
gelangen. In seiner lebhaften Phantasie sah er bereits, wie die
Waren von aller Herren Länder in Pfalzburg zusammen-
strömten, um von da weiter nach den verschiedensten Rich-
tungen des Weltteils befördert zu werden. Mit den bedeutendsten
Kaufleuten in den grossen Handelsstädten der Nord- und Ost-
see wie auch des Mittelmeers hatte er schon Verbindungen
angeknüpft, um sie zu überzeugen, dass nach Vollendung des
Kanals kein Ort als Knotenpunkt für den Welthandel wichtiger
sei als Pfalzburg. Nebenbei hoffte er auch, Handwerk und
Gewerbe in seiner Stadt binnen kurzem zu so hoher Blute zu
bringen, dass der Ruhm Nürnbergs neben demjenigen Pfalzburgs
verbleichen sollte. Er rechnete hierbei namentlich auf die An-
ziehungskraft, welche Pfalzburg durch die Billigkeit des Lelicns-
Unterhalts auf die Gewerbetreibenden ausül^en müsste.
Einen gewaltigen Erfolg versprach er sich aber vor allem
für seine eigne, der Füllung dringend bedürftige Kasse. Es geht
das beispielsweise daraus hervor, dass er den benachbarten
Stünden, welche etwa durch die neue Wasserstrasse in ihren
Zolleinnahmen geschädigt würden, gi^ossmülig versprach, sie
nicht blos für ihre Verluste schadlos zu halten, sondern ihnen
noch die Hälfte mehr zu zahlen. Soviel die Handelsleute betraf,
meinte er, sie würden bei Benutzung des Kanals grosse Zoll-
ersparnisse machen ; denn ein Fuder Wein, das auf dem Rhein
zwischen Strassburg und Coblenz mit 48 Goldgulden Zoll be-
lastet werde, würde auf dem neuen Wasserwege nur 4 Gulden
kosten. Dass diese Hoflnungen des heissblütigen Fürsten nr^
übertriebene waren, liegt auf der Hand. Was die Ausführlwr-
keit des Plans betrifft, so muss ich die Kritik natürlich Sach-
verständigeren überlas.sen und mich begnügen, das wiedei-zu-
geben, was Daniel Specklin vom Standpunkte seiner Zeit aus
über den Entwurf urteilte.
Er wandte zunächst ein, dass das Werk, wenn überhaupt
möglich, so doch nur mit Ungeheuern Kosten durchgeführt
werden könne; denn abgesehen von den zu leistenden Ent-
schädigungen für Gnindbesitz würde die Herstellung des Kanals
und der 200 notwendigen Schleusen 200000 fl. erfordern ; dazu
kämen die sehr erheblichen Unterhaltungskosten und die Be-
soldungen für etwa 100 Schleusenwärter im Betrage von unge-
Hihr 40000 fl. jährlich. Auch sei zu berücksichtigen, dass die
Schleu.sen etwa nlie 20 Jahre erneuert werden müsslen. Das
— 93 ~
sind für die heutige Zeit allerdin*^s verhältnismässig geringe
Summen, wenn man bedenkt, dass der Rhein-Marnekanal über
7 Millionen Franken gekostet hat : im 16. Jahrhundert aber
war es für einen fmanziell so zerrütteten Fürsten wie den
Lützelsteiner mehr als zuviel.
Den überschwänglichen Erwartungen des Pfalzgrafen hin-
sichtlich der Hebung des Handels und Verkehrs durch die
Kanalanlage hält Specklin die nüchterne Berechnung entgegen,
dass der Weg von Strassbu rg nach Goblenz, der auf dem Rhein
7 Tage erfordere, auf der neuen Wasserstrasse etwa 7 Wochen
in Anspruch nehmen würde. Was konnte demgegenüber die
von Georg Hans in Aussicht gestellte Zollersparnis für eine
Bedeutung' beanspruchen ?.
Specklin fasst seine Ansicht dahin zusammen, dass es
«ein unmöglich Werk» sei. «Wan es aber solte fortgahn, so
were es über die 7 Wunderwerk der weit, dan man würd
über die 1200 schu hoch uf den felsen und bergen fahren.
Hie unden im thal ward man wohnen, bauen und pflanzen,
und wo ein dam oder schleissen — welche über 2 schuh dick
nit ist ^ solte einreissen, würde es ganze thäler erdrenken
und verschwemmen und mit schiffen und gut ins thal fahren.
Derhalben menniglichen ir f. g. solhen davon abweisen, dan
es zu verderbung armer leut auch seiner selbs gerichtet, auch
wider gottes Ordnung, dan gott in seiner erschöpfung nichts
vergessen hat, und wiewol man die element in kleinen
werken etwas zwingen kan, so ist doch solches wider die Ver-
nunft.)) Zum Schluss kommt Specklin zu folgender bemerkens-
werten Würdigung der Persönlichkeit unseres Pfalzgrafen :
«Wiewol ich bekennen muss, das ir f. g. eines anschlegigen
und geschwinden kopfs ist, so gehn doch gewöhnlichen seine
ralschleg mit der armen verderben aus, welches gott schwer-
lichen straft, auch kein glück noch* segen bei der regierung
].<t. Was sonst ir f. g. mit unerhörten künsten umbgehet, ist
mehr zu lachen dan nachdenkens zu haben.»
Specklin hatte denn auch sehr wenig Lust, dem Wunsche
Georg Hansens entsprechend einen genauen Entwurf für die
Kanalanlage auszuarbeiten, obwohl ihm ein Honorar von 2000
Thalern versprochen wurde, wovon die eine Hälfte sofort, die
andere nach Fertigstellung des Plans gezahlt werden sollte.
Er glaubte sich durch Beförderung des Projekts «wider Gott
und arme Leute zu versündigen» und lehnte deshalb nach
kurzer Bedenkzeit den Antrag ab.
Auch diese Missbilligung des Plans durch einen der ei'slen
Fachmänner der Zeit vermochte den Lützelsteiner nicht zu er-
schüttern. Wenn schon infolge des Verkaufs von Pfalzburg,
— 94 —
vorauf ich später zurückkomme, zeitweilig anderweitige Ent-
würfe mehr in den Vordergrund traten, so gab er doch das
Kanalprojekt niemals auf, sondern vertiefte sich, wie es scheint,
immer selbständiger in die technischen Fragen der Wasserbau-
kunst. 1591 nahm er dann das alte Projekt in Verbind unj;
mit dem eines Mosel-Maaskanals mit verdoppeltem Eifer wieder
auf und bewarb sich, wie ich schon früher erwähnte, nicht
ohne Erfolg um Privilegien für Kanalbauten und Entwässerungs-
anlagen im Erzbistum Köln und in den Niederlanden. Im Juni
desselben Jahres hatte er auch die Grenugthuung, dass ihm
endlich der Bischof von Strassbnrg ein gleiches Privileg aus-
stellte, und so schien der Plan jetzt wirklich seiner Ausführung
näher zu rücken. Indessen bakl nachher, am 8. April 1592,
erlag der kaum 50jährige rastlose Mann einer tückischen
Krankheit und alle seine hoch fliegenden Entwürfe sanken mit
ihm ins Grab. Beinahe drei Jahrhunderte hat es dann gedauert,
bis die Vollendung des Rhein-Marne-Kanals in grossartigster
Weise den Lieblingsgedanken des Lützelsteiners verwirklichte.
Wir dürfen von unserm Pfalzgrafen nicht Abschied nehmen,
ohne vorher noch eine andere Seite seiner Wirksamkeit für die
Hebung des Verkehrs gewürdigt zu haben, nämlich seine
Wegebaulen. i Auf diesem Gebiet hat er wirklich Anerkennens-
wertes geleistet. Eine wichtige Veränderung, welche sich 1584
in seinem Territorialbesitz vollzog, gab den Hauptanstoss
zu seiner Thätigkeit in dieser Richtung. Herzog Karl von
Lothringen hatte nämlich schon lange seine begehrlichen Blicke
auf das neu gegründete Pfalzburg gerichtet, das ihm sowohl
zum Schutze seines Landes wie als Einfallsthor ins Elsass von
grossem Werte zu sein schien. Als nun Georg Hans wieder
einmal in drückender Geldnot war und ihm der Lothringer
lockende Anerbietungen machte, konnte er nicht widerstehen
und verkaufte die Stadt, auf deren Emporblühen er erst st»
grosse Hoffnungen gesetzt hatte, nebst Zubehör für 400 0(K»
Gulden. Vergebens protestierten die elsassischen Stände und
die Angehörigen des pfälzischen Hauses gegen die Veräusserung:
am 1. Oktober 1584 wurde Lothringen in den Besitz von
Pfalzburg nebst Lülzelburg, Haselburg, Wilsberg etc. einge-
wiesen. Eine Wiedereinlösung der Herrschaft, welche sich
Georg Hans bis 1588 vorbehalten, fand nicht statt. Bald nach-
her kaufte der Pfalzgraf mit einem kleinen Teile des Erlöses,
nämlich mit 47000 fl., von der Familie Ratsamhausen die
reichslehnbare Herrschaft Steinthal, wo er schon seit einiger
' Das für diesen Abschnitt des Aufsatzes benutzte Material ent-
stammt teils dem Stadtarchiv teils dem Bezirksarchiv zu Strassbnrg
— 95 —
Zeit das Ber*rreg^al Ijesass. Es scheint, dass er überschwängliche
Hoffnungen auf den Ertrag dieser sonst sehr armen Gebirgs-
gegend an Erzen setzte. In Rothau und an einigen anderen
Orten errichtete er grosse Schmelzöfen und Eisenhämmer, und
das bisher so abgeschiedene stille Thal wurde der Mittelpunkt
eines lebhaften Treibens. Selbst weiter abwärts auf bischöf-
lichem Gebiet bei Schirmeck und sonst liess der Pfalzgraf nach
Erzen graben. ^ Nun ergab es sich aber bald als ein sehr
lästiger Uebelstand, dass das Steinthal nach aussen höchst
mangelhafte und ungenügende Verbindungen hatte und na-
mentlich von der Grafschaft Lützelstein her nur schwer oder
auf Umwegen zugänglich war. Sollten die Rothauer Bergwerke
und Fabrikanlagen gedeihen, so mussten sie vor allem auf
guten fahrbaren Wegen vom Rhein und von Lothringen her
zu erreichen sein. Mit grossem Eifer warf sich der Pfalzgraf
daher auf den Strassenbau. An Geldmitteln fehlte es ihm ji
zur Zeit nicht, da er von Lothringen soeben 300000 Gulden
als Anzahlung erhalten hatte. Hunderte von ArJieitern wurden
gleichzeitig auf verschiedenen Strecken beschäftigt und mancher
sonst ganz einsame Platz glich nach den Aussagen von Augen-
zeugen mit den zahlreichen Hütten und Küchen einem förm-
lichen Feldlager. Im Allgemeinen baute der Pfalzgraf nicht
ganz neue Wege, sondern begnügte sich mit der Verbreiterun^r
und Fahrbarmachung vorhandener Pfade. Natürlich rnussten
hierfür namentlich zu starke Steigungen und Senkungen ver-
mieden werden. Dies soll denn auch nach unparteiischen Be-
richten vortrefflich gelungen sein. Einer Strassburger Mitteilung
zufolge betrug die Steigung der Strassen nie mehr als 2 — 3
Fuss auf 50 Fuss Länge, also höchstens 4 — 6o|o. Ini Ganzen
wurden die Wege derart verbessert, dass eine Last, zu deren
Beförderung früher 18 Pferde nötig waren, jetzt mit nur
6 Pferden bewältigt werden konnte.
Ein Ueberblick über die Wegebauten Georg Johanns lehrt, 2
dass drei verschiedene Strassenzüge zu unterscheiden sind,
welche alle mehr oder weniger zur Erschliessung des Stein -
thals -bestimmt scheinen.
Der eine geht von Rothau über das Hochfeld und den Odi-
lienberg nach Oberehnheim und Barr unter Benutzung de.s
alten, noch heute begangenen Weges, welchen der Pfalzgraf
nur ausbaute und fahrbar machte. Er führt von Rothau nach
1 Hiernach ist die von Schöpflin verbreitete Meinung, dass der
Bergbau im Breuschthal erst im 18. Jahrb. begonnen habe, zu be-
richtigen.
2 Vgl. die beiliegende Kartenskizze.
— J^ —
Schötiberg (Belmont), zieht sich von da auf das Hocbfeld und
über die Höhe hin am Ratsamhauser Stein vorbei, über die
früher «Rotes Kreuz», jetzt Rotlach genannte Lichtung zum
Odilienberg und hinab nach Ottrott und Oberehnheini.
Die beiden andern Strassenzüge suchen von Norden her
(Jas Steinthal zu erreichen und haben den Ort Haselburg an
der Zorn zum Ausgangspunkt. Von da zieht die eine Strasse
südwestlich an den zum fothringischen Plateau sich ver-
flachenden Ausläufern der Vogesen entlang über Walscheid,
Alberschweiler, St. Quirin, Schloss Türkstein nach Chätillon.
Dann biegt der Weg in scharfem Winkel südöstlich nach Raon
sur Pleine und unter dem Gipfel des Donon vorbei nach
Schirmeck und Rot hau. Etv^'as näheres über die Anlage des
letzten Teils dieser Strecke ist nicht berichtet^ doch ist zu ver-
muten, dass der Weg im ganzen dieselbe Richtung einhielt
wie die alte Römerstrasse und die heutige Strasse Raon-
Schirmeck.
Die dritte Strasse lallt auf der ersten Strecke von Hasel-
burg über Dagsburg und die Steige nach Wangenburg mit dem
alten Wege zusammen. ^ Von Wangenhurg aus ging es sodann
auf den ((Umwerfe, einen hochgelegenen Punkt, wo die Grenzen
des Strassburger Oedenwalds, des bischöflichen und Leiningischen
Gebiets zusammentrafen. Allem Anschein nach ist mit dieser,
heute verschwundenen Lokalbezeichnung eine Wegkreuzuni^
auf der Höhe südlich von Wangenburg am östlichen Ausläufer
des Schneebergs gemeint^ etwa die heute als Pandurenplafz
bekannte Stelle oder der Standort des Forsthauses Breitlierg
unweit der Försterei Niedeck. Von dort führten, wie aus den
Quellen hervorgeht, alte Wege in die verschiedensten Rich-
tungen, besonders nach Haslach, Wangenburg, Westhofen und
Marlenheim. Vom Umwerf aus ging die Strasse bis in die
Nähe des Ursteins, wo sie nach den Berichten vom Novemlier
und Dezember 1584 vorläufig endigte. Es bestand aber die be-
stimmte Absicht, sie auf der Höhe hin südwestlich weiter bis
zum «Haselsprung» auszubauen, d. h. bis zum Ursprung des
Haselthals zwischen Grossmann und Narion. Von dort — so
heisst es in den Berichten, — kann der Pfalz^raf dann leicht
ins Breuschthal, nach Oberhaslach, Wisch, zu den Eisenwerken
oei Rothau oder durchs Saarthal nach Lothringen gelangen. Es
erhellt hieraus, dass auch der heute kaum noch gekannte
Haselsprung damals ein sehr wichtiger Vogesenübergang war,
1 Von der «Schleife» ans beabsichtigte übrigens der Pfalzgraf
noch einen direkten Weg nach dem RoBskopf and dem Drstein zu
bauen. Ueber die Ausführung verlautet jedoch nichts Bestimmtes.
KARTE ZUR ERLÄUTERUNG
DER STRASSENBAUTEN UND DES KANALPROJEKTS
DES PFAIZGRAFEN GEORG JOHANN.
d#* SadrlHU
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U ^^^^Atnafa.
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^K5
'^^^
■^
— 97 —
was fibrigens auch durch ältere Zeugnisse bestätigt wird. Mög-
lich, dass sogar schon zur Merovingerzeit ein Weg von
Lothringen her durch das Saarthal i'iber den Haselsprung und
den um werf nach der Königspfalz Marlenheim führte. Ob und
wie nun Georg Hans vom Haselsprung aus seine Strasse
weiterbaute, um zu seinen Rothauer Gruben und Schmieden zu
kommen, geht aus den gleichzeitigen Berichten nicht hervor.
Vermutlich aber wird er vom Noilen aus dem uralten, jetzt
unler dem Namen des * Kohlen wegs von Framont» bekannten
Wege auf der Höhe bis zum Donon gefolgt sein und dort den
Anschluss an seine von Raon herauflührende Strasse erreicht
haben.
Alle diese Bauten wurden vom Pfalzgrafen mit ausser-
ordentlichem Eifer und Nachdruck betrieben, so dass sie meist
in wenigen Monaten vollendet waren. Dabei ist wohl zu
beachten, dass sich die Wegeanlagen nicht blos auf die eigenen
Territorien des Fürsten beschränkten, sondern vielfach aul
fremde Gebiete übergriflen, so besonders auf die Herrschaften
des Slrassburger Bischofs, der Grafen von Leiningen und Salm.
Obwohl diese Herren nun mit dem Gebahren ihres unruhigen
Nachbarn keineswegs einverstanden waren, so vermochten sie
sich doch zu keinem lebhaften Widerstände aufzuraffen, be-
«fnügten sich vielmehr mit wiederholten Drohungen ^ und Pro-
testen. Hätte Georg Hans erst auf diplomatischem W^ege ihre
Zustimmung zu erlangen gesucht, so wäre er bei der Zer-
fahrenheit der damaligen Verhältnisse und dem gegenseitigen
Misstrauen der Stände kaum jemals zum Ziele gelangt, während
jj'erade die Unverfrorenheit seines Vorgehens die Nachbarn ver-
blüfft und ihren Widerstand gelähmt zu haben scheint. Aber
— wirfl man sagen -^ wie war es möglich, dass die Stände
die ihnen ohne Unkosten gewissermassen in den Schoss ge-
worfenen Verkehrserleichterungen nicht mit Freuden begrüsstea?
Darauf ist nur zu erwidern, dass die elsässischen Stände, so
sonderbar es scheint, in der That blos die möglichen Nachteile,
nicht aber den wirklichen Nutzen der Strassen bauten in Betracht
zogen. Es war bei ihnen nur eine Stimme darüber, dass das
Unternehmen des Pfalzgrafen ebenso rechtswidrig wie nach-
teilig und gefährlich sei: rechtswidrig, weil es einen Eingriff in
fremde Gerechtsame bedeute, nachteilig wegen der Beschädigung
von Wald und Flur, getlihrlich vor allen Dingen, insofern da-
durch das Reich oc fremden Nationen» i^eöffnet werde. Die
' So äasserte der Graf von Leiningen einmal, er werde, wenn
der Pfalzgraf mit seinen Strassenbauten fertig sei, wieder alles <ver-
liauen lassen». Doch war diese Drohung kaum ernst gemeint.
7
— 98 —
Furcht vor feindlichen Ueberfallen der Welschen war unl)edingt
der Hauptgrund zur Opposition, namentlich bei denjenigen
Ständen, die von den St rassenan lagen sonst nicht untnittei)>ar
berührt wurden. Man begreift dies übrigens, wenn man die
allgemeinen politischen Verhältnisse in Verbind u'^g mit der
zweideutigen Haltung des Pfalzgrafen erwägt. Frankreich war
zwar damals durch die Hugenotten kriege so zerrüttet, dass es
an eine energische Aktion nach aussen nicht denken konnte ;
allein der Rückschlag der heftigen Parteikämpfe auf das an-
grenzende Elsass konnte doch nicht ausbleiben, und am wenigsten
konnte sich der Lützelsteiner bei der Lage seines Fürstentums
den lothringischen und französischen Einflüssen entziehen. Ob-
wohl er seine Liebe zum deutschen Vaterlande gern in voll-
tönenden Redensarten zu beteuern pflegte, hat er doch häulig
genug gegen das Reichsinteresse gehandelt, wobei dahingestellt
bleiben mag, inwieweit ihn die Not dazu drängte. Wenn man
seinen eignen Angaben trauen wollte, so wäre er alierdmgs
nur durch die Lässigkeit und Gleichgültigkeit des Kaisers und
der Reichsstände zur Anlehnung an das Ausland gezwungen
worden ; doch ist er mit solchen Vorwürfen sehr schnell bei
der Hand. Als beispielsweise Strassburg 1574 ein von ihm ein-
gereichtes Gesuch um Unterstützung mit Geld, Munition und
Proviant ablehnt, möchte er ohne weiteres der Reich.sstadt die
Verantwortung dafür aufbürden, dass er sich mit Frankreich
einlassen müsse. Thatsache ist ferner, dass er 1579 und 1580
im Verdacht stand, mit den Franzosen etwas gegen die elsäs-
sischen Stände im Schilde zu führen und an dem Plan einer
Ueberrumpelung Strassburgs beteiligt zu sein.
Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern,
wenn seine Strassenbauten den Argwohn erweckten, es handle
sich darum, den Franzosen den W^eg ins El.sass zu bahnen.
Statt dass nun aber jeder in seinem Gebiet sich den Unter-
nehmungen des Pfalzgrafen kräftig widersetzt hätte, ei^schöpfle
man sich in ohnmächtigen Protesten und hielt Vcsammlungen
über Versammlungen ab, ohne jemals zu einem ordentlichen
Entschlüsse zu kommen. Als im Herbst 1584 die ersten An-
fänge der Wegaulagen bekannt wurden, kam die Sache auf
dem unterelsässischen Ständetage zu Schlettstadt zur Sprache
und man einigte sich glücklich so weit, dass eine KommissioD,
bestehend aus je einem Abgesandten des Bischofs, der Stadt
Strassburg, der Ritterschaft, der Landvogtei, des Stra.ssburger
Domkapitels und der kleineren Reichsstädte am 29. November
in Oberehnheim zusammentreten sollte, um eine Okular-
inspektion der neuen Strassen vorzunehmen. Diese Besichtigung'
rand wirklich in den Tagen vom 30. November ))is 3. Dezember-
- 99 ~
stall und der Slrabsburger Maler Wendung, welcher die Ge-
sellschaft begleitete, fertigte eine Skizze der Wege an, die aber
leider nicht mehr vorhanden ist. Die Kommission ritt von
Oberehnbeim über den Odilienberg und das Hochfeld nach
Rothau und Schirmeck, von dort über den Donon und Raon-sur-
Plaine, Chatillon nach St. Quirin, sodann über Haselburg nach
Dagsburg, von wo der Weg bis zum Urstein besichtigt wurde.
In Maursmfinster trennte sich dann die Gesellsthafl. Das Er-
gebnis der Ortsbesichligung war nicht dazu geeignet, die Stände
zu beruhigen, so dass der Bischof noch in demselben Monat
einen weiteren untercisüssischen Tag zu Oberehnbeim anbe-
raumte. Hier erschien nun Georg Hans in eigner Person, um
sein Vorgehen zu rechtfertigen und seinen lieben Nachbarn
klar zu machen, dass die Wegeanlagen nicht das Verderben,
sondern den Vorteil des ganzen Landes bezweckten, und dass
es Thorheit sei zu meinen, das Land wurde dadurch den Fran-
zosen geöffnet. Wenn die Franzosen ins Elsass einfallen wollten,
so hätten sie auf den alten Pässen und durch die Thäler
bessere Gelegenheit dazu als auf seinen neuen Strassen, die
meist hoch über das Gebirge führlen. Der Eindruck seines per-
sönlichen Auftretens und der Grad seiner Beredtsamkeit muss
kein geringer gewesen sein ; denn es gelang ihm, wirklich die
Mehrheit der Gesandten in ihrem Vorurteil so zu erschüttern,
dass die Angelegenheit vorläufig bis auf weitere Ueberlegung
vertagt wurde.
Von nun an halte der Pfalzgraf gewonnenes Spiel.
Wenn auch noch immer einzelne Unzufriedene über die ^Nege
murrten und sogar den Kaiser zu einer Einmischung gegen
den Lutzelsteiner zu bewegen suchten, so war doch die Oppo-
sition nicht mehr stark genug und schon Ende Januar 1585
konnte Georg Hans dem Grafen von Leiningen, einem seiner
früheren Gegner, triumphierend schreiben, er freue sich, dass
jetzt fast alle Nachbarn den Nutzen seiner Wegebauten einge-
sehen hätten. ^ Inwieweit sich freilich seine an die neuen
Strasjsen gel<nüpften Erwartungen bezüglich des Aufschwungs
der Rothauer Eisenwerke erfüllten, lässt sich nicht feststellen.
Der frühzeitige Tod des unternehmungslusiigen Fürsten machte
wohl auch diesen viel verheissenden Anfangen einer gedeihlichen
1 Als bezeichnend für die Sorgfalt, die er seinem Werke bis in
die Einzelheiten hinein widmete, will ich übrigens aus dem Briefe
noch anführen, dass er den Grafen bat, in der Berrschaft Dagsbarg
au einigen besonders wichtigen Punkten, wie in Walscheid und am
«Omwerf>, Wirtshäuser und Ausspannungen anlegen zu lassen and
die Änsiedlnng von Schmieden und Wagnern zu begünstigen.
— iOO —
Entwickelunjif des Verkehrs in den Vogesen ein jähes Ende.
Die Zeit war eben im ganzen noch nicht reif zum Verständnis
und zur Fortführung von Werken, wie-^^sie dieser merkwürdige
Mann geplant und zum Teil in die Wege geleitet hatte.
Hat somit der Pfalzgraf auch nichts dauerndes zum Nutzen
des Landes geschaffen, so verdient sein Andenken doch immer-
hin gerade in den Kreisen des Vogesenklubs in Ehren gehalten
zu werden. Dass übrigens seine Persönlichkeil und sein Wirken
auch den Zeitgenossen, welche ihm näher standen, einen ti<»fen
Eindruck gemacht haben muss, geht daraus hervor, dass in
den Gegenden, welche seiner Herrschaft unterworfen waren, die
Erinnerung an den «Jörry Hans» noch Jahrhunderte lang le-
bendig geblieben ist.
i
IIl.
Reichenstein
oder
das alte Schloss bei Reichenweier
von
E. Ensfelder.
Noch eine hohe Säule zeugt von entschwundner Pracht.
Und diese, schon geborsten, kann stürzen Ober Nacht.
Uhland.
u,
nter ihren stolzen Schwestern, die hoch vom Berge in
Hie Ebene herahschauen, ist der bescheidensten Eine die Ruine
Fleichenstein. Nur der BurgtVied steht noch einsam im Walde
hinter Reichenweier, auf einem niedrigen Hügel, der kaum
iiber die Thalsohle sich erhebt. Man muss schon genau mit
der Lage des Turms bekannt sein, um ihn selbst aus massiger
EDtfernung zu bemerken. Wer dahin will, verfolgt, aus Reichen-
weiers oberem Thor tretend, den Fahrweg des Sembacher Thals,
an dessen linker Seite ein kaum ansteigender Ptad ihn in einer
Ualbstunde, erst durch Kestenwäldchen, dann durch den Tannen-
wald zur Stätte fuhrt. Nur der Turm, an den Kanten vielfach
abgebröckelt, unten von einem Schatzgräber an zwei Stellen
durchbrochen, ist erhalten; rin^rsherum keine Spur mehr von
anderm Mauerwerk ; ja nicht einmal der Platz zu solchem ist
noch vorhanden ; der konische Hügel hat nur Raum für den
Turm und fallt steil ins Thal hinab. Nach einer mündlichen
Ueberlieferung soll er freilich einst grösser gewesen sein; ein
Bergrutsch zu Anfang dieses Jahrhunderts hätte die noch übrigen
Schlossteile samt dem Geröll ins Thal hinunter geführt. Wie
dem auch sei, das Schloss war eines der mitlelalleriichen Raub-
— 102 —
nesfer und seine Lage passte vortrefflich zum Handwerk der
Ritter vom Steigbig.il. Hinter einem Schleier von Tannen ver-
borj<en, gewahrt es doch dem spähenden Auge die Aussicht auf
die Ebene, und war ein Raabzug gelungen, so konnten die
Räuber mit ihrer Deute beinahe spurlos dort verschwinden.
Wann das Sohloss erbaut wurde, ist nirgends gemeldet ;
der noch vorhandene Tur.n ist pentagonal (siehe den Riss in
Näliers Burgen in Klsass-Lol bringen 1886, 2. Heft, Blatt i),
un<l es könnte der Gedanke erwachen aus diesem Umstand auf
die Erl)auungszeil zu schliessen. Allein die vorhandenen penta-
gonalen Bauten sind aus verschiedenen Zeiten. So der Bei"g^fried
der Spesburg bei B.ur ; so auch der sog. Diebsturm der ersten
Befestigung von Reichenweier (siehe den Riss eben dort); diese
ist 1291 von Burkart I. von Horburg erst erbaut, während
Reichenslein schon 12(59 zerstört wurde. Eher könnte noch die
Spesburg, v-elche schon 1246 durch Bischof Heinrich III. von
Strassburg den Kdeln von Dicka übergeben wurde, mit unserm
Schloss gleichzeilig sein.
Die gesihäftige S.ige hat auch den einsamen Turm mit
ihren Dichtungen umwoben, die freilich in unserer nüchternen
Zeit kaum noch nacherzählt werden. Dem Schreiber dieses sind
sie noch von alten Leuten vor vielen Jahren vorgetragen worden
und da Slöljers Sagenbuch des Elsass darüber schweigt, so
mögen sie hier milgeteilt werden. Wie in den meisten alten
Schlössern, so erscheint auch hier all mitternächtig eine weisse
Dame; lautlos steigt sie hinunter ins Thal, wäscht im Sembach
einen blutigen Schlüsselbund und verschwindet wieder nach
vei'geblicher Arbeit. Ein Förster traf sie einst bei diesem Ge-
schäfte und rief sie an. «Kommt, entgegnete sie, morgen zur
gleichen Stunde auf den Schlossptad und zündet im Waide
zwei Kienfackeln an ; ich werde euch in eine Kammer führen,
worin auf einer Truhe ein schwarzer Hund liegt ; drückt mir
dann die Hand bis Blut aus den Fingern spritzt und lasst euch
durch das Heulen des Hundes nicht erschrecken, so werdet ihr
mich erlösen und dess grossen Reichlhum haben!» Der Mann
kam um Mitternacht zur Stelle; als er atjer im Walde die
Kicnfackeln anzündete, siehe! da war, statt des Pfades, ein
breiter, gepflasterter Fahrweg ; das Schloss stand in alter Pracht
vor ihm und unter dem Thore winkte ihm die weisse Dame.
Nachdem sie ihm befohlen kein Wort zu sprechen, fährte sie
ihn in die Kammer. Kaum aber hatte er begonnen, die Hand
seiner Führerin zu drücken, so heulte der Hund so entsetzlich,
dass er vor Schreck die Hand fahren Hess, worauf ihm weinenJ
die weisse Dame sagte : «Nun muss ich wieder neun mal neun-
undneunzig Jahre warten ; dann wird die Eiche wachsen, aus
— J03 —
deren Breitern die Wie^e für das Kindlein jfezimraert werden
soll, das mich als Mann erlösen wird.» — In einer andern
Fassung lautet die Sage melodramatischer : In grauer Vorzeit
begab sich einmal ein Brautpaar von Schlettstadt nach Colmar;
beim Rosenkranz (heute ein Wirtshaus bei der Bennweirer
Station) wurde es von den Reichensteiner Raubrittern überfallen.
Der Bräutigam wurde nach verzvveifelter Gegenwehr erschlagen,
die ohninächlige Braut aber nach dem Schlosse verbracht. Im
Verliess ist sie gestorben und sie ist's die heute als weisse
Dame erscheint. Gleichzeitig mit dem oben erwähnten Berg-
rutsch soll aber die Dame erlöst sein.
Die Geschichte schweigt über die Schicksale der Burg; sie
meldet nur die Zerstörung derselben, und auch diese in lako-
nischer Kürze. Es war in der « kaiserlosen, der schrecklichen
Zeil». Die Chronik von Konigshoven (edit. Hegel I p. 41) be-
richtet darüber : «Do zwischent in tulschen Landen und ouch
anderswo vil st rossen rouber worenl und ouch edellüle vil uazucht
und unlustes begingent» «Do trat kunig Rudolf an sins
vatter stat und wart ouch venr (Fähnrich, Bannerträger) der
stete zu Sirosseburg und schuf dnz man in vorhte durch alles
Klsas und Swoben mit hilfe der stat zu Strosseburg.;) Damals
sassen auf dem Schlosse zwei Brüder, deren eigentlicher Name
unbekannt ist, die aber Gieselin zubenannt waren, wohl weil
sie die Geissei der Umgegend waren; ihre Sippe war die Familie
von Reirhenstein. Sie hatten wohl häufige Anfälle ausgeführt
auf jene zahlreichen Handelskarawanen, die damals auf Rollwagen
landiiuf landab die Messen der rheinischen Städte besuchten,
und hatten sich so den Strassburgern lästig gemacht. So ge-
schahs, dass i2()9 ilie Strassburger unter Anführung ihres
Bannerherrn Rudolf von Habsburg, unterstützt von den Gol-
marern, vor die Burg zogen, sie brachen und die beiden Brüder
gefangen nahmen. Was aus ihnen wurde, ist nicht bekannt,
aber stählerne Pfeilspilzen, die man ab und zu in der Umgebung
des Schlosses findet, zeugen heule noch von jenem kriegerischen
Vorgang. Die Annalen der Dominikaner von Golmar (ed. Gerard
et Liblin p. 30) berichten darüber ganz kurz : 1269. Comes
Rudolfus de Habsburc et cives Columbarienses expugnarunt
castrum Richenstein et ceperunt duos dominos casiri dictos
Giselin. Seit jener Zeit ist das Schloss Ruine; 1356 erlitt es
neuen Schaden durch ein Erdbeben (Annales des Dom. p. 257)
und seitdem verwittert es langsam im Winterfrost und Sturm.
Die Familie derer von Reichenstein starb jedenfalls mit
jenen Brüdern nicht aus ; es gab selbst zwei Familien dieses
Namens im Elsass, deren eine, Reich von Reichenstein
in der Nähe Basels angesiedelt war, während die andere, ein-
— 104 —
fach von Reichenstein genannt, sporadisch in Reichen-
weier und Umgebung später auftaucht. Beide scheinen Zweige
desselben Stammes gewesen zu sein ; wenigstens ist nach dem
Armorial d'Alsace das beiderseitige Wappen ähnlich : gueules
a deux fasces abaissees d'argent et en chef un hon naissant
de m^me, was aus dem heraldischen Kauderwelsch in ehrliches
Deutsch überti'agen heisst : rotes Wappen mit zwei silljernen
senkrechten Binden, und darüber ein silberner Löwenkopf.
Nachstehend geben wir nach Schöpflin-Ravenez (IV, p. 543)
die dürftigen Namen, die aus der Reichenweirer Linie noch
bekannt sind.
In einem Dokument von 1466 über ein in der Kirche zu
Kientzheim vorgefallenes Wunder wird ein «Junker Diebolt von
Richenstein» genannt (Alsatia 1854)55 p. 285). Zwei Junker,
Michael und Ulrich von Richenstein waren 1443 und 1475
Schultheisse, ersterer zu Kientzheim, letzterer zu Kaysersberg.
Zu Kientzheim wohnte 1449 ein Johann von Richenstein, während
jener Ulrich, Schultheiss von Kaysersberg auf Sonntag Judica
1440 einen Bericht über den befürchteten Einfall der Schinder
(Armagnaken) absendet. Anno 1538 finden wir einen Hanss
Bastian von Richenstein als Vogt zu Reichen weier und 1597
wird Friedrich Diebolt von Richenstein neben seiner Gemahlin
dementia von Pfirt in der Kirche von Kientzheim bestaitet;
eben dort soll auch in der Kapelle St. Felix und St. Regula
ein Wolfgang von Richenstein samt seiner Gattin Barbara von
Watt Weiler ruhen.
So weit gehen die geschichtlich beglaubigten Thatsachen,
wel«:he das Schloss und die Familie Reichenstein betrefl'en ; das
Folgende beruht auf Mutma.ssungen, die wir für das ausgeL)en
was sie wert sein mögen.
Wie alle Ortschatten deren Namen in Weiler, Weier (oder
Heim) endet, verdankt auch Reichenvveier (Richovilla) seinen
Ursprung einer Villa, einem Bauernhof um welchen herum die
Leibeigenen des Besitzers sich anbauten, und mit der Zeit aucli
solche, die zum Hofe in loserem Dienstverhältnis standen;
diese Höfe standen zu ihrer Umgebung in rechtlich geregeltem
Verhältnis und hiessen bekanntlich DingliÖfe. Noch ist heut*»
an den Zinnen welche das Eingangsthor krönen, dieser Hof
kenntlich (Haus des Herrn Alb. Birckel) ; von den Oekonomie-
gebauden die dazu gehörten hat nur Eines seinen Namen be-
halten, der Marslall (im Volksmunde der Marktstall, Herrn
Mequillet gehörig). Auf dem Hof wohnte wohl zur fiankiarheii
Zeit ein freier Bauer, Richo genannt, den fruchtbaren Boden
ausnützend, der hauptsächlich für Rebbau geeignet ist; schon
seil Kaiser Probus wurde ja der Weinstock im Elsass ange-
— 105 —
pflanzt. Sein Besitz war ohne Zweifel königliches Lehen ; denn
das Land rings herum war salische Erde, d. h. unmittelbar
königliches Eigentum. Noch heute weisen etliche Namen auf
diesen Umstand hin : Selhurg, Seiacker. Selthal (im Volks-
inund Zilthal oder Zieltünnei). Hof und Bann waren im 9. Jahr-
hundert im Genüsse des Strassburger Bischofs Richwin, und
bildeten einen Teil der Wilkisowe, der spätem Grafschaft
Horburg. In der Folgezeit kamen sie unter die Grafen von
Egisheim-Dagsburg, die 1094 der Abtei zum heil. Kreuz zu
Woffenheim Landereien zu «Richovilre» schenkten (Schöpftin
Als. Dipl. II p. 132). Ihnen folgten die Grafen von Horburg,
die ihr Land 1324 an den Grafen Ulrich von Würtemberg ver-
kauften. Einen Beweis, dass damals schon der Weinbau zu
Reichenweier betrieben wurde, bieten die Ereignisse die sich
^n diesen Verkauf anschliessen. Graf Ulrich musste nämlich
seinen Erwerb mit den Waffen wider den Bisctiof von Strass-
burg, Berthold von Bucheck verleidigen. Die Bischöflichen
drangen in das Städtlein ein und tranken einen Teil des vor-
rätigen Weins ; der Ueberrest wurde in die Keller des Bischofs
verbracht. In diesen wirren Zeilen ist wohl Reichenstein erbaut;
der Bauer hatte so einen altvererbten Hof zum Anbau des
Landes (Richovilla) und eine Zunuchtsslatte im Wald bei feind-
lichem Ueberfalle (Richopitra). Was ursprünglich zu Schutz und
Schirm erbaut war, wurde später ein Raubnest und aus der
freien Bauernfamilie entsprossen jene Raubritter, die den Ver-
fall der Burg herbeizogen, während mit der Zeit aus dem Hof
ein wohlhabendes Städtchen wurde.
IV.
Das napoleonische Wappen
von Strassburg.
Von
A. Schricker.
Das altehrwürdige Wappen von Strassburj?, mit dem
roten Querbalken im weissen Feld, über de.*5sen künstlerische
Umformungen im Laufe der Zeiten uns Ferdinand Reiber eine
schätzenswerte Arbeit gej^eben hat, war in den Zeilen der
grossen Uinwülzungen am Anfang des Jahrhunderts ernstlich
in seiner Geltung als Wahrzeichen der Stadt bedroht.
Durch ein Dekret des Kaisers Napoleon vom 19. Mai 1809
war bestimmt worden, dass sich die Städte, Gemeinden und
Korporationen, welche Wappenbriefe zu erhalten wünschte«,
nach gehörijjer Genehmigung der Aufsichtsbehörden an den
Erzkanzler des Kaiserreichs Le Prince zu wenden halten.
Am '11. November 1809 hielt der Gemeinderat von Slrass-
burg hierüber Beratung. Anwesend waren bei derselben und
dem Beschluss ein neues Wappen für die Stadt zu verlangen
der Maire Wangen und die Gemeinderäte Lotzbek, Hecht»
Zollikofer, Chastelain, Richard, Fourouge, Walter, Klein, Dill-
mann, Ehrmann, Pousset, Renouard-Bussiere, Scherlz, Saum,
Magnus, Kolb, Menuel, iMarono, Marcbai, Heilz, Gau, Hiruchet,
Jacoud.
— 107 —
Der Beschluss wurde <turch die vorgeseUte Behörde büstäligl,
und der folgende Maire Bi-;(ckenhorer wendete sich an das
kaiserliche Herold^-aml, worauf durch kai^rliches Dekret, ge-
lben in St. Cloud arn 2. Au^fust 1811 der «g:ulen Stadt Strasä-
burgB die Genehm i;;uo;: erteilt wurde, das also beschriebene
und hier abi;ebilde(e Wappen zu tuhren : Ein dunkelblaues
Feld durchzoi^en von Goldverzierunjf mit einem Schrägbalken
in Silber, darüber der fiir die Slädte des Kaiserreichs gemein-
same rote Streifen mit drei ^'oldnen Dienen. Die Aussenver-
zierun>r sohle bestehen in einer Mauerkrone mit sieben Zinnen,
überragt von einem aufsteigenden Adler. Zwischen Wappen und
Mauerkrone ein Merkujslah (Caduceus) an welchem zwei Laiib-
gewinde in Gold (Kestons) aufgehängt sind ; der zur (heraldischen)
Rechten von Eichenlaub, der zur Linken von Oelzweij^en,
beide umwunden und fe.sigehallen durch rote Bänder.
In der motlerneii Abteilung des Studiarchivs, dem wir diese
Noliz entnehmen, findet sich auch das Schreiben einer Band-
wirkerUrnia (Frferes Liice) von Paris vom i. Juni 1812 an den
Maire Brackenhofer, mit welchem das Muster der für die
Dienst bekleidun;; notijren Bandstreifen übersendet wird. Da
das Wappen mit Zubehör für den Halsslreifen von ca 6 cm.
Höhe zu klein geworden wäre, so legte man das Wappenschild
in die Breite, Hess darauf den Caduceus und die Mauerkrone
— 108 —
mit dem Adler folgen und setzte oben und unten die Laubge-
winde, was einen komischen Eindruck hervorbringt.
Die Anwendung des Wappens scheint nach dem Zusammen-
sturz des napoleonischen Regiments in aller Stille eingestellt
worden zu sein. Wir bemerken keine weiteren Spuren. Das
alte Strassburger Wappen trat auch offiziell wieder in Gebrauch.
Interessant ist es, dass in dem «Dictionnaire topographique
etc. du Haut et du Bas Rhin» von Baquol Ristelhuber 1865
PI. 1 das Wappen von Colmar zwar ohne den Streifen mit
den drei Bienen, aber noch mit dem liegenden Caduceus, der
Mauerkrone (diese ohne den Adler) und den Laubgewinden er-
scheint, während Strassburg sein altes Wappenschild mit der
Helmzier und den beiden Löwen zeigt.
Notizen
eines Strassbiirger Bürgers um 162o.
Mitgeteilt von
E. Martin.
Auf dem Strassburger Stadtarchiv befindet sich ein Gon-
volut von Papieren, meist in Folio, auf welches mich Herr
Stadtarchivar Dr. Winckelmann freundlichst aufmerksam machte.
Diese Papiere sind von oder für Lorenz Fritsch, Glaser zu Strass-
burg, geschrieben, in den ersten Decennien des 17. Jahrhunderts,
bis 1628 etwa. Sie enthalten in einem merkwürdigen Durch-
einander allerhand Aufzeichnungen des schreiblustigen Glaser-
meisters : Processacten, Recepte für Speisen und Arzneien, auch
«von heimlichen Künsten» (Alcbymie), chronikalische
und Tagebuchnotizen, nachgeschriebene Predigten, Lieder u. s. w.
Man ersieht daraus, dass Fritsch d613 zum Obermeister erwählt
wurde. Vom Februar 1607 stammt ein Liebesbrief in Versen,
übrigens unbedeutend ; 1616 wird er von seiner ehebrecherischen
Frau Maria geschieden ; 1628 setzt er w^ieder eine «Abredt an
meine Hochzeiterin» auf, worin er dieser, einer Barbara N. von
Augspurg, ihre künftigen Pflichten ziemlich streng einschärft :
«ob sie Gott und sein heiliges Wort . . will fleissig besuchen? . .
ob sie auch verschwiegen ? . . und weil sie als ein alt gestandes
Mensch mich genommen . .» so übergibt er ihr die Morgengabe
nur unter Voraussetzung ihres Wohl Verhaltens. In jüngeren
— 110 —
Jahren ist er selbst auf grosse Bciuernhochzeiten hinausgezogen,
war lustig und kriegte Prügel, was alles sehr naiv vermerkt
wird.
Des Abdrucks wert scheinen mir I. Wetterregeln und Ge-
bräuche durch das Jahr, II. Tierstimmen und Volkswilze.
I
SprüchT?vörter, ^welches die vor zelten vil aufif
gehalten haben.
Zwölfftag nach Weinachten helt man für die 12 Monath,
vur ieglicher tag vor ein Monat, der Christag für den Jenner,
Steffanstag für den Februarij, so fortan gehalten, auch stelt
man in der Christnacht 12 Zwibelschallen mit Sallz, und wird
auch ein iede Schall für ein Monnath aussgesprochen, und in
welcher schallen daz Saltz schmeltzt, und zu wasser wirdt,
bedeüt der selbige Monnath ganlz nass. Auch merckt man in
diser Chiistnacht, und sunderlich zwischen 11 und 12 Uhren,
uff den Hannenschrey, und so offt der Han in diser Stundt
schreyt, so vil Schilling soll ein fl [viertel] weytz kosten dz
selbige Jahr über, auch fangt man uff Thomas tag an bey den
weissbecken hie Stollbredt biss uff den Sonlag als der H. Am-
meister umbzufahren pflegt zu bachen. Uff den h. Dreikönigstag
pflegen sie Königskuchen zu bacben, und in einem ied wedern
Kuchen steckt ein Bohne, und wer dan dieselbige bekompt der
wirdt für ein König gehalten. Mann macht auch uff ander
vielerley art Kunigreiche. Uff Pauli Bekehrung streylen die
windt mit einander und wann der oberwindt dz feit erhalt,
so sagt man, es gebe gar nasse Johr, und wann es der nider-
windt gewindt, der soll 2 wecken für 1 ^ wehen, dz bedeul
ein gut Jahr.
F eb r uar i i.
Wann die Sonn uff Liechtmes dem pfaffen uff den Altar
scheint, so schleyfft der Bar wider ins Loch oder höhle. Auch
fragt ein gut gesell den andern, wa hastu dich den winder
über gehalten ? Uff Valentin pflegen die Störeken wider zu uns
zu komen. Peter Stuolfeyer soll uns den Fröheling bringen.
Mathis findt er eyss, so bricht Eyss, findt er aber kein Eyss,
so macht er Eyss. Man sagt auch, zu Fassnacht soll man die
Küchlein hinderm offen, und zu ostern die Fladen an der Söhnen
essen. Dz ist, es ist nit gut dz zu fassnacht warm, und umb
— 111 —
Ostern kalt ist, auch wenn die Lerch zu frühe vor der Liecht-
mess singt, so soll sie so lang nach Jörgenta(( still schwigen. In
disem Moni soll man schon Hornungsblumen finden.
Ma r ti i.
Man spricht, die Mertzen blühet sey gar nit gut, Appril
blühet hab her s|»ut [I. horspuot ,gelingen' ?], und die Meybiühet
gar gut. LJIT Gertrudis können die schwalben. In diesem Monath
und sunderlich ufT gerdrutis ist gut zu Mertzen [?], sollen die
schaben oder würm nicht in gewandt o<ier kleidung kohmen.
Vor dem frau tag sollen die Bewm gesetzt sein. Dann man sagt
vor frawen tag Born, nach frawentag Bömlen. Auch sagt man
wann man hört am Abent die Fröschen singen im angehenden
Früheling, bedeut den fclgenden tag schönes und wann der
iiimmel am abend hirschrolh ist, bedeut schön, und der Nebel
utr der Erden bleibt, ist auch schön. Hergegen wann sich der
Nebel über sich zeihet, die Schwalben ulF der Erden herum-
fliegen und mann den Meüsskönig oder zaunschlüpfTer hört
singen, sich die gänss Enden Baden, und die hundt grass
fressen, die wasser oder Mistlachen grien werden, und der
himel am moi'gen roth ist, so regts gern, auch der speck im
Rauch, und dz Saltz anfangt zu frieflen [?], so ists auch ein
anzeigung eins regen, sonderlich aber wan der Beinwindt am
himel ist, hats macht in 9 Stunden zu regnen. Der Mertzen-
staub, wie man sagt, ist gross Goldls werth. UfT dz Mertzen
eyss helt man viel wie auch ufT die Mertzenvieloten. 3 Donder-
tag gebad nach einander im mertz soll so gut sein als ein
ßadenfarlh. Man bacht auch die fassnacht biss ufT Ostern ge-
saUzenen Kuchen.
App r i 1 is.
Am ersten tag des Appril schickt man die Narren wohin
man will. Man sagt auch, er sey nie so gut, er sehne wt dem
hirten ufT den hut. AufT den H. Ostertag hat mans nit gern
dz es regnet. Dann es soll dz zweit theil an der fruchten
verschwinden und so es am pfinstag regnet soll dz 3. theil an
der fruchten widerkomen. ein ey dz am grünen Donerstags
gelegt würt, soll gut für den Donderstrall sein. Dz ey bleibt
auch ein gantzes Johr frisch und gut. Sey ein Ey uff den
H. Ostertag hart, schölle es und schneid die beeden spitzen oben
und unden ab und bindte es in ein weiss tüchlein und henke
es fein gradt übern tisch alles in diser Stunden von 11. bis 12.
und lass henken bis am pfingstag, thue es than widerumb in
disser stunden herunder, so ist es ein glässlein darauss worden.
— 1 1"2 —
thue darnach den Totter darauss, dz gläslin ist denen sehr
nutzlich zerslossen, so an den güchlern liegen. Item, wann es
viel Meyküffer gibt, hell man es auch für gute Jahr. Dz Steio-
obs hats ;^ern kiel und die frucht sampt dem wein hats gern
warm. Es soll auch dz körn uff S. Jürgentag in arren gehii
und die blühet von kohrnaren abgestreift und gessen unberuoffen
soll gut für dz Heber sein. Item man sagt, wann dz Manna
oder himelsthaw uff dz Kohrn feit, oder dz Kohrn schwarze
ange körne hat, bedeüt dz es gar schülzig sein solle. l)z
körn soll auch in 24. Stunden verblüht haben. Item der weylzen
und der wein sollen mit einander blühen. Item wann der holder
wol geralh, soll der wein auch woll gerathen, allein dz es
umb dieselbige zeit gern erste gar kalte lieyffen gibt, die raan
nit gern sieht und man alle zeit hoITnung hat, wan Jörgen,
Marx und Philipp und Jacobi und der erste mey tag vor über
seindt, hofft man der werme. Man sagt wann einer ein Laub-
fröschele in der handt lasset sterben, oder bindt es ein, in ein
dichlin und henkt es an halss und am 9. tag mu.ss er dasselbige
wider heraber thun in der selbigen Stund, wie er es an gehenckt
hat, soll dz lieber vertreit^en, wie dann auch dz Schlangen-
pulver sol dz giflt vertreiben. Item dess Maul werffers rechter
fuss von einer reinen Junggesellen oder Junckfrawen abgebissen
und mit Silber inngefasst soll zu weissnilwz brauchen sein.
D essgleichen dz rechte hörn vom Schrödter abgebrochen und
mit Silber inngefasst, soll zu vilen Sachen nutz und gut sein,
und im gegentheil aber gibts auch allerhandt üngezüffer im
Veldt dz beides den Bäumen und dann dem gelraydte grossen
Schaden zufiegen. Als die gütTtige Ruhen, welche dz meistetheil
von dem Miltawen herwachssen. Dz seindt die Miltawe, wann
die Son scheint und darein regnet. Darnach die grossen Bremmen,
welche deren 9. ein Ross können töden, darnach die Rieger.
Wo disses Ihier gespiert wirdt im feldt (ist etwz grösser dann
ein hornüssel oder Breme), so sollen ehe 9. uflug im feldt haben
und still stehen und dem thier zu eylen und dz selbige umli-
bringen. Item auch die Kornfahrlen und Maulwerffer, züssemüs«,
Jüglen, welche allesampt schädlich sindl. Es sind auch die
Nussbaum und reben die zartesten im früheling, wann man die
reyffen und Kälte spürt, so sieht maus am ersten an inen an
Und am Kahrfreitag kombt der Gukgauch.
Vom Meyenn.
Man hat den Mey gern kiel und nass, der füllt kisten und
fass. Rem der Mey tag ist ein stattlich wasser. Item der Schilken
messtage feit alle Zeit den uff den nächsten sontag nach dem
— 413 —
heyli^en creutztage. Item ufT Urbanus helt man vil, wann es
schön ist, sunderlich die ßappitsten, die tragen den Urban umb
den ßan, bleibts schön^ so vereren sie ime gewaltig, regnts
aber, so werffts in in bach oder brunnen zur Anzeigung dz der
wein nicht gar wol möchte gerathen. Item man helt sehr vil
uff dz Meybaden. Am Uffartstag verlegt man die hamen
(=:hammen Schinken?) und vil andere schleckbisslen. Da würt
dann ohn allen zweiffei manche ham verlegt unerlicher weiss
dz ubers Jahr wol zwo oder mehr darauss werden. Auch be-
reiten die alten verlohren milch zuger und kalte milchbrocken,
wie dan zu ostern die Oster eyer, welche grüen, gelb, roth,
schwartz und blau, und andere art geferbt werden. Also ist
auch in der wuchen nach ostern der Krammitwuch gehalten.
Da aller handt viel für die jungen leut seindt. Der Urban soll
uns den Sommer bringen und Gregory im Mertzen und dz
Greutz erhöhungstag im Herbstmont sollen tag und nacht gleich
sein, oder wie die alten sagen, wann die pfirsching blühen und
zeulig seindt, ists auch also.
Vom Br ach mo n n ath.
Uff Medardus sihet man gar nit gern daz es drauff regnet,
dann die sagen, dzes 4. wuchen stehts nacheinander reget, aber
es [1. es ist] falsch ich habs nit also funden, also soll man in kein
Bethseucher mehr heissen. Dessgleichen uff Johanni sols auch
nit regnen. Dann der huren Eker [?] daz seindt die hassel
nussel nussen verderben. Am gemelten tag soll der Bruoder-
bierolff kohmen, Inn den Sommer Monaten, als Junii, Julii,
Augustij und September regiert die roth rühr gern von wegen
des Naschobs. Uff Uhlrichs tag ist unser Johannismess am
grossesten, hebt auch an gemeiniglich zu schneiden und die
£rnden ein zu bringen. Und die Storeken fliegen umb Jacobi
wider hinweg, die Schwalben umb Michaelystage. Man sagt zu
den jenigen so im angehenden frühling der Sonnen nach schlief-
fen, du schleiffest eben der sonen nach wie ein Rögelesser[?],
dann der selbig legt sich miten in die Strass oder pfadt, wo
er nit von den fürübergehenten nit vertrieben wirdt. Man pflegt
auch zu sagen, der faulentz wil knecht an nemen, welches dann
auff die warme zeit geredt ist, dz iederman gar treg zu der
arbeit ist, und ist wahr. Dann ichs erfaren hab zu meiner
Zeit, dz ich nit der geringste bin darunter gewessen. Uff
Lohren tz soll man schon den hanff schicken gen Meintz. Man
badt auch in der Johanny nacht die gantze nacht hindurch, so
[1. sol] als gut sein als ein badenfart.
8
— 114 —
Augustij.
Barlholomeus brinjrt uns den herbst, wie man sagl, so ist
er der erste winderheilig:en. Zu Adolft'i soll man aller erste
luegen ob die nussen auch schon gut sein. Uff oder umb disse
zeit könen die Rebleut schon sagen, wie vil wein ein jeder
machen würdt im Herbst ungefehr biss uff i. oder 2 ohmen.
S ep t e m br i s.
Mann sagt, so vil Reyffen dz vor St. Michels tag fallen,
80 vil sollen auch nach St. Jörgen tag fallen. Item St. Batl,
Iregt schon dz holtz oder ruben in Stall. Dann gemeiniglich
umb disse zeit wirdt dz feldl getreten und umb Michelstag
schon wider mit frucht gesegt. Man hats auch gern im sept.
schön trucken.
October und Novembris.
Uff Martiny bacht man hie Brethslellen, in der Johanistness
bacht man Messtagwecken. Durffen frönibht und heimisch Lie
feil haben. Auch pflegt man die Mardesgantz mit einander zu
verzehren und auss vilen stifften ist es von altershero gebrauch-
lich und geordnet worden den handwercksleuten so in solche
ördt arbeiten und andern frömden die Mardtsgantz, etwan ein
Capaunen oder Fleschen weins mit einem höltzernen Becher
zu verehren oder mit andern Sachen zu begaben, also auch zu
weinachten und zu andern festzeiten. Die Alten sagen, dz ein
iede Muck an St. Jacobi halb neunde soll kohmen. Es pflegen
auch die weibsbilder, und sonderlich die ledige personen, sich
uff St. Anderes nacht ungebätt nider schlaffen zu gehen, mit
dem erbieten, es soll in ihr Buel in eygner gestalt, den sie ins
künftige zum Ehegemahl bekomen wQrdt, erschinen. Aber ich
meine, es möchte wol der Teuf fei inen ein solchen Launen
machen, weil kein gebet da ist. U. Clementz soll uns den
winder bringen.
Decembris.
Uff Nicolay und zu weinnachten pflegt dz Christkindlein
umb zu fahren, (es seindt aber nur der Kinder ihre Eltern).
Die dann allerley specerey und andere Sachen einkauffen, und
es dann bey der nacht so die Kinder im schlaff seindt, in die
Körb, Schüsseln und schuch, und in andere Sachen legen, die
Kinder damit zu erfreyen. Auch pflegt man vor weinna«*iiten
dz weltliche Regiment uff allen Zünfften zu verendern und zii
ergentzen, wan etwa davon abgangen seindt und am nechslen
— 115 —
Mitwuchen zu Nacht, nach dem h. 7. tag dz ist der Newe
Jarstag ist die Churnacht, und dann am Donerstag hernacher
macht man uff allen Zinfften den Zünfftmeisler.
Dz sei genug von den Alten gesagt uff dissmal, sovil als
ii'h mich hab wissen zu erinnern und in erfahrung hab bringen
mögen.
II.
[Tierstimmen und Volkswitze.]
Der Han schreuwet oder krähet, i , Christus ist gebohren%
Die Kuh schreyet ,wu, wu% Die Geyss schreyet ,zu Betlehem*.
Der Schwalm singt, wann er schier wil wegfliegen, ,wann
ich wegflüg, wann ich wegflug, ist Kisten und Keller voll,
wann ich widerkom, wann ich widerkom, so ists alles lehrr'.
Der GoUhammer singt, ,fischer, fischer, ists schüffei dein^,
Der Bruder Pierolff schreyt, ,es gilt ein creutzer mir und dir
auff Ex/ Der Guckguck schreyet (aber nicht alle) ,Schuch,
Schuch', Die Mäuss singt ,flückte dich, Bub, flickte dich, Bub,
die Zeit ist do, die Zeit ist do'. Die Lerch singt im auffliegen
,Nit schwören, nit schwören', aber im herunderfliegen singt
sie ,Sacrament, Sacrament'. Der schwartz Bab schreyet ,grob
grob grob^ Der Fink singt ,drinck, drinck, drinck'.
Ich wolt dz ich het der Venediger macht und den Augs-
purger pracht und der Nürnberger witz, dz Strassburger
geschütz und dz Ulmer Gelt, darzu auch dz Braunschweiger
Veldt, so wer ich der reichst in diser weit.
Wann ich het dz Keysserthumb und het dz Bapstthum in
einer Summ, und wer Venedig mein, het auch den Zohl an
dem Rein, so köndt ich immerdar lustig sein.
Zu Franckfurt an der Oder
schlugen sich ein Kürschner und ein Bader,
darza kam ein Birstenbinder,
Hilff Gott, wie schlugen sie den (1. sich die?) Katzenschinder.
1 In der Weibnacht, wenn die Tiere auch Sprache erhalten.
Vgl. Simrock, Das deutsche Kinderbuch S. 173, und zu dem Uebrigen
Wackemagel, Voces Yariae Animantium, Basel 1867.
— 416 —
An diser gemellten Stett pforten henckt ein grosser Schlägel
und darbey disen nachfolgenden Reimen geschriben, , welch
Vatter gibt seinen Kindern dz Brodt und er stirbt nachmals
hungers noth, den schlegt man mit dem Kuli zu todt^
Welcher zeugt durch Pollen ohn gefangen und durch
Störgert [Stargard?] ohn gehangen und durch die Schlössien
ohngefreyt^ der kan sagen von einer guten Heut.
Item ein PoU und ein Böhm^ die haben niemand lieb, und
wann der Unger darzu kompt, seind es nicht 3 rechte dieb?
VI.
Elsässische Litteratur
zur Zeit Gottscheds
von
E. Martin.
In diesem Jahrbuch IV S. 58 f. habe ich über die Strass-
burger Dichterin, Frau Professor Katharina Salonie Linck, ein^
Tante der Brüder Oberlin, gehandelt, die namentlich. durch die
Uebersetzung von Corneilles Polyeukt 1727 sich die Anerkennung
ihrer Zeit erwarb. Rühmend wird sie erwähnt in [Steinauer]
Gespräche zwischen J. C. Günthern in dem Reiche der Todten
und einem Ungenannten im Reiche der Lebendigen, 1739 S. 123:
«In Strassburg machen sich die Frau P. Lincken und ihre
Tochter, die Frau P. Wittern, durch ihre Geschicklichkeit und
Liebe zur Dichtkunst bekannt.» S. 127 : «Die Frau P. Lincken
hat sich besonders durch eine rechte feine Uebersetzung des
franz. Polyeuktes hervorgethan. . . Ich habe dieses Stück auf
einigen Schaubühnen in Deutschland aufführen sehen. i> In der
That wurde dieser Polyeukt ebenso wie der von P. Witter
übersetzte Mithridates zu Frankfurt 1736 gespielt : s. E. Mentzel,
Geschichte der Schauspielkunst in Frankfurt a. M. 1882 S. 173;
1737 in Dresden: s. Danzel, Gottsched S. 135; 3. August 1741
in Leipzig s. Belustigungen des Verstandes und Witzes 1, 286.
Als Repertoirestück der Neuberin wird das Stück angeführt von
[Schmid] Chronologie des deutschen Theaters S. 66, der freilich
ungünstig darüber urteilt : aPolyeuct, kläglich gedeutscht von
dep Linckin zu Strassburg.»
üeber eine Privatvorstellung in Strassburg berichtet ein
— 118 —
Brief, den Ch. Wolff aus Strassburg am 29. December 1730
an Gottsched schrieb und wovon ich eine Copie durch die Gute
des Herrn Dr. Paul Kühn, Assistenten auf der Universitäts-
Bibliothek in Leipzig besitze. «An dem anderen Feyertage ist
Frau Dr. Linckin ihre übersetzte Tragödie privatim gespielet
worden. Die Actr(icen) sind gewesen der Frau Dr. Linckin
Tochter nebst einer Kaufmanns Tochter, die Ac(teurs) aber
Studenten. Ihre Magnif. Professor Witterus, pro tempore Rector
academie war Director von diesem Actu privato-solemni, zündete
die Lichter mit an und gab auch den Souffleur mit ab. Die
Jgfr. Linckin agierte sehr gut, die andern desto schlimraer.
Man spielte auch den Peter Squenz zur Nacbkomödie. Es waren
vornehme Zuschauer da, hübsche Strassburger Mädgen. Ich
hab mich mit Herrn Prof. Fischern bald krank gelacht. Die
Strassburger Sprach schickt sich nicht recht zur Tragödie, besser
zur Comödie.]i> Der Tadel den der Gottschedianer über das Strass-
burger Deutsch ausspricht, wird also einigermassen vergütet
durch das Lob der Strassburger Damen. Irrig bezieht übrigens
Danzel, Gottsched S. 266 die Aufluhrung auf Gottscheds Cato,
der erst dTS'i erschien. Strassburg hat vor Gottsched die Gott-
schedsche Theaterreform, wenigstens im Privatkreis begonnen.
Ueber ein Gedicht von Frau Linck, an Bodmer 1732 s. J.
Grueger , die erste Gesamtausgabe der Nibelungen , Frank-
furt 1884, S. H.
2. Wie es damals mit der Volksbühne aussah, davon möge
folgende Probe zeugen :
Une com^die qu'on jouait le plus universellement, etail
Adam et £ve ou la chute du premier homme : eile n*est pas
encore tout ä fait proscrite et je me souviens de l'avoir vu
repr^senter ä Strasbourg : quelques endroits du poeme de Milton
pouvaient avoir fait naitre Tidee de cette piece : on y voiait
une grosse five, dont le corps ötait couvert d'une simple teile
couleur de chair exactement coll^e sur la peau avec une petita
ceinture de feuilles de figuier, ce qui formait une nudite Ires
d(^goutante; le hon homme Adam 6tait fagott^ de m^me; le
pöre ölernel paraissait avec une vielle rohe de chambre, affuble
d'une vaste perruque et d'une grande barbe blanche ; les diable»
faisaient les bouffons et les mauvais plaisans.
(Bielefeld) Progr^s des Allemands, Amsterdam, 1752 p. 287.
Noch 1734 ward Adam und Eva zu Strassburg aufgeführt, wie
ich den handschriftlichen Collectaneen von J. Grueger entnehme.
3. An der zu 1. angegebenen Stelle bezog ich mich u. A.
auf Megalissus (Lizel), der in seinem Buch «Der undeutsche
Gatholik» die Frau Linck gerühmt hatte. Inzwischen hat mir
Hr. Archivral Dr. A. Kaufmann in Wertheim auch die zweile
i
-~ 119 —
Publikation Lizels g^ütig^st zugänglich gemacht : ((Deutsche
Jesuiten-Poesie oder Eine Samhmg Gatholischer Gedichte» welche
zur Verbesserung Allen Reimen schraiden wohlmeinend vorleget
MegalissuSy Frankfurth und Leipzig Verlegts Johann« Ehrenfried
Müller 1731.» Unter den hier vereinigten Gedichten stammen
mehrere aus dem Elsass und eine Angabe ihrer Titel und ihrer
Anfangsstrophen wird nicht unwillkommen sein.
I (S. 29.) Bett-Lied an die lieilige Mutter GOttes / um die
Geburth eines Dauphins : welches /die Jesuiten-Schüler und
Studenten zu / Strassburg 1728 des Nachts zur Win-/terszeit,
um ein Allmosen zu empfan-/gen, vor den Hausern ab-/gesungen .
I.
Himmel, schicke und beglacke
Unserm König Ludwig fromm!
Höchster GOtt, thue uns erwerben /
Qib dem Frankreich einen Erben,
Unserm König Ludwig fromm !
(Die Strophenform ist also dieselbe wie bei «Gott erhalte Franz den Kaiser»
oder auch wie die des studentischen Landesvalers.)
(S. 37.) Von der H. Ottilia.
I.
Dein keusches Jungfräuliches Leben, 0 St. Ottilia!
Ist uns zu einem Spiegel geben, Jungfrau Ottilia!
Bitt Gott für uns, Ottilia, o heilige Ottilia!
(Im Druck sind die Verszeilen nicht abgesetzt )
II (S. 38.) Etwelche SlnnbUdery welche Ihro Maje/stät der
neu -vermählten Königin in / Frankreich^ den J5, Augusti
dieses laiif-ffenden 11^25. Jahrs, durch einige Gemähldter
un-/terthänigst überreicht worden von Francisco Joseph
Schmid, Musicant im Münster, und Organist zu S. Louis in
Strassburg.
IM lahr Christi Wo Dieses gesChehen War.
Erstes Sinn-Bild.
Ein Hertz unter einer Gron, worinrien beeder / Hoch-
Vermählten Königliche Wappen mit nach / folgenden Titul zu
sehen wäre ;
Die von GOtt dem König aller Koni j gen zusammen
gefügte Aller-Christlichste / Hertzen , zur Zeit der hohen
- 120 —
Vermählung / Ihro Aller-Christlichsten Majestät in / Franck-
reich LUDOVICI XV mit der Kö/niglich- Pohlischen Prin-
cessin MARIA.
(Hinter dem '6. Sinnbild folgt tein Carmen*, welches nach Zahl der Buch-
slaben MARIA abgeteilt ist:)
M
Die Lieb hierinn den Sieg erhalt, wann willig sich ergeben
Zwey Hertzen, welche ohn Zweyspalt vergnügt beysammen leben:
Gleichwie der Liebreich Lndovic, Maria auch dessgleichen
Durch das von QOtt geschickte Glück Ihr Hertz einander reichen,
Beede als keusche Unterthan der süssen Liebes-Frenden
Das liebe Ehe Band nehmen an, davon Sie nichts wird scheiden.
Ganz Strassbnrg, Elsass nnd Frankreich ! erfreuet euch nicht wenig,
Glückwünschet Beeden allzugleich, gehorsamst unterthänig.
III (S. 58.) An Ihr Hochfürstliche Gnaden Maria
Sophia^ Äbtissin und Fürstin zu Andlau^
verfertiget und übergeben von P. Hug,
Jesuiten in Strassburg im,
Jahr 1708.
I.
Elsass erfreue dich, ein schöne Wahl zu sehn;
So in der Königin Richardis Stifft geschehn :
Ein Fräulein Fürstin ist (zu hören ja ein Lust),
Erkiesst durch Stimmen all, in ihrer Jahren Blust.
(Am Schluss heisst es :/
Nach jedem von diesen zwölff Gesetzlein, welche Solo abge-j
sungen werden, muss der ganze Chorus also anstimmen ( und
singen :
Andlau ist Ihr Stifft benannt;
Andlau ist Ihr Vatterland ;
Andlau ist Ihr Namm und Stamm;
All diss wo findt man beysamm ? J. C. H. J.
IV (S. 62.) Neue Ehren-Säule dem Frey-Wohlge-/
bohrnen Herrn ^ Herrn Frantz Joseph von /
Klingli7tg, Baron de Hattstatt, Herrn zu Höhen-j
heim und Ihrer Allerchinstlichsten Majestät j
Bath, Premier Chevalier d'honeur d*epe au /
Conseil souverain d'Alsace etc. etc. Als er den j
53. Junii 1725, im viertzigsten Jahr seines /
Alters Königlicher PRAETOR wurde / aufge-j
richtet von trantz Joseph Schmidt, Musi-/
canten in der Hochwürdigen Cathedra)-/
Kirch, und Organisten bey St. Louis /
in Strassburg,
— 121 —
Thema. Aus dem ersten Buch Mose am 41 Ca/pitul
und 55. Vers :
Gehet hin zu Joseph, und was euch der
sagt, das thut.
Ode.
Nun sey gnng geklagt, geweinet,
Weil die Sonn jetz wieder scheinet,
Die mit Wolken gantz und gar
Traurig überzogen war,
Weil der Todt vor wenig Tagen,
(Kans vor Weinen schier nicht sagen)
Den Herr Praetor hat geranbt
Dieser Stadt gewesstes Haupt.
V (S. 31). Zufälliges Gespräch zwischen Hippocrate
und Galeno von der ahentheurlichen Erfin-/
düng Maria Salomea Erdriechin, gehür-l
tig von Oberkirch, welche hey 39. Jahren
einen dicken Leib von Lumpen auszgestopf-l
fet getragen, der am Gewichte 19^4 Pfund
gewogen, und da sie den 24. Febr. 1728 in
Strassburg ohnversehens gestorben^
bey ihr gefunden worden,
Hippocrates.
Herr Bruder hat vielleicht noch nichts davon gehöret?
6 a 1 e n u 8. Von was ? H i p p o c. Von jener Tour, die uns ein Weib gespielt
Die durch ein falschen Bauch die Medicin bethöret,
So sie schon viele Jahr mit Nahrung unterhielt.
In Hoffnung mit der Zeit sie zu anatomiren
Damit man sehen möcht was sie doch in sich trug ....
(Am Schluss S. 134 :J
Grabschnft
der Maria Salomea Erdriechin.
Ha! Ha! Ha!
Hör.
Steh Klügling steh.
In dieser schmalen Erd
Lieg ich doch nur ein Weib,
So einen ausserordentlichen breiten Leib
Schon neun und dreyssig Jahr zur Schau getragen.
Durch diesen Fund, ob er mich schon beschweert,
Durfft meine Nothdurft nicht nach einer Nahrung fragen.
— 122 ~
Ich ward nach Hertzens-Wansch eruehrt,
Obschon die Bälckerey nicht war drey Heller wehrt.
Die Last hat doch darch diese List,
Die kaum za glauben ist,
Die Klügsten dieser Welt verführet
Und manches zart — aach hai-tes Hertz
Darch den von mir verstellt-erfandnen Schmertz
Mitleydiglich gerühret
Und trüge mir
Das Lumpen Spiel
So lang ich lebt allhier
Von Geld ein, mehr als viel! u. s. w.
Nr. V befiitdei j^ich auch als Sonderdruck mit etwas abweicbendem Titel,
und ohne die Grabschrift, aber mit Abbildung in der Sammlung Heitz Nr 4763
(jetzt auf der Ka:s. Universitflts- und Landesbibllotbek).
VII.
Ans einer elsässischen Familienchronik.
Bilder aus dem dreissigjährigeri Kriege.
Mitgeteilt von
Julius Rathgeber
Das Elsass empfand die Schrecken und Wehen des dreissi^-
jährigen Krie^res in seltenem Masse. Jahre lang war das heim-
gesuchte Land mit Krieg und Kriegsgeschrei erfilllt. Die wilden
Mansfeldischen Scharen, die gefürchteten Schweden und die
tapferen Weimaraner, die Kaiserlichen und die Franzosen zogen
ahwechseind plündernd und verheerend, sengend und brennend
durch das verarmte Land. Viele Ortschaften gingen in den
Flammen auf und wurden nicht wieder aufgebaut ; die meisten
Dörfer im flachen Land waren öde und verlassen ; wilde Tiere
hausten in den leerstehenden Häusern ; die Landbewohner
flüchteten sich in die Städte und Festungen, auch in die Ritter-
burgen, wie z. B. auf Schloss Lichtenberg, oder suchten Schutz
und Sicherheit in einsamen Gebirgsgegenden und dichten
Waldungen, wohin aber oft der Feind sie verfolgte. Von dem
unsäglichen Elend und Jammer dieser trübseligen Zeit wissen
die alten Chroniken viel zu berichten ; wir geben hier einige
Auszüge aus den Erlebnissen des Pfarrers Lorenz Ritter
aus Pfafl*enhofen, der über drei Jahrzehnte daselbst als evange-
lischer Geistliche wirkte und viele Drangsale durchmachen
musste. Diese Auszüge befinden sich in der Grüne wald'schen
— 124 —
Familienchronik von Pfaffenhofen, die dem Herausgeher zur
Verfügung gestanden. Der Chronist berichtet Folgendes:
Im Jahre 1618 brach der unglückselige und Alles verstöreode
dreissigjährige Krieg aus, während welchem das ganze Elsass,
J)esonders aber die Hanauischen Ortschaften erschrecklich mit-
genommen wurden.
Schon im Jahre 1621 und 1622 verbreiteten sich die Truppen
des Grafen Ernst von Mansfeld über das Unter-Elsass. Ihnen
;cegenüber stunden die Kaiserlichen Völker unter dem Erzherzo^r
Leopold von Oesterreich ; beide Teile raubten, mordeten und
plünderten wo sie beikommen konnten ; das Landvolk flüchtete
sich von allen Seiten in die nur einigermassen befestigten Orte
und PfafTenhofen war von solchen Unglücklichen überfüllt.
Im Jahr 1622 sind vom 1. Januar bis zum 30, Juni 139
fremde Personen in PfalTenhofen gestorben und begraben worden,
und 32 aus dem Städtlein selbsten. Die 139 fremden Personen
waren aus den umliegenden Ortschaften Bitschhofen, Kindweiier,
Ueberach, Mertzweiler, Dauendorf, Uhlweiler, Hüttendorf, Morsch-
weiler, Ringendorf und Eltendorf.
Der evangelische Pfarrherr Lorenz Ritter musste während
fünf Wochen sich von seinem Hause abwesend halten, von
wegen der Leopoldischen Soldaten.
Den 6. Juni des nämlichen Jahres ist Jakob Zill von Nieder-
modern bei Dauendorf erschossen worden, als er den Soldaten
nachgeritten, die ihm seine Pferde genommen hatten.
1631. Gegen Ende Dezember plünderten und verbrannten
die Lothringischen Truppen des Regiments Harraucourt mehren;
<ler Stadt Strassburg gehörige Dörfer. Da liess der Strassburger
Rat eine Compagnie Reiterei und 200 Musquetirer ausziehen,
befehligt durch die Hauptleute Weit? und Arnold ; sie überfielen
die Lothringer in Pfaffenhofen, schlugen sie und tödteten ihneo
mehr als 100 Mann und nahmen ihnen einen Teil ihres Ge-
päckes weg. Die Strassburger verloren dabei nur 10 Mann und
einen Trompeter.
Im Jahre 1632 kam ein Teil der Schwedischen Armee^ die
unter der Anführung ihres Königs Gustav Adolf nach Deutsch-
land gekommen war, auch in's Elsass.
Die Stadt Strassburg und die Hanauischen Lande schlugen
sich ebenfalls auf die Seite der Schweden. Dafür wurden sowohl
diese als das Gebiet der Sladt Strassburg, durch die Lothringer, den
Markgrafen von Baden und die Kaiserlichen schrecklich verwaistet.
Im Jahre 1633 im Monat Juli liess der Herzog Karl Tori
Lothringen seine Truppen vorrücken, welche sich des Schlosser
]'>auenberg bemächtigten, dem Grafen von Eberstein gehörig,
<ien sie zum Gefangenen machten.
— 125 —
Der Herzog, der sich durch diese That öffentlich als Feind
der Schweden und Alliierten erklärte, Hess nun alle seine Truppen
aus den Verschanzungen von Zabern ausziehen, wo sie einige
Zeit gelagert hatten, um die Kanonen, Munitionen und andere
Kriegsvorräte zu erwarten.
Die Lothringische Armee bestand aus 8000 Mann Fussvolk
und 2000 Mann Reiterei. Der Graf von Salm führte den Ober-
befehl über dieselbe und marschierte mit diesem ansehnlichen
Heere den 31. Juli gegen Pfaffenhofen. Das Städtchen, welches
von einem Schwedischen OfGzier mit 24 Mann und 200 Bürgern
verteidigt ward, wurde aufgefordert sich zu ergeben, allein eines
schnellen Entsatzes versichert, hielt die Besatzung fest und Hess
die Lothringische Armee^ einem heftigen Gewitter ausgesetzt ^
die ganze Nacht vor dem Orte zubringen.
Des andern Morgens frühe (1. August 1633) verliess der
Fürst von Birkenfeld, Schwedischer Befehlshaber, das
Lager von Hagenau, um die Lothringer anzugreifen, welche
ohnerachtet der Beschwerden, welche sie die ganze Nacht durch
auszustehen hatten, den Feind mit vieler Tapferkeit empfingen.
Die Lothringische Reiterei schlug die Schwedische beim ersten
Zusammenstoss in die Flucht; allein zu sehr dem Siege ver-
trauend, verfolgte sie die Flüchtigen zu weit, welches der
General-Major V i t z t h u m und der Obrist R a n z a u , welche
die Schwedische Infanterie befehligten, benützten, um über die
Lothringische Infanterie herzufallen, welche gänzlich geschlagen
und gezwungen wurde die Flucht zu ergreifen in die Gegend von
Zabern. Die Reiterei Selbsten, welche sich zerstreut hatte, um
zu plündern, wurde bei ihrer Rückkehr von der Schwedischen
Infanterie sehr übel mitgenommen, welche Meister des Schlacht-
feldes blieb, wo die Lothringer fünf Kanonen und alles ihr
Gepäck Hessen. Die Kanonen wurden in's Zeughaus nach Strass-
bürg geführt.
Der in Pfaffenhofen commandierende Offizier machte während
des Treffens mit seinen Soldaten und einem Teile der Burger-
schaft einen Ausfall und brachte den Lothringern sehr emplind-
tichen Schaden bei.
Die Lothringer verloren 900 Mann an Todten und Ver-
wundeten und 200 Gefangene, unter welchen letzteren der
Marquis von Flarainville und noch etliche Offiziere von X\x^-
zeichnung sich befanden. Der Graf von Salm fand Mittel za
entkommen und sich nach Zabern zurückzuziehen. ^
1 Es existiert heate noch in Pfaffenhofen ein alter Holzschnitt,
auf welchem dieses Treffen abgebildet ist. Das Schlachtfeld befand
— 1:26 —
Aber dieser Sieg halte sehr traurige Folgen für Pfaflen-
hofen und seine Bewohner. Die Schweden, obgleich Sieger,
sahen sich dennoch genölig-t die Belagerung von Hagenau auf-
zuheben, und zogen in die Gegend von Benfeld. Pfaffenhofen
blieb sich nun selbst überlassen und der Rache der Lothringer
blosgestellt, welche auch gar nicht lange auf sich warten Hess,
denn schon den 10. August kamen die Lothringer zurück,
plünderten Pfaffenhofen rein aus und steckten den ganzen
Flecken in Brand. Wer sich nicht schnell genug durch die
Flucht retten konnte, wurde niedergemacht.
Die Einwohner, welche sich noch in der Zeit retten konnten,
flüchteten in*s Gebirge, meist in die Gegend von Lichtenberg,
wohin sie auch während dieses traurigen Krieges die Kirchen-
bücher, die heiligen Geräte und ihre vornehmsten Habselig-
keiten brachten, weil der Graf von Hanau-Lichtenberg dort
immer eine kleine Besatzung unterhie t, zum Schutze der Burg.
Vom 10. August 1633 bis den 10. März 1634 ist Pfaffen-
hofen meist unbewohnt gewesen, weil nur etliche Häuser vom
Brande verschont geblieben sind. Erst zu obgemeldeter Zeit ist
Herr Pfarrer Lorenz Ritter mit den noch übrigen bis dabin
zerstreuten Einwohnern zurückgekehrt.
Er schrieb damals in's Kirchenbuch von Pfaffenhofen :
«Wegen dem Kriegswesen musste ich mit meinem Audi-
cctorium — Pfarrkindern — aus Pfaffenhofen weichen, und kam
«erst wieder heim den 10. Mertz 1634.»
Ferner berichtete er in seinen Aufzeichnungen :
«Zu Anno 1636 und 1(337 war das Kriegswesen sehr scharf,
«dass wenig Leut haben können zu Hause bleiben, bevorab
«ward ich der Pfarrer von dem Götzischen Regiments-Obersten-
«Quartiermeister verfolget, dass ich müssen aussetzen, sind des-
« wegen die Kinder in solcher Zeit nit eingeschrieben worden.»
Vom 10. August 1633 bis den 10. März 1634 .sind .42 Bürger
von Pfaffenhofen und 13 von Niedermodern gestorben oder sonst
umgekommen ; in diesem Verzeichniss stehen weder Frauen
noch Kinder.
Von den Familien, die vor und während des dreissigjährigen
Krieges Pfaffenhofen bewohnt haben, sind heute nur noch wenige
vorhanden. Die Familien Schmidt, Seiler, Ger st,
Magnus, Wagner, Eberlin, Schieber, Rüdinger,
Stosskopf, Lux, Krebs, und Helmstetter sind die
bekanntesten unter ihnen.
sich an der Strasse von Pfaffenhofen gegen Obermodern, das Lager
der Lothringer war über der Moder auf der sog. Hardt und dasjenige
der Schweden auf der Anhöhe hinter Pfaffenhofen.
— 427 —
Der erste Helmstelter, welcher' sich in Pfaffenhofen nieder-
liess, war aus Petersbach bei Lützelstein gebürtig ; er hiess
Johann Jakob und verheiratete sich den 23. Mai 1631 mit
Anna Maria Duchmann, einer Wirlstochter. Den 23. September
i647 verehlichte sich dessen Bruder, Hans Ludwig Helmstetter,
mit Katharina, Adolph Magnussen, des Bürgermeisters Tochter.
Diese beiden Brüder sind die Stammväter der noch heute im
Ünter-Elsass blühenden Familien Helmstetter.
Den 27. September 1640 starb der vielgeprüfte aber gott-
vertrauende Pfarrherr Lorenz Ritter. Er halte das geistliche
Amt in Pfaffenhofen 35 Jahre lang in unruhigen und bewegten
Kriegszeiten versehen. Er hatte sich oft flüchten müssen und
litt mehr denn einmal mit den Seinigen die grössten Ent-
behrungen, ja den bitteven Hunger. Die Drangsale des Krieges
hatte er alle durchgemacht, die Wohlthaten des Friedens sollte
er hienieden nicht mehr geniessen. Er ging im 75. Lebens-
jahre ein zur Ruhe, die dem Volke Gottes droben bereitet ist.
VIII.
Zwölf
ungedruckte Briefe von PfefPel.
Mitgeteilt von
Julius Rathgeber
Einleitung.
JL/ie Literatur über Gottlieb Conrad Pfeffel, den blinden
Dichter von Golmar, den «elsässischen Geliert», wie man ihn
auch genannt hat, ist eine ziemlich reichhaltige. Schon im
ersten Jahrzehnt nach seinem Tode erschienen zwei biographische
Versuche über ihn. Der eine hat Daniel Ehrenfried
Stöber, den langjährigen treuen Freund Pfeffels zum Ver-
fasser ; der andere ist von Johann Jakob Rieder, den
nachmaligen Pfarrer an der Neuen Kirche, der mehrere Jahre
Pfeffels Sekretär war, geschrieben. Auch August Stöber,
Pfeffels Patenkind, widmete dem von ihm hoch verehrten
Manne einen warmen Nachruf in den «Elsässischen Neujahrs-
blättern» von 1843 und gab im Jahre 1859, als hauptsächlich
auf seine (Stöbers) Anregung das Denkmal des blinden Dichters
in dessen Vaterstadt Golmar enthüllt wurde, Pfeifeis mit An-
merkungen versehene «Epistel an die Nachwelt» heraus. August
Stöber veröffentlichte noch 1878 eine Schritt über den Golmarer
Dichter und feierte darin «Pfeffels Verdienste um Erziehung,
Schule und Kirche:». Auch der Gulturhistoriker Ludwig Spach
hat Pfeffel in seinen : Mi^langes d'histoire et de litt^rature eine
biographische Skizze gewidmet. Eine UrenkeUn des blinden
j
— i29 —
Dichters, Frau Lina Beck -Bernard aus Lausanne, gab
über Pfeflel im Jahre 1866 einen Band : Souvenirs historiques
heraus und die adeligen Fräulein von Berckheim widmeten
dem edlen Manne in ihrem interessanten Briefwechsel und
Tagebuch aus der Revolutionszeit eine iReihe persönlicher Er-
innerungen aus ihrer schönen Jugendzeit. Der Strassburger
Germanist, Professor Dr. Ernst Martin hat dem Colmarer
Dichter und dessen älterem Bruder, dem Diplomaten Christian
Friedrich Pfeffel aus München, dessen Bibliothek 1889 nach
Ableben seines Sohnes nach Colmar gekommen ist, in der
«r Allgemeinen deutschen Biographieji) einen längeren Artikel
gewidmet. In neuester Zeit hat der verdienstvolle Bezirks-
archivar des Ober-Elsass, Herr Archivdirektor Dr. Pfannen-
schmidt, durch seine gründlichen Forschungen die Aufmerk-
samkeit des gebildeten PubUkums wieder auf Pfeffel gerichtet.
Und doch ist das letzte Wort über den blinden Colmarer Dichter
Dicht gesagt und jeder Beitrag zur Würdigung seines Wesens
und Charakters ist um so wertvoller, weil Pfeffels litterarischer
Nachlass nicht mehr vorhanden ist. Nach dem Tode des Dichters
kamen dessen Haaptpapiere in den Besitz seiner ältesten Tochter
Friederike, die man des Vaters Antigene nennen kann, weil
sie seine treue Stütze im Alter war. Friederike Pfeffel aber
war Hauslehrerin bei den Töchtern ihrer Jugendfreundin
Henriette von Berckheim, die den Fabrikanten Augustin Parier,*
einen Bruder Casimir Periers, des Ministers von Ludwig Philipp,
geheiratet hatte. Die Familie Perier bewohnte Grenoble, hatte
aber ihre Fabriken und ihren Sommeraufenthalt in Vizille, einem
malerischen Flecken im Thale der Isere gelegen. In den zwan-
ziger Jahren ging das Schloss von Vizille in den Flammen auf
und Friederike Pfeffels Habseligkeilen, worunter der litterarische
Nachlass ihres Vaters, wurden ein Raub des Feuers. Dieser
Verlust ist ein unersetzlicher. Friederike Pfeffel kehrte, nach-
dem sie die Erziehung der Töchter ihrer Freundin vollendet
hatte, in das Elsass zurück und starb in den vierziger Jahren
zu Sirassburg.
In Anbetracht dieser Umstände muss jeder, wenn auch
nur geringe Beitrag zur Würdigung und zur Charakteristik
Pfeffels willkommen sein und daher veröffentlichen wir auch
folgende zwölf, bis jetzt ungedruckte Briefe des blinden Dichters.
Dieselben stammen aus dem Nachlass des Pfarrers Luc6 aus
Munster im Ober-Elsass, dessen Gattin, eine entfernte Anver-
* Aagastin Perier war einige Jahre lang ein Zögling des Pfeffel-
Instituts in Colmar gewesen.
9
— 130 —
wandte Pfeffels war, in dessen Hause sie mehrere Jahre ge-
lebt hatte.
Die Familie Lucae, ^ wie sie sich ursprünglich schrieb,
stammte aus Ungarn. Der älteste bekannte Vorfahr derselben,
Nikolaus Lucae (1595 geb. f 1672), war Pastor und Super-
intendent zu Csätad, einem Marktflecken in Ober-Ungarn, dem
Geburtsort des unglücklichen Dichters Nikolaus Lenau. Der
Superintendent Lucae musste infolge religiöser Verfolgungen in
das Zipser Land auswandern, wo ihm zu Reichenau ein Sohn
Nikolaus Lucae den 22. November 1651 geboren wurde. Der-
selbe studirte Theologie und wanderte in jugendlichem Aller
aus. Er kam in das Elsass und wurde zuerst evangelischer
Pfarrer zu Müttersholz, wo er im Kirchenbuche als Nikolaus
Lucae, Hungarus, pastor Mietersholzensis vorkommt ; er folgte
dann einem Rufe als Pfarrer nach Mühlbach im Grossthal hinter
Münster, wo er 1717 starb. Seine Gattin war aus Münster im
Gregorienthai gebürtig und hiess Anna Ursula Leckdeig. (Sie
war eine Nachkomme des ersten evangelischen Pfarrers von
Münster in der Reformationszeit, des bekannten Prädikanten Paul
Leckdeig.) Aus dieser Ehe entsprangen zwei Söhne : Christian
Friedrich und Nikolaus Luc6. Ein Enkel des ersteren war
Pfarrer Johann Friedrich Luc6, der zu Münster im
Gregorienthai am 7 Juni 1752 geboren wurde. Er besuchte die
lateinische Klosterschule seiner Vaterstadt, ging hierauf nach
Mümpelgard um Französisch zu lernen und vollendete seine
Schulbildung auf dem Gymnasium von Buchsweiler. Er begab
sich sodann mit dem für evangelische Studenten der Theologie
aus dem Ober-Elsass von dem Grafen Georg von Württemberg
(1557) gestifteten Stipendium auf die Universität Tübingen, um
Theologie zu studiren. Er verliess das Tübinger Stift als Candidat
der Theologie und kam 1772 nach Colmar, wo er in das Schul-
amt eintrat. 1774 wurde er Lehrer am Pfeffelschen Institut und
Provisor an der lateinischen Schule zu Colmar. Im Jahre 1775
verehlichte sich Luc6 mit der im Pfeffelschen Hause lebenden
Wilhelmine Elisabeth Wild, Tochter des markgräflich-badischen
Bürgermeisters Adam Wild zu Durlach und dessen Ehefrau
^ Wir sprechen an dieser Stelle unsem verbiDdlichsten B&nk
dem doct. juris Herrn Referendar Georg Dietz yon Münster
und dem Herrn Pfarrer Friedrich Bresch voii Mahlbach aos,
welche dem Herausgeber bei seiner Arbeit behülilich waren, der
«rstere durch gefällige Mitteilung der intressanten Pfeffelbriefe, die
im Besitze seiner Familie sind, der letztere durch die geschichtlichoi
Notizen über Pfarrer Lucd und dessen Gattin, die er uns geliefert
hat.
— 131 —
Maria Magdalena Gross. In den achtziger Jahren trat Luc^ in
das Geistliche Ministerium von Colmar als Diakonus ein und
bekleidete nebenbei das Amt eines Rektors des evangelischen
Gymnasiums. Während der Revolutionszeit musste er, da die
Kirchen geschlossen wurden und das Golmarer Gymnasium auf-
gehoben ward, seine Aemter einstweilen niederlegen. Er wurde
von der Golmarer Munizipalität zum Uebersetzer (secr^taire-
interprete) ernannt und in dieser Eigenschaft einmal nach Paris
gesandt, um dort von dem Nationalkonvent, bei der Teuerung,
die im Elsass herrschte, Frucht zu erlangen. Als wieder ruhigere
Zeiten eingetreten waren und die kirchlichen Verhältnisse ge-
ordnet wurden, berief ihn im Jahre 1796 der Kirchenrat seiner
Vaterstadt Münster an die dortige erste Pfarrstelle bei der
evangelischen Kirche. Er wurde auch bald darauf, bei der Re-
organisierung der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses, im Jahre
1804 zum Präsidenten des Gonsistoriums von Münster ernannt.
Die geistliche Inspektorstelle, zu welcher ihn sein väterlicher
Freund Pfeffel, welcher Mitglied des Direktoriums war, empfehlen
wollte, schlug Pfarrer Luc6 in seiner Bescheidenheit ab. Längere
Jahre war er auch brustleidend, i doch versah er immer sein
Amt. Der Tod seines Bruders, des Rotgerbers Luc6 in Münster,
ging ihm sehr zu Herzen. Er ging ein Jahr nach demselben,
den 27. Juli 1808, in seinem 57. Jahre heim. Die Inschrift
seines Grabsteines auf dem alten Kirchhofe von Münster lautet
folgendermassen :
Mit stiller Wehmnth
stifteten dies Dekmal der Liebe
die trauernden Hinterlassenen
des besten Gatten und Vaters
Johann Friedrich Luc4
Pres. d. Cons. und treuen Seelsorgers
dieser Gemeinde. Er starb d. 27. Juli
1808, in einem Alter von ö6 J. u. 2 M.
Pfarrer Luce hinterliess drei Kinder : 1. Friederike,
Ehefrau von Philipp Kirschleger zu Schiltigheim und Mutter
des bekannten Professors der Botanik Friedrich Kirsch-
leger, des Verfassers des gediegenen und heute sehr selten
gewordenen botanischen Werkes : La Flore d*Alsace.
^ Dies war wohl auch ein Grund warum er schriftstellerisch nicht
sehr thätig war. Ausser der zierlichen Erzählung : «Das Wunder-
fässchen >, gab er nur noch eine Schrift über die Seidenwürmer her-
aus, deren Cultur er im Elsass empfahl.
— 132 —
2. Marie Caroline, Ehefrau des Professors Karl Bartholdi
von Golmar und Mutier des berühmten elsassischen Bildhauers
Charles Bartholdi, der in seiner Vaterstadt Colmar die Bildsäulen
des Generals Rapp und des Admirals Brüat verfertigt hat und
dessen Standbild der Freiheit eine ^Zierde der Stadt New-York
bildet,
und 3. Friedrich Luce, welcher den Feldzug von 1815 im
Elsass mitmachte und den 17. Oktober 1815 in seinem 27. Le-
bensjahre schon starb.
Pfarrer Lucös Gattin überlebte ihren Gatten um zwei Jahr-
zehnte und starb im Schosse ihrer Familie zu Münster den
1. Mai 1830 in ihrem 75. Lebensjahre.
Der Herausgeber.
I.
An Bürger Pfarrer Luc6
in Münster.
Colmar 2, 2, 8. [2. Februar 1799].
0 lieben Freunde ! Unser theurer Schlosser [Groethes
Schwager, denn Cornelia Goethe aus Fi'ankfurt war seine erste
Gattin] ist todt. Am Abend des 17. Octobers entriss ein
hitziges Brustfieber uns den Edeln, Grossen, Unvergesslichen.
Gestern erhielt ich, oder vielmehr Carolina von ihrer Freundio
Müller die schrökliche Nachricht, die mein Herz zerfleischet.
Meine ganze Familie trauert mit mir und auch Sie, meine
Freunde, werden mit mir trauern. Da ich nicht weiss wann
ich zu Ihnen kommen kann, so schicke ich Ihnen hier meine
freye Uebersetzung von des Delille Versen. Ich habe die zweite
Stanze, darinn er die Ausgewanderten anredet, mit Fleiss
generalisiert, damit mein Zusatz keine Wiederholung würde.
Ausser Ihrer Familie und Ihren Collegen lesen Sie dieses
Fragment niemanden vor und erlauben Sie keinem Menseben
eine Abschrift. Ich umarme Sie Alle von ganzer Seele.
Pfeffel.
n.
Au Citoyen Luc6
Pasteur ä Münster.
Colmar den 6. floreal 11. [26. April 1803].
Schon verwichenen Sonnabend, lieber Freund, wollte
ich Ihnen schreiben und wurde abgehalten. Hätte Ihre gute
— 133 —
Friederike sich langer verweilen können, so würden Sie diese
Zeilen um 24 Stunden früher empfangen haben. Sie werden
gewiss schon wissen, dass unser Ehrlicher Senior [Christoph
Georg Bussmann, Senior des Geistlichen Ministeriums in Colmar
das aus vier evangelischen Pfarrern, nämlich einem Senioren
einem Archidiakonen und zwei Diakonen bestand] zu Grabe
gegangen ist. Melden Sie mir, lieber Freund, so bald
Sie können, ob Sie einige Lust hätten, zu Ihrer ehemaligen
Pfarrgemeinde zurückzukehren.' Ohngeachtet wir vor der
Hand uns nicht geeigen schattet (sie) glauben, eine gesetz-
mässige Wahl vorzunehmen, so würde es ein Leichtes
seyn, die Sache so einzuleiten, dass Ihre Rückkehr zu uns
stattfände.
Dass dieses mein sehnlicher Wunsch wäre, darf ich Ihnen
Wühl nicht sagen. Wir schreiben heut an Herrn Kern^ um
Yerhaltungsregeln ; welchen Platz wir Ihnen versprechen könnten,
weiss ich nicht ; ich glaube aber bei der neuen Organisation
sollte Ihnen das Inspebtorat nicht entgehen.
Vorgestern hat Herr Günther [Johann Jakob Günther
war Diakonus an der evangelischen Kirche von Colmar]
dem Consistorium erklärt, dass er Herrn Engel [Matthias Engel
aus Strassburg gebürtig, war gleichfalls evangelischer Diakonus
zu Colmar] seinen Rang abtreten wolle. Zu einer allge-
meinen Bürgerwahl wird es Gottlob nicht kommen. Ueberlegen
Sie diese Sache, lieber Freund, und melden Sie mir sodann
das Resultat, wenn Sie mir's nicht mündlich überbringen,
welches immer das beste wäre.
Ich glaube, ich bin Ihnen noch die dritte Lieferung meiner
«Versuche» schuldig, worin bei 20 hässliche Druckfehler prangen.
Kann ich sie nölhigenfalls dem Boten mitgeben? Wie steht es
mit der Münsterischen Subsidiensteuer ? Ihr Thal ist noch
allein zurück ; selbst die Mümpelgardter Gemeinden haben 7
LouistKor eingesandt.
Leben Sie wohl, lieber Freund, mit unserer Mina [Lucas
Gattin und den Kindern. Wir alle umarmen Sie von ganzem
Herzen.
Pfeffel.
^ Pfarrer Lucä war bis 1795 Diakonus in Colmar gewesen.
2 Philipp Friedrich Kern aus Bu(;hsweiler, ein Schwager des
Staatsrechtslehrers Christoph Wilhelm Koch, wurde auf Empfehlung
des letzeren vom ersten Consul zum Präsidenten des General-
konsistoriums der Kirche Augsburgischen Confession ernannt.
— 134 —
III.
Colmar den 5. frnctidor XL [23 Augnst 1803].
Hier, lieber Freund, erhalten Sie Ihr «Wunder fassen» *
zurück, das ich mit grösstem Vergnügen und Herr Buie li-
sch ön^ mit gleichem Gefühle zweimal gelesen.
Wir stimmen alle darin überein, dass Sie mit einer fran-
zösischen Uebersetzung der Gesellschaft ein sehr angenehmes
Geschenk machen werden ; aber auch das deutsche Original
dem Druck überlassen sollten, s Die Anekdote von Kaiser
Friedrich II. in Paris [bei Urbeis, Orbey] scheint mir sehr
apogryphisch (sie). Auf seiner Flucht kam er zuverlässig nicht
so weit.
So viel in Eile. Wir umarmen Sie herzlich. Leben Sie
wohl !
Pfeffel.
IV.
Colmar den 19. Nivos XII. [10. Januar 18Q4].
Glück und Heil, meine Theuersten Freunde ! Zur Gross-
Elternschaft ! Gluck und Heil der Lieben Wöchnerin und dem
neuen Ankömmling !
Meine ganze Familie theilt meine Freude und meine Wunsche.
Da der Ueberbringer Ihres Päckchens uns über der Mittags-
suppe antraf, und versicherte, dass er morgen wieder bei uns
einsprechen würde, so wollte ich ihm den ocBahrdtj» nicht ohne
schriftliche Begleitung mitgeben, sondern ihn lieber noch z^v'eiea
Tage länger beherbergen.
1 Pfarrer Lncä veröffentlichte eine Episode aas der Jngendge-
schichte des kurpfälzischen Hofrats und Direktors der Akademie der
Wissenschaften zn Mannheim, Hofrath Andreas Lamey, der ans
Münster im Ober-Elsass gebürtig war. Es ist dies die anmutige luid
reizend geschriebene Erzählung: cDas Wanderfä8schen>, Laiaey war
ein Schüler und Freund des berühmten Schöpflins, der ihn zu Mänster
im Hause seines Schwagers, Diakonus Brauer, kennen lernte.
* Der aus Holstein stammende Schriftsteller Friedrich Bnten-
schön kam 1790 nach Strassburg und gab, in Verbindung mit Eolo-
gius Schneider, das politische Blatt: «Argos oder der Mann mit
hundert Augen > heraus. Später lenkte er in friedlichere Bahnen ein
und widmete sich dem höheren Lehrfach. Er trieb daneben litteraiiscbe
Studien. Butenschön starb zu Speyer in den zwanziger Jahren als
königl. bayrischer Hofrat und Studiendirektor.
3 Die Erzählung des «Wunderhässchens> erschien zum ersten
Mal in Druck in dem von Ehrenfried Stöber im Jahre 1807 heraus-
gegebenen «Alsatischen Taschenbuch».
— 135 —
Mit Vergnügen willige ich darin, dass Herr Pfarrer
Heiland [in Munster] den Genuss, den die (Llnsi> uns ver-
schafTt (sie) hat, mit uns theile, und werde ihm sehr dankhar
seyn, wenn er mir denselben durch die Mittheilung des Almanachs
der Chroniken vergelten will.
Ich schreibe Ihnen heute, mein Theurer Freund ! weil
der oberrheinische Bote mir morgen keine Zeit dazu lassen
würde. Soeben erhalte ich von C o 1 1 a [aus Stuttgart] eine
Anzeige, welr.he die Flora in eine andere Quartalschrift
unter dem Titel : Vierteljährliche Unterhaltungen
umschaiTt, und ihr den braven Huber zum Redakteur gibt.
Eine Einrichtung, wobei das Werk nothwendig gewinnen muss,
weil Cotta, es sey nun aus Nolh oder aus Uebereilung in
seiner Wahl oft äusserst nachsichtig war.
Leben Sie wohl, mein Theurer Freund ! Wir alle umarmen
Sie Sämtlich von ganzem Herzen.
Pfeffel.
V.
A Monsieur
Monsieur Wild^ Conseiller du Serenissime Prince d'Ysenbourg
ä Mülheim.
Colmar den 3. Januar 1805.
Die üeberbringer dieses Blatts werden Ihnen, lieber Freund,
selbst sagen, dass ich Ihren Auftrag besorgt habe. Ich danke
Ihnen recht herzlich für die Ankündigung dieses mir so ange-
nehmen Besuchs ; sie hat mir einen Vorgenuss der Freude ge-
geben, die mir gestern und heute zu Theil wurde. Machen Sie
nur, lieber Freund, dass wir auch Sie bald, aber länger als
das letzemal, zu geniessen bekommen. Bessere Freunde als hier
und in Münster können Sie doch warlich nirgends haben, und
da nun Ihr Cabinet Ihnen vom Nacken ist, wozu ich Ihnen
herzlich Glück wünsche, so haben Sie nun ein Band weniger,
das Sie an Mülheim fesselt. Unsere sämmtlichen Grüsse werden
die Lieben (sie) Reisenden Ihnen mündlich ausrichten.
Leben Sie wohl, mein Werter alter Freund ! behalten Sie
mich lieb und empfangen Sie die herzlichste Umarmung Ihres
Pfeffel.
• Der Fürstlich- Isenbnrgische Hofrat Wild ans Müllheim war
ein Bruder der Frau Pfarrerin Lncä aus Münster.
— 136 —
VI.
Au Citoyen Luce
Pasteur du Culle Protestant
ä Münster.
Colmar 28, 6, 6. (sie) [28. Jani 1806].
Hier, lieber Freund, ist ein klaglicher Brief von B. Meiss,
den ich gestern bei meiner Rückkunft vom hochstinteressanlen
Mulhauser Feste vorfand. Offenbar hat der gute Exjunker statt
Hornung März setzen wollen und über dieses haben nun die
Aspecten sich zu seiner Beruhigung sehr verändert ; denn von
meinem Carl, der auf vier und zwanzig Stunden hier ist, habe
ich erfahren, dass unser Exulant verwichenen Dienstag von
Brugg aus an Mengaud geschrieben hat, dass er nun wieder
dort angekommen und vollkommen ruhig sey. Pf. Spörlin»
bei dem ich logirte, M ä d e r [ein reformierter Pfarrer aus Mül-
hausen] und andere Helvetische Brüder. Wenn ich auch
Zeit hätte, so würde ich Ihnen das Fest [die Vereinigung der
literarischen sog. «Helvetischen Gesellschaft», nur sehr un-
vollkommen beschreiben, sobald aber die gedruckte Beschreib-
ung, an der man arbeitet, in meinen Händen seyn wird, werde
ich sie Ihnen zuschicken. Unterdessen thäten Sie wohl, wenn
Sie mir die frohe Gelegenheit verschaften Ihnen diese Haupt-
und Staals-Action bei der Freund Metzger 2 seine schöne Rolle
sehr schön gespielt hat, zu beschreiben. Das Wort «stinken»
nehme ich hier im guten Sinne. Wir umaimen Sie alle von
Herzen. Leben Sie wohl. Pfeffel.
vn.
A Monsieur
Monsieur Luce President du Consistoire
ä Münster.
Colmar 2, 7, 6. [J. Juli 1806).
Hier, lieber Freund, empfangen Sie eine kleine Waat-
ländische Rede, die nicht ohne W^erth ist. Den Meissschen Brief
werden Sie hoffentlich erhalten haben. Durch meinen Carl soll
ich nun Possei ts Weltkunde bekommen, die ich Ihnen statt
1 PfaiTer Spörlin aus Mülhausen war der Vater der bekannten
Volksschriftstellerin Margaretha Spörlin.
2 Johann Ulrich Metzger aus Colmar, der bekannte französische
Volksrepräsentant, der die Einverleibung der Stadt Mülhausen 17S>i
mit Frankreich bewerkstelligte, war ein Freund des Dichters PfeffeL
— 137 —
des Macklots mittheilen werde. Die Blätter werden freilich
neu, aber doch immer wichtig seyn. Endlich habe ichs versucht
die Fabel des Luther, die ich Ihnen verdanke, in Reime zu
bringen. Hier ist sie. Aergerlich war es mir, dass ich den Aus-
druck Baret nicht beibehalten konnte ; ich hätte in den letzten
Vei*s einen Daktylus bringen müssen. Zwar ist unser Akademischer
Doktorhut weiter nichts als ein Baret. Hier ist übrigens eine
Variante :
Das Aug' dem Esel zugekekrt
Und seinem blutigen Genicke,
Sprach er: Ey, Ihre Majestät,
Der Doktor hier im rothen Baret.
Dann aber müssle Luthers wörtlich beibehaltene Moral,
wegen der nämlichen Reime wegfallen, üebrigens wäre es mir
leicht auch in die vorhergebenden Zeilen einige Daktylen oder
Amphibrachen zu bringen. Leben Sie wohl, lieber Freund,
Wir umarmen Sie alle von Herzen. Pfeffel.
vm.
A Ä^dame Madame Luce nee Wild
ä Munster.
Colmar den 29. Julias 1806.
Es war mir sehr leid. Hebe Mi na, dass der Besuch, den
Sie und Madame ßurckhardt uns auf verwichenen Sonntag hatten
holTen lassen, nicht Statt fand. Dafür ist auch die Wässer-
linger (sie) Caravane, wenigstens des Abends, mit schlechtem
Wetter bestraft worden.
Lassen Sie nur unsere Schad loshalt ung nicht lange ver-
schoben bleiben. Wenn die nächste Post mir nicht das Gegen-
theil verkündet, so erwarte icli bis Morgen Abend meine Frau
von Strassburg zurück^ wo Carolina [eine Tochter Pfeffels wohnte]
ungeachtet sie wieder ausgegangen ist, noch etwas langer
bleiben wird. Ich wollte liinen von dieser Heise nichts melden
um meine Unruhe nicht mit Ihnen zu Iheilen, und wusste über
dieses, dass Sie den Zweck und den glücklichen Erfolg derselben
von Madame ßurckhardt erfahren würden. Eben so habe ich
Ihnen in der sichern Erwartung Ihres Besuchs, eine andere
Neuigkeit verschwiegen, die Ihnen und unserm guten Luce
nicht gleichgültig seyn wird. Es hat nemlicb dem Kaiser
Napoleon in Gnaden gefallen, mir, der ich ihm so unbekannt
zu seyn glauben musste als ein Murmel thier der Savoyschen
Feisenk lüften, eine alljährliche Pension von 1i*00 Franken zu
dekretiren. Vorgestern habe ich hievon die offizielle Anzeige
des Ministers des Innern erhalten. Mündlich werde ich Ihnen
— 138 —
ein Mehreres von diesem Ereigniss erzählen, das ich eine boone
fortune nennen würde, wenn ich nicht an eine allgütige Vor-
sehung glaubte.
Vorgestern sandte mir meine Frau den Lafontainischen
Roman zurück, den Madame Heiland [die Gattin des zweiten
evangelischen Pfarrers von Münster] die Gefälligkeit hatte
ihr zu borgen. Da iich ihn ebenfalls lesen möchte, so bitten
Sie Herrn und Madame Heiland nebst meinem freundschaA-
liebem Empfehl, mir dieses Buch, falls sie es nicht noth wendig
brauchen, noch einige Zeit zu lassen.
Nun leben Sie wohl, meine Theuersten Freunde. Ich um-
arme Sie mit allen Ihren Lieben von ganzer Seele.
Pfeffel.
IX.
A Monsieur
Monsieur Luc(^ President du Gonsistoire
ä Münster.
Colmar den 28. Merz 1807.
Nur noch ein Wort, meine Freunde ! aber ein herzzer-
reissendes Wort für mich und gewiss auch für Euch. Mit der
gestrigen Post erhielt ich von Madame de G^rando', im Namen
meiner Schwester, die Nachricht von dem plötzlichen Tode
meines guten, einzigen Bruders, meines ältesten und besten
Freundes.
Lasst es doch, ich bitte Euch, den Herrn Hartmann*
nebst meinem Empfehl sagen. Wir umarmen euch nlle von
ganzem Herzen. Pfeffel.
X.
Madame Luc6 n«^e Wild
a Münster.
Colmar den 5. Jenner 1808.
An der Spitze meiner Tischgesellschaft erscheine ich vor
Ihnen, liebe Minna ! nicht nur, um Ihnen für den uns zuge-
1 Frau Annette de Gerando, die Qattin des berühmten fran-
zösischen Philosophen, war eine geborene Freiin von PiAtsamhansea
und eine treue Freundin des Dichters Pfeffel und seiner Familie.
* Der alte Herr Fabrikant Fritz Hartmann von Münster, Pair
von Frankreich und Freund des Generals Foy, der ihn einmal in
Münster besuchte und dort einen begeisterten Empfang bei der Be-
völkerung fand.
— 139 —
schickten stattlichen Neujahrs-braten zu danken, sondern Ihnen
für jeden Tag des Jahres aus des lieben Gottes reicher Küche
ein auserlesenes Wildprett ffir Leib und Seele anzu wünschen.
Uebrigens soll es unter uns und unsern Familien beim alten
bleiben. Das neue taugt ohnehin selten was, wie die tägliche
Erfahrung lehrt.
Leben Sie wohl, und lange wohl, meine Theure Mina !
und empfangen Sie mit unserm Freunde und allen Ihren
Lieben den heiligen Kuss der Freundschaft. Pfeffel.
XL
A Madame
Madame Luc6 n6e Wild
ä Münster.
Colmar den 11. Julias 1808.
Wenn Sie, liebe Mina, auch keinen Menschen vor unsern
Theuern Patienten gelassen hätten, so wäre ich, wie ich glaube,
einer Ausnahme würdig gewesen, die ich zuverlässig nicht miss-
braucht haben würde. Fünf, höchstens zehn Minuten würden
einstweilen dem Drange meines Herzens ein Genüge gethan,
und Sie würden sich die Unannehmlichkeit erspart haben, bei
Ihnen selbst deswegen verklagt zu werden, dass Sie mich nicht
von Ihrer Durchfahrt durch Colmar haben benachrichtigen
lassen. Es hätte mir so wohl gethan, mich mit Ihnen über die
Besserung unsers Freundes zu freuen, und unsere Freude
würde ihm gewiss nicht geschadet haben. Sobald er hergestellt
ist, komme ich zu Ihnen, um Ihre Gefühle mit Ihnen zu
theilen, und ein Paar Stunden mit dem Auferstandenen zu kosen.
Herr Pfarrer Heiland hatte die Gefälligkeit, mich zu
seines Sohnes Hochzeit einzuladen, aber anderer dringender
Ursachen zu geschweigen, wäre es mir jetzt nicht möglich, eine
andere Reise in's Münsterthal, als an das Bette meines Freundes
[des Pfarrers Lucä] zu machen.
Nun noch eine Commission, liebe Mina, deren Beantwort-
ung Sie unserm guten Professor mündlich auftragen können. Seit
einigen Tagen ist meine Schwester aus Zweibrücken bei uns ;
sie möchte einen vorzüglich guten Münsterkäs, womöglich mit
Kümmel, mit sich nehmen, und da fragt sich's, ob bei jetziger
Zeit dergleichen extra Käse bei Ihnen zu haben sind? Ein Ja
oder Nein ist alles, was ich verlange, und im ersten Falle käme
freilich die zweite frage zum Vorschein, ob Sie oder Jemand
von den Ihrigen in dieser Woche einen solchen Käse an uns
spediren könnten, wenn ich Ihnen mit dem morgenden Boten
die Antwort meldete.
— 140 —
Künftige Woche verreist meine Schwester wieder, die sich
mit uns Allen vereinigt, um Sie Samt und Sonders von ganzer
Seele zu grüssen. Lebt wohl, Theuerste freunde! ganz und
ewig Euer P f effel.
XII.
A Madame
Madame Luce
ä Münster.
Colmar den 21. Julias 1808.
Ich will hören, Liebe freundin ! ob Sie sich mündlich
besser als schriftlich entschuldigen können, dass Sie bei Ihrer
Durchreise sich und unsern freund Luce meinen Umarmungen
entzogen haben. Mein Carl will und muss seinen Lehrer und
seine Verpflegerirt sehen, und wir haben den Vorsatz gefasst,
mit [seinem Reisegefährten, einem sehr intressanten Holralh
Jung, Notabene nicht Stilhng, ehester Tage zu besuchen. Allein
wenn Sie uns unsre freude nicht vergiften wollen, so geben
Sie uns dem strengsten Buchstaben nach, nichts als eine
Schüssel Zugemüse und etliche Fischlein von der Hand meiner
Caroline zubereitet. Ein drittes Gericht werden wir mitbringen.
Aber noch einmal ich breche mit Ihnen im grösslen Ernste,
wenn Sie von meinen Bedingungen abweichen. Vielleiclit kann
ich Ihnen am Schlüsse dieses Briefes sagen, wann wir kommen
können.
Empfangen Sie unterdessen mit unserm lieben Convales-
2enlen unser Aller zärtlichste Umarmung.
Pfeffel.
P. S, No(;h kann ich nichts bestimmen. Wenn wir über-
morgenden Samstag, früh um 9 Uhr nicht in Münster sind,
so kommen wir erst künftiije Woche.
'n
TX.
Elsässische Sprichwörter
und sprichwörtliche Redensarten
Mitgeteilt Ton
Julius Rathgeber.
Elsässische Volksreime.
s
chneck^ Schneck', streck d'Ohre-n-erüs
Oder i wirf di üwer alli Hieser nüs.
Storick! Storick! (Storch) Langbein,
Tra mi üf em Rücke heim
Kannsch mi nit ertraue
Ze 16y rai uf e Wauje
Führ' mi in das Beckehüs
ün such mer e schöne Wecke-n-erüs !
Heile, heile, Seje
Kätzele nf de St6je
Miesele nfm Mischt
Weiss niemes was im liewe
Puppele isch.
Isch's wohr ? git's Kriej ?
Jo, ze Betschdorf git's Kriej genüe nn au Häfe derzü.
(Wortspiel mit den Worten Krieg und Krug, die im Elsas»
beide im Dialekt Kriej ausgesprochen werden.
— 142 —
So gehn die Gang, het zeller Müller gsait,
un doch het er nur eine ghet, im der isch Dit gange^
denn ^s isch der Hüsgang gsin.
Käthrinle, Käthrinle,
Wo hesch denn dine Mann?
Im Eämmerle, im Eämmerle
Het rothi Hössle an.
üf e jedes Häfele
G'hört e Deckele.
Früejh in's Bett nn früejh erüs
Bringt G'snndheit, Geld nn Glück in's Hüs.
Zitter (Seither, seitdem) ich e Kühjel (kleine Knh) hab*
Z6jt mer^s Eäppel vor mer ab.
Mit ganz kleine Axestreiche
Macht mer falle dMickste Eiche,
Doch wenn d'£iche falle solle
Müess mer d^Streich, oft wiederhole.
£ Sprichwort
e wohr Wort.
Ze Lanterbach hawi min Strumpf verlöre
Von Lanterbach geh^ i nit heim
Jetz geh^ i wieder noch Lanterbach züe
Un kauf mer e Strumpf un au noch e Schüeh.
E ganzi Rott nanjt am en Oos
Mer meint es isch der Deyfel los!
Arawisch, dytsch nn schwyzerisch,
Spaniolisch, Luxeburjerisch
Doch ein Sprech nur mer gefalle will
Die wo mer d'heim red't an der 111.
(Karl B 0 e s e, Blidah, Dez. 1857).
ABC
D^Katz geht in de Schnee,
Wenn si wieder kommt erüs
Ze thüet ere 's Füessel weh.
Wenn d'Tüwe (die Tauben) fürt sin
Ze macht mer de Schlaa (Taubenschlag) züe.
Wenn 's Schof (Das Schaf) gemetzt isch
Ze kann mer's nimm! scheere.
i
— 143 —
Die Yoüjel (Vögel), wo früjh singe
Lon bal noch mit pfife.
Der Pfeffer hilft im Mann nfs Pferd
ün bringt die Frau unter d^Erd.
Un we mer Ente nf m Wasser schwimme het,
Ze ka mer nix saaae,
Sie könne an untergehen.
Wie mer de Salon ufmacht, ze kosfs Qeld
d. h. ein comfoxtables Leben ist kostspielig.
Nett
wie dTischerkäth
un schön
wie d'Bohnelehn
ün het Wade
Wie der Fischerstade.
Wenn de witt seli sterwe
So lass ^s Vermöje kumme uf de rechte Erwe
Wer am Heumache nit gawelt
ün in der Ernt nit zawelt
ün am Herbst nit frisch ufsteht
Der soll sehn wie^s em im Winter geht.
Es isch Alles Rumpf un Stumpf drufgange
Wie 's Hirte Hanse Eierküeche
Wo der Letzt nix bekummt.
Mer lockt der Mus (Maus) so lang,
Bis sie in der Fall isch.
Ich un du
ün's Müllers Kueh
ün*s Backe Stier
Mache zamme vier.
D^Lit kenne isch schön, awer sie nit kenne isch noch schöner.
E Narr verspricht viel, awer er halt nix.
Wer kummediert exerciert nit.
Früejh gesattelt un spot geritte.
— 144 —
Wenn ich dich an *s lieb Brod nit hätf
Ze müsst i d^Sapp trinke.
Sinn: Ohne dich and deine Hülfe könnte ich nichts ausrichteo.
D 'kleine Lit het Gott erschaffe
Un d'grosse Bengel wachse-n-im Wald,
Awer d^Schtorze (die Krüppel) aa.
Die han handert Acker Newel am Rhin
Un töasig Acker Fahrw^j (Fahrweg).
Sinn : Die besitzen nichts als in ihrer Einbildang.
Dis isch min an dis isch nit din
Un dis isch aa min.
Sinn: Wenn ein Erbe bei einer Erbschaft Alles haben will, so
spricht er also.
Wenn i haspel kann i nit spinne.
Sinn : Man kann nicht zwei Dinge zagleich than.
Mer müess zerscht (znerst) de Stall böaje
Eh' mer d'Küeh drin kaaft.
Sinn: Man mass zaerst die Kosten einer Sache überlegen, ehe
man sie beginnt.
I man (mag) ken Küeh hüte
Un man ken Qeise hüte
Awer hirothe thät i gern.
ha ken Hüs an ha ken Hof
Un ha ken Geld an ha ken Feld
Awer so e Maidel wie ich bin
Git's kenn's meh af der Welt.
I man ken Hänsele
Un man ken Franzele
Awer e Seppele hätt* i gern.
I denk min Theil wie's Goldechmidts Janger.
Was het der gedenkt?
Wenn er Gold hätt', ze thät er Löffel mache.
Zwei Koch versalze d'Sapp.
Was isch?
Meh Wasser als Fisch.
Der Richtam isch e Leiter. Wenn d'Lit af der eine Sit drove sin,
ze gehn sie af der andre wieder heranter.
— 145 —
E Maikäferjohr
£ gutes Johr!
Wann e Wann (Wortspiel) e Rittex wär^
Ze wär^ min Vater e Millionär.
Selbst g'ppanne, selbst gemacht
Dis isch die rechti Büretracht.
Anna Margretel het^s Esse verbrennt
Isch mit dem Kochlöffel noch Molse gerennt.
Kühler Mai
Füllt d'Kiste iin d^Käste
Un git viel Heu.
Märze Staub,
Aprile Laub,
Maie Lache,
Dis sin drei schöni Sache.
E-n-erschrokener Haas isch selbst im Himmel nit sicher.
Viel Händ^
Machen-e-g'schwind's End !
10
X.
Volkstümliches
von
A. Uhlhorn.
Aberglaube.
I
.n Oberhofen (Kr. Hagenau) wurde vor etwa vierzig Jahren
noch allgemein an Hexen und Gespenster geglaubt, so z. B. an
das Dorftier, welches sich nach Belieben gross oder klein
machen konnte. Es zeigte sich an drei, oder vier Stellen im
Dorfe, besonders in der sogenannten Hintergasse. — J)ann zeigten
sich feurige Männer auf dem Felde, hauptsachlich in den
Erdäpfeläckern, um 12 oder 2 Uhr Nachts, welche Feuer sprizlen,
gleich wie wenn man eine Laterne hin und her schwenken
würde. — Ferner hörte man das R o 1 1 s c h e 1 1 e 1 e , ein un-
sichtbares Wesen, welches gleich wie ein kleines Glöckchen
läutete. Endlich wurden Leute, welche um zu «schwengen*,
d. h. eine Sympathie mit Worten anzuwenden, gegen
Mitternacht sich ausserhalb des Dorfes befanden von einer
«grösseren» Sympathie irregeleitet, so dass sie bis zum Läuten
der Tagglocke auf einem Erdäpfelacker auf- und abgehen mussten.
In Bischweiler (Kr. Hag.) nennt man eine schwarze Katie
«Oberhofer Hexe». Am Galgenberg bei Bisch weiler scheuen
oft nachts die Pferde und wollen nicht vorbei, so dass die Fuhr-
leute sie ausspannen müssen.
In Schirrhein (Kr. Hag.) gibt es, wie mir meine Gewährs-
frau versicherte, noch heutzutag Hexen, die einen «verbannen»
— 147 —
und sich am Sefelsbaume, einer alten astlosen Eiche gegen dem
Artillerieschiessplatz zu, versammeln und ihre [Orgien feiern.
Auf die Frage warum der Baum Sefelsbaum heisst, wurde mir
geantwortet, der Name komme von einem Urwesen her,
das dort gehaust. Eine Hexe wäre einmal fast gezwungen ge-
wesen, nackt nach Hause zurückzukehren, wenn ihr nicht J,,
ein Einwohner von Schirrhofen, begegnet wäre, der ihr seinen
Mantel gab. — Auch jagt der wilde Jäger in der Umgegend,
doch darf man sich beileibe nicht mucksen, sonst wird man
von ihm in die Lüfte entführt. Ueberhaupt ist es nicht geraten,
Nachts zu antworten, wenn man gerufen wird, selbst wenn es
der beste Bekannte wäre, der riefe.
Oberhofen (Kr. Hagenau): Als der schwarze Tod das
Elsass heimsuchte, rief eine Stimme vom Himmel :
Esse Borätsch nn Bimbernel:
No sterwe-n-er nett so schnell.
und die Befolgung dieser Regel rettete viele Leute vom Tode.
'^ (Dieselbe Sage, nur mit variiertem Spruch findet sich auch
in Tyrol.)
Sprüche zum Necken, Anzählen etc.
Neckrnf.
Bischweiler (Kr. Hagenau.)
Peter,
Stupf de-n-Essel, no geht er.
Stupf de-n-Essel am Henterfüss
Dass er z Owets heimgehn müess.
Sprüche.
Eins, zwei, drei, vier, fenf, sechs, sewwe,
acht, nyn ; geh ens Gässel nin,
em Gässel esch e Hüss, am Hüss esch e Hofft,
am Hofft esch e Garte, em Garte esch e Baum^
em Baum esch e Nescht,'em Nescht esch e-n-Ei,
em Ei esch e Dotter, em Dotter esch e Haas,
der schprengt dier grad off dini Drecknas.
Zerle, merle, Hüssbamberle
HÖi, Höi, Rädelstiel
Peter lehn mer dine grumme, grade Stiel
dass i Holz drowe heim fahre kann
Durch Hüss, durch Hofft
Ens Abraham sin alt Schloss.
Do wohnt e-n-alti Bettelfrau dien, ,
De zehlt nex als: Kippes, Kappes,
schwarzi Rappes, bebbele, bebbele Brief,
dii müesch nüss gehn diene.
— 148 —
A, b, c, d' Katz leit em Schnee,
Dr Schnee geht eweck
D^E9>tz leit em Dreck.
Ridde, ridde. Boss,
Ze Basel esch e Schloss,
Ze Basel esch e Herrehüss,
Do löie drei scheni Jongfre russ :
D^eint spinnt Syd, d'ander spinnt Wyd,
d^drett spinnt Hawerstroh,
d' viert machts grad eso.
Alliterierende Sprüche.
Der drekid Daniel drikt dene drekide Drikkarch durch dis drekid
Dorf Draesenem (Druisenheim).
Wann Wasser Win war, wo wotte d'Wirscher (Weyersheim) Wi-
wer Windle wasche?
Rosheim (Kr. Schlettstadt).
Wann Wasser Wy war, wie wotte d*Winzemer Wiwer WindJi
wasche ?
Liedchen.
Öigel, g-'gel, ratze,
Morje komme d^Spatze,
Ewwermorje d'Finke,
Alli Jade schtinke.
Es rajelt, es schnejelt, es geht e kiehler Wind,
Die arme Saldätle maschiere mit der Flint.
Piöireplöi, Grammbeeresnpp,
Moije gehn d^Saldate fnrt.
Neckrufe.
Bit seh (Kr. Saargemünd.)
Peter von Saarbrecke
Hat e Sack voll Mecke.
Schtellt ne an de Poste.
Foste kracht! Peter fallt en Ohnmacht
Peter! Wo steht er?
Em Stall. Was thnt er? Schtosst Fader.
Was noch? Patzt dr Kah s Loch.
Sprüche.
Niederrödern (Kr. Weissenbarg.)
Ane, dane, Wassergraf
Ane, dane, wäck.
— 149 —
Dettweiler (Kr. Zabern).
Ans, zwäi, drei,
Du besch am allererschte frei.
Diemeringen (Kr. Zabern).
Äne, däne, do. Kappemalle no,
Isefalle, Pumpernalle, Ane, däne, wäck.
Salzbach (Kr. Kolmar).
An den Ende Taffetband
Esch noch witt von Engelland.
Engelland esch zügschlosse
Un dr Schlüssel esch abgebroche.
Eins, zwei, drei, du besch frei.
Münster (Kr. Kolmar).
Zicke, Zacke, Bohnestacke,
Kersekarne, Knopf,
Wann de mers net gloiwe wett
Ze schlaa i dr eins an de Kopf.
Heilsprüche.
Bischweiler (Kr. Hagenau).
Heile, heile, Seje,
8 Kätzele-n-nff de Steje,
fl Misele-n-nff em Mist.
Weiss niemes, was em kleine Kindele esch.
Heile, heile. Hörn,
Oehts hitt nit, ze gehts mom,
Heile, heile Katzedreck (od. Katzeschleck),
EwweiTnoije esch alles eweck.
Zaberu (Kr. Zabern).
Heile, heile, Seje,
Morje getts Reje
Ewwermorje Schnee
Un eweck isch s Weh.
Diemeringen (Kr. Zabern).
Haie, häle, Seje,
Haie, häle, Kälwelsdreck.
Bes morje esch alles eweck.
Niederrödern (Kr. Weissenburg).
Heile, Heile, Seje
s Kätzele-n-uff dr Steje,
8 Misele-n-uff em Mischt
Hett alles zamme gewischt
XL
Elsässische Kinderlieder
in Rappoltsweiler Mundart.
Mitgeteilt von
Fritz Mathis.
A. Sprüche zum Abzählen. >
Bei 2 Kindern
1.
Ix ün ty wfeta, (wetten)
um tröi koltiki kh^ta, (goldene Ketten)
um a tsain (Korb mit 2 Handgriffen) fol sn^;
ty myas s6. (du mussl sein)
2.
Bei 3 Kindern : Ains, tswai, träi,
t myatar khoyJL priaei, (Brühe)
tar fätar kho/t §pak, .
ün ty pes awak. (und du bist weg)
1 Die Kinder stellen sich im Kreise auf und eines derselben liWt
ab, indem es bei jedem Worte auf ein anderes Kind zeigt. Je Mck
den Bedingungen muss das Kind, auf welches das letzte Wort einer
dieser Sprüche fällt, die übrigen fangen, suchen etc., oder, was häufiger
Yorkommt, es ist «frei», d. h. es darf wegtreten, während weit« al^
gezählt wird. In diesem Falle muss das zuletzt üebrigbleibendc suchen.
— 151 —
3.
Anderer Spruch Ains, Iswai, trfei,
bei 3 Kindern: pika päka p6i^
pika päka hdwarmyas, (Hafermus)
t kans (die Gänse) k^n plütfyas. (barfuss)
plütfyas k6n si,
hentram öfa §ten si,
si laja rüti r^kala ä (sie legen rote Röckchen an)
ün spreY]a en tdr prüna na.
si fenta a klains khenlala (dim. von Kind)
en trakika wentla ; (dreckig = schmutzigen
wiae sols haisa? [Windeln)
t melix fo ta kaisa. (Gaisen = Ziegen)
war wel pfetar s^ ? (Taufpathe sein ?)
tar snitar khä net krät st^.
war wel wentla wasa?
t pyawa myan trak frasa.^ (Die Buben müssen
Variante: [Dreck fressen)
hentram öfa stön si,
foram öfa pata si.
s khalwala har^t am risema,
en lar owarstät wünt nisema,
en tar üntarstät wönt a ältar man,
ältar man, würüm Jap§ (lebst) ty sü lärj?
sol i tan net läwa?
mini myatar es en i^ räwa, (Reben)
mi fätar es tut,
ün ty pe§ a swup.
4.
4 Kinder: Ains,Mswai, tr^i, fuer,
lar knä/t hült piier,
t mäkt hült the,
ty mya§ so.
5.
5 Kinder: Ains, tswai, tr^i, fiaer, femf,
Strek mar a pär ätremf,
net tsya klain ün net tsya krüs, (zu gross)
sünst pe§ ty a päpisplüs. (Tolpatsch.)
Variante :
ty pes tsälar^rst trüs.
i Dies sagen die Mädchen; bei den Knaben hingegen lautet die
Zeile : t maitla sen lümpotasa.
— 452 —
6.
6 Kinder : Ains, Iswai . . . (etc. bis) söks,
wani § . . . sü äm^ks, (schmecken)
wamar päy^a hamar prüt, (haben wir Brot)
wamar ätarwa semar tut.
Ains, tswai, tr^i,
ty pes fr^i.
7.
7 Kinder : Ains, tswai . . . (etc. bis) sewa,
a pyrafräi khoy^t ryawa, (Rüben)
aini kho^t §pak^ (Speck)
ün ty pes awak (weg)
8.
8 Kinder : Ains, tswai . . . (etc. bis) äyt,
t sältäta k^n üf t wäyt, (Wache),
tar säntArm (Gendarm) hült ti tiaep, (Diebe)
ün ty pes liaep. (lieb)
9.
9 Kinder: Ains, tswai, . . . (etc. bis) nin,
s k6t a pisewala (Bübchen) ewar tar rin, (Rhein)
8 hat käli hesala a, (Höschen)
met rüta snalala (Schnallen) trä. (daran)
s khümt en a kasala. (Gässchen)
en tam kasala es a karta, (Garten)
en tam karta stet a päim,
üf tam päim es a na§t, (Nest)
en tam nast es a ai,
en tam ai e§ a tütar, (Dotter)
en tam tütar e^ a häs,
tar sprer^tar (vulg. sistar) p^r üf tsepfalnäs.
(Der springl dir genau auf die Zipfelnase.)
10.
10 Kinder : Ains, tswai . . . (etc. bis) ts6n,
t mäkt myas üf t peu, (Bühne = Speicher)
tar pya hült wi,
tar knäyt sairjt i,
tar her trer^t ys,
ün ty myas nys.
.J
- 153 —
41.
(Bei mehr als 10 Kindern.)
Ains, tswai . . . tswansik,
t sältäla k6n üf nänsik, (Nanzig)
nänsik fäYjt ä prana,
t siiltata fäY;a ä rana ;
Ains, tswai, trei,
ly pes am ersta frei.
12.
Ains, tswti — s pist (beisst) mi a flu ;
trfei, fiaer, — i häwa siaer ;
femf, s6ks — i häwa kh^tst; (gehetzt)
sewa, äx.t — er läift üf t wäyrt ; (Wache)
nin, ts^n — i häwa kl^nt; (gelehnt)
älf, tswelf — i häwa känsa säk fol jÜTji, jür/i wölf.i (Wölfe)
B. Schaukellieder.
(Ein Erwachsener lässt das Kind auf seinem Knie reiten.)
1.
Rita rita rösla, (Rösschen)
ts fiksa (Egisheim) stön trei slesla, (Schlösser)
ts Kholmer eis a klokahys, (Glockenhaus)
s lyaja trei jümfra arys. (Jungfrauen)
aini spent (spinn!) sita, (Seide)
t äntar Üäyi (flechtet) wita, (Weiden)
ti tret pent (bindet) häwarsträi : (Haferstroh)
half tar (helfe dir) kot mini liajwi fräi.
(Beim letzten Wort lässt man das Kind langsam hinfallen.)
2.
Ros, ros, irela,
tar pyr bot a fela, (Füllen)
s fela wel net läifa,
tar pyr weis farkhäifa.
s fela spreT;t awak,
ün tar pyr leit em trak.
(Wie oben )
^ Bei dem Wort «welf> laufen alle Kinder fort, und das be-
treffende Kind, auf welches dieses Wort fiel, muss die andern Kinder
fangen.
— 154 —
3.
Sü rita tise klaina h^rakhentar, (Herrenkioder)
wan si no^, klain wensik (winzig) sen.
wan si kresar wära,
sü rita si üf ta pära; (Bären)
wan si kr^sar wäksa,
sü rita si üf säksa, (Sachsen)
wü t s^na rnaitla wäksa,
hopati hopsasa. (Galopp !)
4.
Ri rä ryts,
mar fära en tar kyts. (Kutsche)
en ta kytsa fära mar, (wir)
üf am ösal rita mar ;
ri rä ryts,
mar fära en tar kytä,
C. Trostsprüche.
Wenn das Kind sich eine kleine Verletziing zugezogen hat, so
wird die betreffende Stelle gestreichelt mit folgenden Worten:
1.
Hajala hajala säja, (Segen)
möm kets raja, (morgen giebt es Regen)
ewarmörn kets sne —
s tyat tar nem (nicht mehr) we.
Hajala hajala säja,
s khatsal (Kätzchen) hokt üf tar stäja, (Stiege)
s hental (Hündchen) [Var. : tar kylar (Hahn)] üf am mest: (Mist)
mar wais nem wü em khent si popo es. (popo = in der Kinder-
sprache Schmeraen.)
3.
Hajala hajala hörn,
hailts het net sü hailts mörn.
hajala hajala arpsa ün spak,
pis ewarmörn es älas awak.
D. Wiegenlieder.
1.
Ni nä, püpala (Wickelkind) slüf,
üf ta mäta (Malten) sen tswai süf ; (Schafe)
s wis es ti, ün s swärts es mi,
wan ta slüfs sen paiti (beide) ti.
— 155 —
Slüf, püpala, §lüf,
tar fätar hiaet ti söf,
ti myatdr hiset ti hamdla, (dim. von Hammel)
slüf i (ein) mi hartsik lamala, (Lämmchen)
(Var. slüf i mi koltiks arjala,)
§lüf, püpala, slüf.
3.
V
Slüf, khentala^ sluf,
trüsa (draussen) k6t a süf,
täs hM sü wisi fiaes, (Füsse)
ti melix e§ sü siaes, (süss)
sisesdr äs hünik (Honig) ün fika, (Feigen)
jfets myaS ty stel swika. (schweigen)
4.
Slüf, püpala, slüf,
ti wälf sen em höf,
t swärtsa wisD ti wisa,
tiae w^la s kheotala pisa, (heissen)
trüm (darum) slüf, püpala, §lüf.
5.
Maitala, soi soi, (schaue)
ihn khümt tar woi woi, (Wolf, Kindersprache)
ar hM a sens hisetala (Hütchen) üf
ün a rüts pantala (Band) trüf.
maitala, §oi soi,
tfert khümt tar woi w(»i.
6.
Aia päpaia^ ti papla (Kinderbrei) sen kyat,
wamar (wenn man) präf pütar ün tsükar t'rä tyat.
aia, päpaia, ti khentar sen liaep.
wan sis net mä/a wise ti tiaep.
aia, päpaia, jäts Slüf s^n i,
ta pakhüms tarnü (hernach) fil tsükar tri. (darein)
7.
Aia päpaia, was wüsalt (bewegt sich) em strü?*
t myatar es k§torwa, ün tar fätar e§ frü.
tar fätar nemt a äntar wip,
ün t khentar khüma äli tsya tar hü^tsit.
1 Stroh, heisBt in Rappoltsweiler gewöhnlich «§träi>.
— 156 —
8.
Aia päpaia, was räpalt em §lrü? —
sen t klaina kansawyli (Gänschen), tiae mäyjSi a sü.
aia päpaia, §löf liacwar äs ty,
want mars net kläiwa (glauben) wet, ääi mar nur tsya.
£. Kinderr eigen.
1.
Raja, raja, rüsakräins, (Rosenkranz),
äet mar a pesala (bischen) wäsar en t pfan,
klaini we§, krusi wös, (Wäsche)
kikariki. (i sehr lang anhalten).
(Beim letzten <ki> <hüren> alle Kinder, d. h. sie beugen die
Kniee.)
2.
Raja, raja rüsa,
ti khiaeyla (dim. von Kuchen) sen kaplüsa, (geblasen, aufgebl.)
si l^ja en ta pfäna, (Pfanne),
s krä/a äii tsäma (zusammen). [Wie vorhin.]
3.
Raja, raja, rüsa,
s kheja (fallen) krüsi slüsa ; (Schlössen, Hagel),
s kalt (Geld) leit em khästa, (Kasten),
mörn mia?mar (müssen wir) fäsla,
ewarmörn mi^emar s khalwala (Kälbchen) mötsja,
s khalwala täs inkyi pliv.
4.
Läy;i läifji ketsa, (kets := Kelte),
fer trei sy (Sous) khäifa mar k^sta, (Kastanien)
trei .sy arys (heraus)
fer ens khäfehys. (Kaffeehaus)
5.
S stöt a manala (Männchen) [Var. : ar^ala] an tar winl,
s het a käkala (Ei, Kdspr.) en tar hänt,
s mejrts (möchte es) kärn sia?ta, (sieden)
s het kh6 kliseta, (Gluten)
s käts (würde es) kärn prüla, (braten)
s wel am net karüla,
^ 457 —
s möyts kam asa, (essen)
s h^t kh^ maser ;
s kheit (fallt) a masar fom hemal aräp
ün §nit em manala s hantal äp.
s manala k^t tsyam foktsr^
tar toktar e§ net thaim,
9r hat kär krümi pain,
ti mäkt fäit t khärriar,
tar knä)(t h^t a jämar.
s seist a tiwala (Taube) üf 9m tä^,
lAs het si/ fä§t püklik (bucklicht) kalä/t.
6.
Ana tana tentafäs, (Tintenglas)
k6 en t §yal ün I6r mar was.
khüms mar haim ün khäs (können) mar niks,
nem i t ryat (Rute) ün fels ti nys. (prügle dich hinaus)
7.
S khüma trfei sältätala, (dim. von Soldaten),
si klopfa an täs latala, (dim. v. Fensterladen),
si fröja wü tar päpa es. —
tar päpa e§ em werlshys (Wirtshaus)
ün syft äli klösar ys.
ts nä^t khümt ar haim,
met .)ma (einem) krüma pain.
s st^t a §esala (dim. von Schüssel) üf am te§,
ar fröit was trena e§.
t myatar sait niks.
tu nemt tar fätar s khyayaprat (Kuchenbrett)
ün §l^t tar myatar t näs awak.
Variante.
ts näyt khümt ar haim
ün hat a §ola (Grundscholle) am pain.
ar werft a hentar t6r,
jäts khä nar nem a f6r (hervor).
8.
A §^ns khümplamant,
tar khäf^ es farprant,
ti meliy es ens fir kalofa,
i pfif tar üf ti khäf^khoya.
— 458 —
9.
Märianala, tsyslnala^ (dixn. von Susanna)
^te üf ün mäy a liaeyt; (Licht)
s trepalt epar (Jemand) em hys (Haus) srüm,
i main s es a lia}p. —
o näi, myatar, (Mutter) o näi,
s es tar tsemarmän. (Zimmermann)
tar poit (baut) mar jü a hisala, (Häuschen)
henta trä a sirala, (dim. von Scheune)
forna trä a p^rapaimal, (dim. von Birnbaum)
wan t p6ra tsitik sen, (reif sind)
sa kho}(t t myatar snets. (Bimschnitz)
kyk iy en täs häfala, (dim. TopO
sa .^l^t si mar ains üfs näsala.
pit{5, pats, plets,
jäts es i tslait (zum trotz) kh^ snets.
10.
(Reigen die bei Regenwetter gesungen weiden.)
Die Knaben singen :
S räit krüsi tropfa,
t pyawa myas mar klopfa,
t maitla myas mar fetsa, (fitzen = mit der Ruthestreichen
as si t stai (Stiege) nä pletsa. (springen)
Die Mädchen dagegen singen :
S rait krüsi tropfa,
t pyawa myas mar klopfa,
t maitla Idrfa kit^ala (dim. v. Kutsche) fära,
ün t pyawa myan s kalt (Geld) spära.
t maitla pakhüma rüta wi
ün a stekal tsükar tri.
t pyawa pakhüma wisa wi
ün a hünstsüla tii.
t maitla lait mar en a sitap^t (Seidenbett)
ün t pyawa khöit mar (wirft man) en a lornhek.
11.
S räit, tar äkarsmän sAit,
t khernala sprer^a, t f&jala seiQa :
jyhö, kikariki.
12.
S risalt (Staubregen) ün s rdjalt
ün t stitla (dim. von Stauden = Pflanzen) wara näs,
ün was a räytar khia^far (Küfer) e§,
sa slüpft en a fäs.
— 159 —
13.
S räit, s §n^it,
s k6l a khiaela went, (kühler Wind)
t ärma saltäta,
aksetsiaera (exerzieren) met tar flent.
s pentala (dim. von Bündel) üf am pükal,i
tar slaka en tar hänt,
atie lisewar fätar
jfets würi mysikhänt.
F. Lied zu dem Spiel : «Der Plumpsack geht um I»
1.
Tar fiiks k6t arüm,
ar trepalt (trippelt) en tar stüp arüm,
ar trepalt en tar khalar, (Keller)
syft äla müskatalar, (Muskateller)
ar trepalt en tar päy,
pis täs tar nüspäim (Nussbaum) kräyt.
(Erst bei dem Worte «kracht» darf geschlagen werden.)
2. Worte zu dem Spiel: «Holderstock».
(Ein Knabe legt den Kopf in den Schoss eines andern Knaben,
nnd die übrigen «trommeln» ihm mit den Fäusten auf den Rücken
herum mit den Worten) :
Rümalti rümalti holtarstok
vfUQ fil b^rnar slrekt tar pok? —
(Ein Knabe streckt etliche Finger in die Höhe, und der «Holder-
stock» muss raten ; rät er richtig, so muss der Knabe, der die Finger
in die Höhe streckte, Holderstock sein. Rät er falsch, so wird weiter
getrommelt mit den Worten) :
Hats ty (die Anzahl der gestr. Finger) karüta, (geraten),
sa war täs khiaeyal (dim. v. Kuchen) kaprüta. —
flais üf tar teis ! (Fleisch auf den Tisch)
(Der Holderstock legt die Hand auf seinen Rücken und die
übrigen Knaben «pfatsa», d. h. kneifen dieselbe.)
War es s kse? (Wer ist es gewesen?)
(Rät er richtig, so muss der Kneifer an seine Stelle; wenn nicht,
so beginnt das Spiel von neuem.)
1 (ü und ä von «püksl» und «fätar» sind in der Melodie des Liedes
sehr lang; gewöhnlich spricht man «pükal» und «fätdr».)
— 160 —
Q. Kiederlieder ^welche auf Tiere Bezug haben.
1.
V
Storik, storik, la h^§ läY)i pain,
irä mi üf am pükal (Rücken) haim.
wan t mi net khäs träja,
sa sMs mi üf a wäja ; (Wagen)
wan t mi net khä§ tsiaeja, (ziehen)
S9 lü wi ti wetar fliaeja. (so lass ich dich wieder fliegen)
Variat i o n.
sa lü mi metar fliseja. (so lass mich mit dir fliegen)
Andere Variation,
sa lü mi thaima l^ja. (so lass mich zu Hause liegen)
2.
Storik, §torik, Sniwal snäwal,
met tira läiQa öfakäwal (Ofengabel)
trä mar a fiaertal (Mass = Sack voll) waisa (Weizen) haim.
trä mar s kli}( en t m^l, (Mühle)
met tim lär^a st^l, (Stiel)
trä mars kli/ ens päkahys (Bäckerhaus)^
pä^ mar kyati w^ka (Brötchen) trys;
wan sol i si hüla? —
mörn am üwa. (Morgen Abend)
met was sol i si asa? —
met krisena, kriaena krasa. (grünen Kressen)
3.
Snak, snak (Schnecke) str^k t härnar arys,
otar i khäi ti tsyam iirika, firika lätala nys. (zum feurigen
Fensterladen hinaus)
(Wird 80 lange wiederholt, bis die Schnecke die Fühler ansstrecki}
4.
Maikhäfarla fliaei 1 1 (fliege)
iar fätar es em krisei, (Krieg)
t myatar e§ em pümarlänt,
s pümarlänt e§ äpkaprant,
Maikhäfarla fliaei !
1 Hier herrscht noch die Unsitte, die nicht aaszurotten ist, dist
die Kinder die Maikäfer an einem HinterfnsB anbinden nnd sie znm
fliegen nötigen.
— 161 —
5.
Maikhdfarla fli,
ens hetala ni, (ins Hüttchen hinein)
ti häita khüma,
si pfifa im trüma, (troxnmeln)
si w61a ti sepala frasa. (dim. von Suppe)
6.
Maikhäfar, maikhafar fli üf!
ün mä)( tar myatar t sir (Scheune) üf !
ti jüta khüma,
ti hdita trüma,
si wfela met ta raya, (Rechen)
ti5( ün tini lisewa khentar tut staya.
7.
Wolf, wolf, pijS mi net,
hüntart tälar kewi tar net. (gebe ich dir nicht)
hüntart tälar kewi tar net,
wolf, wolf, pis mi net.
8.
Liaep lisep khatsala,
mäy a ^n fratsala, (dim. Fratze = freundlich Gesicht),
preY] mar a pär khiseyala,
tarnü pes a präf tiaerala.
wet ty äwar kräja, (kratzen)
met tina klöja, (Klauen)
sa würs kSläja,
las wel- i tar ss^a.
trüni liaep khatsala,
mäy a ^n fratsala.
9.
A, pe, tse, (a, b, c),
t khäts leit em sn^.
tar sn^ k^t awak,
ün t khäts leit em trak.
10.1
Kykyk I — wü pes ? (wo bist du ?) — em wält, ses khält I
was hö§ ? — a frfeS. (Frosch) — ke mar öi ! (gib mir auch)
nai, nai I — kitsik (geizig), kitsik, kitsik I
1 Ein Kind rnft «kykyk», die übrigen antworten «wft pes?» etc.
11
— 162 —
11.
Kikeriki I — pantala trä ! (dim. Band daran)
wan t mi h^§, sa niyaä mi hä.
wan tar kyiar (Hahn) üf t ärwdt (Arbeil) k^t,
sa fäT]a t hiaenar ä tänsa.
12.
flsala i ä,
ta k4§ tar pari (Berg) nä, (hinab)
würüm tan net nüf? — (hinauf)
ta läts mar (ladest mir) tsya fil uf.
13.
£sala i a,
war hat ti kSlä? — (geschlagen)
em mai§tar si pya. — (Bube = Knabe)
ar es a ^petspya.
14.
Felslis ün wantala, (dim. von Wanzen)
räplis (Rebläuse) ün fl6, (Flöhe)
tiae kan anäntar s hantala, (dim. von Hand)
las hyarakhaiwa f6. —
üf tira rd/ta äksal, (Schulter)
märSiaBra (marschieren) l lis ün l fT^^
ün henta (hinten) üf am pükal, (Buckel)
märäiaert li käns arm^.
H. Fingersprüche.
Der Reikenfolge nach wird auf einen Finger gedentet und dabei eine
der folgenden Zeilen gesprochen.
1.
Täs e§ tar tyma, (Daumen)
tä detail pflyma, (Pflaumen)
tä h^pl si üf,
tä trait si haim,
ün tar klain stümpanekal est si käns alain.
2.
Tar e§ ens wäsar kfäla,
tä hat a arys kalsoja, (herausgezogen)
tä h^t a haimkatrait,
tä hM a ens p^t kalait;
ün tar klain §lümpa häts em päpa ksait
f
— 163 —
3.
Tar es en tsr wält käirja, (gegangen)
tä hat a basal kt'äiga,
\ä h^ts haimkdtraity
tä b^ts kaprüta, (gebraten)
ün tar klain spetspya hets farüta.
4.
Täs e§ tar tyma,
tä frest kärn pfiyma,
tä sait wü nama
tä sait em h^rakärta,
iin tar klain §tümpa farüts §nal em päpa.
I. Scherzsprüche auf Namen.
i.
Antüni, (Anton)
prütmüni, (Brolfresser)
lümpikar p^kapya, (Backerjunge)
kemar a ätekal prüt lartsya. (dazu)
2.
V
Sämpatis, (Job. Baptist)
kritawis, (kreideweiss)
kbölapranar, (Koblenbrenner)
Stätnäranar. (Stadt binab Renner)
3.
Kbämifajar,
Stakalaträjar,
kbewalapütsar,
§tätnärüt§ar.
Sälar nätsi,
ärmar tropf,
bä§ bür am pärt
un kh^n üf am kbopf.
5.
Tar häns ys am rnükalo^
h^t älas was ar wel.
im ^äs ar bot, täs wel ar net,
ün was ar wel, täs b^t ar net;
tar bans ys am mükalo^
h^t älas was ar wel.
— t(>4 —
6.
Tor khalar frans es t stäi nä kheit, (die Siie^^e hinab gefallen)
i Mwa h^ra rümpla ;
i hä kamaint s es a krüsa man,
ün s e§ nur a kiaina ^tümpa.
7.
Tar projar lyi es kär tsya kS^it,
ar werft awak was ar farheit, (zerbricht)
ar khöit ti §arwa (Scherben) en tar pä)r,
trüm würt ar o sü yskaläyt.
8.
Tar herlsawert fo parika, (Bergheim)
ta het a seni fräi ;
si es net krüm, si es net krät
ün h6t a näs wiae a wäjarät. (Wagenrad)
tar hertsawert fo parika,
ta h^t a §^ni fräi.
9.
Tar khäparäl (Korporal) lans,
h^t t hösa farslanst, (zerrissen)
hat s hamp aryshaYjka, (heraushängen)
äs am t kans (Gänse) nurana. (nachrennen)
10.
Mätis,
prey s is, (brich das Eis)
h6§ khains
sa mäy tar ains.
11.
Itsik, §petsik, (spitzig) nylalfrasar,
k6 en t syla (isral. Schule, Synagoge) ün §lif täs masar.
12.
Tar itsik khümt ke rita,
uf ara tera (dürren) kais.
tar itsik k6t äplsita, (zur Seite)
ti kais lüt a s . . .
13.
Tar hänsal ün tar s^pal, (Joseph)
treT;ka met näntar a s^pai. (Schöppchen)
tar häns ta khäit ens püigkalfäs,
tüntarwatar wiae kläpart täs.
— 165 —
14.
Hopsa lesdla, (Elisabeth)
täns a pesala, (ein Bischen)
lepf tini krüma pain en t h6 I —
s tänsa es mar farkäTja,
t wentia (Windeln) haY;ka an ta ätätja.
15.
Mari, lü (lasse) t hiaenar ni,
lü tar kylar läifa,
äs mar a kh^na farkhäifa.
16.
HeMnala,
am prenala, (dim. von Brunnen)
am tsükarp^rapäim ; (Zuckerbirnbaum)
ün wan tiae p6ra tsitik sen, (reif sind)
sa khiaeyall (Kuchen backen) ünsri fräi.
17.
Uj^ra, fräi mera, (Bürgermeister)
wia3 §iät tar man ti fräi.
er §lät si met am lürtsa, (alter Schuh)
äs si nem khä f
üj^ra, fräi m^ra,
wise §lät tar man ti fräi.
18.
Uj^ra, fräi mera,
s6 snüpfl sü karn tywäk. (Tabak)
ly hä ti peks (Büchse) farlöra,
jets pfiü ni (pfeit ich euch) en tar säk. (Tasche.)
19.
Tar hänsal ün s kr^tal
sen paitas präQ lait; (Leute; gew. Hl.)
tar hänsal es näraytik (verrückt)
uns kr^tal es net kseit.
20.
Smet, §mel, smet, (Schmied)
nem ti haniarla met. (dim. von Hammer)
wan ty wet a r^sal psläja, (Koss beschlagen)
myas ty 1i hamarla pitar (bei dir) träja.
Smet, smet, smet,
nem ti hamarla met.
^
— 460 ^
21.
S khümt a fräi fo kh^Stdhols, (Kestenholz)
tiae haist märi trürikapols.
Si hat a tsain fol khenfar,
tiae priaela (brüllen = schreien) wiae tar senter. (Schinder)
K. Scherzsprüclie zu Festtagen.
i.
I >vens tar a klekliks n^ijür^
a paYjala (Stück Holz) üfs ür, (Ohr)
a hewal (Prügel) üf tar khopf,
pis äs s plyat (Blut) nä tropft.
2.
I wen§ ni a klekliks n^ijur^
ün wanar mar a weka kan es s wür.
kanar mar khenar, sa es a kürtsi lür^
was i ni wens, ün a lävji tsür^.
,3.
I wen§ tar fil kiek, (Glück)
a paiQal (Knüppel) en s knek, (Genick)
ün a häwal (Knüppel) üf s ür, (Ohr)
pis üf s äntar jür. (bis zum andern Jahr.)
4.
Fäsanä^tsnär, h^s kalt eni säk ? (Geld in der Tasche)
kemar a sy (Sous = 4 Pfg.) fer snüpftywäk I
5.
Maria liöe/tmas,
s spena farkas,
s rätal (Spinnrädchen) hentar t^r,
ün s ramasar (Rebmesser) a f6r.
6.
Sänti nekti naki, (St. Nikolaus necke ich)
hentram 6fa staki.
ke§ mar fepfal ün p^ra, (Birnen)
sa khümi wetar a föra. (hervor)
7.
Träi khenik, tr^i khenik met feiram Starna,
ar krä/a ti nüsa ün asa ti kharna,
ar khäja (werfen) ti säla hentar t6r, (Thure)
t mis (Mäuse) ün t rata hüla si a f(^r.
— 107 —
8.
Tr^i khenik, tr^i khenik met ^rdm starn^
si asa üa treiQka ün tsäla net kam.
si patia äli bisar ys, (sie betteln alle Häuser aus)
trüm kh^ja mar si tsya tar t^r nys. (zur Tbüre hinaus).
9.
(Spruch der Mar wensa ta bera a koltika te§, (Tisch)
3 Könige:) iif äla fiser äka a plät fol fes,
en tar metla tren a kryai (Krug) fol wi, (Wein)
äs äli kh^na (können) lüstik a^.
un en tar mätam a koltika wäja,
äs si hhä (kann) en tar bemal fära.
L. Sprüche vermisohten Inhalts.
1.
Tfert trowa, t^rt trünta, (dort oben, dort unten)
wüs wäsar äpläift,
tfert §t6t a wällpryatar, (Waldbruder)
wü khütla (Kaidaunen) farkhäift.
ar hfet s pata (beten) f'arkasa,
ar bot s nästar (Rosenkranz, von Paternoster) farprant,
ar h^t t slürwa (alte Haussebuhe) yskatsoja (ausgezogen)
ün es ta maitla (Mädchen) nükarant.
2.
Wan tar snitar (Schneider) ^ps kstöla bot,
sa wais ar kli*/ (gleich) wü nüf. (wo 'nauf)
ar slüpft snal en a nütalpeks (Nadelbüchse)
ün mäyt tar t^kal trüf.
3.
Tar snitar es a fatatijpp, (Fadendieb)
täs wais mar em känsa länt.
ün t maitla han t sältäta lieep,
täs es 0 stätpakhänt.
ün war mar täs net kläiwa wel,
tam mast tar ;^nitar ä ti el. (Elle)
4.
Khferwalkryt (Anthriscus cerefolium) ün rawasaldt (Valerianella)
wäksa en ünsram kärtala ; (dim. von Garlen)
tu (da) a ^titala ün t^rt a stitala, (dim. von Staude)
ket a kyats (gutes) sälätala. (dim. von Salat.)
— 168 —
5.
Het e§ khelp, ün mörn es khelp, (Kilbe, Kirchweihfest)
pis km tsiStik tsüwa, (Dienstag Abend)
wan ty tsyam mim satsala khüms,
88 säwam (sage ihm) koidnüwa. (guten Abend)
kotanüwa Isysänkret, (Susan ne-Grethe)
tsai mar wü ti petiät (Bettstelle) §l6t? —
hentn^m öfa an tar wänt,
wü ti tsysän t fl^ \äT,\.
6.
Saisala e ty fäse, (fach^ = zornig)
säkartiae (sacre dieu) würüm? —
lak ty mi^ am ^lapoja, (Ellenbogen)
ti khelp (Kilbe) es arüm.
trüm trüts nel sü, ün trüts net sü, (trotze nicht so sehr)
s khümt a tsit (Zeit), ta pei^ wetrüm frü ; (du bist wiederum froh)
trüts net sü, trüts ijet sü,
ta würs jü wetar frü.
7.
T kheriy eis ys, (die Kirche ist aus) t süp läift ys,
t ar^ala asa tsüwa, (zu Abend =; vespern)
wan tar fetar meyal (Michel) khümt,
sa sait ar kolanüwa. (Guten Abend)
ar preY;t trei khoilopf (Kugelhopf) en tar hänt,
khia-yla (dim. von Kuchen) päya es khe sänt,
t^r ains, mer ains
ün em lianva herkot (lieben Hergott) ains.
8.
Räits am pärnapäs, (Barnabas)
Nemt lar wi (Wein) äp pis ens fäs.
äwar mertsastäip, (Märzenstaub)
äwrelaläip (Aprillaub)
ün majaläya, (Lache = Pfütze)
sen trei s^ni, kyati säya.
9.
Unsri mäkt ün ^iri mäkt,
(Var. : Mini fräi ün tini fräi)
sen tswai s6ni waiwar, (gew. wiwar)
aini e§ khanünafol, (kanonenvoll)
ün t äntar hfet a staiwar. (Rausch)
— 1(50 —
10.
Kikal kikal (Geige) rälsa,
mörn kbuma t ^pätsa,
ewarmörn ti fer^ka, (Finken)
äli jüta sler^ka.
11.
Kemer (gieb mir) prüt ! (Brot)
tar p^k es tut.
ter melar (Müller) es krärjk,
s ket khe prüt em känsa länt.
12.
Tar melar höt wela mala,
ti rötar wela nel ke,
ün äli parikmar (Bergheimer) pyawa,
sen krüsi stekla fö.
13.
Kikariki em kriaena wält,
i hdwa h6ra (hören) rysa ; (rauschen)
piaBwala nem khe rüti fräi,
ta khäs si nem fartysa. (vertauschen)
14.
War wel kyati khiaeya (plur. von Kuchen) päp,
tä myas ha sewa (7) säya. (Sachen)
pütar ün smäls,
aiar ün säls,
meliy ün mal,
säfra\Safran) mäyt tar khyaya käl. (gelb)
15.
Tert trowa, tert trünta,
tert st6t a khäpal, (Kapelle)
tert tänsa tswai swüwa
metra (mit einer) lära potal. (Bouteille = Flasche)
metra klaina pim pim,
metra krüsa püm püm,
ün t hikal märiän
höt a krüsi trüm. (Trommel)
16.
Tört trowa, tM trünta,
tert k^t a ältar jüt ;
forna es ar ksöra, (geschoren)
ün henta es ar plüt. (kahl).
~ 17ü —
17.
T^rt trowa, ihri trünta,
wös wäsar nä rolt,
tfert \kyai li jüta,
si maina s es kolt.
48.
Trfei pliaemla (Blümchen) am fanStdr,
tröi lelia (Lilien) em wält ;
em sümar (Sommer) es s liseplik,
em wentar es s khält.
19.
Unsri mäkt khoyt nytla, (Nudeln)
si §prytst a pesal trä ;
s e§ krät nänel (noch nicht) smiits (Fett) kanya, (genug)
si prana äwar loy net ä. (sie brennen aber doch nicht an)
20.
«
Unsri mäkt es en tar khü^, (Küche)
si wast em fätar s kser; ((jeschirr)
forna es si mäjar, (mager)
ün henta es si ter. (dürr)
21.
Horiya (höret) was i;^ eiy (euch) wel saja,
t klok hei ein ksläja.
i^sa t liseytar ün t ämpla, (Ampeln)
ün leja ens pet ün strämfla. (strampelt)
22.
Mi sats es kritawis, (kreide weis)
h^t rüti päka. (Backen)
ün fl6 wiae flätarmis (Fledermäuse)
ün lis wia3 rata. (Ratten)
23.
Almyasa, (Almosen)
stain em pyasa, (Busen)
lis ün krent, (Grind)
i pen a arm patalkhent. (Bettelkind)
24.
Nut (Not) preyt isa, (Eisen)
täs khäwiy (kann ich) tar pawisa ;
war mar tar knöpf net lüskaresa,
sa hat i^ en ti hösa ks . . . .
— 171 —
25.
S kbümt a jüt ke rita,
üfra (auf einer) tera khyai ; (dürren Kuh)
a ^ätal (Schwanz) h^i si kh^nar
ün ket to^ melix kanya. (genug)
26.
Fräi, khäifa nar (kauft ihr) päsa? — (Besen)
jü, khüma eri. (kommet herein)
han ar §ü tsmorja kasa? (zu morgen gegessen)
jü, forer a wil. (vor einer Weile)
ünsri khäfs h^t jür|i kamäyt,
femfatswänsik (25) en ainara nä^t,
en a älti tsain, (Korb mit 2 Handgriffen)
äwar si sen no)r klain.
27.
Jür)ar pürät (Bursche), les li türät,
ta wais net äp ta alt würs.
jÜTjar pya (Bube), Spar ti kyat, (Gut)
äsas tar (damit es dir) em ältar wül tyat.
28.
Hiruta (heirathen) es a hiaenarhys, (Huhnerhaus)
war tren e§, ta m^yt arys, (der möchte heraus)
war trüs e§, ta wel tri : (der will hinein)
häns, iy rütar (ich rate dir) l^tik ts pli. (zu bleiben)
29.
Tar äpak ün t Swärt,
sen fo ainara ärt. —
war s kläipt, würt sälik, (selig)
ün war en a mälsäk (Mehlsack) slüpft, würt malik. (mehlichl)
30.
Säja h^r, met Wram fräk,
khäifa mar toy a kholantar äp. (Kalender)
wan si sün päpirik (aus Papier) sen,
sen toy §^ni kseytla (Geschichten, Erzählungen) tren.
31.
Arpar, empar, krampar (Erd-, Hirn- und Heidelbeeren)
t sw^Stra han §^ni hampar, (Hemden)
t priaetar (Schulbrüder) lär^i khüta, (Kutten)
ün iy es (esse) kärn pfluta. (Klösen)
— 172 —
32.
MenStart^lar maitala, (Münsterthäler Mädchen)
-wiae mä)rS tan ty ti khäs? — (Käse)
i prüns a pesal ens khewala (dim. von Kübel)
iin trük a (drücke ihn) met am f^tala,
Irüm es rni khäs sü ras (scharf).
33.
Ts pÄwla (Bebeinheim) näwa tar post,
t6rt treY;t mar kyala (guten) most.
1s tsalaparik (Zellenberg) üf tar M (Höhe),
tert färja t wiwar (Weiber) lis ün fl6.
34.
Jüt, jüt (Jude) kapöra, (geboren)
hö§ s lo)f farlöra,
h6§ s wetar kfünta, (gefunden)
he§ s äna ekstain (Eckstein) kapünta.
la ät^s üntrama (stehst unier einem) rüsa^tok (Rosenstock)
im SteT;ks toy wiae a kaispok. (Ziegenbock)
35.
S k^t a manala ewars prekal, (über das Brückchen)
s hat a sakala (dim. von Sack) üf am pükal, (Bücken)
« stüst (stöst) an a pfosta. (Pfosten)
lar pfo§ta kräyt,
?» manala lä/t :
was würt täs wetar khosta?
36.
Hürik, (haarig) hurik, hürik es nel plüt. (kahl)
ün wan ta jüt nel hürik war,
sa kh^nt mar a pryya fer a lijfytpütssar ; (Lichtputz.<chere)
hürik, hürik, hürik es ta jüt.
37.
Ts näyt wan tar münt (Mond) sint,
tröpalls üf am prekal ; (dim. von Brücke)
tu fia^rt (führt) tar hänsal s kretal haim
ün ser,t (singt) am a nats stekal. (dim. von Stück =Lied)
tu pfift ti khyai, (Kuh)
ün tänst tar pär, (Bar)
t ösal ali trüma. (trommeln)
<ili mis wü wätal (Schwänze) han,
lerfa tsya tar hüytsit (Hochzeit) khüma.
— 173 -
38.
TreTjki, (trinke ich)
sa heYjki; (so hinke ich)
freyjki net, (nicht)
S9 heT)ki to^.
liaewar tret)ka (lieber trinken)
ün heYjka,
äs net trer^ka
ün ioy^ heiTjka.
39.
Tsepfel, tsapfal, sitaknola, (Seidenknäuel)
mi ßilar e§ a änetslar (Holzschneider) wora. (geworden)
ar §Detsalt mar a häs, (Hase)
ta k^t ens kriaena (grüne) kräs ;
terl §t6t a wisar semal, (weisser Schimmel)
ta fiaert (führt) mi en tar hemal. (Himmel)
wü i en tar hemal kyk, (gucke = schaue)
sewi (sehe ich) a piät fol syrkryt. (Sauerkraut)
tu khümt ti päs (Base) khatri, (Katharine)
ün Stfekt a §tek (Stück) spak (Spek) tri ;
khümt tar fötar frets, (Fritz)
metra (mit einer) piät fol snets; (Apfel- oder Birnschnitz)
khümt tar ütjkal märta, (Martin)
haist äli tsäma (alle zusammen) wärta ; (warten)
khümt tar pryatar stafa, (Stephan)
haist äli tsäma asa ; (essen)
tarnü (darnach) khümt äwar tar alt sämpatis (Johann-Baptist)
ün jäit (jagt) äli tsäma tsyam hemal nys. (hinaus)
M. Scherzfragen.
1.
H6§ tür§t? —
slüpf en a wür^t.
h^§ hürjar? —
slüpf en a kükümar (Gurke).
häs är^st? — (Angst)
klopf üf tar wäyjst. (Bauch)
hä5 hais? —
slüpf en a kais. (Gais = Ziege)
hfeS khält? —
slüpf en tar wält.
— 474 —
2.
Wet a p6r? — (Birne)
älüpf hent9r t6r, (Thüre)
wet prül? — Brot
tar p^k e§ tut.
"wet a khöst? — (Kastanie)
Stök t9r feTjar ens myi (Maul=Mund) ün böp tar tyma fö§t.
(und halte den Daumen fest)
3.
WisB hais? — (Wie heisst du)
häns kais.
wiae noy ? —
häns ploy.
wiaß me? — (wie mehr)
a sakala fol fi^. (Flöhe)
wiae wfenidr? — (weniger)
a khorp fol hernar.
N. Rätsel.
Hüy (hoch) wiae a hys (Haus)^
klain wiae a mys,
kriaen wiae kräs,
w4s es täs? —
rüt wiae plyat, (Blut)
nänet kyat; (noch nicht gut)
§wärt8 wiae a hyat, (Hut)
jäts es s kyat.
(Auflösung : Schwarzkirschen,)
O. Sprechübungen.
i.
Wan wäsar wi (Wein) war,
wü wota walSi wiwar wentla wasa.
<wo wollten welsche Weiber Windeln waschen.)
2.
Hentars hikals häkals hys, (Haus)
baiQka hüntart hdsa arys. (heraus)
hüntart häsa har^ka arys,
hentars hikals häkals hys.
3.
S t^ktap^t (Bettde<:ke) h^t fiaer ^k, (4 Ecken)
fiaer kk h^t s t^ktap^t etc.
XII.
Tar Th^welt ün s Törtal.
Gedicht in Völlerdinger Mundart
von
i. Dahlet.
Nach des YeHassers Diktat phonetisch geschrieben ^ von J. SPIESER.
±9 Th^wslt hän i/, älawil küt khend hän.
9r e§ fil en unser hys khüm, 9 tyssr man.
äün äs pü e§ ar net so kayklix kawän,
khän mätaSmäkar, khän tsepal, s nä^ts til fahäm.
ar wärt wöl ä als amöl üf ta fräiaräi sen käv] 5
ün katäT)kt hän yri tar säl : «so pesal ^ mens* müs mar hän».
1 Vgl. Jahrgang IV, S. 73 Anm. und V, S. 134. Eine Haapt-
schwierigkeit habe ich diesmal nmgangen, nämlich die Unterscheidung
der verschiedenen r, anf die ich schon bei den Zillinger Sprach-
proben, Jahigang V, S. 134, aufmerksam machte. Vor einem andern
Konsonanten klingt das r nämlich fast wie ein ganz kurzes a
(z. B. Törtal = Tö^tal); sonst, besonders deutlich zwischen zwei
Tollen Vokalen (z. B. höiräta), klingt es in Völlerdingen guttural,
doch nicht so deutlich, wie z. B. in Mackweiler oder in Adamsweiler.
In Dörfern, wo das gutturale r nicht üblich ist, nennt man die gut-
turale Aussprache des r «knerren> und sagt dann z. B., «die Völler-
dinger «knexren« auch, aber nicht so hart wie die von Mackweiler.»
< In Völlerdingen unterscheidet man durch die Aussprache mens
Geliebte(r) von mäns Mensch, Person.
— 176 —
nü ä\t, min Thewdit sint nim^ känts jüi;,
trüm sä ix am a-n-öwat : «ältarla, s war A päl j^ts tsit,
äs t9 fäa tar käs khäms en 9 äiani hysälteri ;
10 ty pe§ j^is khän fiis md, ün, fartsern ti^, net,
neks patr^ptsr üf tar wält, äs so a-n-ältar pü ;
em käntsa torf müs jo khän khü so alt sen wi ty.»
min fötar Thöwalt mä^l a prets trei öla lär) ts^rSt,
smiintsalt äwar päl ün sät : «käl, wän ta ä no/ l^tix wär§ !
15 nü, späs äpärt, wa§ mar äni ? mar müs sa tswait sen für en ta ^,
tar phära, wü äna aiän khopl^rt, tär läpt sün lär^ nim^.
ta hä§ wärlix rä^t, jets wärt* tsaneirja ä fr^ia käij;
war wärt mi^ äwar wela ? ix sen tar Thöwalt sün kär läirj.> -«
9 9 9
«wää ta, wi, khümpär, was a fray für tix war ?
20 s Törtal taheYia, ja täs es a mäns, wi six s hört,
hislix ün farsäfa, ä tsitix, kläw ix,
a pesal hör üf ta tsän, äwar a fray für tix-
les köt älawil so tsemparlix töbär,
so §6n, klät, öwa, äs wän s en trdt kahäv^kt war.»
25 ta änra-n-dwat §tMt six ^^^ Thöwalt en ta weks,
pütst, w6§t, ätrält six, tärjkt : «s fröwa kho§t neks» ;
9
nemt s härts en ta hänt, läfl ans käTjs tsüm Törtal hön,
ün, mör neks, tör neks, sät : (cwela mar mensara sen ?»
min Törtal wärt fir röt, s pfeialt krät ä' ma töx^!;
»0 wi s täs hört, köt s üf wi a fäsanäxtskhöxal,
pät§t en ; ty khäns s jö, s röt krät fän tar läwar.
low, wi sa jöts läxa, met um käntsa ksext wi a mäikhäwar!
an ta ärwat köt jöts min hoxtsitar met lüSt,
phift, serjt met hälar Stem, ys folar prüst;
85 wü ar köt ün §töt, hat ar s Törtal em sen ;
9
1e hän anänar kär, sen krät wi tswäi khen.
smets ket s kanük, e§ täs öpa släxt?
ün spetsa s myl tatsü wi a khü, wü nöx 9ra ärpör räxt.
9
sa sen mar nüma tsü törtix» ix was wöl, jör khen,^
40 äs ta hoxtsitara nin tä läv] plen mesa sen.
äwar so änfalti/, nä, hän ix niin tätasläwas neks kasin.
wän 8 nüma net Släxt ysfält ! ix kwel mix känts trüm,
1 Dieses unpersönliche Passivam ist in Völlerdingen und Dm-
gegend besonders beliebt, am einen Entachluss auszudrücken, z. B.
i^ts wärt häm kkr^^ cjetzt gehe ich (gehen wir) heim» ; hyt wiit en
t9 wUt kfär «heute fahren wir (fahre ich) in den Wald.»
2 j6r («ihr») khen («Kinder»), Art Interjektion, die auf den AIIg^
redeten nicht mehr Bezug nimmt
— 177 —
\'/^ hän sun kär t^k kasin, t^ phär törti^^a wü/a sen päl arüm.
95 ferkM älas, sniets ün ho/tsit ; s wärt a küti wil,
traf ijr amöl mina Th6walt met üma sepastil ; 40
ar löyt myksix tren, härjkt s myl wi a-n-61afänt ta resal,
ff
nä, iy^ wel net leia, ar mkyi a kse)rt wi a-n-ölfsy§esal.
mer wärt s häis ün khält, snäl fröw iy^: «wi k^t s tim w^iwal?»i
«so,» snürt tar Th^walt, ccänri hän jäts küt h^iräta^ i^ h ä n ta
t^iwal.»
Übersetzung.
Der Theobald und die Dorothea.
Den Theobald konnte ich immer gut leiden. Er kam viel
in unser Haus, ein stiller Mann. Schon als Knabe und Jüng-
ling zeigte er ein gesetztes Wesen, lief nicht den Mädchen nach,
war kein Hochmutspinsel, des Nachts viel zu Hause. Er wird wohl
auch zuweilen auf die Freierschaft ausgegangen sein und gedacht 5
haben wie Jener : «So ein wenig ein Liebchen muss man
haben. 1» Nun gut, mein Theobald scheint nicht mehr ganz jung,
drum sage ich eines Abends : «Alter Freund, es wäre jetzt auch
bald Zeit, dass du von der Gasse kämst in eine eigene Haus-
haltung ; du bist jetzt kein Füllen mehr, und, erzürne dich 10
nicht, es giebt nichts Betrübteres auf der Welt, als so einen Hage-
stolz ; im ganzen Dorf muss ja keine Kuh so alt sein wie du.:»
Mein «Vetter Theobald» verzieht den Mund drei Ellen lang
zuerst, schmunzelt aber bald und sagt : «Nicht wahr, wenn
du auch noch ledig wärest ! Nun, Spass beiseite, weisst du 15
mir Eine? man muss zu Zweien sein, um in die Ehe zu treten,
der Pfarrer, der Einen allein traut, lebl schon lange nicht mehr.
Du hast wahrlich recht, jetzt gehe ich eigens auch freien ;
wer wird mich aber wollen ? ich bin «der Theobald» schon gar
lange. 9 — «Weisst du wie, Freund, was eine Frau für dich 20
wäre? Die Dorthel dahinten, ja das ist eine Person, wie sichs
gehört, sparsam und fleissig, auch reif, glaube ich, ein wenig
Haar auf den Zähnen, aber eine Frau für dich. Die geht immer
so zierlich einher, so schön, glatt, eben, als ob sie in Draht
gehängt wäre.» Den andern Abend stellt sich mein Theobald 25
in den Wichs, putzt, wascht, kämmt sich, denkt : «Das Fragen
^ «wMw9l> hier für das gewöhnliche «wiw^l».
• •>
1 .Ä
— 178 —
kostet nichts» ; nimmt das Herz in die Hand, läuft stracks
zur Dorthel hin und sagt ohne weiteres : «Wollen wir ein
Pärchen sein?» Meine Dorthel wird feuerrot, sie bügelt gerade
80 an einem Tüchelchen ; wie sie das hört, geht sie auf wie ein
Fastnachtskrapfen, schlägt ein ; du kennst sie ja, sie spricht
gerade von der Leber. Schau, wie sie jetzt lachen, mit dem
ganzen Gesicht, wie ein Maikäfer ! An die Arbeit geht jetzt
mein Bräutigam mit Lust, pfeift, singt mit heller Stimme,' aus
35 voller Brust ; wo er geht und steht, hat er die Dorthel im
Sinn; die lieben einander, sind gerade wie zwei Kinder. Küsse
giebts genug — ist das etwa schlecht? und spitzen den Mund
dazu wie eine Kuh, die nach einer Erdbeere reicht. Sie sind
40 mir nur zu vernarrt. Ich weiss zwar wohl, dass die Hoch-
zeiter neun Tage lang blind sein müssen. Aber so einfaltig,
nein! habe ich mein Lebtag nichts gesehen. Wenn's nur nicht
schlecht ausfällt ! ich quäle mich ganz darum, ich habe schon
oft gesehen, die paar Liebeswocheri sind bald herum. Es ver-
geht Alles, Küsse und Hochzeit ; es währt eine gute Weile, da
45 treffe ich einmal meinen Theobald mit einem Schaufelstiel ; er
schaut mürrisch drein, hängt den Mund, wie ein Elefant den
Rüssel, nein, ich will keine Unwahrheit sageU; er macht ein
Gesicht wie eine Elfsouschussel. Mir wird's heiss und kalt,
schnell frage ich : «Wie geht es deinem Weibchen?» — «So,»
schnauzt der Theobald, «Andere haben jetzt gut heiraten, ich
habe den Teufel.»
XIII.
Mundartliche Dichtung,
'Wie guet mer's in der Heimet het.
Strassbarger ^ Mundart.
*s isch doch in der wite Welt
Niene,' niene besser bstellt
Für min Herz unn mine Fridde,
Als in miner Heimet Midde
*8 Fremdland het kein Maetterherz,
Wät^s an rieh an Gold unn Erz,
Tbät au drinn Champagner fliesse.
Süess wie Nektar ze geniesse.
Prosit! doch zell- Kriedeland
Isch nit schön wie's Heimetland.
Unn min Elsass pflanzt au Rewe.
Die ganz edli Triewel^ gewe;
Muschketeller unn Traminer,
Wo ze Land sinn d'Sorte finer?
Zwische Wasgau, 111 unn Bhin
Wachst für uns en Extrawin.
^ nirgends.
2 zell-jenes.
3 Trauben.
— 180 —
Der gibt Kraft, an frisch ze wandre
Von eim Wasgaathal zaem andre.
Unn wenn um de Mittda heisB
Von der Stirn i wisch de Schweiss,
Schöpf i mit der hohle Hand
Mier e Trank am Qaellerand.
Wie e Kind thüet's mi gelüste,
*s isch wie Milch von Maetterbrüste.
Macht mer frische Wandermaet,
ünn i grif zue Stock nnn Huet,
Unsri Berri ze durchstreife,
Statt in dVit wit Welt ze schweife.
Geht e Frind, e Landsmann mit
Arm in Arm unn Schritt für Schritt^
Sinn mer doppelt gueter Dinge,
Dass mer hell e Duo singe
Unserm schone Land zen Ehre
ünn ze Wett mit Vöjelchöre.
Ach im Fremdland, wills mer schiene.
Sehn mi dXit mit schiefe Miene,
Sieht mi mancher Diebskumpan
Gar mit falschen Auen an.
Hie ze Land ufF alle Weje
Kumme Landslit eim ergeje;^
Wo i geh mit flinke Füesse,
Thuen sie mi gar frindli grüesse
In der liewe Muettersprooch.
«Grüess euch Gott! rueft Mancher nooch^
Fröjt mi: Gehn er au spaziere?
Tapfer können ihr marschiere;
Bhüet üch Gott! heisst^s noch emol,
Lewewohl unn schlofe wohl !>
Solch Gemüet henn unsri Lit,
Biete gern enander d^Zit.*
s'isch, als war mer bi Verwandte,
Unter lüter Altbekannte.
So isch^s wie am Wasgau hüwwe.
Au bim Noochber Schwarzwald drüwwe.
Kehr' i von der Wandrung widder,
Lai i mine Reisstock nidder,
Süech i uff der Heimeterd
Rüej an minem eijne Heerd,
^ entgegen.
2 d. h. grüssen je nach der Tageszeit: «guten Morgen» bis «gvte
Nacht I
— 181 —
O wie wohl thüets, wenn mit warme
Willkamsgrüesse mich umarme
Treni Seele, Frau ann Kind,
Oschwister, Nochbre, gaeti Frind!
O wie ich^s eim wohl ze Mneth
In der Heimet sichrer Huet !
Yivat, Vivat unser Ländel !
Jo, mer hewwe's fest am Bändel
Unn mer lon's nit — Gott bewahre!
Lon^s bis in de Tod nit fahre.
Winkt am End der Tod zaem Grab,
Nimmt er uns de Wanderstab,
0 wie tröstet noch de Kranke
Bi^m Verscheide der Gedanke:
In der Heimet Muetterschooss
Rüejt^s Gebein — o seli's Loos —
Newe Brüedre wohl geborje
Bis am Uferstehungsmorje,
Wo mer alli — Gott mög's gewe —
In der ewige Heimet lewe!
Adolf Stöber.
Urwes.
Erinnerung.
Wie schön, wie wunderschön isch's gsi!
Wie vielmol denk ich zruck derthi,
Jctz, an die Orte-n-alle!
Job bi dr ganze Tag im Thal
Un uf de Berge, iweral
Wo^s mir so güet hat g'falle!
0 d* «Krone> die steht vor mim Sinn,
Wo^s so güet zVohne gsi isch drin!
W^er kännfs vergesse numme!
£-n-Amslechor, im Wald versteckt,
Hat mich am Morje frieih verweckt,
Wenn als dr Tag isch kumme
'S Läufbrinnle das hat plätschert dus;
Un was e Lewe, was e Gnuss
Die frische Bergluft z'gniesse,
Un z'säh wie d'Sunne, warm un güet,
Mit ihre goldene Strahle thüet
'S Thal wieder froh begriesse.
— 182 —
Ich sieh dr Hirt, derno, wo knniit,
So, in dr frieihe Morgestnnd,
Ku z^drüdle voller Freide,
Sieh d^Heerde mit de Glocke-n-a
Dr Weg züem steile Berg ischla
Wo sie dmf sin geh weide.
^S Herz hat mir gUacht als in dr Brut»
Vor lüter Freid, vor lüter Lust,
An so me schöne Morje,
Wenn ich dar Berg nn Thal demo
Als nmmegstreift bi, dert, so froh
Un frei vo alle Sjrge
Ün bi-n-ich mied nn matt als gsi
So ha-n-ich mich nur blos derthi
Ins weiche Miesch lo sinke;
Un wo ne Waldbach g^flosse-n-isch
Im tiefe Schatte, klar nn frisch
Dert bi-n-ich als geh trinke.
Frei wie dr Vogel nf em Feld,
Was ha-n-ich in dar Wunderwelt
Verlebt fir schöne Stunde !
Un alles das isch jetz scho wit.,
Se-n-isch, fir mich, die schöne Zit,
As wie ne Träum ve Schwunde.
A. Lustig.
— 183 —
Der Pankraiz-Da
oder
e Thee-Owen am Wasserzoll.
Schwank in einem Akt
von
Ezml Oberthür.
Aufgeführt 1887 zum Besten der Ueberschwemmten an der Ostsee.
Sceoe stellt eine Stube vor, in der Mitte nach links ein Tisch, nach
rechts StQhle, Hintergrund ein Kamin, Fiscberei-Gerftte.
PERSONEN:
Fankratz Bottelmeier , Rentner, ehemal. Fischer.
Käthd, seine Frau.
Augustinelf Cousine von Rottelmeier.
Schängd, Schusterlehrling, Nefife von Rottelmeier.
1. Scene.
Schängel (eintretend) : Gute Da bisame ; ah ! sUsch Niemand in der
Stnb, d' Dande isch allewei e Bissei in's Nochbers gang e
für ze retsche. Es isch hit mim Unkel Pankratz sin
Namesda un do hawi em für e Sürpris, zwei neui Riester
un Flek uf sini Schue gemacht mit denen Er so manchi
Jährle uf eni Fischmärik gestanden isch.
D^ Ar weit isch so schön, e wohrs Meisterstück, so
dass der Meister gsat het : Wenn i in minere Kunst so
Progrds fürt mach, ze losst er mi bal für d'Bradik riestere
un versohle.
Jetzt mues i awer mache dass i s* Pech kauf für zwei
Su, sunst macht mer d' Meistere e riemlichen Empfang
(Geste).
Die Bottinele mues i halt ines verstecke bis am
Firowe — awer wohin (sucht) — aha ! do in die Marmit,
die wurd hit doch nim gebrücht, do stehn sie sicher.
(Stellt die Schuhe in den Topf und geht ab.)
IL Scene.
Käthel (mit einem Korb am Arm eintretend) : I sa jo, s'isch e wohrer
Malefitz mit dem Retsche, mer kriit so Litt nimmi los,
do Ion sie eine nit emol zum Wort kumme. Awer wenn
ich emol angfange hab, soll sich au keine unterstehn
mer nin babble ze welle.
- 184 —
Wo isch denn der Pankraiz ? a ja, der isch jo schon
zitier Mitta fart far ebs ze hole far in de Thee wo i
hit gewe will für sine Namesda, er blibt lang, d' Bake
wohne doch nitt so witt.
Er ward halt wider e Basleda g^fonde han.
Fruier bin i als froh g'sinn, wenn min Alter e gute
Fischmärk het g'het un or mer e Fränkel extra g'stupft
für e gute Kaffe ze bruttle un Wecke derzu ze serwire.
Zitter dass mer awer den Unkel üs Afrika g'erbt han,
min mer au mache wie d^ vornehme Litt nn Thee drinke,
au wenn mer nit krank isch (Es klopft.) Entrez.
III. S c e n e.
Augustind: Outen Owe, kumm i noch recht?
Käthel (für sich) : Die hetts nitt erwarte kenne, (laut) Ah dis isch
schön vun dir, Cusin, dass de doch in der Zitt kummst,
um so meh, da£s i doch dine G'schmak im Theeki eben
consultire mögt, lei nur ab, mach ders bequem, derwilst
will ich de Thee uf stelle.
Augustinel: Wo isch denn der Pankratz, dass i em de Namesda
wünsche kann.
Käthel: Er mues jeden Auesblick kumme. (Macht Feuer unter den
Topt uud ihut verdchiedeue Taten hinein leeren.)
Augustinel (die Stube musternd, für sich): Ja do isch alles im Floribus;
natürli wenn mer halt so en Unkel erbt, wo der Mann
nit kenne het brüche, na, na Prankratz : Was mer nit
weis, gibt eim nit heiss.
I mein mer riecht ebs.
Käthel: Gelt mer riecht ne scbun, i hab Tun der erste Gewalifät
genumme ; I mein mer könnte ne versueche. (Stellt d»
Topt auf den Tisch, sie versuchen.)
Augustinel: Gut, fin, extra! awer i mein fast, es fehlt doch noch e
Kleinigkeit: isch er denn au genu g^salze?
Käthel: Do hesch du recht, er schient mir au e Bissei lies, dem
kann mer abhelfe (holt Salz).
Wenn du als Thee kochst, machst du au Pfeffer
dran?
Augustinel: (pathetisch) Awer Cüsin.
Mer sieht dass du nitt üsere vornehme Famili stammst;
^ merk der diss : dass in der Pankratzische Rottelmeierische
Famili, Niemols Thee gekocht isch worren ohne Pfeffer.
Käthel (holt Pfeiler und tbut die ganze Schachtel in den Theej •
So isch au Pfeffer dran und genue. Wie schmekt er
jetzt ?
Augustinel: Pikant isch er genue, exellent schmekt er. awer, i weiss
nit, e Bissei meh Arom dät em nix schade.
— \m —
KätM: Do heach dii recht, (lacht] uatarli was em de liebliche
angenehme Gschmack soll gewe, d'Hanptsach am e Thee :
d^Ziwle and de Knowli haw i vergesse, (thut Zwiebeln und
Knoblauch dazu] so, alles isch jetzt dran :
Rosinen, Erdmandeln, Essi^ Bäredrek, Nestelmehl
Malsextrakt, Zacherlpalver an Lawendelkrat, mer Ion
ne jetzt noch e Wiel anzeie, en asez-voas? [hält die Dose
hin und diese läilt m den Toptj
Zitier kämmt der Pankratz heim, i mein i hör ne
d^Stei eraf holdere.
IV. S c e n e.
JPankratz (trägt ein Garosack mit Flaschen, ist angeduselt) : Ah, schöne
gaten Owe! s macht mer Fread s Augüstinel bi es ze
sehn, wie geht^s denn, liewi Alti ?
Augüstinel (scbuippischj : Alti, dis find i aw^er nit galant Wenn mer
so wie ich in de beste Johre steht und d^ Ehr het ghet
bim Guteberifest anno 1840 als Engel Amor ze figürire.
(Holt einen Strauss] : Nixdestowenicr wünsch i mim liewe
Vetter viel Glück uf sine Namesda an hab em zen Ehre
e kleins Gedichtel von 82 Versle gemacht, diss i em jetzt
af hochditsch hersaue will (entwickelt ein langes Papier).
(Pathetisch) :
Heute ist dein Tag erschienen,
Heiliger Pankratias :
Nimm von Jungfrau Augustine
Diesen Strauss und einen Kuss.
Pankratz : Na, na, nur nit so zärtli, s' Guteberifest isch schun lang
erum, un der Jungfrekuss isch schun lang abgerisse.
Käthel: Zei, Alter, mach dem Gespräch jetz en End un loss sehn
was de gebrocht für in de Thee, Köielhopf, Tart, Wecke
oder Brettstelle.
No gibscht awer au d^Münz vura Zwanzigmarkstückel
wo i der gewe hab, ze wechsle.
Pankratz : I hab eietli selber nit gewisst, was mer in so e Thee
nin macht, no bin i zu mim gute Frind gange, der Fritz
wo als Trumpeter bi de Cürassier isch g^sin un hab dem
mini Noth geklaut; der het mer glich g^holfe, s' schint
dass sie bi dem sin Rejement viel Thee gedrunke han,
der het gewisst was derzu g'hört. ^o sin mer uf den
Achat üsgange, mer han awer viel prowire un versuche
min, um nit d' Katz im Sack ze kaufe (pakt die Flaschen
aus). Do han mer e mol e Budel Rhum de la Jamai'que
US der Langstross un do eini üs em Bungewehr, do isch
e Cognäkel -^ e Kirschewasser, en echts, wie si^s vun
Berlin us in de Schwarzw^ald schicke, e Quetschelwässerle.
s' Wasser isch ganz rein dran, un e Büreträwerle —
un noch für d^ Madame e Gläsel süsses, e M61e-Cassis.
— i86 —
Käthel : Awer dis isch jo nix als Schnaps, mer sieht halt in
weller e Gsellschaft du gewese bisch.
PankraU (aufgebracbt) : Scharrnibeldecoton ! Sa mer nix awer mini
Gsellschaft Wenn die an gern de Thee e Bissei krSftig
drinken nn ihri Kumplemente als schiffisch üsfalle, weje
dem sin's doch brayi Litt nn schlat nen e ehrlis gnts Herz
im Lieb nn sin allewil bereit im Unglück bizestehn mit
Roth nn That. Wie mancher Pfntscher het schon sin
eies Lewe reskirt fnr dis ynn sim Newemensche zn rette^
frön emol mine Kolege den alte Stanffert Jakob.
Augustind : A propos vnn Unglück. Ich hab g'hört, dass wit, wit
von hie, widersch noch als Wanzenan. isch e grossi
Uewerschwemmnng g^sin, wo viel Litt ertmnke sin nn
Vieh ze ürnnd isch gange, nn viel armi Litt ihr Bissei
Hab nn Fahrt Terlore han — nn wenn denne nitt g^holfe
dät wäre, wäre sie im allergrösste Misär nsgsetzt; nm
dis ze vermeide wnrd jetzt allethalbe g^stirt — doch do
nit jeder sini Paar Nikel direkt hinschicke kann, han
sich hochi mlldthätige Persone d*mm angennmme nn han
Sammelstelle ingericht, an wellen an d'kleinst Gab dankbar
angennmme wnrd.
Wie wärs, wenn mer nnseri Namesdafihr dnrch e
Wohlthat däte verherrliche nn jeder an ebs bistire dät ?
(Pankratz kommt in Verlegenheit.)
Käthel: Ja, dis welle mer dnn, no knmmt an noch nnser Name
in d' Zitnng, dis isch schön. (Fflr sich] : I hab so mine
Name no nie gedmkt gelese.
Pankratz (für sich] : Ja wenn i dis gewisst hätt, hätte mer dis letzt
Schöppel nimm gepakt.
(Laut] : Angnstin kannst du mer e Zehnmarkstnckel
wechsle.
Augustinel: Wer wnrd denn so viel Geld bi sich han in dene gefährliche
Zitte.
Käthel: Alo, Alo, lei ebs derzn, dnmmel di, do isch schon e
halbs Märkel.
Augustinel: Un ich gib 20 Pfenni.
(Endlich findet Pankratz einige Pfennige in verschiedenen Tascheol
PankratB (grossartig) : Wenn's für ne Wohlthat isch, do gib ich
ungezählt.
Augustinel: Ach wie viel ! mer wellen e mol zähle : 50 — 70 — 1,
2, 3, 4 ... ; total 77 Pfenni.
Dis ungezählt vom grossartige, nfgeblosene Herr
Pankratz isch werzina nit viel g^sin. 7 Pfenni.
Pankratz: Na, besser e Mü6 im Krnt als gar ken Fleisch, nn les
petits rnisseanx fönt les grandes rivieres.
Käthel: Do hawi e Tässel ingschenkt fnr extra, no schitte mer
e Schupf voll Wasser noch, no rufe mer erst nnseri in*
geladene Gast vum zweite un dritte Stock an derzn«
(Sie trinken, husten, halten sich den Bauch u. s. w.)
— 187 —
V. S c e n e.
Schängel (tritt schnell ein, springt Pankratz an den Hals) : Liewer Unkel.
i kämm für der dine Namesda anzewüasche. — Na, was
isch denn, wnram grinen er All! r— isch ebbe d^ Meiss
fort g'flöue, oder s' Dissele verreckt ?
Panhratz: Los mi gehn mit dim Namesda, lang dn nns Oejegift!
[Der Schängel langt eine Schnapsflasche, sie trinken und be-
ruhigen sich.)
Schängel: Tante, hesch da min Present an g^fnnde wo ich in der
Marmit versteck elt bab g^het.
Käihel (lauft an den Topf und zieht die Schuhe und die Dose heraus) :
Jetzt nimmt^s mi niYnm Wunder, dass unser Thee e so
e Gü het ghet
Schängel : Was Thee, a ja so, Tante, wie i durch d^ Langstross bin
gange, het mer der ^picier gerufe und het gsaid: do
Schängel, bring dinere Dande dene Thee, wo sie hit
kauft het un iwerm Retsche uf em Kuntwar leie het Ion.
do isch er.
(Käthel steht traurig still.)
Pankratz: Na Alti, kumm, bruchsch hit, an mim Namesda nit trüri
ze sin, mer wellen es doch noch amüsire, mer gehn in^s
Kasino in d^ Kinderspielgass, dort gibt der Nautisch
Verein, wo ich membre associ^ bin, und d' Müsikgsellschaft
Einigkeit e lustigs Fest au profit vun den Uewerschw emmte,
do traue mer unseri 77 Pfenni au hin, un ich autorisier
dich^ noch e Märkel derzu ze leie.
Käthel: Jo, do gehn mer hin, no regalir ich dort e Thee, un
wenn er nit besser usfallt als miner, zen isch dismol min
Geretsch nit schnldi dran.
Alli — in's Kasino.
XIV.
AlliUeration, Assonanz nnd YergleichungeB
in der Zornthaler Mundart
von
Dr. Hans Lienhart.
Uie Allilteration , d. h. der gleiche Anlaut der Haupt-
begriffe innerhalb einer syntaktisch oder metrisch zusammen-
gehörigen Gedankenreihe, ist der Träger des Verses in der
altgermanischen Poesie; allein mit der Einführung des Rei-
mes in die Dichtkunst im Ausgang des 9. Jahrhunderts unserer
Zeitrechnung hat dieselbe rasch an Bedeutung verloren. Im
mittelhochdeutschen Zeitraum hatte man freilich noch Gefallen
^n allitterierenden Versen, auch mochte man damals noch den
Reiz derselben empfunden haben — hat doch Gottfried von
Strassburg, der bedeutendste elsässische Dichter aller Zeiten,
floch zu Anfang des 13. Jahrhunderts in seiner berühmten
Epopöe «Tristan und Isolde» in ausgedehntem Masse Gebrauch
davon gemacht. In neueren Dichtungen bedient man sich der
Allitteration in der Regel nur noch dann, wenn eine gewisse
Lautmalerei beabsichtigt v^ird.
Auch die altgermanische Rechtssprache weist eine
ungemein grosse Zahl von stehenden Formeln in allitteriei^ndem
Gewände auf; sie sind meist zweigliederig und gehören be-
grifflich entweder derselben oder der entgegengesetzten Sphäre
an, und in svntaktischer Hinsicht stehen sie zu einander in
— 189 —
dem Verhältnis der Koordination. Jakob Grimm hat dieselbei^
aus alten Gesetzen und Urkunden gesammelt und in seinen
cDeutschen RechtsalterthümernD nach bestimmten Gesichts-
punkten zusammengestellt.
Auf dem elsässischen Sprachgebiet sind mehrere dieser
alten Formeln bis auf den heutigen Tag in lebendigem Gebrauch
erhalten, und manche andere hat die schöpferische Volksphan-
tasie in Anknüpfung an irgend einen Vorgang im täglichen
Leben neu geschaffen. Im folgenden sollen einige AUitterationea
mitgeteilt werden, die mir häufiger im mittleren Zornthal be-
gegnet sind.
a) Substantivische Allitteration.
1. sem himal ün häl f6rs*tfel9. einem Himmel und Hölle vor-
stellen, eindringliche Vorstel-
lungen machen.
2. hys ün höft farli^ra. Haus und Hof verlieren.
3. {fen9 fön hyt ün hür niks einen von Haut und Haaren,
önkän. nichts angehn, in keinerlei
Vervvandtschafts Verhältnis zu
ihm stehn.
4. lÜTQ-a-law9r rüfkhötsa. Lunge und Leber heraufkotzen,.
sich sehr heftig erbrechen
müssen.
5. 9r hfet khfen ryoBy ün khfen er hat keine Ruhe und keine
ras t. Rast.
b. s'änt-a-s*pöt metcibm 9rlaw9. Schande und Spott mit einem
erleben.
7. «m t9 höft f9rsViw9 met einem den Hof verschreiben^
s*ef ün ks'er. testamentarisch zustellen, mit
Schiff und Geschirr.
8. s es* setj ün s ot t9fer. es ist Sünde und schade daför.
9. s'läk f9r s'läk. Schlag für Schlag.
10. tu es* khän sHüpf9l ün khön da ist keine Stoppel und kein
s't^l m6 tS9 sän. Stiel mehr zu sehn.
4 1 . pi äl9m went ün wat9r ny- bei allem Wind und Welter
sek9. hinausschicken.
12. tes es* 9 k9wes*p9ls ün 9 das ist ein Gewispei und eii>
k9was*p9ls ! Gewespel !
b) Adjektivische Allitteration.
1. feks-9-fferti. fix und fertig.
2. frei-9-fräY)k. frei und frank.
3. fres* ün fräsi. frisch und gefrässig.
— 190 —
4. ha^itar hal tcfe. heiterhell Tag.
5. krien-a-käl s'ldfeyja. ^rün und gelb schlagen.
i). leti ün lüs. ledig und los.
7. niks tsa li^p ün niks tsa nichts zu lieb und nichts zu
Iseit. leid.
8. plüt ün pler^. bloss, unbeGedert, unbehaart
und blind.
9. plüt ün pl^sli s't^n. bloss und blösslich stehn, auf
der Kippe, in labilem Gleich-
gewicht stehn.
10 s'tif ün sHräk. steif und strack vor Kälte oder
Erstarrung.
11. s es' mar wela-n-a wo. es ist mir sterbensweh.
c) Adverbiale Allitteration.
1. ^wa-n-ün öwa. eben und eben, soeben.
2. pants e7)a, pants öwa. Bentz unten, Bentz oben.
3. hen-at-här. hin und her.
4. üm-at-üm, ümastüms. um und um, überall.
5. üf-a-n-ö. auf und ab.
6. ys-a-n-er^. aus und ein.
7. h^n es* h^n. hin ist hin.
8. känts-a-kör nit. ganz und gar nicht.
d) Verbale Allitteration.
1. ar bot s farröt ün farhseisa. er hat es verredet und ver-
heissen , auf das allerbe-
stimmteste erklärt, dass . .
2. tu es' mar farkhceyft ün da ist man verkauft und ver-
farlöra. loren.
3. met ta fremta Uta es* mar mit den fremden Leuten, Dienst -
ps'esa ün pairdeyja. boten, ist man beschissen
und betrogen.
4. tu lipt ün lapt älas. da leibt und lebt alles.
e) Zasammenaetznngen. '
1. khätsakrdey. kalzengrau.
2. kolkäl. goldgelb.
3. khelakäl. quittengelb.
4. krdskrien. grasgrün.
— 191 —
5. pletsplcey, wy t kar^s en t blitzblau, w\e die Gänse in die
pax s*is9. Bach scheissen.
6. rüsarüt. rosenrot.
7. wd^yjawit öfa s*t6n. wagenweit offen stehn, so weit
da SS ein Wagen durchfahren
könnte.
8. wüntarswäja. Wunders wegen.
2. Asuonanz.
Die Assonanz ist die Vorstufe des ausgebildeten Reims;
sie beruht auf dem Gleichklang des betonten Vokals derjenigen
Wörter, die mit einander gebunden werden sollen; die nach-
folgenden Konsonanten kommen dabei nicht in Betracht. In
der älteren Prosa sind die Beispiele seltener als bei der Allit-
teration^ und das gilt auch für die Folgezeit : die Assonanz ist
überhaupt nicht so volkstümlich geworden wie die Alliteration.
Immerhin aber sind in unserer Mundart einige Fälle vorhanden :
1. föl, äwar nit töl. voll, aber nicht toll.
2. tu es* äles awak, hür-a- da ist alles weg, Haare und
pütsa. Butzen, d. i. Gehäuse des
Kernobstes.
3. kalt rarjiert t wall ün ter Geld regiert die Welt und der
täeifal t lit. Teufel die Leute.
4. BT khän nem k^n ün nem er kann nicht mehr gehn und
s'ten. nicht mehr stehn.
5. je kremar, je s'lemar. je krümmer, je schlimmer.
6. niksältsa üniks'mältsa nicht gesalzen und nicht ge-
schmalzen, ohne Fett.
7. se hän älas rümpf-a-s'tümpf sie haben alles, Rumpf und
üfkfrasa. Stumpf, aufj^efressen.
8. ryt-la-pytik. frz. toute la boutique, alles
insgesammt.
9. üf s'tai-a-wäi nüyken. auf Steg und Weg nachgehn.
10. hent kfrirt s'tabn-a-pain tsä- heute nacht friert Stein und
ma, sü khält es' s. Bein zusammen, so kalt ist
es.
1i. tu khent mar s'tarwa-n- da könnte man sterben und
ün fartarwa, s tat khen verderben, es thät' kein Hahn
hön tarnüx kräja. danach krähen.
3. Vergleichnng.
Ein Veigleich in prägnanter Kürze ist oft trefl'ender und
wirkungsvoller als eine ausführliche Beschreibung oder eine
— 192 —
genaue Schilderung des Gegenstandes, über den man etwas
mitzuteilen hat. Dem einen sagt diese, einem anderen jene
Art mehr zu : das hängt neben stilistischen Neigungen und
Liebhabereien wesentlich ab von der Fülle sprachlicher Mittel>
über weiche der Sprechende oder Schreibende verfügt. Wer
auf einer hohen Stufe geistiger Entwickelung steht, wird gern
erschöpfend über seinen Gegenstand sprechen und ihn von
allen Seiten zu beleuchten suchen ; der gewöhnliche Mann
aber mit seinem Dialekt ist ausgeschlossen von dem höheren
geistigen Leben seiner Nation, der Kreis seiner Anschauungen
ist em enger und beschränkter, seine Bregrifle reichen kaum
über die Grenze seiner alltäglichen Lebens- und Beschäflig^ungs-
weise hinaus, und daher spielt auch der kurze Vergleich in
seiner Unterhaltung eine so hervorragende Rolle: in eineai ab-
gerundeten Bildchen kann er vergleichsweise mit wenigen
Worten sein Urteil abgeben in einer Form, die er vom Vater
ererbt hat, und die wieder ebenso stereotyp auf seine Kinder
übergeht.
Das Bild verleugnet in der Regel den Boden nicht, auf
dem es entsprungen ; oft ist demselben in gar zu anschaulicher
Weise der Stempel des Derben und Naturwüchsigen, gelegent-
lich sogar das Niedrigen und Gemeinen aufgeprägt; aber, so
viel ist sicher, eine absichtliche Kränkung ist bei dem meist
harmlosen Charakter der Bewohner unseres Thaies dabei nicht
vorauszusetzen. Vielen der Vergleichungen liegt ein ge-wisser
satirischer Zug zu Grunde, das gilt namentlich von der grossen
Menge derjenigen, welche sich auf den Menschen, seine körper-
liche Gestalt, seine Thätigkeit und seme inneren Eigenschaften
beziehen.
Der menschliche Körper.
1. d khöpf wy 8 sesHar. ein Kopf wie ein Sester, ein
dicker Kopf.
"2. 9 khöpf wy a khitar sü rüt. ein Kopf wie ein Täuber so
rot.
3. 9 satal wy a kykalhön. ein Schädel wie ein Göckelhahn.
4. 9 khepfal wy a s*patsal. ein Köpflein wie ein Spatzlein.
5. ta pys'a sHfela wy eps pös. den Buschen (die Haare) stellen
wie etwas Böses.
6. k^kla wy saltspeksla, wy Guckein, Augen, wie Salzbüchs-
pflyarätla. lein, wie Pflugrädlein.
7. ter mäj(.t a phör cpyja wy der macht ein Paar Augen wie
eps p6s. etwas Böses.
— 193 —
8. lyceyja wy eps p^s, wy a lugen wie etwas Böses^ wie
rnörtar. ein Marder.
9. 9 nös wy 9 khümpf. eine Nase wie ein KuAipf, Wetz-
steinbehälter.
dO. 9 s'nütalnös wy 9 wals'hön. eine Rotznase wie ein Welsch-
hahn.
11. 9 myl wy 9 hdls*y9x. ein Maul wie ein Holz^huh.
12. päk9 wy melix ün plydet. Wangen wie Milch und Blut.
13. 9 phor pakl9 wy 9 pfif9r. ein Paar Bäcklein wie ein Pfei-
fer, dicke runde Backen.
14. tfer hH äwer rüti päka ! — der hat aber rote Backen I —
ja, wy s khatS9l et)9-n-äm Ja, wie das Kälzlein unten
pyy. am Bauch.
15. yssän wy tar tut. aussehn wie der Tod.
16. pliej9 wy 9 rfis. blühen wie eine Rose.
17. 9 hals* wy 9 s'fifer. ein Hals wie ein Stier, ein
dicker Hals.
18. 9 hals9l wy 9 s'palS9l. ein Hälslein wie ein Spätzlein-
19. 9 pük9l wy 9 s'ülts. ein Buckel, Rücken, wie eir>
Schulze.
20. 9 knyp9 wy 9 fys't, wy 9 eine Anschwellung wie eine
hifenOTsbi, wy 9 karjsaei. Faust, wie ein Hühnerei, wie
ein Gansei.
21. 9 pyx wy 9 trüm, wy 9 ein Bauch wie eine Trommel,
tsäpf9pet9l. wie ein Zapfenbottich.
22. 9 phör arm sü tek wy min ein Paar Arme so dick wie
s*aT}k9l. meine Schenkel.
23. arm wy wespabm. Arme wie Wiesbäume, Winde-
bäume.
24. narf9 wy soBywat9l. Nerven wie Sauschwänze.
25. pär9tüp9. Bärentatzen.
26. \är hH 9 phör pres't wy 9 ^er hat ein Paar Brüste wie
wipsmens*. ein Weibsmensch, wie eine
Frau.
27. 9-n-örs' wy 9 wän. ein Arsch wie eine Wanne,
Getreideschwinge.
28. fat wy 9 soey, wy 9-n-öl, fett wie eine Sau, wie ein Aal,
wy 9-n-öks. wie ein Ochse.
29. t^r es* sü fat was em en der ist so fett, was ihm in die
t hyt netj M, Haut hinein geht.
30. tfer es* sü fat, 9r s^t fäs*t der ist so fett, er sieht fast
nem tsy9 t9-n-deyJ9 rys. nicht mehr zu den Augen
heraus.
31. tek wy 9 s*tüwöf9. dick wie ein Stubenofen, hoch-
schwanger.
13
— i94 —
3^2. ter wy 9 s*it. dürr wie ein Scheit, Holzscheit.
33. i^r es' sü ter, mar khänt der ist so durr^ mager, mau
na fös*t 6ntseiQa. könote ihn fast anzünden.
34. ksünt y/y B-n-^iyißl. gesund wie eine Eichel.
35. töm es* sü wöl wy ema fes* deip ist so wohl wie einem
em wäsar. im Wasser.
36« s es* mar liätarli wy ema es ist mir liederlich wie einem
hünt. Hund.
37. tes es' äwar a kharal, a das ist aber ein Kerl, ein heller
halar äbi^pc^m ! Eichbaum !
38. khym trei khäs hü^. kaum drei Käse hoch.
39. w6sa wy a jüniQar hunt. wachsen wie ein junger Hund.
40. t^r wöst et)ars*i wy ta m^ der wächst unter sich wie dei-
rati. Meerrettich.
41. s*t6rik wy a herkhyl. stark wie ein Herkules.
42. ter h^t nil m^ krefta äs der hat nicht mehr Kräfte ab
min klabnfeiQar. mein Kleinfinger.
43. ryslyd&yja wy a ks*t6xani herauslugen wie eine gestochene
kafeis, wy a s*nitar, wy a Geis, wie ein Schneider, wie
mys ys ara wal s*tru. eine Maus aus einer Welle
Stroh.
44. lydeyt sü ni^tar wy a fr^s*. lugt so nüchtern, hat ein su
schmales Gesicht wie ein
Frosch.
45. tör mä/t a pükal wy a khäts der macht einen Buckel wie
wan s rümall. eine Katze wenn es donnert.
46. plydsta wy a soey. bluten wie eine Sau.
47. alt wy Metysalam. alt wie Methusalem.
Innere Eigenschaften.
48. ar hat äiQs't wy a jütarös. er hat angst wie ein Judenross.
49. a tsorn wy a hys. ein Zorn wie ein Haus.
50. a myl hän wy a-n-äfakhät. ein Maul haben, plaidiereu
können wie ein Advokat.
51. fäls* wy käljaholts. falsch wie Galgenholz.
52. s*älli wy a kaeispok, wy a schädlich, Schaden verursacheo«!
mörter, wy a khätsamölart. und verschlagen sein wie
ein Geisbock, Marder, Kater.
53. kröp wy soeypünas'trü. grob wie Saubohnenstroh.
54. stöli wy a-n-öks. eigensinnig wie ein Ochs.
55. tum wy a prat. dumm wie ein Brett.
56. sü tdeyp äs na t karjs em so dumm, dass ihii die Gänsc*
wäi pisa. im Weg, auf der Strasse,
beissen.
— 195 —
57. Ideywar äs nin lob räjawatar. dummer als neun Tage Regen-
wetter.
58. tes es* am jets ^rjar äs älas. das ist ihm jetzt ärger als alles,
er bekümmert sich sehr dar-
über.
59. ar het si ks'ämt wy a hünt. er hat sich geschämt wie ein
Hund.
öO. ar h^t si ks'ämt wy älas. er hat sich geschämt wie alles.
öl. ar häpt s harts nys wy a er hält das Herz hinaus, wirft
pärnas. sich in die Brust, ist hoch-
mütig wie ein Barnes, Ju-
denmaire, jüdischer Bürger-
meister.
()2. tfer mkyJL wy närat, wy a der macht, gebärdet sich wie
när. ein Verrückter.
(Ö. priela wy a s'tiär, wy a brüllen wie ein Stier, wie ein
mfertar. Mörder.
64. flydexa wy a terik. fluchen wie ein Türke.
(>5. lieja wy katrükt. lügen wie gedruckt.
Essen und Trinken und ihre Folgen.
66. s es* mar häli wy em a sak. es ist mir so hohl wie einem
Sack, ich verspüre sehr gros-
sen Hunger.
67. asa, frasa wy a hakar. essen, fressen wie einer der
Reben umhackt.
68. ex häp hüijar wy a wölf. ich habe Hunger wie ein Wolf.
69. fol wy a trüm. voll gefressen und dick wie
I eine Trommel.
70. fürtsa wy a püriküntaräsal. farzen wie ein Burgunderesel.
71. a hyfa s*isd wy a s*wörtsar einen Haufen scheissen wie
khorp. einen schwarzen Korb.
72. ex häp türs*t äs i s*i^r far- ich habe so sehr Durst, dass
la/. ist schier leck werde.
73. syfa wy a rös, wy a pers'ta- saufen, trinken wie ein Ross,
peY]ar. wie ein Bürstenbinder.
74. föl wy a scey, wy a khänün, voll wie eine Sau, wie eine
wy a poläk, wy tdeysik man. Kanone, wie ein Polack, wie
tausend Mann.
75. ar hat a khes't wy a hys. er hat eine Kiste wie ein Haus,
ist in hohem Grade besoffen.
76. khötsa wy a s'loshünt. kotzen wie ein Schlosshund, sich
sehr erbrechen.
— 196 —
77. s es' am w^ wy em d hünt. es ist ihm weh wie einem
Hund.
78. tör frest ün syft was en nd der frisst und säuft was in ihn
neY) k^t. hinein geht.
79. t^r frest ün syft äs 9r s*iär der frisst und säuft, dass er
fars'pretjt. schier zerspringt, platst.
Schlaf und Arbeit.
80. s'lüfa wy 9 rät. schlafen wie eine Ratte, fest
schlafen.
81. s*näri^9 wy a rät. schnarchen wie eine Ratte.
82. {k)r khän s'äfa wy a-n-ältar. der kann schaffen wie ein Alter.
83. trüf lüs s*äfd wy 9 när. drauf los schaffen wie ein Narr.
84. s*äf9 wy 9 pümdpütsar, wy schaffen wie ein Brunnenputzer,
wi^ti. wie wütend.
85. fyl wy mes't. faul wie Mist.
86. t^r es' sü fyl äs ar s'tevjkt. der ist so faul, dass er stinkL
Rahe und Bewegung.
87. tu s't^t ar wy trei ün ^)af, da steht er wie drei und elf,
wy tar pütar en tar sün. wie die Butter in der Sonne.
88. te leija tu wy t jei^ar am die liegen da wie die Jünger
^Ipari. am Oelberg.
89. hälta wy a myr. stille halten wie eine Mauer
und gewähren lassen.
90. tes höpt wy pa^. das hält fest wie Pech.
91. k^n wy a pf(&tar. gehn, stolz gehn, wie ein Pfetter>
d. i. Taufpathe.
92. t^r k^t wy a hösas'isar. der geht wie ein Hosenscheisser.
93. t^r ket tu rüm wy tar tut, der geht da herum wie der
wy t s'at an tar wänt. Tod, wie der Schatten aD
der Wand.
94. tes k^t wy ks'm^rt. das geht wie geschmiert.
95. tu k^t s tsy wy fer am da geht's zu wie vor dem Himme)
himal tysa. draussen.
96. evjer am räja önak^n wy unter dem Regen durch gdin
t Rürar. wie die Rohrer (Rohr am ■
Kochersherg).
97. tfer Ideyft wy psasa, wy wiö- der läuft wie besessen, wt
ti, wy a wiätjar hünt, wy ein wütender, toller Hund,
a khoeyjal ys am rür. wie eine Kugel aus dem
Rohr.
I
— 197 —
98. herß nüx khümd wy t k\i hinten nach kommen wie die
fäsndxt. alte Fastnacht.
99. s'wema wy 9 fes*. schwimmen wie ein Fisch.
iOO. s'li^d wy 9 khäts, wy a schleichen wie eine Katze, wie
mörtar. ein Marder.
iOl. 9r h^t si katyyalt wy 9 er hat sich geduckt und ist da-
hünt. von gelaufen wie ein Hund.
i02. fdr9 wy tar ta^iharjkar, wy fahren wie der Teufel, wie das
s tümtarwatar. Donnerwetter.
103. lotla wy a khies'wänts. sich bewegen wie ein Kuh-
schwanz.
i04. ks*went wy a wesala. geschwind wie ein Wiesel.
105. sü ks'went äs a kseis tcet. so geschwind als ein Geis tritt ^
106. sü ks*went wy a halwatar- so geschwind wie ein Hell-
Isei. wetterleich, wie der Blitz.
Kälte und Wärme.
107. khält wy is, iskhält. kalt wie Eis, eiskalt.
108. tu es* sü khält wy en ara da ist es so kalt wie in einer
iskryap. Eisgrube.
i09. fri^ra wy a näsar hünt. frieren wie ein nasser Hund.
110. t6r win es' wörm wy sii'iy. der Wein ist warrn wie Seich,
Harn.
111. tu es* sü worm wy em a da ist es so warm wie in einem
pöts'tewa!. Badstübchen.
112. sü hsbis wy em a pä)rofa. so heiss wie in einem Backofen.
113. te süp es' haeis wy fir. die Suppe ist hciss wie Feuer.
114. s'wetsa wy a par. schwitzen wie ein Bär.
115. tar fer^ar prant mi wy fir. der Finger brennt mich wie
Feuer.
Geld und Gat.
116. t^r het kalt wy Ideyp. der hat Geld wie Laub.
117. ri)r wy a s'ts^n^sal. reich wie ein Steinesel.
118. örm wy Lätsar^s, wy a arm wie Lazarus, wie eine
kheriymys. Kirchmaus.
119. ar es' sü örm äs am t üra er ist so arm, d,a3s ihm. die
hila. Ohren heulen.
120. ar het m6 s'ülta äs hür üf er hat mehr Schulden als Haare
am khöpf. auf dem Kopfe.
Kleidung.
121. tes klabit haiQt am wy a dieses Kleid hängt an ihm wie
säk. ein Sack.
— 198 —
122. te h6s9 .sen wit wy 9 säk. diese Hosen sind weit ¥ne ein
Sack.
123. 9r h^t 9 phör sHefol, hali er hat ein Paar Stiefel, helie^
iir^mar. wahre Feuereimer.
124. tes sH^t tar jöts amül s*^n das steht dir jetzt einmal schön
ön, wy em a patdlman 9 an, wie einem Bettelmann
Mk. ein Frack.
Geschmacksinn .
125. sü sies wy hüni, wy tsükar. so süss wie Honig, wie Zucker.
126. petdr wy käl. bitter wie Galle.
127. syr wy keft, wy äsi. sauer wie Gift, wie Essig.
128. s'ärf wy 6si, scharf wie Essig.
129. tes es* su s*ärf äs aem td das ist so scharf, dass es einem
räxd fäsH üfrist. den Rachen fast aufreisst.
Gernehsinn.
130. tes s'ter^kt wy phte't, wy das stinkt wie Pest, wie ein
9 kaeispok. Geisbock.
Farben.
131. s'wörts wy 9 khäminfäjar, schwarz wie ein Kaminfeger,
wy 9-n-äräw9r. wie ein Araber.
132. wis wy 9 wänt. weiss wie eine Wand.
133. khölis'wörts. kohlschwarz.
134. kritiwis, s'lüswis. kreideweiss, schlossweiss, hagel-
weiss.
135. hent es' fens'tor wy em 9 heute nacht ist es finster wie
sak. in einem Sack.
136. hal wy am ick. hell wie am Tag.
137. triäp wy mülik9. trüb wie Molken.
138. hal wy kres'täl. hell wie Kristall.
139. firrüt. feuerrot.
140. khäls*ploey. kölnischblau.
141. kölkäl. goldgelb.
Sonstige Eigenschaften lebloser Körper.
142. hfert wy stabn, wy hörn, hart wie Stein, wie Hom.
143. wafei^^ wy pap, papwabiy. weich wie Brei, breiweich.
144. was'näs, w^s'näs. nass wie Wäsche.
145. trük9 wy 9 fürts. trocken wie ein F.
— 199 —
146. ter wy kläs. dörr, ausgetrocknet und daher
zerbrechlich wie Glas.
147. tsa wy latar. zähe wie Leder, vom Fleisch.
148. lük wy 9 s'wäm. locker wie ein Schwamm, vom
Gebäck.
149. s'wär wy pli. schwer wie Blei.
150. Wyi wy 9 fatar, wy 9 s'trü- leicht wie eine Feder, wie ein
wes'. Strohwisch.
151. tes tya^ es' sü s'törik wy dieses Tuch ist so stark, dauer-
latar. haft wie Leder.
152. ten wy flispäpir. dünn wie Fliesspapier.
153. tes harnt es' su s'tif wy 9 dieses Hemd ist so steif gestärkt
prat. wie ein Brett.
154. sü hüy wy s s'tri\spürJ9r so hoch wie das Strassburger
mens't9r. Münster.
XV.
Volkstümliche
Feste, Sitten und Gebräuche
im Elsass.
1891.
Mitgeteilt Ton
Bruno Stehle.
^uch in diesem Jahre bin ich durch den Sammelfleiss
meiner Schüler in den Stand gesetzt, nachstehende Beiträge zu
veröflentlichen. Leider war der Raum im diesjährigen Jahrbuch
so beschränkt, dass nur ein kleiner Teil veröflFenllicht werden
kann. Der Rest ist dem folgenden Bande vorbehalten.
Allerheiligen nnd AllerBeelen.
Tagdisheim (Kreis Altkirch). — Am Allerheiligenabend werden
in jedem Hanse drei Rosenkränze gebetet, während in der Kirche
geläutet wird. Nachdem eine Stunde geläutet worden, gehen die
Knaben von Haus zu Haus und singen :
cDer heilige Geist fliegt über's Haus,
Qebt den Armenseelenläutern etwas zum Fenster heraus»
Friesen (Kreis Altkirch). — Am Allerheiligentag abends and am
Allerseelentag morgens wird hier überall mit allen Glocken gelaatet.
Während dessen betet alles für die armen Seelen. Auf dem Tiacke
brennen Wachskerzen. Früher gingen während des Läutens am Aller-
— 201 —
heiligenabend arme Knaben mit Schellen und Klingeln umher. Die-
selben sammelten Almosen, die ihnen zum Tröste der Verstorbenen
gern« gegeben wurden.
Hoppenzweiler (Kreis Altkirch). — Am Allerseelenabend gehen
die Messdiener im Dorf herum. Einer hat ein Qlöcklein und läutet
Yor jedem Haus zuerst dreimal. Dann beten die anderen ein Vater-
unser und hernach folgende Worte:
cWenn ihr den armen Seelen etwas
geben wollt, so gebt 's uns,
denn wir läuten und beten für euch.»
Weihnachten.
Orsckvoeier (Kreis Gebweiler). — Von den Winzern wird die Regel
beobachtet, dass der Wein an den drei Feiertagen vor Weihnachten
umgerührt wird.
In der Christnacht wird die Jerichorose in ein Gefäss mit Wasser
gestellt, damit sie sich entfalte, was sie nur zur Weihnachtszeit thut.
Die Zweiglein der Rose erhalten die Namen der yerschiedenen Reb-
gelände des Bannes. Entfaltet sich ein Aestchen schön und zeigt,
Yor das Licht gehalten, hellrote, deutliche Flecken, so wird auch das
betreffende Rebgelände im kommenden Jahre reichen Segen bringen.
Hattstatt (Kreis Gebweiler). — In der Christnacht wird die Weih-
nachtsrose oder Jerichorose auf den Tisch gestellt. Blüht sie in die-
ser Nacht auf, so hoffe man auf ein fruchtbares Jahr, auf Yiel und
guten Wein. Bleibt sie aber geschlossen, so hat man ein schlechtes
Jahr zu erwarten.
Katzenthal (Kreis Rappoltsweilen. — Im Katzenthal glaubt man
— besonders die alten Leute — dass die, welche am ersten Advents-
Sonntag geboren werden, an Weihnachten in der Mitternachtsfeier alle
diejenigen sehen, welche während des kommenden Jahres sterben
w^erden. Die Todeskandidaten gehen während der hl. Wandlung weiss-
gekleidet um den Altar.
Fislis (Kreis Altkirch). — Die Spinnerinnen, welche am Weih-
nachtsabend zu lange spinnen, kommen in die Gewalt der sogenannten
cSechelganklere.» Sie legt ihnen nach 12 Uhr 12 Spulen vor die
Fenster, die sie noch in dieser Nacht zur Strafe YoUspinnen müssen,
sjnst werden sie unglücklich. Um dies zu verhüten, spinnen sie auf
jede der 12 Spulen drei kurze Fäden im Namen der drei höchsten
Personen, und so hat die « Hechelgaukler e> keine Gewalt über sie.
(So war es bis etwa 1850.)
Tagoisheim (Kreis Altkirch). — Am Tage vor Weihnachten läutet es
um 3 Uhr abends mit allen Glocken Heiliwoh.^ Während des Lautens
gehen die Leute hinaus und binden um die Obstbäume Strohbänder
in der Hoffnung, dadurch eine reiche Obsternte zu machen.
1 Vergl. Jahrgang 1890. S. 162.
— 202 —
Zässingen (Kreis Mulhaasen). — Am Weihnacktsabend weiden
von 11 — 12 Uhr alle Glocken geläutet; die Leute rufen einander sa:
«Heiliwog, Qlick ins Hüss, ünglick dräss.»
Kommt jemand in dieser Stunde in ein Haus, so sagt er diesen
Spruch als Gruss.
Matzenkeim (Kreis Erstein). — Hier war es bis 1860 Sitte, dass
man in der Christnacht, während die Glocke 12 schlug, Obstbäume
mit einem Strohseile umband, damit sie im nächsten Jahre viele
Früchte bringen sollten.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Ist der Himmel am Weihnachts-
abend heiter und klar, so legen die Hennen im folgenden Jahre
wenig Eier.
Fislis (Kreis Altkirch). — Wenn am Weihnachtsabend eine finstere
Nacht ist, so giebt es im nächsten Jahre wenig Kirschen.
Boppenetoeüer (Kreis Altkirch). — Wenn man am Weihnachtsabend
um 12 Uhr auf dem Kirchhofe gräbt, findet man Gold.
Gunstett (Kreis Weissenburg). — In der Christnacht legen die
Leute, wenn die Wandlung geläutet wird, Soda in die Hühnemester,
damit die Eier nicht faulen. In derselben Zeit wird Asche in den
Garten gestreut, damit derselbe besonders fruchtbar werde.
Bitterahofen (Kreis Weissenburg). — In einen in der Christnacht
im Hofe gezogenen Kreis wird während der Christmette Futter ge-
streut. Wenn die Hühner davon fressen, verlegen sie nicht
Hattstatt (Kreis Gebweiler). — Ein eigentümlicher Gebrauch
herrscht in der Christnacht seit uralten Zeiten in unserm Dorfe.
Gegen Mitternacht wird in jedem Hofe sämtliches Vieh gefuttert.
Derjenige Bauer, der während des Jahres mit seinen Pferden nicht
gut vorwärts kam, stellt sich mit der Peitsche in den Hof, oder
wenn dieser zu klein iaf, auf die freie Strasse und knallt lustig draaf
loS; damit es im künftigen Jahre besser gehen möge. In jedem Hanse
wird nun kurz vor Mitternacht der Elaifee eingenommen und Punkt
zwölf Uhr eilt Jung und Alt der Kirche zu. um das Weihnachtsfest
zu feiern.
Fislis (Kreis Altkirch). — Von Weihnachten ab werden die zwölf
ersten Tage die Loostage genannt. Jeder führt den Namen eines
Monats. Wie nun die Witterung an diesen zwölf Tagen ist, so soll
sie auch an den betreffenden Monaten sein.
Sylvester.
Friesen (Kreis Altkirch). — In der Sylvesternacht bringen die
ledigen Burschen ihren Geliebten einen Ring oder ein Brezel als
Nenjahrsgeschenk Dieses Brod muss das Mädchen bis zum Feste der
hl. drei Könige aufbewahren. An diesem Abend kommt der betreffende
Bursche, bringt eine Flasche Wein, und Brod und Wein werden ge-
meinschaftlich verzehrt.
— 203 —
SartmanMweüer (Kreis Gebweiler). — In der SylTestemacht
▼ersammelten sich die Rekraten, (Milizen) d. h. diejenigen Barschen^
welche sich im kommenden Jahre zum Militär stellen mnssten, nnd
sangen vor der Wohnnng jedes Rekraten and aach anderer Leute.
Am Sonntag nach Neujahr begaben sie sich zu den Leuten, denen
sie das Neujahr angesungen hatten. Li jedem Hause erhielten sie
Wein, den sie in einem Hochbottich auf das Gemeindehaus trugen.
Hier wurde er gemeinschaftlich getrunken. Wurde am ersten Sonn*
tag nicht in allen Häusern Wein eingesammelt, so holten sie die
an den folgenden Sonntagen nach. Diese Sitte hörte um 1840 auf.
Orschweier (Kreis Gebweiler). — Am Sylvesterabend ziehen Kin-
der, läeistens Knaben, im Dorfe umher, bleiben unter den Fenstern
der Häuser stehen und singen Lieder, gewöhnlich folgendes:
«Ein neues Jahr, eine fröhliche Zeit,
Wo Maria vor dem Krippele kneit;
Vorm Elrippele kneit ein alter Mann
Und betet das schöne Jesulein an.
St. Joseph ziSgt sein Hemelein ab
und schneidet dem Kind zwei Windelein drab >
Hierauf wird dem Hausbewohner der Neujahrsglückwunsch zugeru-
fen, wonach dann ein Geschenk aus dem Fenster niederfällt.
Neigahr.
Osthausen (Kreis Erstein). — In Osthausen ist es Sitte, dass in
der Neujahrsnacht ärmere Kinder im Dorfe umher gehen und vor
den Häusern Lieder singen, wobei sie dann Geld von den Leuten
erhalten. Das gewöhnlichste Lied, das sie singen, ist folgendes :
Ein Kindl geboren zu Bethlehem
Bei Ochs und Esel und Hämelein !
Wir fanden das Kind im Krippelein,
Wir fanden das Kind ganz nackt und bloss.
Maria nahm es auf ihren Schoss,
Und Joseph zog sein Hemdelein aus
Und schneidet dem Kind drei Windelein draus.
Und das ist wahr, und das ist wahr.
Wir wünschen euch allen ein glückseligs, neues Jahr.
Ein glückseligs, neues Jahr ist eine fröhliche Zeit,
Die uns Gott der Vater vom Himmel herab sait. ^
Zu Bethlehem geboren ist unser Kindelein,
Das hab ich auserkoren, sein eigen will ich sein.
Ache ja, Ache ja, sein eigen will ich sein !
1 sait = sagt.
— 204 —
Wörth a/S (Kreis Weissenbarg). — Hier hört man folgenden
Neajahrssprach :
ProsH Nejohr !
Ä Brattställ ^ wie ä Schierethor, ^
Ä Läbbküeche wie ä Zejeldach,'
Ä Knackwnrscht von do bis off Äwerbach ! *
Egisheim (Kreis Colmar).
Rieh un arm solla fröhlich sein
An diesem heiligen Tag;
Es esch gewachsa a guater Wein,
Der alla Deng vermag;
Dazüa ar liawlig ^ isch,
Sie nam heisst rot nn wiss.
Von alla nnsara Missetthata
Am Rabstock gewachsa esch.
Bitschweüer (Kreis Thann) Die Kinder gehen in der Nenjabrs-
nacht in die Häuser und singen folgende Worte :
Wer komma dahar
In aller Gefahr
ün wenscha eich alla
A Glekhaftigs-Nenjahr
Un a Bangala hinterm Ohr,
ün a Helschüa^ im Naka
As er blibt staka.
Das Liad esch fer d^Alta
(In fer d7anga,
As nfs Johr mer zamma knmma.
I. Was wenscha mer en dam Vater?
Mer wenscha nem a goldiga Pfluag,
Auf dass nfs Johr ar brav ackera thüat
IL Was wenscha mer in der Müater?
Mer wenscha ihr a goldiga Wiaga
Auf dass sie anfs Johr a Sohn soll knage.
III. Was wenscha mer en dana Sohn?
Mer wenschana a goldana Tesch
An alla viar Ecka gebachana Fesch
Un dazüa a güats Glas Wein
Un se sela alli derbi fröhlich sein.
IV. Was wenscha mer en dar Tochter?
Mer wenscha ehra a rota, rota Rock,
An alla viar Ecka a Nagalastock. "^
Un was i wensch, an das esch wohr
Mer wenscha eich alla a
Gleckhaftigs-Neisjohr I
i Brezel. — ^ Scheuerthor. — » Ziegeldach. — * Eberbwh.
— * lieblich. — * Holzschuh. — ^ Nägelestock.
— 205 —
Dreikönigsfest.
Hipsheim (Kreis Erstein.) — Ein Lied das am Dreikönigstage
gesungen wird.
Wir kommen daher aas aller Gefahr;
Wir wnnschea einanden glackselig^s neu*8 Jahr.
Glückseligs neu^s Jahr ist eine fröhliche Zeit,
So wie es Gott Vater Tom Himmel herab sait isagt)
Herodes sprach mit falschem Betracht :
«Warum ist der mittlere König so schwarz ?»
Der Schwarz\ der Schwarz' der ist wohlbekannt,
Er ist der König aus Mohrenland.
Der Stern^ der Stern soll immer stehen ;
Wir müssen bei Tag noch weiter geh'n
Dieses Lied wird von drei Knaben gesnngen. Sie haben ein
zu diesem Zwecke gemachtes Hemd an und einen hohen aus Papier
selbst angefertigten und mit Bildern versehenen Hut auf. Sie gehen
dann, das Lied singend, in die Häuser und erhalten am Schlüsse
einiges Geld, welches h&ufig zur Anschaffung von Schulgeräten ver-
wendet wird.
Friesen (Kreis Altkirch) -^ Fr&her gingen, jetzt oft noch, arme
Knaben als drei Könige verkleidet umher und sammelten Almosen.
Ihre Kleidung bestand in einem weissen Hemd, das durch eine rote
Schleife zusammengehalten wurde. Eine Papierkrone vervollständigte
die königliche Tracht. Einer der Knaben schwärzte sein Gesicht mit
Russ. Als Stern trug der Schwarze an einem Stabe ein Rädchen, das
er fortwährend drehte. Vor den Häusern sangen sie folgendes Liedchen :
Es komme drei König aus dem Morgeland:
Balthasar aus Griechenland,
Melchior aus Österreich,
Kaspar ans dem Hunnenreich.
Gott hat uns die Gnade gegeben,
Dass wir das Jahr mit Freude erleben,
Jetzt und zu allen Zeiten,
Der Stern, der Stern muss weiter reisen.
Bei den Häusern, wo sie nichts bekamen, sagten sie :
«Gott lass Euch dies Johr nit reichlich labe,
Wir wotte, dass Euch d'Bänk und Stihl am Fidle blibe kläbe.
An manchen Orten gingen die drei Könige in die Häuser hinein,
liessen die Stubenthür auf, und der erste sprach mit gewöhnlicher
Stimme :
«Guten Abend, ihr Leut, Gott gebe Euch eine freudenreiche
Zeit, die Euch Gott vom Himmel verleiht.»
Darauf sprach der zweite mit sehr hoher Stimme :
«Die Hirten, die gingen insgemein,
Sie suchten das kleine Kindelein;
— 206 —
Sie fanden's, wie der Encel hat gesagt.
Bei Maria der reinen Magd.
Da bist ans willkommen, o Kindelein,
Da liegst zo zart in einem Krippelein
Bei einem Ochs and Eselein.»
J^xm sprach der Schwarze mit tiefer Bassstimme:
cDie Herberge nahm zar Bah,
Da konunt man and schliesst die Thore za.
<Bei diesen Worten giebt er der offen gelassenen Thüre einen Stoes.
dass sie zaföhrt.)
Ich habe gemeint, man führe mich überall hin.
Wo man mich beherbergen will,
Aber nein.
Dort ist ein kleines Ställelein,
Wenn da willst, kannst da hineingehen.
Und wenn da nicht willst, kannst da draassen bleiben stohen.>
Haben dann die Leate die drei Könige mit einer Gabe befriedigt,
so singen sie :
«Dir habt ans dies Johr so reichlich gegebe,
Gott lass Each dasselbe mit Freade erlebe.»
Fastnacht.
Hartmannstoeäer (Kreis Gebweiler.) Am Fastnachtsdienstag la-
sammelten sich nach der hl. Messe alle Bewohner des Dorfes auf
dem Gemeindeplatze. In der Mitte desselben lag während des ganzen
Jahres ein grosser, rander Stein von angefahr 100 Centnem Gewicht
Dieser Stein worde vor mehr als 100 Jahren Yon einem Manne im
Walde Ton Hartmannsweiler aufgefunden and mit mühoToIler Arbeit
in das Dorf geschafft. Um diesen Stein herum tanzten jetzt die
Knaben und Mädchen im Alter von I0~18 Jahren, während die
Dorfmusik einen Tanz aufspielte. Nach dem Tanze wurde der Stein,
der im ganzen Dorfe den Namen <Lüs» oder Laus führte, Yon eini-
gen Burschen unter dem Jubel der Umstehenden auf dem Platze heram
gewälzt, was natürlich nicht geringe Mühe erforderte. Hierauf bega-
ben sich die Jünglinge mit den Tänzerinnen in den grossen Tanz-
saal des Gemeindehauses. Euer wurde jedem ein Glas Wein und ein
Brötchen im Werte von einem Sou bescheert. Während der Beschee-
rung wurden mehrere Tänze aufgespielt. Damit war die Feier des
Morgens beendigt.
Am Nachmittag begab sich die ältere Jugend und auch ältere,
verheiratete Leute auf den Tanzsaal des Gemeindehauses, wo bis
2ur Nacht getanzt wurde. Ebenso wurde an den 2 vorhergehenden
Tagen getanzt. Diese Sitte bestand bis zum Jahre 1836. In diesem
Jahre wurde der Stein zu weit vom Platze abgewälzt. Niem^d
wollte ihn wieder an seine vorige Stelle bringen. Der Stein wnide
hierauf in der Nähe des Platzes vergraben, und heute noch zeigt man
die Stelle, wo die <Lüs> begraben liegt.
XV.
Das Wörterbuch
der elsässischen Mundarten.
Wie im vorigen Jahrgang S. 154 berichtet worden ist,
hat dies Unternehmen die Anerkennung und Unterstützung der
Landesverwaltung in dankenswertester Weise erhalten. Dadurch
ist die Teilnahme an der Sammlung des Stoffes gewaltig an-
geregt worden : es liegen heute, am 25. Juni 1891, wenigstens
25000 2iettel bereit, welche im germanistischen Seminar der
Universität, nach dem Muster des Schweizerischen Idiotikons,
geordnet und aufbewahrt werden. Zu dieser Sammlung, deren
Grundlage durch die Vorarbeiten von August Stöber gebildet
wird, haben bis jetzt ausser den beiden unterzeichneten Heraus-
gebern, besonders beigetragen :
in Strassburg: Archivschreiber Friedrich, Frl. Friedols-
heim, ehemaliger Lehrer Kutt (für Benfeld), Lehrer Letz (füi*
Ingweiler), stud. phil. Levy (für Quatzenheim), Garderobici-
Oberthür, und die Seminaristen Cassel, Guthapfel, Heimann,
Issler, Klein, Treiber, Wüesl, Ortlieb, Harter, Wehrung,
Wendung (für Kothbach, Neudorf und Brumath, Molsheim,
Horburg, Schleithal, Lobsann, Müttersholz, Beblenheim, Prinz-
heim, Büst, Sierenz) ;
in Ruprechlsau : Werkmeister Obrecht (für Dürrenenzen
bei Colmar) ;
— 208 -
Iq Neudorf: die Lehrer KaufTer (für Mutzig), Kössler (für
Saarunion), Ruff (für Geispoizheim) ;
in Bisch wei ler : emer. Lehrer Thomas (für Wingen);
in Alteckendorf: Pfarrer Grünberg;
in Pfulgriesheim : Lehrer Sandel (für Niederrödern) ;
in Hochfelden : Dr. med. Kassel ;
in Aschbach bei Niederrödern : Lehrer Schneider ;
in Oherbronn : Notariatsgehilfe Eber ;
in Rappoltsweiler : Reallehrer Mathis, Lehrer Lamey (för
Sulzmatt) ;
in Mülhausen : Lehrer Obrist (für Hirsingen) ;
in Metz: Lyceallehrer Gall (für Buchsweiler);
in Waldliambach : Pfarrer Spieser (für das Münsterthal);
in Offenburg : Oberamtsrichter Beck ;
in Bordeaux : Professor Besson (Seb. Braut).
Dass unsere Mitarbeiter sich fast alle leicht an das
Kräuter'sche phonetische Schreibsystem angeschlossen haben^
heben wir dankend hervor.
Für weitere Mitarbeit möchten wir noch zwei Musterbei-
spiele aus den gelieferten herausgreifen :
setzä [sa3tsa] setzen.
Häärdepfel setzä Kartoffeln pflanzen. I selz dr
nä Dahler anä Süü ich wette mit dir, einen Thaler
gegen einen Sou ; i w o 1 1 d r K o p f s e t z ä ich hin fest
überzeugt (dass etwas so ist wie ich sage). Ar het sech'se
dr Kopf gsetzt un r los st si snem nämmä er ist
nicht mehr von dem Glauben abzubringen.
Sulzmatterthal.
Gowe [köwa] Faxen.
Bloss im Plur. auffallende, unnatürliche, oft auch dumme,
lächerliche Gebärden. Was des Maidel für Gowe-n-
nn sich het! Es macht als Gowe dass mer sich
krank lache mecht.
Strassburg.
Genauere Auskunft erteilen, sowie Anleitung und Zettel
stellen gern zur Verfügung
E. Martin, H. Lienhart,
Ruprechtsauer Allee 41. GrQnebrachstr&sse 33.
Strassburg.
■ ■■;■
XVH.
1 .
Chronik des Jahres 1890.
12. Januar. Totenfeier für Ihre Majestät Kaiserin Augusta
(gest. 7. Jan.).
1. März. Oberförster Mang in Bischweiler stirbt (geb.
27. Febr. 1839).
29. März. Adolf Stöber feiert sein SOjähriges Jubiläum
als Pfarrer in Mülhausen.
16. April. Einweihung der neuen Realschule in Strassburg.
24. 25. April. Besuch Kaiser Wilhelm IL in Hagenau, Strass-
burg, Saarburg und Metz.
2. Mai. «Die Rose von Strassburg», Oper von V. Nessler,
Text von F. Ehrenberg, wird in München
zuerst aufgeführt.
2. Mai. Forstmeister von Etzel, Ehrenpräsident des
Vogesenclubs , stirbt in Strassburg (geb.
6. Okt. 1826).
28. Mai. Victor Nessler stirbt zu Strassburg (geb. 1841
zu Baldenheim).
4. -9. Juni. IV. Wanderversammlung der deutschen Land-
wirtschaftlichen GeselKschaft in Strassburg.
29. Juni-2. Juli. Buchdruckertag in Strassburg: 350jährige
Feier der Erfindung dei* Buchdruckerkunst.
14
^1
2. Juli.
6. Juli.
15. Juli.
9. August.
22.-24. Aug.
3. September.
8. September.
3. November.
— 210 —
Karl Grad, Reichstagsabgeordneter und Schrift-
steller, stirbt in Logelbach (geb. 1842 in
Turkheim).
Generalversammlung des Vogesenclubs in
Rappoltsweiler.
Emil Heitz, Professor an der Univemtät,
Ehrenpräsident des Vogesenclubs, stirbt in
Strassburg (geb. 13. Nov. 1825).
Bischof Stumpf stirbt in Strassburg.
X. deutscher Kongress für erziehliche Knaben-
arbeit in Strassburg.
Stirbt Aleicandre Chatrian in Villemomble (geb.
18. Dez. 1826 in Soldatenthal).
Feier des 500jährigen Bestehens des Pfeifer-
lages in Rappoltsweiler.
Die Strassenbahn Golmar-Markolsheim fertig
gestellt.
xvni.
Sitzun^sprotokoUe .
Vorstandssitzuo g.
16. November 1890 im Stadt-Archiv.
Anwesend : die Herren Barack, Deecke, Erichson, Euting,
Franke, Harbordt, Herin}^, Marlin, Mündel, Sciilum berger,
Schricker, Wiegand. ihr Ausbleiben haben entschuldigt die
Herren Herrenschneider und Rathgeber,
Der Vorsitzende, Prot". Martin, berichtet über verschiedene
Einladungen, die an den Zweigverein ergangen sind, so z. B.
vom Rückert-Gomit^ in Schweinfurt zur Enthüllung des Rückert-
Denkmals am 18. Oktober, und über den inzwischen aus-
gegebenen sechsten Band des Jahrbuchs. Es wird beschlossen,
Herrn Pfarrer Horning 30 Exemplare desselben zum Vereins-
preise von 1 Mark für das Stück zu überlassen.
Von dem Bericht des Gesammt-Vereins der deutschen
Altertums- und Geschieh ts- Vereine liegen 15 Exemplare vor,
welche die Vorstandsmitglieder gegen Zahlung von 20 Pfennigen
für das Stück erheben können.
Nach der Mitteilung • von Prof. Barack sind weitere fünf
Gesellschaften und Vereine in Schriftenaustausch mit dem
Zweigverein getreten, so dass die Zahl der Tauschexemplare
jetzt auf 100 gestiegen ist.
Mitglied Mündel berichtet über den Personall)estand und
die Kassenlage des Zweigvereins.
— 212 —
Zum Schluss werden die Mi Heilungen für die General-
versammlung vorbereitet sowie einige für das Jahrbuch ein-
gelaufene Arbeiten zur ßerichterstattung verteilt.
Es folgt die
Allgemeine Sitzung.
Prof. Martin eröffnet die Sitzung und erstattet den Reichen-
Schaftsbericht über die Entwickelung des Zweigvereins im ab-
gelaufenen Jahre. Die Mitgliedei^ahl betrug 993 und die
Kassenrechnung schloss ab mit einem Ueberschusse von Ul. 2.68«
Der Kassenbericht des Herrn Mündel wird von zwei Mit-
gliedern der Versammlung, den Herren Bechstein und Lienhart,
geprüft und richtig befunden.
Herr Stadt-Archivar Dr. Winckelmann hält einen VoHragf
über den Pfalzgrafen. Georg Johann von Veldenz-Lützelstein
1543 — 92 als Förderer des Strassenbaues und des Verkehrs in
den Vogesen.
Der bisherige Vorstand wird durch Acclamation weder-
gewählt.
Zum Schluss geleitet Herr Stadt-Archivar Dr. Winckelmann
die Anwesenden durch die neu hergestellten Räume des Stadt-
archivs und nach der Sitzung vereinigten sich die ausiArurtigen
Mitglieder mit mehreren hiesigen zum Mittagessen io der
Bahnhofs-Restauration.
Vorstandssitzung.
11. März 1891 im Bezirks- Archiv.
Anwesend : die Herren Barack, Erichson, Herrenschneider,
Ihme, Martin und Wiegand, ausserdem nehmen Teil die
Herren Dr. Bechstein und Dr. Winckelmann. Ihr Ausbleiboi
hal)en entschuldigt die Herren Deecke, Hering, Raihgeber und
Schricker.
Eingelaufen sind ein Dankschreiben Sr. Durchlaucht d€9
Kaiserlichen Herrn Statthalters für den ihm überreichten
sechsten Band des Jahrbuchs und die Silzungs-Prolokolle der
im September v. J. zu Schwerin abgehaltenen General-Ver-
Sammlung des Gesamt- Vereins deutscher Altertums- und
Geschichts- Vereine.
Die tur das Jahrbuch 1891 eingegangenen Beiträge werden
vorgelegt, besprochen und für Berichterstattung verteilt.
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GESCHICHTE, SPRACHE UND LITTERATUR
ELSASS-LOTHRINGENS
HERAUSGEGEBEN
VON DEM
HISTORISCH-LITTERARISCHEN ZWEIGVEREIN
DES
VOGESEN-CLUBS.
VIII. JAHRGANG.
STRASSBURG
J. H. ED. HEITZ (HEITZ & MÜNDEL)
1892.
THE NEW YORKJ
PUBLIC LIBRARY
1 rScS:. l
ASTCR. LENOX AND
TILDEN rOUN DATIONS.
R 1906 L
Inhalt.
Seite
L An mein Elsass von Christian Schmitt. . . . 1
II. In der Schreckenszeit von Bourglibre (Saint-Lonis) nach
Colmar nnd zurück 2
in. Amnletringe des Heiligen Theobald von Thann von
W. Deecke 37
I V. Graf D&rckheim. Lebensbild von K. Hackenschmidt. 45
V. Die Strassburger nnd die St Petersburger Blessigstif-
tnng. Geschichtliche Mitteilungen von Julius Rath-
geber 57
VI. Ueber Thomas Murners Üeber Setzungen aus dem He-
bräischen von M. Spanier (Heidelbeig) 63
VII. Die Kunkelstube. Mitgeteilt von HansLienhart 76
Vni. Volksmundartliches aus dem Elsass. Mitgeteilt von
Julius Bathgeber ^l
IX. Die Münsterthäler Ortsnamen von F. 6 r e s c h, Pfarrer
in Mühlbach (Ober-Elsass) 88
VorbenierkungeQ 88
Zusammenstellung der .\bkÜrzuugoQ 9&
X. Einige Bemerkungen zur schriftstellerischen Behandlung
von Mundarten durch Beispiele aus dem Münsterthäler
Dialekt erläutert von J. Spieser 138
XL Mundartliche Sprachproben aus den Dörfern Wiebers-
Weiler, Waldhambach und Rosteig, mitgeteilt von
J. Spieser 143
XII. Volkstümliche Feste, Sitten und Gebräache im Elsass.
1892. Mitgeteilt von Bruno Stehle. (Fortsetzung). 159
— IV —
Seit«
XIII. Der Uüsherr ! Lustspiel in einem Act von Daniel
GnstavAdolfHorsch 182
XIV. D^Millionedande üss Amerika oder d^ Verwand« nf der
Prob. Schwank in 2 Akten von Emil Oberthür . 194
XV. Eine elsässische Mäklerzanft von Dr. A. Her t zog . 209
XVI. Das Hildebrandslied. In freier Nachbildang von Adolf
Stöber 226
Vorerinneniug SM
Hildebrand und Hadubrand til
Meisenlockerstreich gegen den Franzoseukönig Anno lööl . S39
XVII. Chronik für 1891 232
XVIII. Sitzungsprotokolle 284
I.
An mein Elsass.
Von
Christian Schmitt.
Sei gegrüsst, dn mein blühendes Heimatiandt
Wie liegst da so lachend am Rheinesstrand I
Wie schmückst da dich herrlich im wonnigen Mai,
Als ob es zam fröhlichen Reigen seil
Wie spielt am die Stirn dir der Morgenglanz!
Wie ziert dich so lieblich der Rebenkranz!
In flammender Lieb' ist mein Herz dir entbrannt :
Schirm' dich Gott, du mein sonniges Elsassland!
Sei gegrüsst, da mein blühendes Heimatland !
Es webt dir der Frühling ein Prachtgewand:
Mit dnftenden Rosen darchfiicht er dein Haar
Und reicht dir die köstlichsten Schätze dar. —
Und mögt ihr nan wandern von Reich zn Reich,
Kein Qan ist aaf Erden dem onsem gleich !
In flammender Lieb' ist mein Herz dir entbrannt:
Schirm' dich Gott, da mein sonniges Elsassland!
Sei gegrüsst, da mein blühendes Heimatland !
Dir will ich mich weihen mit Herz and Hand,
Dich trag' ich als Kleinod geheim in der Brnst,
Dir bleib' ich ergeben in Leid and Last!
Da hast mich gesegnet mit Glück and Ehr',
Nan lass ich dich nimmer and nimmermehr!
In flammender Lieb' ist mein Herz dir entbrannt:
Schirm' dich Gott, da mein sonniges Elsassland !
Strassbnrg-Neadorf.
II.
In der Schreckenszeit
von Bourglibre (Saint-Louis) nach Golmar
und zurück.
^rranz Xaver Bronners Leben, von ihm selbst beschrie-
ben», 3 Bde.y Zürich, bei Orell, Gessner, Füssli u. Comp.
1795-— 97, ist eine der merkwürdigsten und anziehendsten Selbst-
schilderungen, an denen das vorige Jahrhundert, angeregt durch
die Ck)nfessions von Jean-Jacques Rousseau, so reich ist. 1758 in
einem Dorf bei Höchstädt an der Donau von armen Eltern gebo-
ren, trat er früh zu Donauwörth ins Kloster, ward aber durch die
Litteratur der Aufklärung und das Treiben der geheimen Ge-
sellschaften ergriffen und entfloh 1785 nach Zürich, wo der
Idyllendichter Gessner, das litterarische Vorbild seiner c Fischer-
idyllen», sich des mannigfach unterrichteten und naivklugen
Flüchtlings annahm. Von der französischen Revolution be-
geistert, beschloss Bronner, sich im Elsass als konstitutionneller
Priester dem Kirchendienste zu widmen und erlangte vom Bi-
schöfe von Golmar 1 die gewünschten Zusicherungen. Wie je-
doch der im Dezember 1793 gemachte Versuch, jenen Wunsch
zur Ausführung zu bringen, scheiterte, erzählt äronner selbst,
Bd. III, S. 478 ff.< Einzelne Stellen, welche heute nicht gut
mehr in einem für weitere Leserkreise bestimmten Buche ge-
druckt werden können, sind ausgelassen worden. E. M.
Eintritt in Frankreich.
Als ich hart an der Strasse die hölzerne Baracke sah, in
welcher die Grenzwache lag, so nahm ich mich zusammen,
suchte meinen Züricher Pass aus dem Portefeuille hei*vor und
1 Der geschworene Bischof Martin ward in Paris geweiht, int
am 16. April 1791 sein Amt an and starb im Juni 1794: s. J. Batk-
geber, Colmar und die Schreckenszeit, Stattgart 1873.
— 3- —
wies ihn dem Gontroleur, der mit einigen Naiionatgarden aus
der Baracke mir entgegenlief. cCitoyen I» sagte er, cder Pass
taugt nichts. Er muss vom Gesandten unterschrieben seyn.»
Ich hatte meinen Hut abgezogen und antwortete: «Mein HerrI
es hat mit mir eine ganz besondere Bewandtniss. » Er fiel mir
in die Rede, setzte mir den Hut auf und sagte: cMan sieht
wohl, dass sie ein Fremder sind, der Titel cHerr» ist bey uns.
abgeschafft; machen sie sich nur mit dem republikanischen
cCitoyen» bekannt und denken sie an Freyheit und Gleich-
heit 1» — Kühner fuhr ich fort: eich bewarb mich sowohl
bey dem Gesandten der Republik in Baden, als in der Kanzley
zu Basel um einen Pass ns^ch Colmar, aber Beidemale ver-
gebens, denn ich bin ein deutscher Geistlicher und musste
mich unter dem Vorwande abweisen lassen, dass allen Deutschen
der Eintritt in Frankreich bey Lebensstrafe untersagt sey. Nun ^
hat mich aber der geschwome Bischof von Colmar, der meine
patriotischen Gesinnungen kennt, durch eigenhändige Schreiben
berufen, und ich bin gezwungen, auch ohne Pass hieher zu
kommen und es auf die französische Grossmuth ankommen
zu lassen, ob ein Patriot, der von ganzem Herzen der Repu-
blik zugethan ist, sogleich an der Grenze abgewiesen werden
soll oder nicht.» Der Controleur gieng mit meinem Porte«- ,
feuille in die Baracke. Es schien; mir, man hielt mit einandeup
Rath, was hier zu thun sei. Er kam wieder und sagte: cCi-
toyen, wenn sie den Nationalgarden, von denen sie begleitet
werden müssen, ein Trinkgeld geben, so will ich sie zu^j
Bürger Sous-General nach Bourglibre bringen Ibissen.» Dess
war ich herzlich zufrieden. Die Garden nahmen mich in die
Mitte, und wir giengen zum Zollhause in Bourglibre; sie ver-
standen kein deutsches Wort; ich radebrechte also mein Fran-
zosisches so gut ich konnte und erhielt ihren: Beifall. Der
eine schien mir ein sehr artiger Jüngling ; er fror sehr, und
seine rothblauen Finger, mit denen er das kalte Gewehr hielt,
erregten mein Mitleiden. Ich schenkte ihm meine Handschuhe.
Im Zollhause musste ich einige Z^it warten; denn der Bürger
Sous-General sass noch bei Tische.
Das Stübchen, wo ich harrte, war zur Visitation derjenigen
Personen bestimm!, welche über die Grenze gehen wollten.
Männer und Weiber sassen auf den Banken herum und war-
teten« bis der Visitator käme, odei: bis der Sous-General .abge-
speiset haben würde. Der. Visitator (man sagte mir nachher
in Basel, er sei ein Jude gewesen) kam und rief jede Person
einzeln in ein Kämmerchen bey Seite, wenn sie ihm besonders
verdächtig war; andere aber durchsuchte er in Gegenwart der
übrigen. Alle mussten die Schuhe ausziehen, er befühlte ihnen
— 4 —
die Rockknöpfe, die Hüftenbänder und die Knieriemen an den
Beinkleidern, griff in alle ihre Säcke, durdiknitterte ihre Hals«
binden, Hüte, Rockschösse u. s. w. so bedächtlich, dass ich
vor der französischen Grenauigkeit grossen Respekt bekam. (Man
erzählte mir, des Visitators Frau halte es mit dem weiblichen
Geschlechte noch strenger; aber ich sah das nicht.) Auch die
Weiber befühlte der hagere Mann in jedermanns Gegenwart
mit gleicher Sorgfalt und schien sich aus weiblicher Scham-
haftigkeit und einer gewissen Decenz gar wenig zu machen.
Jetzt holte man mich zum Sous-General. An einer langen
Tafel im Wirthshause sassen Officiere und allerlei Graste, männ-
lichen und weibUchen Geschlechtes, bunt durcheinander. Man
forderte mir mein Portefeuille ab ; ich gab es hin. «Sprechen
sie fhinzösisch?> fragte ein kleiner verwachsener Mann, mit
einem feurigen Blicke, und fasste mich scharf ins Auge. Ein
Diener, der mir zur Seite stand, deutete auf ein^n der Tisch-
genossen und sagte: «Diess ist der Bürger Sous-Generai.» Ich
wusste nicht, meinte er den kleinen Mann oder einen andern^
und weiss es heutiges Tages noch nicht. Unbefangen erklärte
ich, dass ich das Französische nur sehr schlecht sprechen könne;
meine Muttersprache sei die deutsche. cSo sagen sie nur
deutsch, was Ihr Begehren ist I» sprach der kleine Mann, «reden
sie kühn von der Brust weg 1 Republikaner hassen Heuchelei
und Furchtsamkeit.» Seine Zusprüche hoben meinen Math.
Ich gerieth ein wenig in Feuer und hielt eine Art Standrede, in
der ich mit der grössten Offenheit die Gründe darlegte, welche
mich bewogen, nach Frankreich zu kommen. So oft ich etwas
vortrug, das eines Beweises zu bedürfen schien, griff ich unver-
holen nach meinem Portefeuille, nahm es den Blätternden aus
der Hand, suchte, während ich sprach, das beweisende Acten-
stück hervor, faltete es auseinander und legte es den Benren
vor. Die Schriften giengen von Hand zu Hand. Als ich glaubte,
die Aechtheit meines republikanischen Bürgersinns genug er-
probt, und die Ursachen, warum ich ohne Pass käme, deutJidi
angegeben zu haben, bat ich den Bürger Sous-€reneral, einen
Patrioten, der es ganz aus Ueberzeugung sei, nicht abzuweisen,
sondern mir vielmehr selbst einen Pass zu erteilen. Nun fiengen
die Debatten über mein Gresuch an. Sie waren französisch,
wurden schnell vorgetragen, und ich verstand das wenigste
davon. Der kleine Herr hielt meinem patriotischen Sinne und
zugleich dem seinigen eine Lobrede, gab mir mein Portefeuille
mit allen Schriften zurück und fragte, ob ichs zufrieden sei,
wenn ich zum General nach Blotzheim geschickt würde? Zwar
müsste ichs wagen, einen Gang umsonst zu thun und abge-
wiesen zu werden ; allein ich erhielte denn doch die Grewissheit,
— 5 —
ob ich nach Colmar reisen dürfte oder nicht. — «Ei, was liegt
mir an dem kurzen Gange U rief ich aus, cum das Glück, ein
französischer Büi^er zu werden, liefe ich Ihnen nach Russ-
land und wieder zurück.* Man lachte laut auf, klatschte in
die Hände, und ein dicker Herr oben an der Tafel schrie mit
kreischender Stimme: cEcoutez, Gitoyens! n'est-il pas un en-
rag^?> Da wagte ichs im Aerger, dem schlimmen Tadler auch
einen französischen Brocken aus meiner Fabrik zuzuwerfen, c Heu-
reuse la France!» rief ich aus, «si ma rage aurait pris tous les
Franpais U Man lachte, klatschte noch einmal und entliess mich.
Zwei Nationalgarden führten mich nun über ein Acker-
feld hin, einem Gehölze zu, das beinahe bis an die Schweizer-
grenze sich erstreckt und abwärts weit ins Elsass sich verläuft.
Ich nahm dessen Lage genau in Augenschein und dachte :
«Giebt dir der General eine abschlägige Antwort, so schleichst
du Nachts über die Grenze in dies Grehölze und wanderst
auch ohne Pass nach Golmar.» So eigensinnig beharrte ich
auf meinem Vorsätze, mein Glück in Frankreich zu suchen.
Zu Blotzheim fand ich den General in einer glänzenden Gesell-
schaft von Herren und Damen noch an der Tafel und trug,
als ich öffentlich um die Ursache meines Hierseins befragt
ward, mit eben dem Feuer und eben der Dreistigkeit, wie in
BourgUbre, mein Anliegen vor, legte offenherzig meine Gründe
dar und begleitete sie mit schriftlichen Beweisen. Auf den
General wirkte meine Offenherzigkeit am meisten. cWie ich
merke, Citoyen,» sagte der General, «so ist sein Sinn acht
patriotisch. Lass er nur die Briefe des Bischofs hier und
geh er indess in ein anderes Zimmer ! » Man führte mich in
die Kanzlei. Nach einiger Zeit kam ein Sekretär, fragte mich
noch einmal soi^faltig aus, durchstöberte mein ganzes Porte-
feuille, forschte nach, ob ich nicht noch andere Schritten,
Schreibtafeln u. s. w. bei mir führte, liess mich von einem
Diener aussuchen und machte mir wegen der neuen Einrich-
tung, vermöge welcher das geistliche Wesen in Frankreich ganz
abgethan wäre, allerlei Einwendungen, um mir die Lust, nach
Golmar zu wandern, allmälig zu benehmen. Er sprach von
der Noth, in die ich gerathen würde, wenn ich keine Besoldung
erhielte ; betheuerte, dass er nicht begreife, wie mir der Bischof
solche Zusagen machen könne, und versicherte, die Hoffnung,
als Geistlicher mein Brod zu gewinnen, müsste bei der jetzigen
Verfassung des öffentlichen Religionsunterrichts ganz gewiss
scheitern. Allein ich berief mich auf die Berichte des Bischofs,
der die Sache doch am besten wissen müsste, und brach im
Feuer des Gespräches in die Worte aus : cUnd kann ich mein
Brod als Geistlicher nicht gewinnen ; so will ich wilde Pflanzen
— 6 —
essen und gern alles dulden, um ein französischer Bürger zu
werden. Dass es tnir mit diesem Entschlüsse ernst ist, können
Sie aus dem Buche ersehen, das ich hier bei mir trage.» Ich
zeigte den Bryant ; i der Sekretär lachte laut auf, rief aus :
cNün in aller Welt! ein solcher Enthusiast ist mir noch nicht
vorgekommen !> riss mir das Buch aus der Hand und lief
damit zum Greneral. Derselbe kam jetzt selbst herüber, be-
fragte mich über die Landkartenteile, die im Bryant lagen,
und war sehr zufrieden, als ich ihm ganz unverholen den Ge-
brauch davon angab und die übrigen Blätter der Karte vorwies.
«Wohlan 1» sagte er, «weil er denn ein gar so eifriger Patriot
ist, so will ich versuchen, ob ich ihm zur Erfüllung seiner
Wünsche behülflich sein kann ; ein so reiner Bürgersinn und so
viel Freiheitsliebe verdienen diese Belohnung. Es soll ihm
ein Pass ausgefertigt werden ; aber lass er sich warnen ! bleibe
er genau auf der Strasse nach Colmar ! wenn er irgendwo
nach der Seite auslenkt, so ist er verloren und wird gewiss
als ein Fremder unter die Guillotine gerathen. Zu Colmar
stellt er sich sogleich beim Ausschuss der öffentlichen- Wach-
samkeit. Merk' er sich das!» Ich hüpfte fast vor Freude;
sie schaute mir leuchtend aus den Augen, als ich diese Reden
vernahm ; die Sekretärs lachten darüber und flüsterten von
meiner frohen Miene u. s. w. nicht ohne Theilnahme. Ich ver-
sprach dem General heilig, seinen Befehlen pünktlich nachzu-
kommen, und dankte ihm entzückt für seine Güte. Er gieng
zufrieden lächelnd weg und sagte : «Gitoyen, freue er sich nicht
zu sehr ! ich fürchte, meines Passes ungeachtet wird er in
Colmar als Fremder und Geistlicher nicht geduldet werden. Noch
'begreife ich nicht, wie der Bischof ihm in diesen Ausdrücken
schreiben konnte.» Man fertigte mir nun folgenden Pass ans:
Liberty. Egalite. Fratemit^.
Laissez passer et repasser librement le Citoyen Francms
BronneTy qui nous a d^clar^ vouloir aller k Colmar paur se
rendre au Comite de Surveiliancey qui jugeray si son z'dt
pour la liherte lui meritera le titre de citoyen francaisy au
Quartier General de Blotzheim le 6 Nivos. 1793. Fan 2 de k
R^publique Fran^aise une et indivisible.
L'Adjudant^Gen^ral, Leger.
Vü par le G6neral-Commandanl en chef TArmee du Haul-
Rhin. Scherer, m. p.
1 Bryanis Verzeichnis der zur Nahrung dienenden Pflanzeii. Aqb
dem Englischen. Leipzig 1785-86, U,
— 7 —
Was hier mit Gursiv-Schrift gedruckt ist, war geschrieben,
das übrige gedruckt. Mit eigener Hand schrieb der General
noch folgendes darunter : Dans le cos contraire le Comitä de
SurveiUance le renverra au quartier gäneral pour le faire
rep€Lsser ä VHranger. —
Der Pass von Zürich ward mir abgefordert und zurückbe-
halten, als man mir diesen übergab. Ich fragte, ob ich für
die Ausfertigung etwas zu bezahlen hätte. cNein U sagte der
SekretiLr mit nicht unedlem republikanischen Selbstgefühl, «hier
im Lande der Freiheit lässt sich der öffentliche Beamte nicht
zweimal (vom Staate nämlich und vom Bürger) bezahlen.»
Vergnügt, wie nach einem errungenen Siege, und stolz, jetzt
nur von so uneigennützigen Obrigkeiten abzuhängen, gieng ich
aus dem Dorfe nach Sierenz. Es war ein Triumph in meiner
Seele, dass ich nun doch, allen Hindernissen zum Trotze,
meinem Ziele mich näherte. Nationalgarden, die auf der
Strasse hin und her marschierten, einzelne reitende Jacobiner
mit rothen Kappen oder Mützen, an denen Fuchsschwänze herab-
hingen, Bauern, die bald halbleise und furchtsam, bald
schreiend und fluchend mit einander von den Grottlosigkeiten
und Greueln sprachen, die sich die Nation (so nannten sie die
Nationalversammlung) in Religionssachen zu Schulden kommen
lasse, war alles, was ich auf diesem Wege sah und hörte.
Ruhig wanderte ich fort, hing mich an niemanden und t)e-
schloss, um morgen recht frühe in Golmar zu sein, ungeachtet
der anbrechenden Nacht, heute noch nach Habsheim zu laufen.
Die Entfernung war grösser, als ich geglaubt hatte. Dicke
Finsterniss umgab mich bald^ und es gelang mir nur mit Mühe,
auf der Strasse fortzutappen und endlich nach manchem Sturz
in den Graben das ersehnte Dorf zu erreichen.
Nachtherberge in Habsheim.
Wie mir Leute sagten, die über die Gasse giengen, so be-
fanden sich etwa 5 Wirthschaflen im Dorfe; aber fast alle
hatten ihre Schilde eingezogen, weil ihnen weder Bedienung
noch Lebensmittel um Assignate feil waren. Als ich zum
besten Wirthshause kam, das man mir gewiesen hatte, ging ich
hinein und bat um Nahrung und Herberge. Die Wirthin ent-
schuldigte sich mit der Menge ihrer Gäste, wankte aber doch,
ob sie mich nicht aufnehmen wollte; da erblickte mich der
Conducteur des Basler Postwagens und raunte ihr ganz ver-
nehmlich zu : c Schicken Sie den Kerl fort, er ist ein abtrün-
niger Pfaff und ein rasender Jakobiner.» Dieser Conducteur
war eben bei dem Sous-General zu Bourglibre im Zimmer ge-
wesen, als ich meinen Patriotismus in vollem Glänze produ-
— 8 —
zirte. Sein Angeben wirkte. Geschwinde sagte die WirÜdnn:
cCitayen) ich habe weder Essen noch Bett für sie, suchen sie
eine andere Herberge ! » Ich suchte^ aber überall ward ich
abgewiesen, überail hatte man der Gäste zu viele. Wenn ich
nicht unter freiem Himmel übernachten wollte, so musste ich
mich bequemen, an einem elenden Häuschen, vor dem ein
Schild hing, und das ich um seiner Armseligkeit willen gleich an-
fangs vermieden hatte, anzupochen und um Quartier zu bitten.
Ich konnte nichts Gutes erwarten ; aber Noth bricht Eisen. Der
Wirth, ein ungeschliffener, handfester Kerl, kam unter die
Thür: «Was will er, guter Freund?» — «Eine Nachtfaerberge. >
— «Hat er Brod? wir haben keins.» — «Ei Herr Wirth, er hat
wohl noch so viel, als ich brauche.» — «Keinen Bissen weiter,
als was wir selber bedürfen.» — «Nun denn, so kann ich
etwas anders essen! Geb' er mir, was er mag!» — «Wir
können nichts entbehren, müssen selbst Noth leiden. » — «Seine
aristokratische Menschenfreundlichkeit verdiente fast, dass es
wahr würde.» Hiemit gieng ich aufgebracht fort. Er lief mir
nach, ergriff mich beim Arme und sagte: «Nur nicht gleich
so hitzig, Gitoyen ! Ich glaube, er wäre wohl gar im Stande,
mir Verdruss zu machen. Wir haben Mangel ; aber wenn er
mit dem wenigen vorlieb nehmen will, was wir ihm vorsetzen,
so kann er hereinkommen.» Ich gieng mit ihm in die rauchige
Stube, in der an allen Tischen Soldaten sassen, tranken, assen
und schmauchten. Jetzt besah mich der Wirth von Kopf bis zu
Fusse und sagte sanfter: «Um Vergebung, Gitoyen! Man
kann bei dieser Zeit nicht wissen, wen man vor sich hat!
Wer sind sie denn?» — Ein Reisender, der von Basel nach
Golmar geht. — «Darf ich fragen, was ist dort ihre Verrich-
tung?» — Ich reise in meinen eigenen Greschäften. — «Sakre-
bleu!» rief jetzt ein Soldat, dem Ansehen nach ein Sergeant,
hinterm Tische hervor, «er ist der Aussprache nach ein Deut-
scher: Holla Spion!» Ich kümmerte mich wenig um sein
Geschrei, suchte einen ledigen Platz an den Tischen umher
und setzte mich ohne Geremonien nieder. Es war mir vom
Gehen warm geworden und die dämpfige Stube war heiss, wie
ein Schweissbad; ich legte also den Hut neben meinen Regen-
schirm und dem Bryant auf die Bank. «Bei meiner Seele!»
schrie nun der Sergeant wieder, «das ist gar ein deutscher
Pfaffl Seht mir nur seine Glatze an!» Hastig stand er auf
und trat zu mir: «Den Pass her, wenn er einen hat!» fuhr
er trotzig mich an, und was ist das dort für ein Buch? Her
damit!» — Ich legte die Hand auf meinen Bryani und ant-
wortete fest und. kalt: «Gitoyen, das Buch ist mein; nehmen
Sie sich in Acht ! Noch weiss niemand hier, wen Sie vor sidi
— 9 —
haben!» Er machte grosse Augen, der Wirth flüsterte ihm
za : «Ereifern Sie sich nicht, Gitoyen ! Man kann nicht wissen !
Neulich war auch so ein Reisender da! Sie erinnern sich
noch.» Der Sergeant blickte indess verächtlich auf mich nieder,
warf die Unterlippe auf und sagte endlich mit rauhem Tone :
cSeht nur die geschorne Platte an!» (er meinte meine Glatze)
was kann wohl dahinter stecken? Und hab* ich nicht das
Recht, ihm seinen Pass abzufordern : er muss mir ihn vor-
weisen und wenn er der Teufel selber wäre.» — «Gitoyen, das
müssen Sie!» sagte mir der Wirth kleinlaut und zuckte die
Achseln. Ich zog mein Portefeuille hervor, suchte den Pass
und legte ihn schweigend auf den Tisch. Der Sergeant nahm
ihn auf und las. «Respekt!» sagte er ernsthaft, machte ein
langes Gesicht, legte das Blatt weg und setzte sich ruhig an
seinen Ort. Der Wirth nahm Platz an meiner Seite und fing
an zu klagen, dass man jedem Hausvater die Quantität Ge-
treide, welche er verbrauchen dürfe, bestimmt und alles übrige
aufgezeichnet habe ; dass man gezwungen sei, um einen ge-
wissen Preis (Maximum) und noch dazu für Assignate sein
Eigenthum hinzugeben; dass man nicht einmal Bezahlung in
€^ld ausbedingen dürfe, u. d. gl. Ich erwiederte : Zum Besten
(les Ganzen wäre es höchst nölhig, dass mit dem vollen Vor-
rathe des Landes haushälterisch gewirthschaftet wurde, und
dass zur Verhütung des Mangels die kornreichen Provinzen,
wie das Elsass, ihren Ueberfluss an Früchten gegen billige
Preise an die minder fruchtbaren Länder abträten ; was die
Assignate beträfe, hätte er bei mir nicht zu befahren, seine
Bezahlung in Papiergeld zu erhalten ; denn ich besässe dermals
noch keine. ^Sein Blick ward heiterer, sobald er diess vernahm ;
er gieng in die Küche und befahl geschwinde Brod, Suppe,
Braten, Salat und Obst hereinzubringen, sodass ich statt des
angedrohten Fasttags plötzlich Ueberfluss vor mir erblickte.
. Nach und nach verloren sich die Gäste. Die einen giengen
in ihr Quartier bei den Bauern, die anderen verlangten zu
Bette« Nur wenige blieben. .
...... Ich verlangte zu Bette; er führte mich in eine offene
Kammer, wo einige Bettstellen voll Soldaten lagen. Sorgtältig
visitirte ich mein Bett, fand zwar alles reinlich und frisch
überzogen, aber es ekelte mir doch ein wenig; desswegen
kleidete ich mich nur zur Hälfte aus, verwahrte meine Sachen,
so gut ich konnte, zwischen dem Strohsack und dem Unter-
bette und streckte mich in Gottes Namen unter die Decke. Die
Müdigkeit machte, dass ich besser schlief, als ich gehofft hatte.
— 10 —
So yne ich am Morgen aus dem Hause trat, sah ich einen
Haufen Nationalgarden bey der Kirche versammelt, um ihre
Brodportionen abzuholen. Das war ein Gewimmel, ein Scher-
zen. Jagen und Hüpfen durch einander, dass ich froh war,
glucklich an dem Haufen vorüber gekommen zu seyn. An
allen Hüten prangten National-Kokarden, und fast an jedem
Fensterladen hiengen bunte Schilder mit dem bekannten Wappen
der Republik, einem eyfomiigen Eichenkranze, der zusammen-
gebundene Stäbe sammt einem darin steckenden Beile, um-
schliesst. Mit grossen Buchstaben stand rund umher ge-
schrieben : Liberty, ^alit^, unit^, fraternitö ou la moK. Als
ich an dem äussersten Wirlhshause des Dorfes vorübeipeng»
rief ein hitziger Bauer aus dem Fenster : cSeht ihr den Volks-
feind dort? Er trägt nicht einmal eine Kokarde. Willst dn
die National färben aufstecken, aristokratische Bestie ?» Ich
nahm keine Notiz von dem, was er mir zuschrie^ schaute nicht
um und gieng meiner Strasse. Bald war ich im Freyen. Aber
ich nahm mir vor, sobald ich Gelegenheit fände, eine drey-
farbige Kokarde zu kaufen.
Gang nach Colmar.
Ich kam zu dem Städtchen Ensisheim. Nahe dabey, wo
sich die Strasse schwenkt, war eine Feldkapelle gestanden mit
einem Cruzifixe. Jetzt war sie eingerissen, der Schutt lag um-
her, die Statuen der Heiligen schauten darunter hervor, der
Gekreuzigte lag darauf. Ich konnte nicht begreifen, wie ein
religiöses katholisches Volk diesen Greuel der Verwüstung, ohne
in Wuth zu geratheh, ansehen könnte, und fürchtete wahrlich,
am Ende möchte die gute Sache der Vernunft und Freyheit
durch übertriebenes, allzuhitziges Losstürmen auf diejenigen
Vorurtheile des Volks, die ihm am theuersten sind, alles verlieren,
statt durch Mässigung alles zu gewinnen. Um einiger Massen
urteilen zu können, wie der gemeine Mann diese Bilderstürmerey
aufnehme, setzte ich mich auf eine Bank unweit des Thores,
wo ich die Rudera der Kapelle, sammt den Vorübergehenden im
Auge hatte, und beobachtete deren Mienen und Gebehrden.
Niemand kam die Strasse, ohne zu seufzen, die Augen zum
Himmel zu erheben und mit Bedauern wegzublicken. Sie
schienen zu denken : «0 Grott, kannst du's ansehen? ich nicht!»
Aber niemand gab einen missbilligenden Laut von sich ; jeder
schien sich zu furchten, unter der Guillotine zu fallen.
Ich gieng in die Stadt. Eine Wittwe gab mir zu essen und
nähte mir eine Kokarde auf den Hut.
Ueber Rexheim langte ich, langsam dahinschleichend, nach
anderthalb Stunden zu Mayenheim an, trat in ein sdiones
— 11 —
Wirthshaus an der Strasse und fand in der Stube ein paar
Kutschen voll Reisender, die mit düstern Mienen einander ihr
Bedürfniss zu essen klagten^ welches der Wirth dun;haus nicht
befriedigen wollte. Auch ich trug mein Anliegen vor ; denn
ich hatte zwei starke Stunden, '^ohne ein Dorf anzutreffen, bis
xum Städtchen Heilig-Kreuz zu marschieren, und zwölf Uhr
war eben vorüber. Allein ich ward trotzig angeschnurrt : «Hat
er Brod, Gitoyen, so kann ers überall essen, bey uns ist keines
zu finden.» — cEy, was essen sie denn?» — c Erdäpfel und
Salat.» — «So will ich mithalten.» — «Wir haben selbst
nicht genug.» Diese Antwort, bitter und spottend vorgetragen,
machte mich böse ; ich sagte auffahrend : «Nun, so wünsche
ich, dass wahr werde, was er lüge.» Damit gieng ich zur Thür.
Ergrimmend langte der Wirth nach seiner Peitsche und rief mir
einige Flüche und Drohungen nach. Es war ein sehr heiterer
Wintertag, die Sonne schien warm, die Luft wehte gelinde.
In einer ziemlichen Entfernung vom Hause setzte ich mich auf
Bauholz, das in der Gasse lag, und schrieb, ausruhend, obiges
in meine Schreibtafel ; da nahte sich mir eine Frau und fragte
mit ängstlichem Tone: «Ach, was schreiben sie da? Wer sie
auch immer sind, thun sie uns doch kein Leides ! Mein Mann,
der Wirth dort, war zu hitzig. Kommen sie mit mir, wir
wollen das Geschehene vergüten.» — Sorgen Sie nicht, er-
wiederte ich, dass ich Ihnen schlimme Streiche spiele. Ich bin
froh, wenn mir nicht schlimm mitgespielt wird. — «Wer
weiss, was ihr Vorhaben ist? Sie schreiben da unter freyem
Himmel, im Winter, sind von uns beleidigt und schauen unser
Haus von Zeit zu Zeit so bedenklich an. Wir wissen wohl,
dass- Beobachter im Lande herumreisen. Ach, schonen sie
unser?» --* Frau, Sie können ruhig seyn, ich bin gewiss kein
Beobachter ; aber begegnen Sie künftig jedem Beisenden besser
als mir, etwa so, als wenn er ein Beobachter wäre. Adieu ! »
Sie wünschte mir sehr höflich eine glückliche Reise, und ich
gieng durch das Dorf hinab. Als ich ein zweytes Wirthshaus
fand, trat ich hinein und bat um etwas zu essen. Landvolk
und Soldaten sassen im Zimmer. Die Wirthin entschuldigte
sich, dass sie nur wenig Lebensmittel besässe, legte mir aber
Brod vor und sagte leise : «Lieber Herr ! sie sind ein Geist-
licher, ich seh's wohl ; gedulden sie sich nur ein wenig, bis
einige von jenen unbändigen Gästen weggehen, die mir eben
mit Gewalt andere Speisen abgefordert haben. Mein Vorrath
ist zwar klein ; aber sie sollen doch genug zu essen bekommen.»
So wurden die Unannehmlichkeiten, die mir mein pfäffisches
Aussehen zuzog, doch hin und wieder durch einige Vortheile
vergütet.
— 12 —
Der Bischof in Colmar.
So wie ich aus dem Walde trat und die Thürme Gdmars
vor Augen hatte, ward mir wärmer ums Herz und ich glaubte,
der Entscheidung meines Schicksals entgegen zu gehen. Die
Burgerwache am Thore rief mich nicht an. Ungehindert trat
ich in die Stadt. Ein Knabe führte mich sur Wohnung des
Bischofs. Ich fand in einer ziemlich engen Gasse ein artiges
aber nicht prächtiges Haus, die Gänge und Treppenwände mit
Heiligen-Bildern behangen, und alles sehr ranlich gebalten.
Eine Haushälterin trat mir entgegen, der man es ansah, dass
sie weder Hunger noch Mangel litt. Sie war, wie ich nachher
erfuhr, die Verwandte des Bischofs. «Wen soll ich melden?»
— Bronner, den deutschen Greistlichen. — Sie gieng. Ich
musste lange auf dem Söller warten ; sehr viele kleine Um-
Ständchen, der Rauchdufl, die Gemähide umher, die Stille des
Hauses u. s. w. erinnerten mich an mein oftmaliges Harren
im Vorsaale des Herrn von Ungelter. > <0 Gott ! > dachte
ich, soll ich etwa wieder unter solche Hände gerathen?» End-
lich rief man mich hinein. Ein ältlicher Mann mit etwas
grauen Haaren, von frischem, aber eben nicht Ehrfurcht ge-
bietendem Ansehen erhob sich von seinem Sopha und kam mir
freundlich entgegen. cSind sie endlich da, mein lieber Bronner?
Willkommen in Colmar ! Fast fieng ich zu fürchten an, ihr
Enischluss habe sie gereut; so. lange zögerten sie.» Er zog
mich auf den Sopha ; ich entschuldigte mein langes Ausbleiben
und erzählte ihm, wie viele Schwierigkeiten besi^ werden
mussten, bis das Vergnügen, neben ihm zu sitzen, von mir
errungen ward. Einmal ums andere rief er aus : « Was ? Man
wollte sie an der Grenze nicht einlassen? Der Gesandte wollte
ihnen keinen Pass ertheilen? Das ist eine Wirthschaft! Soll
ich nicht die Freyheit haben, mir einen Mitgeholfen zu wählen,
welchen ich will?» Ich zeigte ihm meinen Pass. Er schien
darüber in Verlegenheit zu gerathen. «Lassen sie das ! » sprach
er mit hoher Miene, und gab sich ein Ansehen, «was wollen
sie erst zum Comit^ de Surveillance laufen? Sie sind einmal
hier unter meinem Schutze, das ist genug. Ich bin constito-
tioneller Bischof des Oberrheins und will den sehen, der mirs
verwehren wird, meine Mitarbeiter im Weinberge des Herrn
zu wählen, wie ich kann.» — Unmöglich war's mich des Ur-
theils zu erwehren: «Schwacher, eitler Mann!» Aber ich lies
nichts merken, machte nur meine Einwendungen und Gegen-
1 Das des ehemaligen Vorgesetzten Bronners in Angsboig.
— 43 —
Vorstellungen und bewog ihn endkch, dass er versprach, morgen
ivolle er selbst mich zum Präsidenten des Gomit^ begleiten.
Nun erkundigte ich mich um den neuesten Zustand des Re-
ligions-Wesens in Frankreich. Er behauptete geradezu, die
Verfassung der beeidigten Greistlichkeit sey noch eben dieselbe, '
wie beim Anfange der Revolution ; ihm werde seine Besoldung
vom Staate, jedem Landpfarrer aber von seiner Gemeinde aus-
bezahlt; die Kirchen seyen zwar grösstentheils in Tempel der
Vernunft umgeändert, aber dennoch habe man noch einige der-
selben dem Grottesdiensle gewidmet; er müsse eine grosse Ge-
meinde besorgen, übernehme selber alle bischöflichen Verrich-
tungen, weihe Geistliche, predige, sitze zur Beichte, halte das
Hochamt, besuche die Kranken und unterrichte die Kinder
u. s. w. Es sey ihm sehr lieb, nun an mir einen Gehülfen
zu haben ; ich dürfe ihm nur in die Hand arbeiten und sein
Vikar seyn. Auch ich solle predigen, zur Beichte sitzen, kate-
chisiren, Messe lesen und Kranke besuchen. Er wolle mir
dafür zu einem hinlänglichen Einkommen verhelfen, und würde
meine Besoldung nicht ergiebig genug ausfallen, so wisse er
einen Freund beym Departements-Archive, der mir gern etwas
zu verdienen gäbe, wenn ich die alten Schriften, die man aus
allen aufgehobenen Klöstern nach Colmar geschafft habe, ent-
ziffem möge, wozu mir als ehemaligem Registrator weder Ge-
schick noch Lust mangeln werde. Bereits habe er dem Archi-
var von mir gesagt.» Ich war ganz willig, mir alles gefallen
zu lassen und erhielt das Versprechen, er wolle mich morgen
nach dem Frühstuck zu dem Archivar führen, theils um mir
vorläufig einigen Verdienst auszumitteln, theils um nähere
Erkundigung einzuziehen, wie ich mich vor dem Gomit^ de
Surveillance zu verhalten habe.
Indess war die Nacht angebrochen und er Hess mich,
nicht ohne einiges Bedenken, in das lutherische Wirthshaus zum
Bocke führen. Allein es war sonst nirgends ein Gasthof für
Reisende geöffnet. Also ergriff er die klügste Partie, spielte
den Toleranten und sandte mich zum Bocke. Nach langem
Pochen und Bitten ward ich endlich eingelassen. Unter vielen
Protestationen, dass nichts besseres in haben sei, setzte man
mir ein kleines Abendessen von Erbsensuppe, Ragout und
Salat, mit einem Nachtische von Wallnüssen und Käse vor.
Ich führe desswegen hier an, damit es jedem klar werde, was
ich eigentlich Mittags und Abends für den Preis eines franzö-
sischen Laubthalers zu essen erhielt. Ich begriff wohl, dass
dieser Preis im Grunde nur wegen des Papiergeldes so hoch
stand, und versuchte die Wirthsleute zu überzeugen, dass ich
keine Assignate besasse, um sie zu bewegen, mir eine billigere
— 14 —
Zeche zu machen. Aber da half nichts ; der Wirth brummte :
cEs ist bei Lebensstrafe verboten^ zweyerley Preise zu machen ;
und der Teufel möchte wirthschaflen, wenn man nicht an
andern Gästen gewänne, was man an Soldaten verliert.» So
oft ich zu Bette gieng, forderte man mir die Bezahlung für den
vorigen Tag ab, aus Besorgniss, ich möchte während der Nacht
verschwinden.
Als ich hier zum erstenmaie übernachtete, f&hlte ich in
der Einsamkeit der Nacht recht lebhaft, dass hier, allem An-
scheine nach, meine Hoffnung, unabhängig leben zu dürfen,
scheitern würde, und dass ich wieder das elende Handwerk
eines Amanuensis und Bischofsknechtes treiben müsste. Schon
der Gedanke an eine solche Sklaverey erregte Schauer und
Eckel in mir. Dennoch war ich entschlossen, eine Weile aus-
zuharren und die Zeit abzuwarten , bis man mich kennen
wurde; dann hoffte ich, sollte es mir an Freyheit und besserm
Fortkommen nicht fehlen.
Beobacht ungen.
Den 28. Dec. (S« Niv.) schlenderte ich, ehe ich den
Bischof besuchte, durch einige Gassen der Stadt, lüstern, etwas
Interessantes zu beobachten. Am hohen buntgeschmückten
Freyheitsbaum vorüber kam ich zur Munsterkirche, über d^^en
Hauptportal mir eine sehr grosse schwarze Tafel in die Augen
fiel, auf der mit goldenen kolossalischen Buchstaben die In-
schrift glänzte : Temple de la raison, Tempel der Vernunft.
cO möchtest du ihr im Ernste geweiht seyn,» dachte ich,
c möchte die Vernunft wirklich irgendwo einen Tempel haben,
und Menschen, die ihr gehorchen ! Aber hier ist nicht alles
richtig. Ich fürchte, nur Zwang oder Neugierde führt zu diesem
Gebäude.» So gern ichs gesehen hätte, wenn das Volk die
Religion der Vernunft, das Naturgesetz allein, so wie es mehrere
der besten Schriftsteller darstellen und die meisten denkenden
Menschen erkennen, allgemein angenommen hätte, so wenig
konnte ich glauben, dass es sich durch einen Machtstreich seine
liebsten Vorurtheile entreissen lassen würde, und dass mit
diesen Vorurtheileu, wenn sie auch sänken (wegen des Mangels
an besserm Unterricht), nicht auch die Stützen der Moralität
mit einsinken würden. Immer betrachtete ich also den Tempel
der Vernunft mit einer Art Scheu.
Ich gieng auf die andere Seite des Münsters ; da sah ich
eine Heerde Sans-Cul^tten, die si^ch lustig um eine rothbemahlte
Bühne jagten ; sie war mit einem eben so gefärbten Geländer
— 15 —
eingefasst, und eine breite Treppe führte hinauf. Eine gute
Weile sserbrach ich mir den Kopf, was das vorstellen möchte;
endlich fragte ich einen ehrlichen Taglöhner, der mir zur
Seite stand : cDas ist gewiss ein Rednersiuhl, um darauf
Haranguen ans Volk 2u halten ?i Der Arbeiter beguckte mich
von Kopf bis zu Fuss, schlug ein lautes Gelächter auf und
sagte : cCitoyen^ er ist gewiss ein Fremder ! Sieht er denn
nicht? Das ist die Guillotine; die beyden aufrechtstehenden
Säulen mit dem Beile dazwischen hat man vor ein paar Tagen
nach Ruffach gefuhrt, um dort ein Paar Aufruhrern die Köpfe
abzureissen.» — Ich schauerte zusammen, als er so trocken und
kalt von der grausamen Maschine sprach, fasste aber doch den
Muth ihn zu firagen : cHat man auch hier schon jemanden
guillotinirt ?» Er antwortete barsch : cNicht viele, etwa drey,
ein Paar Spitzbuben und ein Weib.» Nie gieng ich ohne widrige
Empfindung an der hässlicben Maschine vorüber.
Ich trabte durch mehrere Gassen, ohne etwas Auffallendes
anzutreffen ; endlich öffnete sich ein geräumiger Platz vor
einer Kirche, auf welchem ich, bunt durch einander in grossen
Haufen, Altäre, Säulen, Kirchenbänke, Statuen, grosse Bilder-
rahmen, Beichtstühle, Gitter, u. s. w. u. s. w. alles zerschlagen
und verdorben, umherliegen sah; ein Paar Sans- Culotten hielten
Wache dabey ; der eine hatte sich gar bequem einen Beichtstuhl
zum Schilderhause gewählt, und rief den Mädchen lächerliche
Einladungen zur Beicht und Busse zu; arme Juden klaubten
im vergoldeten Holzwerke; einige Karren wurden von Lutheranern
scherzend mit Heiligen-Bildern beladen ; ein Kommissar handelte
mit einigen Kauflustigen um allerley Geräthe ; Katholiken giengen
vorüber, knirschten mit den Zahnen und bissen in die Lippen,
mit grimmigen, abgewandten Blicken. Ich fragte einen Vorüber-
gehenden, der eine ziemlich ruhige Miene machte : «Citoyen,
was hat denn dieser Trödelmarkt zu bedeuten?» — «Merken
sie's denn nicht?» antwortete er verdriesslich, aber nur halb-
laut, «hier wirft man das Heiligthum unter die Schweine. Es
ist die wahre Zerstörung Jerusalems.» Immer höher stieg meine
Vervvunderung, wie sich ein Volk, ohne aufrührisch zu werden,
und so stillschweigend, seine Heiligthümer nehmen lassen könnte,
und ich hielt es für übertriebene Kühnheit, für eine Art Grau-
samkeit, Katholiken durch den öffentlichen Anblick einer solchen
Verwüstung täglich zu neuem Missvergnngen aufzureitzen und
hiemit gleichsam ihrer allerheiligsten Begriffe zu spotten. 0, der
Schrecken, wie mächtig hemmte er den Ausbruch selbst der
religiösen Wuth I
^ i6 -
Intoleranz des Bischofs, Coniit^ des Districts.
Nun gieng ich zum Bischöfe und frühstückte mit ihm. Um
mehr ins Klare zu kommen, fragte ich ihn, wie es denn am
Christtage mit dem Gottesdienste gehalten wurde? Da erzählte
er mir, die Obrigkeit habe nach langem Bitten der Geistlichen
die ehemalige Jesuitenkirche an diesem Tage sum Greforauche
sowohl für Katholiken als Protestanten zu eröffiien eriaubt und
es beyden Theilen überlassen, einander auszuweichen und wegen
Eintheilung der Zeit überein zu kommen. Er habe die Morgen-
stunden von 4 bis 10 Uhr gewählt und vorgestellt, die Katho-
liken bedürften, um ihrer Beicht und Gommunion ordentlich
abzuwarten, wenigstens dieser Stunden. Es sey ihm an sich
selbst zuwider gewesen, Lutheranern den Zutritt in eine Kirdie
zu lassen, die immer ausschliesslich nur von Katholiken besucht
worden wäre, und er habe gehofft, man würde ihnen am Ende
wohl eine andere leere Kirche einräumen. Alldn diess sei nicht
geschehen ; die Protestanten hätten, weil er sich mit ihnen
nicht freywillig vertragen wollte, die Hälfte des Vormittags,
nämlich die Stunden von 8 bis 12 Uhr in Anspruch genommen,
und ihn, der sich an ihre Prätensionen nicht kehrte, während des
Gottesdienstes in der Kirche überfallen ; es sey daher ein Auf-
lauf und ein lärmender Streit entstanden, so da<9S es beynahe
zu Schlägereyen gekommen wäre ; er habe aber die Vorsicht
gebraucht, die Katholiken noch zur Noth von Thätlichkeiten
abzuhalten; zwar hätte es ihm nur einen Wink gekostet, so
wäre das Volk über die Lutheraner hergefallen und hätten sie,
als die schwächere Partey, tapfer durchgeklopft. Zu einer
andern Zeit wäre das wohl angegangen ; aber in so kritischen
Umständen, als die gegenwärtigen seyen, müsste man Klugheit
vor Recht gehen lassen. Er vertraute mir ferner, sein Benehmen
habe dennoch auf die Obngkeit Übeln Eindruck gemacht, er
fürchte, in Paris angeklagt und zur Verantwortung gezogen zu
werden, und habe eben eine Vertheidigungsschrift abgefasst,
die er mir vorlas. Sie war sehr lange und zeugte von einem
sehr beschränkten Kopfe, von viel Intoleranz und von noch
mehr Eigendünkel Und bischöflicher Selbstgenügsam keil. Ich
schüttelte den Kopf und äusserte bescheiden, wenn ich am
Ghristtage zugegen gewesen wäre, so hätte ich ihm zur fried-
fertigsten Verlragsamkeit gegen die Protestanten gerathen ; es
müsste doch möglich gewesen seyn, die Beichtenden am Vor-
abend und am Feste Morgens von 4 bis 6 Uhr abzuhören und
dann mit dem Hochamt, der Predigt und Gommunion bis 8 Uhr
fertig zu werden. Er wollte mir dagegen begreiflich machen,
diess wäre gerade der Weg gewesen, es mit den Katholiken
- 47 -
selbst vollends zu verderben ; denn sie hielten die beeidigten
Priester und Bischöfe ohnehin für halbe Lutheraner. Ich meynte,
man müsste dergleichen Beschuldigungen nicht achten, sondern
recht thun, and die Leute belehren. Allein der Bischof war
andern Sinnes, bezeugte mir aber wegen meiner Aeusserungen
so wenig Missfallen, dass er mir vielmehr mit vie lern Zutrauen
von meinen künftigen Verrichtungen sprach und mich auf den
komnoenden Mittag zu Tische lud. Meine Lust, sein Vikar zu
werden, hatte sich dag^en völlig verloren. Was wollte ich in
(Gesellschaft eines so eiteln, intoleranten Mannes beginnen?
Wie konnte ich hoffen, nach meiner Ueberzeugung lehren zu
dürfen? Meine Lage war bereits sehr unangenehm. cDie beste
Partie, die du ergreifen kannst,» sagte ich mir selbst, eist
die, dich so bald möglich von ihm los zu machen.» Indessen
wollte ich mich von ihm gängeln lassen, bis sich ein Seiten-
weg &nde, seiner bischöflichen Gewalt zu entwischen.
Nun führte . er mich zu seinem Freunde, dem Archivar.
Er war nicht mehr zu Hause. Im ehemaligen Jesuiten-Colle-
gium, wo wir ihn finden sollten, hiess es, er habe sich eben
ins Comit^ du District verfügt ; und Martin entschloss sich, ihn
auch dort aufzusuchen.
Als wir durch ein Bogengewölbe gegangen waren, streckten
uns ein Paar Kanonen die drohenden Oeffnungen entgegen.
Neben den Kanonen waren rechts und links zwey Thuren. Auf
jener zur Rechten stand die Aufschrift : Comitä du District, aut
der andern: District de Golmar. Mein Führer trat zweifelhaft,
ob er sollte, zur ersten hinein. Es wunderte mich, dass er
nicht bessern Bescheid wusste, und ich folgte ihm mit er-
schrockenem Herzen. Der gesuchte Archivar war da, kam dem
Bischöfe entgegen und trug alle Anzeichen von Verl^enheit
auf dem Gesichte. Der Bischof sagte einiges von dem, was er
mit mir vorhabe, bat ihn leise um Rath, wie es einzuleiten
sey, um bey dem Comit^ de Surveillance keine Hindernisse zu
finden, und gerieth bald ins Stocken ; denn zwey Mitglieder der
Districts- Verwaltung, die im Gomit^ arbeiteten, verwandten kein
Auge von ihm, und horchten genau auf seine Worte. Der eine
war ein wohlgebildeter, schlanker, ernster, anstelliger Arbeiter,
der seine Geschäfte mit Leichtigkeit zu machen schien; der
andere ein starker, etwas beleibter, ungeschlachter, polternder
Mann. Dieser näherte sich mit einer höhnischen Miene und
sagte spottend : cEh voila, Gitoyen Martin ! wie gerathen Sie
hieher!» Der Bischof erklärte ihm, furchtsam und betroffen, die
Ursache seines Hierseyns. Das Districts-Mitglied lachte lautauf
und erwied^rte : cHaha! Sie rekrutiren in Deutschland, wenn
es im Elsass an Gehülfen fehlt!» Er wandte sich an mich:
2
— 18 —
c Citoyen, sie kommen zur Unzeit ; bey uns hat die Pfafferey
ihr£nde; hier werden sie ihr Heil nicht Onden.» Der Bischof
sagte, er könnte mich sehr wohl brauchen. — c Könnten Sie
das?» antwortete der spottende Mann mit schalkhaftem Tone:
tSehr gut also, Gitoyen Martin, dass Sie sich hieher verirrten!
Es scheint, Sie haben im Gomit^ de Surveillance ihre Freunde,»
(mit einem stechenden Seitenblicke auf den Archivar sprach er
das) cund möchten das Heer unsrer geistlichen Schmarotzer
gern auch noch mit einem Ausländer vermehren. Aber dafür
soll gesorgt werden ; verlassen Sie sich darauf! Gitoyen», sprach
er zu mir, cer setzt sein Gresuch schriftlich auf und bringt es
Nachmittags in eigener Person hieher!» — Martin nahm Ab-
schied ; der Archivar begleitete uns und sagte mir leise :
c Kommen sie frühe nach Tische, so treffen sie mich allein !»
und gieng schüchtern wieder zurück. Der Bischof erzählte mir
sogleich, als wir allein waren, der Spötter sey ein GeistUdier
gewesen, welcher vor einiger Zeit wegen schlechter Auffahning
von ihm bestraft ward, habe das Priesterthum abgeschworen
und öffentlich seine Formaten (Zeugniss der Weihe) verbrannt.
Nun spiele er den patriotischen Eiferer und suche sich für die
erlittene Strafe zu rächen. Ich sollte mich nur an den Archivar
halten und übrigens keiner Furcht Raum geben. Er wollte es
gewiss so lenken, dass ich bleiben dürfte.
Bittschrift. Delib erationen darüber bey der
Districts- Verwaltung.
Kleinmüthig begleitete ich ihn nach Hause, gieng in meine
Herberge und verfasste die verlangte Bittschrift.
Alle meine Angaben belegte ich mit schriftlichen Beweisen,
deren etwa 8 Stücke seyn mochten. Auch die Briefe des Bi-
schofs und meine Formaten befanden sich darunter. Die ganze
Bittschrift füllte einen halben Bogen in Folio und war an das
Gomit^ de Surveillance des ersten Kantons der Gemeinde Kolmar
addressirt.
Sogleich nach Tische eilte ich, das Gomitö du District
wieder zu finden. Lange lief ich vei^bens durch die Gassen.
Endlich gelang es mir doch. Der Archivar, des Bischofs Ver-
trauter, wartete meiner schon lange. Sogleich übergab ich ihm
meine Bittschrift. «Ach Schade,» rief er aus, cdass sie der
Bischof im Umgestüm seines Eifers irre geführt hat ! Ihr Pass
und ihre Bittschrift lauten ja an das Gomit6 de Surveillance,
und nun verschlägt sie das Schicksal hieher, wo lauter Feinde
des Bischofs sitzen ! Alles wäre gut gegangen, wenn sich Martin
die Unvorsichtigkeit nicht hätte zu Schulden kommen lassen.
- 49 —
sie zu mir zu bringen und sogleich von ihrer Bestimmung zu
schwatzen. Nun ist schwerlich zu helfen. Man ist einmal auf-
merksam auf sie und wird dem Gomit^ de Surveillance kaum
gestatten, unbefangen über die Entscheidung ihres Schicksals
zu deliberiren. Machen sie sich nur gefasst, wieder nach
Deutschland zurückgeschickt zu werden ; diess ist noch das
Besfe, was ihnen wiederfahren kann.» Indem der Archivar
dei^eichen Klaglieder anstimmte, trat der abgeschworene Geist-
liche, ein Mitarbeiter im CSomit^, herein und begrüsste mich
sogleich mit den Worten : cHa I schon da, Citoyen Bischofs-
knecht?» Und zum Archivar sprach er: tWas haben Sie doch
mit dem Bischof zu schaffen, Citoyen? Sind Sie denn sein
Nikodemus, der Nachts zu ihm ins Haus schleicht?» Der Ar-
chivar stammelte eine Art Entschuldigung, nahm nach einer
Weile seinen Stock und Hut und schlich davon. Der Ex-
geistliche blätterte erst in einigen Schriften, und wandte sich
dann wieder an mich : <Hör' er, Citoyen, kannte er das Gesetz,
dass jeder Deutsche, der sich nach Frankreich wagt, guilloti-
nirt werden soll?» Unverholen antwortete ich: <Von dem
Gesetze wusste ich und fragte ausdrücklich an, ob es auf mich
anwendbar sey. Man gab mir die deutlichste Versicherung, dass
ich nichts zu befürchten hätte; so kam ich.» Indess trat der
andere jüngere und stillere Arbeiter des Comit6*s herein. Der
Exgeistliche trug ihm meinen Casus auf der ungünstigsten Seite
vor und wollte mich durchaus guillotinirt wissen. Der andere
forderte mir ein gültiges Zeugniss ab, dass man mir die Ver-
heissung gethan habe, ich sey von dem Gesetze ausgenommen.
Ich zog meine Bittschrift aus der Tasche und wies die beyden
Briefe des Bischofs vor, die ich als Belege der Bittschrift bey-
gefügt hatte. Sie lasen und brachen beyde in ein lautes Ge-
lächter aus, als sie auf die Aeusserungen desselben über die
Fortdauer seiner Besoldung und die wunderthätige Versorgung
der Arbeiter im Weinberge des Herrn stiessen. cEs zeigt sich,»
rief der Exgeistliche aus, «dass der gute Citoyen da ein Be-
trogener ist ; der Bischof hat ihn hinter's Licht geführt ; dieser
muss bestraft werden. Citoyen, wie viel kostete ihn die Reise?
Gebe er die Summe nur vollständig an; der Bischof soll ihm
alles bis auf den letzten Häller vergüten.» — «Um Vergebung,
Citoyen!» sagte ich, «der Bischof hat mir zwar die Wahrheit,
wie ich merke, nicht berichtet; aber ich will den Schaden,
der mir dadurch zugieng, gern selbst tragen ; denn es ist mir
widerlich, einen andern meinetwegen in Verlegenheit gesetzt zu
sehen !» Zornig antwortete er : «Ey nun, so gehe er ohne Ver-
gütung zum T l — doch lass er sehen, was hat er da
für eine Bittschrift ? — 0 pfui, das ist ja eine ganze Predigt I
— 20 -
Wer wird das Zeug alles lesen? Und die Belege hier — haha!
Formaten I Will er die öfienilich verbrennen lassen ?> — eich
liebe den Lärm nicht,» erwiederte ich, cden eine solche auf-
fallende Handlung macht ; und glaube, sie fruchte nichts,
schade aber dem Geistlichen bey allen Schwachen. Meine Sache
wäre, still- thätig durch Belehrung an Verbreitung der Auf-
klärung und des wahren Patriotismus zu arbeiten.» — Der
Exgeistliche lachte laut auf und rief : «Da seht mir einmal den
ganzen Kerl an ! Er spricht von Aufkläiiing und ist in sttoer
Kleidung, in seinem Benehmen und allen seinen Bfanieren ein
Pfafif. Er hängt sich an den närrischen Bischof und will von
Belehrung des Volks sprechen ; das möchte mir eine hübsche
Belehrung seyn !» — Beschämt stand ich da und sagte nichts
als : cCitoyen, Sie kennen mich nicht und wollen mich nicht
einmal kennen lernen, sonst hätten Sie wenigstens meine Bitt-
schrift gelesen.» — «Die mag lesen, wer mehr Müsse hat, als
ich,» erwiederte er spottend, «man kennt den Vogel bald am
Gesänge I Wer möchte wohl leeren Worten trauen? Komm er
nur mit mir zum Präsidenten des Districts ; wir wollen sehen,
ob der mehr Geduld hat, als ichl»
Er führte mich zur Thür, auf welcher die Aufschrift para-
dirte: District de Colmar. Wir stiegen eine Treppe in ein
grosses Zimmer hinauf, wo an einer langen Tafel die Mit-
glieder der Districtsverwaltung sassen, von einer Menge Bürger
und Bauern umringt. Wir drängten uns durch zum Präsi-
denten. Mein Begleiter legte ihm spottend meine Bittschrift
vor und belehrte ihn kurz über meine Erscheinung. Der Prä-
sident durchblätterte die Belege und sprach : cDer närrische
Pfaff thut sich, wie es scheint, auf seine pfäffischen Zeugnisse
etwas zu Gute.» — «Nichts minders,» sagte ich, «aber ich wollte
Ihnen beweisen, dass meine Angaben richtig sind, und dass
ich ein ehrlicher Mann bin.» — «Ein Narr mag er seyn,» er-
wiederte der Jakobiner mit seiner rothen Mütze, «dass er sich
von dem aberwitzigen Bischof so äffen lässt. Der hat uns am
Christtag schöne Streiche gemacht. Nun beruft er noch gar
Helfershelfer aus einem fei ndlichen Lande. Er soll seinen Lohn
dafür erhalten. Hört er, Gitoyen I Mit diesen beyden Biachofs-
briefen kommt er uns ganz zur gelegenen Zeit; die erhält er
auf allen Fall nicht wieder zurück. Sein frommer seeleneifr^r
Bischof soll erfahren, welchen Grebrauch wir davon zu machen
wissen.» Er reichte jetzt die Bittschrift sammt den Belegen
einem Mitgliede des Dis tncts hin und trug ihm auf, sie durch-
zulesen. Das Mitglied rief mich zu sich und fieng an^ eine
kleine Stelle zu lesen ; aber plötzlich warf er alles auf den
Tisch und rief aus : «Wer hätte Geduld genug, das lange Ge-
— 21 —
Wäsche zu durchlaufen? Wir können die Zeit nicht so ver-
derben. Scher' er sich mit seinem Quark zum Gomit6 de Sur-
veillance, an das er addressirt ist!» Hiemit gab er mir meine
Schriften in die Hand ; mein Begleiter nahm mich wieder in
Empfang und führte mich ins Gomit^-Zimmer zurück. «Hier
sitz er auf den Stuhl,» sprach er trotzig, «bis eine Wache
kommt und ihn zum National-Agenten fuhrt, der ihn wohl
verwahren wird.» Das Verwahren gefiel mir gar schlecht ; aber
was wollte ich machen? Ich stand einmal in Feindes Gewall
und musste mit mir anfangen lassen, was man eben wollte.
Der Na lional- Agent.
Lange sass ich da und beobachtete, wie die Herren ihre
Geschäfte behandelten. Endlich, als die Sonne hinabs ank, er-
schien ein National-Gardist, dem man befahl, mich zum
National-Agenlen zu führen. Meine Bittschrift mit allen ihren
Belegen wurde mir in einem versiegelten Päckchen zugestellt,
um sie dem National-Agenten zu übergeben. Auf dem Wege
plauderten wir ziemlich vertraut über die neue Ordnung der
Dinge, mit welcher der Gardist gar nicht zufrieden schien. Ein
gutes Trinkgeld beym Eintritt ins Haus des National-Agenten
machte den Mann so treuherzig, dass er mir sagte: cCitoyen,
wenn sie in Gefahr sind, hier unglücklich zu werden, so sagen
sie mir's ; ich begleite sie vors Thor, und sie sollen frey hin-
gehen, wohin es ihnen beliebt. Wegen einer Ausrede lassen
sie mich sorgen!» — eich danke ihm, lieber Mann,» erwiederte
ich, «für seine Bereitwilligkeit, mir los zu helfen; aber ich
kann keinen Gebrauch davon machen; und sehe die Gefahr,
in der ich schwebe, eben nicht für wichtig an.» Unter freund-
lichem Händedruck schieden wir von einander.
Es war ein sehr unansehnliches Bürgerhaus in der Vor-
stadt, wo der National-Agent wohnte. Als ich ins Wohn-
zimmer trat, biess mich eine nicht unartige Frau mit ein Paar
Kindern willkommen. Dieser Umstand gab mir gute Hoffnung;
denn ich dachte: «Ein Mann, der Gatte und Vater ist, kann
unmöglich so grausam und gefühllos seyn, als ein hagestolzer
Pfaff.» ^ cHaben sie Geduld, Citoyen I» sagte die wackere Frau,
cbis mein Mann aus dem Spital zurückkommt! Es ist eine
Menge V^erwundeter dort angelangt, die alle von neuem ver-
bunden werden müssen.» Also ist der Mann ein Wundarzt,
schloss ich, und machte mich von seiner Seite auf wenig Scho-
nung gefasst. Bis er kam, las ich im Martial, den ich bey mir
führte, und beantwortete die seltenen Fragen der Hauswirthin,
die fleissig nähend mir gegenübersass. Endlich langte Herr
— 22 —
Deps, der National-Agent an. Seine Frau gieng ihm vor die
Thür entgegen, sobald sie seine Tritte auf der Treppe vemahm.
Ich hörte sie halblaut sagen : «Es erwartet dich drinnen ein
Frenider ; er scheint mir ein stiller ordentlicher Mensch. Schon
lange sitzt er am Tische und Uest.» £an junger frischer Mann
in Jakobiner-Kleidung trat herein und begrüsste mich sehr
freundlich. Sogleich übergab ich ihm mein Päckchen, erzahlte
mit Eifer, wie sonderbar ich bey der Districts-Verwaltung be-
handelt worden sey, setzte meinen Patriotismus ins gehörige
Licht und bat ihn um Schutz und Hülfe. «Die Herren haben
sich übereilt,» sagte er: «sobald sie den närrischen Bischof
sahen, so glaubten sie, in ihnen nichts weiter als einen Pfaffen-
knecht vor sich zu haben, und beurtheilten sie sofort nach
diesem Vorurtheile.» Er las meine Bittschrift mit ihren Be-
legen ganz durch, klopfte mir freundlich auf die Schulter und
sagte : «Gutes Muthes, Citoyen, ich sehe, sie wollten sich nur
vermittelst des Bischofes . hereinschwärzen. Sie haben wahre
Liebe für Freyheit und Aufklärung. Solche Leute branchen
wir ! Geben sie keinem trüben Gedanken Raum 1 Das Comite
des Districts schreibt mir zwar, ich soll sie in Verwahrung
nehmen ; aber ich finde das nicht nöthig. Geben sie mir Hand-
schlag und Wort, dass sie von hier nicht weggehen wollen,
ohne Abschied bey mir genommen zu haben, so bin ichs zu-
frieden.» (Ich versprach mit Handschlag, was er verlangte.)
«Ihr Schicksal^» fuhr er fort, «soll bald eine ganz andere Wen-
dung erbalten, verlassen sie sich darauf! Ich nehme sie in
meinen Schutz; fürchten sie nichts I Ohne meine Beystimmung
kann ihnen kein Haar gekrümmt werden. Ich sehe, sie sind
ein erfahrner Schriftsteller ; wir bedürfen bey unsrer Munici-
palität eines geschickten Uebersetzers . franzosischer Verord-
nungen; wer weiss, ob ich ihnen diese Stelle nicht zuwenden
kann? Morgen kommen sie, frühe um 8 Uhr, in die Munici-
pahtät, wir wollen sehen, ob sie dort nicht zu gebrauchen sind!
Abends um 4 Uhr aber erscheinen sie vor dem Comite de Sur-
veillance, das im ehemaligen Jesuiten-GoUegium seine Sitzungen
hält. Mein Vater präsidirt; ich will iha im voraus zu ihren
Gunsten stimmen. Sprechen sie herzhaft und kühn ; dann wird
alles gut gehen !>
Das Gomit^ de Survei llance.
Den 9. Nivose (29. Dec.) erschien ich zur bestimmten Zeil
in der Municipalität. Gitoyen Deps stand unter dem Thore, als
ich kam. Ich zog meinen Hut. «Pfui,» rief er, «lassen sie das
pfaffische Geremonienwesen ! Im Lande der Freyheit sind wir
— 23 —
alle gleich.» Hiemit riss er mir den Hut aus der Hand und
drückte ihn derb und fest auf meinen Kopf. Die Beamten bey
der Municipalität fanden freyiich, dass sie eines Cioncipisten und
Uebersetzers bedurften. cAber^» sagten sie, «der Citoyen er-
hält doch nicht so viel Besoldung, als er zu seinem Lebens-
unterhalt nöthig hat^ wie will er sich denn fortbringen? Es
kann lange anstehen, bis er verdient, was er braucht?» Auf
diese Weise lehnten sie es ganz gelinde ab, mich anzustellen.
Aber Deps verlor den Muth nicht. «Bleiben sie nur noch eine
Weile hier,» sprach er, «es wird sich alles geben!»
Abends stellte ich mich vor dem CSomitö de Surveillance.
Man setzte mich neben dem Präsidenten an einen runden Tisch,
um welchen die Mitglieder, etwa 12 an der Zahl, ihre Plätze
einnahmen. Ich musste die Begegnung, die ich bey der Districts-
Verwaltung des bischöflichen Geleites wegen erfahren hatte,
ausführlich erzählen, meine Bittschrift Punkt für Punkt vor-
lesen, und mit denjenigen Erläuterungen begleiten, welche die
Mitglieder bey jeder Stelle mir abfragten. Allmählig gerieth ich
in Feuer und liess meinen Freyheitssinn in vollem Glänze
strahlen. Einige Mitglieder riefen aus : «Schade, wenn wir solch
einen Mann wieder ins Ausland schickten! Er ist ein wahrer
Patriot!» — «Citoyen,» rief ein anderer, «wir könnten einen
Redner im Tempel der Vernunft brauchen; sie scheinen mir
die ächten Grundsätze der VernunfLreligion zu haben ; möchten
sie sich wohl dazu verstehen, dem Volke die Grundsätze der
Moral zu erklären?» — «Gar gern,» antwortete ich, «nur be-
soi^' ich, meine Vorlesungen möchten nicht immer ganz mit
dem Sinne derjenigen harmoniren, welchen gegenwärtig die
Belehrung des Volkes anvertraut ist.» — «Lassen sie diese
Sorge!» erwiederte der Mann, «wir wollen ihnen schon sagen,
was sie vortragen sollen oder nicht !» Ich zuckte die Achseln
und dachte : «Hier wärst du also wieder auf dem Punkte pre-
digen zu müssen, was andern gefiele! Das ist vielleicht noch
schlimmer, als die Censur des Herrn Domprobsts !» — Ein dritter
im Jakobiner-Costume rief: «Der ganze Vorschlag ist ein toller
Einfall ! Wie könnt ihr glauben, dass ein Pfafif in einem andern
als im pfaffischen Tone öffentliche Reden halten werde? Seine
Vorlesungen würden Predigten werden, Futter für Einfaltige,
wie man es vor kurzem noch von allen Kanzeln den christ-
lichen Schafen vorschüttelte! Ich behaupte, die Districts-Mit-
glieder hatten Recht, als sie den eingedrungenen Bischofsknecht
wieder über die Grenze zu befördern befahlen.» Der Präsident
erwiederte : «Der District hat uns nichts zu befehlen ; wir selbst
haben die Köpfe noch nicht verloren.» — «Wer sich von einem
Bischof aufführen lässt,» fuhr der Jakobiner fort, «und in all
^ 24 —
seinem Wesea so ganz Pfaff ist, wie der Citoyen da, braucht
nicht lange geprüft zu werden ; der erste Anblick verratfa, was
man an ihm hat. Er soll wieder über die Grenze ! Das ist noch
Gnade! Denn er wusste das Gesetz gegen die feindlichen Aus-
länder und drängte sich doch ins Land! Schonung g«iug,
wenn er noch mit dem Leben davon kommt U — «Ich be-
haupte,» begann jetzt ein anderer Mann, mit seiner rothen
Fuchsruthen-Mütze, «die Ursachen, welche den Fremden hier
bewogen haben, ins Land zu schleichen, müssen erst näher
geprüft werden. Man nehme ihn vorerst in engere Verwahrung
und untersuche genau, ob sein Patriotensinn nicht eine kunst-
liche Maske, und seine Correspondenz mit dem verdächtigen
Bischöfe nicht eine List war, um ungescheuter den Spionen
machen zu können.» Noch ein anderer rief: «Der Giloyen dort
gesteht, er habe das strenge Gesetz gegen die Auswärtigen
gekannt. Wie konnte er glauben, dass ein einfältiger Bischitf
in Verordnungen, die der National-Konvent feyerlich erlassen
hat, zu dispensiren vermöge? Unmöglich konnte er einen so
einfaltigen Gedanken hegen. Er hat sich also geradezu gegen
das Gesetz vergangen und verdient, den Kopf unter der Guil-
lotine zu verlieren.» — «Gegen dieses Räsonnement ist nichts
einzuwenden 1» sprachen ein Paar Beysitzer. — «Ich hütte viel
dagegen einzuwenden,» erwiederte ich, «freylich glaubte idi
nie, dass mich der Bischof vom Gesetze dispensiren können
aber ich fragte ihn schriftlich, ob es auf mich, als aufrichtigen
Patrioten, anwendbar sey und er betheuerle mir feyeriic-h^ es
sey nicht anwendbar. £he man jemanden verdammt, muss man
doch vorläufig einen Blick auf sein Betragen werfen und aeben,
ob aus demselben eine böse Absicht hervorleuchtet. Niemals
kam in mein Herz nur der geringste schlimme, der Republik
nachtheilige Gedanke ; wäre ich ein Spion, so hätte ich mich
nicht so treuherzig und genau nach der Vorschrift des Ciene-
rals vor diesem Gomit^ gestellt ; es wäre mir ja freygestanden,
erst nach Belieben zu spioniren und meine Absichten auszu-
fuhren und dann an die Grenze zu laufen, um dem General
zu sagen, man habe mich in Coknar nicht aufgenommen ; so
wäre ich glücklich entkommen. Alles diess that ich nicht und
ich muss mich sehr wundern, dass einige Gitoyens hier den
Ton der Wahrheit vom Tone des Betruges nicht besser zu
unterscheiden wissen.» — «Bitter,» polterte ein hagerer langer
Mann : «Vergesse er nicht, dass er mit einer Obrigkeit spricht!»
— «Citoyen,» sagte ich sanft, «ich weiss nicht, was Sie be-
leidigen konnte; aber ich habe ein gutes Gewissen!» — «Bej
meiner Seele!» rief Johann Kühler, der ältere, ein ehrlicfaer
Handwerker, aus ; «Per Citoyen scheint mir ein i'ecbtscbaffen^
- 25 —
Patriot und ein braver Mann zu seyn. Ich habe drey Kinder;
wenn er Anfangs wegen seines Unterhaltes verlegen wäre und
wollte sich entschliessen, meine Kinder zu unterrichten, so
gäbe ich ihm gern Wohnung und Kost.> — «Das war eine
recht einfältige Betheurung,» sagte jetzt Citoyen Burghard, ein
junger Arzt, «bey meiner Seele! was soll denn das heissen?
Das klingt ja nichts minder als republikanisch ! Seele ! Seele !
der Mensch ist Materie!» — «So hast du keine Seele?» rief
wörtlich ein dritter, «Bist du also ein Hund !» Hierüber fieng
sich ein hitziger Streit unter den Beysitzern an ; der Präsident
sagte mir, wahrscheinlich um die Pudenda der ungezogenen
Citoyens so bald als möglich meinem Anblicke zu entziehen :
»Treten sie nun ab ins Nebenzimmer, bis wir ihretwegen einen
Entschluss gefasst haben I» Ich gieng während der Debatten
davon, setzte mich im Nebenzimmer ans Licht, zog meinen
Martial, der nebst andern Dichtem wie ein Diurnal (kleines
Brevier) gebunden war, aus der Tasche und las darin, um
keinen Grillen Raum zu geben. Dennoch musste ich mir sagen :
Offenbar hat sich das Comit^ des Districts mit den Jakobinern
im Comil6 de Surveillance verstanden, um dich zu entfernen.
Sie sind noch dazu die mehrern ; wahrscheinlich wirst du wieder
an die Grenze geschickt. Doch das ist immer besser, als hier
gefangen zu sitzen und dein Geld unnütz zu verzehren. > Ein
Mitglied des Comit^ trat nach einer Weile herein, schlich hinter
mich und lauschte über die Schultern in mein Büchlein. <0
wehe,» rief er aus, «sie beten das Brevier ! Ist das ihre Auf-
klärung?» — Ehe ich zum Wort kommen konnte, war er
wieder fort. Bald rief man mich wieder hinüber ins Comite,
und die erste Frage des Präsidenten lautete: «Ist es wahr,
Citoyen? Haben sie eben das Brevier gebetet?» — Ich lächelte:
c Sogleich, Citoyens, sollen Sie mein Brevier sehen !» Ich zog
meine Dichter aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.
Der Präsident öffnete das Futteral, man sah hinein und brach
in ein lautes Gelächter aus. «Beym Teufel, Bruder, was hast
du gesehen?» rief Citoyen Burghard. — «Horcht, horcht !» rief
ein anderer, «Burghard glaubt nicht , dass wir Seelen haben ;
aber er glaubt an den Teufel.» — Der Präsident sprach ernst-
haft: «Citoyens, fangen Sie nicht wieder davon an !» — «Ver-
wünscht!» sagte derjenige, der mich als einen Brevierbeter
angegeben hat, «ich sah die Verse für Psalmen verse an. Da
hab' ich mich garstig betrogen.» — «Ach !» rief Johann Kühler
aus, «Bronner war' es werth, dass wir ihn behielten !» — «Wäre
der District nicht dagegen, so wünschte ich es auch,» sagte
Burghard, «ich habe ein Kind und wäre froh, wenn der Gi-
toyen sein Lehrer würde. Kost, Wohnung und ein Stück Geld
1
— 26 —
für Kleidung wollte ich ihm gern geben. Er versteht auch Bo-
tanik ; das wäre für mich eine angenehme Gelegenheit, diese
Wissenschaft zu studieren.» — «Ich sehe^ es wird mir nicht an
Unterhalt fehlen,» sagte ich, «verschaffen Sie mir also nur die
Erlaubniss hier zu bleiben, so werde ich ein glücklicher Mensch
seyn !» — «Die Mehrheit der Stimmen fiel gegen sie aus», sprach
jetzt der Präsident, «aber noch ist nicht alle Hoffnung ver-
loren; vielleicht lassen sich die Mitglieder des Districts noch
umstimmen. Ohne das Widerstreben derselben fanden wir kein
Bedenken, sie hier zu behalten. Haben sie also noch ein Paar
Tage Geduld ! Vielleicht ändert sich alles zu ihrem Vortheile !
Morgen Abends erscheinen sie wieder hier in diesem Zimmer !•
Man gieng aus einander. Johann Kühler begleitete mich
eine grosse Strecke weit und lud mich auf den folgenden Tag
zum Mittagessen ein. Da ich seine Wohnung nicht wusste, so
versprach er, mich abzuholen.
Am Dekadi den 10. Nivose (30. Dec.) führte er mich in
ein Kaffeehaus, wo eine Menge Bürger und Soldaten bey ihren
Tassen, französisch oder deutsch, kannegiesserten. Wir tranken
eben unsere Schale Ghokolade; da stürzte plötzUch Gitoyen
Burghard zur Thür herein : «Wo ist der Fremde ? Der deutsche
Geistliche?» Er erblickte mich und winkte mir in eine Ecke.
Johann Kubier gieng nicht von meiner Seite. «Gitoyen !» sagte
Burghard, «der District ist sehr aufgebracht, dass sie noch hier
sind. Wenn ich ihnen zu ihrem Besten rathen darf, so nehmen
sie ihren Pass und ihre Schriften zurück und gehen sogleich
an die Grenze. Wir haben zwar gestern die Expedition des
Passes zurückbehalten, weil der Nationalagent äusserte, er könne
sie brauchen ; aber der District ist ganz wider sie und hat
nun einmal fest beschlossen, sie hier nicht zu dulden. Der
Bischof ist ihr Unglück ; sie sehen, alle ihre Schriften erhalten
sie zurück, nur seine Briefe nicht. Folgen sie mir, um Ver-
druss zu verhüten, und gehen sie^ je ehender je lieber, über
die Grenze I» Unter dem Pass des Generals stand geschrieben:
Renvoy^ au quartier g^n^ral de Blotzheim par le Gomit^ de
Surveillance de Golmar ce nonidi de la I. decade de Nivose de
l'an 2. de la R^publique fran9ai8e.
Vü Burghard. Neukirch Secret.
«Wer wird auch so ängstlich thun?» sagte Kühler, «Citoyen
Burghard, Bronner bleibt hier, bis es beym Gomite de Sur-
veillance völlig entschieden ist. Gestern blieb der Abschiuss
in suspensa, und was will man dagegen haben, wenn ich ihn
zu meinem Hauslehrer anstelle?» — «Gitoyen Brenner,» er-
wiederte Burghard frostig, «ich habe ihnen treulich gesagt, was
zu sagen war. Nun thun sie auf eigene Gefahr alles, was ihnen
— 27 —
beliebt!» Hiemit führte er sich eiligst ab. Ich ward nach-
denkend. Kubler ermunterte mich und sagte : «Kümmern sie
sich nicht ! So lange ihnen der National-Agent gut ist, haben
sie nichts zu fürchten; mag die Partey des Districts lärmen,
so lange sie will. Wer kann ihnen was anhaben ? Er allein
darf sie festsetzen. Nachmittags wollen wir ihn besuchen.
Kommen sie nun getrost mit mir in den Tempel der Vernunft!»
Der Tempel der Vernunft.
Ich folgte ihm. Als ich in den Tempel trat, aus dem alle
Kirchenstühle und Altäre weggeräumt waren, fiel mir sogleich
an dem Platze, wo sonst der Hochaltar prangte, ein Theater in
die Augen ) auf dem sich ein hoher feuerspeyender Berg erhob.
Am Abhang des Berges standen, wenn mein Führer mich recht
berichtete, Freyheit und Wahrheit, weiter unten Tapferkeit
und Industrie einander gegenüber. Es waren Figuren auf
Bretter gemahlt und ausgeschnitten. «Als man den Tempel
zum erstenmal öffnete,» sagte Kühler, «hatte man oben ein
natürliches Feuer angebracht. 0 das war schön ! Aber beinahe
hätte sich ein Unglück ereignet. Die Flamme ergriff das Ge-
stelle, auf dem die grünen Tücher ruhen, welche die Seiten
des Bergeis bilden, und man hatte nicht wenig Mühe, das Feuer
zu löschen.» Zu ebener Erde rechts und links standen gemahlte
Pyramiden mit Aufschriften, die ich verloren habe, ebenfalls
aus Brettern geschnitten. Die Municipalität setzte sich des
ephemerischen Spiel werks wegen in keine grosse Kosten. Das
Ganze konnte mir unmöglich gefallen. «Was will man mit
dieser armseligen Vorstellung?» dachte ich, «wie einfältig, dass
sich die Jakobiner-Partey, der Berg selbst vergöttert! Meynt
man etwa, diess elende Spielwerk könne dem Volke seine Al-
täre ersetzen? Hier ist ja gar nichts, was auf den Verstand
wirken, nichts was das Hei*z befnedigen, erheben oder rühren
kann, nicht einmal eine Vorstellung, die gefallig den Sinnen
schmeichelt. Einfältige Erfindung! Du bist unmöglich für die
Dauer!»
Ein lautes Gerassel vieler Trommeln kündigte nun die
Ankunft der Obrigkeiten an. Eine Menge Tambours, denen
eine zahlreiche Wache folgte, rückten in die Kirche ein ; die
Gewölber dröhnten vom erschütternden Trommelgelärme. Die
Departements Verwalter und die übrigen Beamten, grösstentheils
in jakobinischer Kleidung^ mit ihren dreifarbigen Schärpen und
breiten Bändern geschmückt, die sie wie Ordensbänder quer
über die Brust trugen, bestiegen eine Bühne zwischen zwey
Kirchenpfeilern und winkten den Tambours Stillschweigen. So-
— 28 —
gleich begann auf dem hohen Musikchore feierlicher Trompeten-
und Paukenschally die Orgel fiel darein, und das ganze Volk
sang unter Begleitung vieler Blas-Instrumente die Marseüler-
Hymne in einem ziemlich lebhaften Zeitmasse. Jede Strophe
ward mit einem fröhlichen ga, ira beschlossen. Dann begann
ein Beamter seinen Vortrag, kündigte mit Jubel die Eroberung
von Toulon an, Hess weitläufige Berichte in französischer und
deutscher Sprache vorlesen und streute gedruckte Lieder von
der Buhne unter das Volk. Einige Diener giengen herum und
theilten ebendieselben Blätter unter die Anwesenden aus. Alle
Augenblicke rief man : Vive la Röpublique ! oder ga va I und
klatschte in die Hände. Dann sang man die ausgelbeilten
Lieder in ihrer eigenen Melodie. Ich war nicht zudringlich
genug und erhielt also kein's. Kühler schien jede meiner
Mienen zu beobachten und fragte mich von Zeit zu Zeit : cWie
gefallt es ihnen?» Das Singen und die Nachrichten von der
Einnahme Toulons (3. Dec. 1793-21. Dec. 1793) gefielen mir;
ich konnte also mit gutem Gewissen antworten, wie er es
wünschen mochte. Ein B&imter, dessen Rednergaben eben
nicht vorzüglich waren, hielt dann eine lange Rede von den
Pflichten eines Bürgers, worauf man die Feyerlichkeilen mit
Gesängen und Insfrumental-Musik beschloss. Die Tambours,
die Wache und die Beamten in ihrer Mitte zogen ab, wie sie
gekommen waren. Während der langen Rede hatte ich be*
merkt^ dass die Frauenzimmer gerade so unruhig, wie bey
katholischen Predigten, durch den Tempel klappten ; die meislen
trugen nur hölzerne Schuhe, die sie aber gar zierlich mit
Bändern und allerley glänzendem Ueberzug vermummt hatten.
Charakterzüge. Entschluss in die Schweiiz
zurückzukehren. Jakobiner.
Vor und nach Tische mussten Kühlers Kinder nach guter
alter Sitte beten. Alles zeigte mir, dass ich bei einem redlichen
Christen und Handwerker eingesprochen hatte. Nach dem
Mittagessen führte er mich zum National-Agenten Deps, der
von neuem meine Partey ergriff. «Bleiben sie hier, Gitoyenli
sagte er, cund lassen sie sich nichts anfechten! Ich verp&nde
mein Wort (zugleich reichte er mir die Hand), ces soll ihnen
kein Leid widerfahren, wenn ich nicht positiven Befehl erhalte,
sie fest zu setzen. Erhalte ich den, so verlassen sie sich darauf,
ich gebe ihnen vorläufig einen Wink ; dann ist es aber höbe
Zeit, dass sie gehen I dann säumen sie keinen Augenblick U
Man plauderte von allerley Neuigkeiten des Tages und
unterhielt sich, als mehrere Gäste kamen, auch mit lustigen
— 29 —
Einfallen und — Spolt über Volksreligion. Ich will nur einen
Zug anführen, damit man sich einen Begriff von dem damals
herrschenden Tone machen kann. Ein Gast deutete auf ein
Gemakle über die Zimmerthür, welches den heil. Joseph vor-
stellte, wie er den Esel führt, auf dem Maria mit dem Kinde
sitzt; eine sogenannte Flucht nach Ägypten, c Bruder, wie
magst du das einfältige Bild da hangen lassen?» — cAergere
dich nicht!» antwortete der Wirth, c meine Frau lässt sich
nichts wegwerfen ; da machte ich mir aber neulich einen rechten
Spass ; ich Hess den Mahler ^ kommen (du kennst den alten
bigotten Kerl) und fragte ihn, ob er dem Joseph da oben nicht
ein Paar hübsche rothe Hörner über die Stirne mahlen wollte?»
— «Neinl» antwortete er sehr nachdrücklich und bestimmt
und schaute mich betroffen aus grossen Augen an. Ich beharrte
darauf, er sollte rothe Farbe holen; aber er weigerte sich stand-
haft. Ich spottete und fragte, ob er vielleicht gar keine Hörner
mahlen könne? Da antwortete der Schalk : Auf jedes Porträt, selbst
auf mein eigenes wolle er Homer mahlen, wenn ichs verlange,
nur auf keinen Heiligenkopf. Was konnte ich machen ? Ich
musste den alten Kerl ziehen lassen ; denn selbst die Drohung,
dass ich ihn einsperren lassen würde, fruchtete nichts. Er
sagte dreist: cEinsperren können Sie mich wohl, aber mahlen
werde ich nioht.» Der Narr wäre in der Laune gewesen, sich
die Märtyrerkrone zu erwerben, aber ich hatte nicht Lust sein
Nero zu seyn und Hess ihn laufen.»
Es kam mir vor, dergleichen Ausfälle gehörten zum Mode-
ton der Jakobiner, mit dem sie sich vor dem Pöbel gross
machten, und ich vermuthe, sowohl Deps als Burghard, welche
am meisten die Atheisten affectirten, hatten im Herzen beynahe
eben den Glauben, den ihre gutmüthigen Weiber hatten. Denn
sie kramten ihre Meynungen allzugeflissen aus und suchten
offenbar mit ihrer freyen Denkungsart nur zu glänzen. Diess
ist die Art aller Neulinge und Moderitter ; und man weiss, wie
schnell dergleichen Philosophen in den Ton ihrer Ammen zu-
rückfallen, sobald bey der neuen Lehre nichts mehr zu ge-
winnen ist. Der wirklich tiefdenkende Mann, der aus Ueber-
zeugung spricht, benimmt sich ganz anders, als der Faseler,
der kaum weiss, was er will.
Wir giengen auseinander. Als ich in mein Zimmer zum
Bocke zurückkam, überlegte ich ernstlich, ob ich in die Schweitz
zurückkehren oder versuchen sollte, in Ck)lmar zu bleiben. Je
genauer ich aber die Sache untersuchte, desto ungewisser ward
ich. Ich seufzete in diesen Tagen oft zum Himmel um Erleuch-
tung. Zuletzt fiel mir ein, ich wollte den redlichen PfefTel auf-
suchen und ohne ferneres Grübeln seinen Rath befolgen. So-
— so-
gleich setzte ich meinen Entschluss ins Werk. Als ich in sein
Haus trat, tönten mir angenehme Harmonien entgegen. Elin
Frauenzimmer spielte den Flügel ; ich sah sie sitzen, sobald
ich die Zimmerthür öffnete. Kaum hatte mich ein Diener ge-
meldet, so kam sie selbst heraus und führte mich zu Pfeffeln.
Der edle blinde Mann bedauerte, dass ich eben in diesem Au-
genblicke, zu dieser Zeit der Zerstörung zu ihm käme und
meynte, in den heitern bessern Tagen vor den Revolutioos-
Unruhen hätte er mir gar leicht Unterhalt verschaffen können.
Ich trug ihm kurz und mit Feuer mein Anliegen vor und bat
ihn um Rath. Da sagte er ganz unverholen: «Lieber Ktinn^!
sie sind ein Fremder, wenn es ihnen auch gelingen sollte, bey
der Municipalität angestellt zu werden, so erregen sie doch den
Neid gegen sich und sind stets in Gefahr, verfolgt und unter-
druckt zu werden. Werfen sie nur einen Blick auf das Chaos,
in das wir versunken sind I Wer ist seiner Existenz mehr
sicher? Wissen sie in der Schwätz ihr Brod irgendwo zu
betteln, so thun sie besser, dahin zurückzukehren.» — c Weiter
bedarf ich nichts,» antwortete ich mit festem Entschlüsse, «ich
gehe nach Zürich zurück : dort soll ich einen Katalog über dn
Naturalien-Kabinet verfassen ; das wird mich hinlänglieh vor
Mangel sichern.» — «Thun sie das, lieber Bronner,» sagte er
mit eindringlichem Tone, «und besuchen sie mich einst in
bessern Zeiten! Jedes Glück b^leite siel» — Gerührt schied
ich von dem edeln philosophischen Dichter und gieng ins Cou
mit^ de Surveillance, wohin mich bereits die Stunde rief.
Bis meine Sache vorgenommen wurde, hiess mich Kubier
zur Unterhaltung in die Jakobiner-Sitzung gehen, die eben in
einem Neben-Gebäude eröffnet war. Im Parterre eines ziemlich
grossen Saales sassen die Amis r^unis oder die Jakobiner.
Hinter ihnen und an den Wänden hin erhoben sich amphi-
theatralisch Bänke und Stühle für die Zuhörer. Auf einer
Bühne im Vordergrunde paradirten der Präsident und die Se-
kretäre an einem Tische. Rechts an der Bühne war der Red-
nerstuhl angebracht. Eben war die Nachricht eingetroffen, die
Deutschen seyen geschlagen und aus dem Elsass vertrieben
worden; aber noch walteten einige Zweifel ob; man debattirte
darüber sehr hitzig, der Streit artete in ein wildes Getümmel
aus. Endlich forderte man Zeugen auf. Da trat ein Courier auf
die Bühne und recitirte sehr schnell eine franz. Rede her, von
der er nichts verstand ; allein man beklatschte ihn laut und
rief : «Es ist richtig, die Deutschen sind besiegt I » Alles ju-
belte: Vive la Räpiü}Uque und schwang Hüte und Nasentücher.
Allerley Debatten folgten sich. Ein Exgeistlicher hielt dann
eine, sehr wässerige Predigt vom Segen, den der Himmel den
- 34 -
Waffen freyer Völker von jeher verliehen habe. Ein anderer
las eine Ode voll Bombast auf die Einnahme von Toulon vor.
So verstrich die Zeit. Ich wollte wieder ins Comit^ zurück,
und aber, dass es bereits aus einander gegangen sey. Johannes
Kühler, den ich auf dem Wege {antraf, sagte mir mit klein-
lautem Tone : «Er habe nur wenig Hoffnung mehr, dass ich
hier bleiben dürfe ; die Sache sey einmal durch den Bischof
verdorben, und die Mitglieder des Districts würden nicht ruhen,
bis ich abgereist wäre.» Ohne Betrübniss horte ich seine
Aeusserungen an, dankte ihm für seine Freundlichkeit und
nahm von ihm Abschied.
Als ich auf den Platz beym Tempel der Vernunft kam, wo
die Guillotine stand, sah ich ein grosses Feuer flammen, ein
Freudenfeuer wegen der Einnahme Toulons. Die Sans-Culotten
tanzten in doppelten Kreisen uifn dasselbe her. Sie ergriffen
Mädchen und Weiber, die in der Nähe standen, rissen sie mit
sich zum Feuer, reihten sich in einem der beweglichen Kreise
und hüpften so unter lautem Freudengeschrey in die Runde.
Ich konnte mich unmöglich des Gedankens an die Canadischen
Wilden erwehren. Die Bühne der Guillotine stand gedrängt voll
Zuschauer und Zuschauerinnen, die gar keinen Grauen vor der
fatalen Haschine hatten. In der Nähe tönte Feldmusik, die pa ira
und andere patriotische Lieder spielte. Das Volk sang die Lieder
mit. Der Exgeistliche aus dem Comit6 des Districts traf mich
hier an ; er schlich, wie ich, beobachtend um den Haufen herum.
cNoch hier, Citoyen?» fragte er, wie staunend, cdas ist
kühn! Sehen sie nicht die Maschine dort?» Er deutete auf die
Guillotine. cDie ist hoffentlich nur für Verräther, nicht für
Patrioten errichtet,» erwiederte ich, c warum sollt' ich sie also
fürchten?» — «Im Ernste,» fuhr der Greistliche fort, cwenn
ich ihnen wohlmeynend rathen darf, so reisen sie morgen früh
von hier ab ! Wir dürfen sie nicht behalten, weil sie ein Deut-
scher sindl Lassen sie aber ihren Pass erst von irgend einer
Obrigkeit neu unterschreiben, weil sie schon am Nonidi abge-
wiesen wurden und doch erst am 11. Nivos abreisen, damit sie
auf dem Wege keine Unannehmlichkeiten zu befahren haben.
Nehmen sie meinen Rath an ; das Beste, was sie in ihrer Lage
thun können, ist^ dass sie so bald als möglich gehen.»
c Verlassen Sie Sich darauf I» antwortete ich, c morgen in
der Frühe reise ich ganz gewiss ab !»
Rückreise ins Hauptquartier. SchuKfHcken.
Den letzten Dec., als der Tag anbrach, nahm ich Abschied
vom Bischöfe Martin, der mich ziemlich kalt entliess. Sobald
- 32 ^
ich hoffen konnte, ich würde irgend eine Obrigkeit antreffen,
machte ich mich auf, um meinen Pass unterschreii)en zu lassen.
Aber niemand von den Mitgliedern des Gomitä de Surveillance,
nicht einmal der Secretar Neukirch wagte es, seinen Namen
und den Tag meiner Abreise darauf zu setzen ; jeder sagte^ er
besorge, dadurch in Verdruss zu gerathen. Endlich erbarmte
sich meiner ein Beamter der Municipalität und schrieb folgendes
auf den Pass des Generals : «Vü partir de Golmar cejourd'hui
onze Nivose, Tan second. — Aittelmeyer Secr. Gref&er.» Das
Umherlaufen und Warten, dieser zwey Zeilchen halber, hielt
mich fast bis 10 Uhr auf. Geschwind verzehrte ich beim Bocke
ein kleines Abschiedsmahl und trat meine Rückreise an, auf
der ich an diesem Tage keine andere Widerwärtigkeiten zu
befahren hatte^ als etwa in den Herbergen, wo ich einsprach,
das Anschnurren eines argwöhnischen Unterofßciers, der mir
herrisch meinen Pass abforderte, oder die Weigerung der
Wittwe, mir irgend eine Erfrischung zu reichen. Abends traf
ich in Habsheim ein und verschwendete in jedem bessern
Wirlhshause Bitten, Vorstellungen, Versprechen und alle mög-
lichen guten Worte, um aufgenommen zu werden. Aber völlig
vergel)ens ! Ich sah mich gezwungen, wieder in dem ver-
wünschten Neste, wo ich das erstemal übernachtet hatte, eine
Herberge zu suchen. Mit Freuden nahm mich diesmal der
Wirth auf und setzte mir alles Gute vor, was er in seinem
Vermögen hatte. — Eine Menge Sans-Gulotten waren eben ins
Dorf einquartiert worden ; sie hatten sich mitten in der Stube
einen Herd aus Backsteinen errichtet, Kohlen darunter ge-
bracht und einen Kessel darüber gehängt, um ihre Abend-
mahlzeit zu kochen ; kaum war das Fleisch gesotten, so stach
jeder in den Kessel, langte seine Portion heraus, setzte sich auf
den Boden und verzehrte sie aus freyer Hand. Neben dem
Herde stand eine hölzerne Gelte voll Wein und ein Glas da-
neben ; wer nun trinken wollte, füllte das Glas in der Gelte
und goss es herzhaft durch die Kehle. Diese drolligte Haus-
haltung belustigte mich. — —
Als mich der Wirth in die Schlafkammer führte,
hob ich in seiner Gegenwart die Bettdecke weg und sah so-
gleich, dass die Betten nicht reinlich überzogen waren. Bey
der Menge Soldaten, die hier täglich übernachteten, und wovon
einige ganz unverholen gestanden, dass sie in ihren Hemden
ganz unangenehme Einquartierungen hätten, ward mir hange,
ich möchte hier eben dieselbe Plage erben. Die Bosheit der
frechen Magd Hess mich befürchten, sie könnte mich absicht-
lich zum Nachfolger eines so reichbegabten Sans-Gulotten ge-
macht haben. Ich bat also den Wirth : «Lassen Sie mir das
— 33 —
Belt frisch überziehen; ich gebe ihnen gern, über die Zeche
aus, noch einen halben Gulden zum Besten.» — Das Angebot
gefiel ihm, er rief die Magd und befahl ihr, das ganze Bett
frisch zu überziehen. Murrend, spottend und zankend that sie
es. Mich kümmerte das wenig. Sorgfaltig verbarg ich meine
Kleider zwischen dem Strohsack und dem Unterbette und
schlief ruhig die ganze Nacht durch.
Am neuen Jahrstage 1794 eilte ich Sierenz und Blotzheim
zu. Als ich den letzten Ort erblickte, schickte ich mich an,
meine Baarschaft in Sicherheit zu bringen. Ich hatte ja ge-
sehen, wie genau man in Bourglibre jeden, der aus dem Lande
gieng, durchsuchte, und musste fürchten, aus dem Hauptquar-
tier mit einer Wache an die Grenze geführt zu werden. Das
Geld musste also verborgen werden, wenn ich nicht Gefahr
laufen wollte, es zu verlieren.
Endlich glaubte ich am Ziele zu seyn und trabte eine kleine
Strecke Weges dahin. 0 weh! da fühlte ich sogleich die Un-
möglichkeit, an dem vermeyntlichen Sicherheitsorte mein Geld
zu verwahren. Alles fiel heraus und ich glich wahrlich der
Henne, die goldene Eyer legte. Sorgfaltig suchte ich die Louis-
dors aus den Beinkleidern hervor. Als ich am besten an der
Arbeit war, sprengte ein Reiter daher. 0 wie erschrack ich I
Aber er merkte nichts, sondern rief mir zu : «Lass er seine
Gäste nur sitzen I» Ach! mir war bange, wie ich nun meine
kleine Habe den Augen und Händen der Grenz-Visitatoren ohne
Gefahr entziehen könnte. Ungeachtet der vielen Leute, die
hin und her giengen, gelang es mir doch, unbemerkt in ein
Wäldchen zu schlüpfen, durchs Gebüsch hinter einen dicken
Baum auf einer Anhöhe zu kriechen und auf frisch abgehauenen
dünnen Reisern einen Platz zu finden, an dem ich, des Schnees
uni^eachtet, trocken sitzen konnte. Ich wartete eine gute Weile,
ob niemand nachgeschlichen käme; aber keine Seele störte
mich. Sorgfältig spähte ich in den Wipfeln und Gesträuchen
umher^ ob mich niemand beobachtete. Erst als ich mich recht
sicher wusste, zog ich meine Louisdors hervor und überlegte,
wo ich sie denn eigentlich am besten verbergen könnte. Vom
Kopf bis zu Fuss durchlief ich in Gedanken alle Theile meiner
Kleider, um die tauglichste Stelle auszufinden. Aber in allen
biegsamen und weichen Theilen war das Verbergen unsicher;
ich wu.sste ja, wie sorgfaltig man jeden durchgriff. Die Schuhe
allein boten mir feste Theile an, hinter denen das Gefühl die
versteckten Louisdors nicht entdecken konnte. In die Schuhe
also musste mein Schatz verborgen werden. Ich zog sie ab und
beschaute sie genau. Da es umgewandte Schuhe waren, so
3
— 34 —
konnte ich die innere Sohle herausziehen und sehen^ dass eine
dicke Lederzunge aus den Absätzen in die Vorderschuhe her-
vorragte. Sogleich schnitt ich dieselbe mit dem Federmesser
sorgfaltig aus und gestaltete also in beyden Absätzen geräumige
Höhlen, in die mancher hübsche Louisd'or gesteckt werden
konnte. Wirklich steckte ich so viele hinein, als der Raum
fassen mochte, und sah bald, dass der grösste Theil meiner
Baarschaft darin geborgen werden konnte. Aber es fiel mir
ein : «Wie wäre es, wenn die Goldstücke im Grehen an einander
klappern würden? Das könnte dich verrathen.» Ich klopfte mit
dem Schuhe sanft auf die Erde. 0 wehe I Sie klapperten wirk-
lich. Also riss ich sie wieder heraus, umwand jedes mit ein
wenig Papier und presste sie wieder in ihre Höhlungen. Nun
hatte aber nur die Hälfte derselben Raum darin. Die andere
Hälfte wickelte ich in eben so kleine Papierchen und nähte
jedes Stück neben das andere mit ein Paar Kreuzstichen unter
die herausgezogene Brandsohle; dabey brauchte ich die Vor-
sicht, dass ich die Sohle mit der Nadel nie durchstach, sondern
die Fäden nur leicht an die Oberfläche des Leders heftete.
Weil ich besorgte, im Gehen möchten sich die Louisd'ors wie
Ringe auf der sichtbaren Seite der Brandsohle abdrucken, nähte
ich zwischen etliche derselben Knäuelchen Papier, damit sich
der meiste Druck an diesen brechen müsste. Nun glaubte ich,
meine Sachen vortrefflich gemacht zu haben. Aber als ich die
Brandsohlen wieder hineinschob, sah ich sogleich, dass sie an
den Seitenrändern emporstanden, und wohl gar da und dort
ein Papierchen sichtbar werden Hessen. «Ja, wenn ich die
Sohle festnähte, dass sie anläge und nicht herausgezogen werden
könnte, dann wäre ich geborgen.» So sprach idi zu mir selbst
und sann nach, wie ich das machen wollte. Jetzt fiel mir zu
rechter Zeit ein, dass ich eine grosse Hutnadel in meinem
Zahnstocher-Büchschen hätte und Bindfaden im Unterfutter
meines Rockes. Wie gut kamen mir nun diese beyden £rf<H*-
dernisse zu statten I Wahrlich, ohne den kleinen Umstand,
dass ich sie bey meiner Abreise aus dem Oberhofe auf jeden
Fall zu mir steckte, hätte ich, allem Anscheine nach, meine
ganze Baarschaft verloren I Und wer weiss, ob ich nicht als ein
Verräther, der Gold aus dem Lande schwärzen wolle, behanddt
und lange in Gefangnissen herumgezogen worden wäre, ehe
man meinen Beweis, dass ich alles aus Zürich mitbrachte, hätte
gelten lassen? 0 von welchen an sich unbedeutenden Um-
Ständchen hängt oft unser Glück ab I Zu guter Letzt färbte ich
mit der Schwärze, die ich in den kleinen Vertiefungen der
Schuhe fand, die weisslichen Bindfaden so schwarz, dass man
keinen einzigen Stich bemerkte. Getrost gieng ich nach einem
— 35 —
Aufenthalte von ein Paar Stunden aus dem Wäldchen nach
Blolzheim und sah^ unter dem Yorwand, Steinchen aus den
Schuhen zu schütteln^ oft nach meinen Nähten. Alles blieh im
besten Stand. Damit aber niemand meine List am Gewichte
merken könnte, watete ich durch einige kleine Lachen auf der
Strasse, welche an der Mittagssonne bereits aufgethauet waren,
hütete mich jedoch, diese Art Schwerevermehrung zu über-
treiben, damit nicht etwa desshalb Argwohn entstände.
Gang nach Basel. Visitation.
Dem General musste ich mein ganzes Schicksal erzählen.
Er bedauerte mich und rief aus : «Dachte ichs doch, der eitle
Bischof betrüge sich und ihn I Fast ist es Schade, dass er die
ihm angebotene Vergütung ausgeschlagen habe. Der Bischof
hätte es verschuldet, ihm das Reisegeld bezahlen zu müssen ;
denn wahrscheinlich führt er nicht viel Geld bey sich. Wie
viel hat er?> — Ich zog meine ganze Baarschaft, etwa andert-
halb Louisdors, die ich nicht eingenäht hatte, aus der Tasche,
und wies sie ihm hin. — «Das ist nicht viel>, sagte er, «man
wird ihm die Kleinigkeit an der Grenze wohl lassen ; doch
zeig' er sein Geld redlich vor, damit er in kein Unglück ge-
räth!» Sein Sekretär schrieb auf meinen Pass: Laissez passer
pour retoumer en Suisse ce 12. Nivose de Tan 2 de la R^pu-
blique fran^aise. Vü par moi G^n^ral de Brigade, Commandant
de la Division du Haut-Rhin ; und der General unterzeichnete
seinen Namen. Man Hess mich allein wandern ; und ich be-
schloss, damit ich dem Durchsuchen ausweichen möchte, gerade
auf die Baracke an der äussersten Grenze loszugehen. Aber die
Wache liess mich durchaus nicht passiren, sondern sandte mich
wieder an den Grenz-Zoll zurück. Das war ein harter Gang !
Je näher ich dem fatalen Visitatoren -Häuschen kam, desto
banger ward mir ums Herz. Weil der Zollbeamte noch nicht
ganz abgespeiset hatte, musste ich eine Weile warten. Der
Visitator (wahrscheinlich ein Jude) wartete, bis wir allein waren,
machte sich an mich, und fragte, ob ich viel Geld bey mir
hätte? — Ich wies es ihm vor, wie dem General, und sagte:
<Es ist ein weiter Weg bis Zürich ; machen Sie doch, dass
mir das wenige Reisegeld gelassen vnrd; ich will Ihnen gern
ein hübsches Trinkgeld geben.» — Sorgen sie nicht, Citoyen!»
sagte er, «sie haben meinem Freunde, dem Nationalgarden,
welcher sie nach Blotzheim führte, ihre Handschuhe gegeben ;
nichts soll ihnen genommen werden!» Er führte mich zum
Zollbeamten, dem ich mein Taschengeld wieder vorzeigen musste.
Der Visitator war mein Fürsprecher, und man schrieb auf
— 36 —
meinen Pass: Empörte avec lui vingt un Livres num^raire
(etwas weniger als ich vorwies: aber man zählte die Kleinig-
keit gar nicht) qu'il a importö. Bureau de Bourglibre ce
12. Nivose de l'an 2 de la R^p. Fr. — Rumhueber. Hierauf
befahl er dem Visitator, mich erst genau zu durdisuchen, ehe
er mich entliesse. Dieser führte mich in sein Stübchen : idi
drückte ihm auf dem Wege ein 30-Sous8tück in die Hand, mit
dem er sehr zufrieden schien. «Nun, Citoyen,» sagte er, cmutt
ich meine Pflicht thun.> Er suchte zuerst alle meine Tascfaea
aus, dann durchknitterte er den Hut, die Rockschösse, die
Halsbinde, den Hüftenbund der Beinkleider u. s. w« und be-
fahl mir endlich, die Schuhe auszuziehen. 0 wie ward mir da
zu Muthe I Aber ich hütete jede Miene, lösete ruhig die Riemen
auf, und streifte die Schuhe, wie gldchgültig, von den Füssen.
Kaum wagte ichs, hinzublicken, als er mit Ekel sie aufhob,
hineinsah, und sie nachlässig wieder fallen liess. «Citoyen,
sie können frey ihres Weges gehen; leben sie wohl!» Ha, wie
lieblich schallten diese Worte in meinen Ohren I Geschwind
zog ich meine Schuhe wieder an, nahm dankend Abschied und
eilte über die Grenze. Die Wache, sobald sie meinen Pias
sah, liess mich unangefochten ziehen. Ich hätte, wie Ulysses
bey seiner Rückkehr nach Ithaka, mich zur Erde werfen und
den friedlichen Schweitzerboden küssen mögen; so froh war
ich, entkommen zu seyn.
III.
Amuletrin^e
des Heiligen Theobald von Thann.
Von
W. Deecke.
im Jahre 1852 wurde bei Ausgrabung der Reste von
Alt-Lübeck, in dem Winkel, den die Schwartau bei ihrer
Mündung in die Trave mit dieser bildet, in einer kleinen, durch
Brand zerstörten Kirche unter andern Leichen auch an der
Südseile diejenige eines kraftigen Mannes gefunden, das Gesicht
dem nahen Altare zugewendet^ ohne Kleider, Waffen oder Sarg :
wohl aber lag neben der linken Hand ein massiver goldener,
zwei Dukaten schwerer, neuneckiger Fingerring mit der
eingegrabenen und mit Niello ausgefüllten Inschrift:
4- Th E BA L CV T TA NI
vgl. Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und
Altertumskunde, Bd. I, Heft 2, Lübeck 1858, S. 238, Tf. 1,
ia—c. Der Ring befindet sich jetzt im Lübecker Museum,
Abteilung für Lübsche Altertümer. Es liegt nahe, diese In-
schrift auf den Eigennamen des Besitzers zu deuten
z. B. Th€bal{dus) CuUani (filius) = «Dietbald, Sohn des
Cuttani, wie denn ein Vorname Gutta n, Gothan (lat.
Gniianus^ Gothanus) bei mecklenburgischen und pommerschen
Familien im Mittelalter vorkommt (briefliche Mitteilung des
Herrn Prof. Pyl in Greifswald). Oder man könnte CuUani{ensi8)
ergänzen = «von Gutta (Cotta)», nach einem bekannten
mitteldeutschen Familiennamen, oder = cvon Guttanen»;
— 38 —
vgl. den schweizer Ort Guttanen im Haslithal. Diese uad
ähnliche Deutungen aber werden widerlegt durch das Vor-
kommen dreier ähnlichen Ringe, die weder derselben
Persönlichkeit, noch drei Namensvettern angehört haben können.
Der eine dieser Ringe wurde 1828 bei Snoghöi in Jütland
nahe am Meeresufer gefunden, ist ebenfalls massiv golden
und neuneckig, und trägt folgende, gleichfalls eingegrabene
und mit Niello ausgefüllte Inschrift :
+ |TH
EB AL GV
TG VT
HAI NI
Hier ist, der Symmetrie wegen, um alle 8 Felder, ausser
dem mit dem Kreuze geschmückten, gleichmässig mit 2 Buch-
staben zu füllen, von der Silbe gut (statt des cul in Ring I)
das gu wiederholt, und dem letzten l ein h beigegeben worden;
auch ist das erste h zur Majuskel erhoben ; das a zeigt durdi
einen Oberstrich spätere Form. Der Ring befindet sich im
Kopenhagener Museum für Altertümer. Ebenfalls in Dänemark
im Jahre 1851 ist der dritte Ring gleicher Art gefunden
worden, im Kirchspiel Torkildstrup auf der Insel Falster,
beim Umgraben eines grossen Steines, zugleich mit einem
silbernen Reliquienkranz, anderen silbernen Schmucksachen,
Bruchstücken von Bergkrystall u. s. w. Von Silber ist auch
er selbst, neuneckig, und die in gleicher Art, wie bei den
andern Ringen, hergestellte Inschrift lautet:
4-T HE BA
LG VT
GV TG TT AN
Hier herrscht dieselbe Symmetrie : nur hat, um das gui
dreimal setzen zu können, das erste I ins Kreuzfeld rücken
müssen und das schliessende t ist weggefallen ; trotzdem hat das
dritte gut sein inneres u einbüssen müssen. Die Form des e
zeigt, dass dieser Ring noch später ist, als der zweite. Auch
er ist im Kopenhagener Museum.
Der vierte Ring endlich wurde 1846 unter den Wurzeln
eines vom Sturm umgewehten Eichbaumes im Kirchspiel Calne
in Wiltshire im südlichen England gefunden und ist im
Archaeological Journal 1848, S. 159 beschrieben. Das Metall
finde ich nicht angegeben, nach dem Gewicht aber (56 grains)
wird es Grold sein; auch dieser Ring ist neuneckig und
seine Inschrift lautet :
+ , e I HB AL rv e rv sa ni
Diese Inschrift entspricht derjenigen von Ring II ; nur sind
einige griechische Buchstaben eingemengt: 6 für Ih^ aber
auch an zweiter Stelle missbräuchlich für l, H für e; F für y,
— 39 —
die Verteilung stimmt nur in der ersten Hälfte, indem hier die
8 Felder, ausser dem Kreuzfelde, in 2 gleiche Hälften — 2 X '^
Zeichen — zerfallen. Dieser vierte Ring ist jedenfalls der
späteste; wo er hingekommen, ist mir unbekannt.
Erwägen wir nun die Eigentümlichkeiten der vier Ringe,
ihre wesentliche Uebereinstimmung neben unwesentlichen Ab-
weichungen, die Verschiedenheit der Fundorte (Lübeck, Jütland,
dänische Inseln, England), die Neuneckigkeit, die symmetrische
Verteilung der Buchstaben auf Ring II — IV nebst den Wieder-
holungen in der Mitte, die Einmengung griechischer Zeichen
auf Ring IV, endlich das verschiedene Alter der Schrift, so
ei^bt sich, dass wir es mit Variationen eines Amulet- oder
Schutzringes zu thun haben, und zwar eines christ-
lichen, denn auf keinem fehlt im Anfange das Kreuz.
Dazu stimmt ferner die Fundstätte von Ring I in einer Kirche,
die Beigabe des Reliquienkreuzes zu Ring III, die heilige Neun-
zahl der Felder = 3X^9 endlich die griechischen Buchstaben
auf Ring IV nach der heiligen Schrift des Neuen Testaments.
Die früheren Versuche aber (Prof. Petersen in der Lübecker
Zeitschrift S. 2!39), Götternamen in der Inschrift zu finden,
wie Thefos), Bai, Cull (= Gott) oder gar Thebal (= Teufel),
Gutlani (= Wodan), richten sich selbst; dagegen kam mir
infolge einer Bemerkung meines hiesigen Kollegen Dr. F a b e r
über die einstige weitverbreitete Verehrung des Heiligen
Theo bald von Thann im Norden der Gedanke an
diesen Heiligen, also Thebal == Thebaldus\ vgl. im Thanner
Münster in einer Inschrift von 1456 Tebaldus, altfranzösisch
Tkiebal (Albrecht Rappoltsteinisches Urkundenbuch I, Index).
Dann ergibt sich von selbst, dass im Schlüsse der Inschrift
Thani, Tani, Tan der Name der Stadt Thann steckt. Was
aber bedeuten die Mittelbuchstaben? Wir haben dabei jeden-
falls von der Lübecker als der ältesten Inschrift auszugehn,
und da hat Dr. Faber vermutet, es sei CfonfessorJ V{enerabilisJ
zu lesen, und ich habe dann weiter TlutarJ ergänzt, so dass
die Inschrift zu lesen wäre : Thebalijdus), Cionfessor), Vienera-
bilis)y T{ul(yr) Tani d.i. cDietbald, der Beichtiger, der
ehrwürdige Schutzherr von Thann.i» Nun habeich
in der That in den zu Ehren des Heiligen Theobald geschrie-
benen Büchern sowohl den Titel «c hochheiliger Bischof und
Beichtiger», lateinisch preliosissimus confessor, als auch
«der Stadt Thann hochzuverehrender Schutzhei-
ligeri» oder «aller Thannischen Einwohner hochzuver-
ehrender Patron» gefunden, so dass jene Benennungen
durchaus passen. Der Name der Stadt Thann endlich lautet
in älteren Urkunden Thanne, Thann, Tanne, Tann, Tan, welch
— 40 —
letzte Form die älteste ist = mittelhochdeutsch der oder daz
iaM (Genitiv Icmnes) «der Tannenwald, das Tännichii, wozu die
unten zu erwähnende Grundungssage der Stadt stimmt, sowie
das in einer Tanne bestehende Wappen derselben, auch auf den
1418 — 1628 von ihr geschlagenen Münzen angebracht. Lateinisch
heisst sie, übersetzt, Ptne/um, sonst bleibt der Name meist un-
verändert, z. B. de Than^ in Thann] doch findet sich auch
Thcknnarum oppidum^ in Thannis; eine dem mittelhochdeutschen
daz tan und dem Pineium entsprechende sächliche Form
7Vifi«m, Thanum^ welche durch die Ringinschriften vorausge-
setzt wird, ist sehr wahrscheinlich, wenn ich sie auch, bei
meiner beschränkten Urkundenkenntnis, noch nicht nach-
weisen kann.
Die Inschriften der Ringe II — ^IV sind dann, wie ich schon
oben angedeutet habe, mehr oder weniger entartet: das C
konnte durch Verschnörkelung leicht in G übergehn, das auch
dem Verfertiger der halbgriechischen Inschrift vorlag ; der
Wechsel von / und th findet sich in jenen Zeiten überall ; die
Wiederholungen sind den Zauberformeln und Amuletl^enden
aller Art eigentümlich.
Meine Vermutung erhält nun aber zwei weitere wichtige
Bestätigungen. Erstens spielt gerade ein Ring in der
Legende des U. Theobald von Thann eine Hauptrolle. Dieser
Heilige gilt nämlich als identisch mit dem in Italien verehrten
H. Ubald, Bischof von Eugubium (jetzt Gubbio) in Umbrien,
der am 16. Mai 1160 (nicht 1161, wie mitunter angegeben wird)
starb und 1192 von Papst Cölestin III. heilig gesprochen und
kanonisiert wurde (nach der Lebensbeschreibung in des aquili-
nischen Bischofs Pelri de Natalibus Catal. Sanciarum V, cap. 6);
vgl. in Dante's Paradies XI, 43, wo die Lage von Assisi,
gleichfalls in Umbrien, beschrieben wird :
Intra Tupino e Vacqua, ehe discende
Del colle elelto dal beato Übaldo —
«zwischen dem Tupino (einem Nebenflüsschen des Glituano,
der in den Tiber mündet) und dem Bache, der vom erwähl-
ten Hügel des seligen Ubald herabfliesst», d. h. dem
Chiascio, gleichfalls einem Nebenflüsschen des Glitunno, der vom
Monte Galvo, an dessen Abhang Gubbio liegt, herunterkommt.
Die Legende nun, welche Gubbio und Thann verbindet,
lautet so: Als der U. Ubald, der all' sein Hab und Gut den
Armen gegeben hatte, den Tod herannahen fühlte^ sagte er za
seinem treuen Diener Maternus, der aus dem (deutschon)
Niederland war : «Damit Du nicht gar leer und unbelohnt von
mir abweichest, so nimm Dir, wenn ich auf dem Totenbette
— 41 —
liegen werde in meinem bischöflichen Ornate, den goldenen
Ring von meinem rechten Daumenfinger hinweg und
gehe in Gottes Namen in Deine Heimat ; Gott wird Dein Ge-
leitsmann sein und Belohner.» Als nun der Diener so verfuhr,
«hat er den Daumen finger seines Bischofs und Herrn
samt dem Ringe zu sich gezogen.» Er that nun das Hei-
ligtum in den Knopf eines Stabes und kam auf seiner Heim-
fahrt am 1. Juli 1161 im Sundgau, am Rande der Vogesen,
in einen Tannenwald an der Thur^ wo er ermüdet ein-
schlief. Der mit dem Knopf an eine Tanne gelehnte Pilgerstab
aber wuchs fest und über dem Wipfel des Baumes erschienen
zwei (oder drei) blaue Flammen, durch welche der Besitzer der
nahen Engelburg (Landherr oder Graf Engelhart, oder Friede-
rich der Jüngere von Pfirt) herbeigelockt wurde, der den in-
zwischen erwachten Pilger zum Eingeständnis seiner That he-
wog und reich beschenkt in die Heimat entliess, die Reliquie
aber behielt und in einer an der Stelle des Wunders erbauten
Kapelle verwahrte. Diese wurde, da die Reliquie sich heil-
und hilfskraflig erwies, besonders seit der Kanonisier ung des
Heiligen, der hier St. Theobald genannt wurde, das Ziel
von Wallfahrten <aus allen Orten Europa's», so dass sich 1244
um dieselbe der Ort Thann bildete, der allmählich zu einer
blühenden Stadt erwuchs, während die Kapelle selbst 1344 ab-
gebrochen und durch das von 1269 (1275) bis 1346 gebaute
Münster des H. Theobald ersetzt wurde, das bis 1446 er-
weitert und 1516 mit einem Turme versehn wurde; vgl.
Fr. X. Kraus «Kunst und Altertum in Elsass-Lothringen»,
Bd. n (Strassbui'g 1884), S. 630 (f., wo auch die übrige Litte-
ratur angegeben ist; ferner Aug. Stöber «Die Sagen des
Elsasses», St. Gallen 1852, S. 37 ff. (2. Aufl. von Gurt
Mündel, Strassburg 1892, 1, S. 43 ff.), und das schöne, durch
eigene Erfindung die Legende kunstvoll in sich abschliessende
Gedicht von Ad. Stöber «Das Münster zu Thann» in der
«Alsa» (Strassburg 1836), S. 5.
Die kostbare Reliquie, der Daumen des Heiligen mit dem
goldenen Ringe, wurde in einen Krystall eingeschlossen, und
dieser in einer silbernen, vergoldeten Monstranz in St. Theo-
baid's Gewölbe aufbewahrt. Monstranz und Ring sind aber
später gestohlen, nach einer Nachricht, 1755 ; jetzt ist, nach
einer Mitteilung des Hrn. Kreisdirectors Dr. Curtius, nur
ein Rest des Daumens in einem undurchsichtigen Glasgefass
vorhanden, welches laut Protokoll im Kirchenbuche im Anfange
der sechziger Jahre vor einer Anzahl von Personen geöffnet und
mit dem bischöflichen Siegel wieder verschlossen worden ist.
Leider scheint keine Beschreibung des Ringes erhalten
— 42 —
zu sein. Ich nehme nun an, dass die nach Thann wallfah-
renden Pilger eine Nachahmung des Ringes des H. Theo-
bai d, teils als Andenken, teils zum Schutze als Amulet von
dort mitzunehmen pQegten ; die Inschrift wurde vom Verfer-
tiger hinzugefügt, konnte daher variiert werden, was z. T. in
uneinsichtiger Weise geschah.
Aber kamen denn auch wirklich Pilger nach Thann aus
den fernen Gegenden des Nordens her, wo die Ringe
gefunden sind? Allerdings, und das ist der zweite Punkt, der
für meine Vermutung spricht. Im Tomus mir<iculorum Sancii
Theobaldi (Band der Wunder des H. Theobald), herausgegeben
von G. Stoffel (Golmar 1875), finden sich aus der Zeit vod
1408 — ^1486 allein 11 Pilger aus Lübeck und dem Lübecker
Bistum, die in Nöten zu Lande und zur See den Heiligen
angerufen, das Gelübde einer Wallfahrt gethan und, von ihm
gerettet, die Reise nach Thann gemacht haben. Noch zahl-
reicher sind die Wallfahrten aus Dänemark, aus Jütland
z. B. aus Aalborg, von den Inseln z. B. aus Seeland, im be-
sondern aus Kopenhagen und Roeskilde, ferner aus Birkholm
und mehreren unbekannten Orten. Viele Pilger kamen auch
aus Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Pommern, Preussseo,
einzelne aus Livland, ja einer aus Reval in Estland. Andrer-
seits sandten auch die Niederlande manchen Gläubigen, und
aus England, wo Ring IV gefunden ist, wird wenigstens
ein Pilger erwähnt, im J. 1482, der erber zschan persan
(wohl John Person) aus der sladl Lüny (London?). Im ganzen
gehn die Aufzeichnungen von 1405-1522, unregelmässig geord-
net ; ein vereinzeltes Wunder folgt vom J. 1636 ; leider fehlen
ältere Fälle. Meist dieselben Erzählungen begegnen in dem
«Summarischen Bericht des Lebens u. s. w.>, des H. Him-
melsfürsten Ubaldi u. s. w. Freiburg i. B. 1628 ; 2. Aufl.
Bruntrut 1723, sowie in »Malachias Tschamser*s Grrosser
Thanner Chronik», Golmar 1864, und den übrigen Qudien-
schriften. Jedenfalls ist der H. Theobald an der Ost-, wie
Nordsee als Nothelfer längere Zeit sehr beliebt gewesen und
viel angerufen worden, und zahlreiche Pilgerfahrten nach der
kleinen entlegenen Vogesenstadt wurden ihm zu Ehren ange-
treten. Meinte auch ein Pommerscher Herzog, den sein Mar-
schall vergebens um Urlaub bat, die Pilgerfahrten geschähen
nur des guten Sundgauer Weines wegen^ und der bewirke
auch die meisten wunderbaren Heilungen, so wurde er doch
durch eigenes Siechtum bekehrt und sandte selbst den Mar-
schall mit reichen Ehrengeschenken hin. Für die Zuverlässig-
keit der Ueberlieferungen spricht, dass z. B. ein Lübecker
Pilger von 1486 einen echt lübschen Namen führt : Hans SchiU
— 43 —
Dass aber auch noch in späterer Zeit die Erinnerung an
die alten Pilgerfahrten aus dem Norden in Thann nicht erloschen
war, zeigt die lateinische Elegie eines frommen Theobaldver-
ehrers aus der Zeit des Dreissigjährigen Krieges in dem oben
erwähnten «Summarischen Bericht», die beginnt :
Vos, Dani fortes et Ballhice cum Pomerano^
Omnis ad Oceanum Teutonis ora procul :
Qiufs magni ierrenl victricia Caesaris arma
. El Tilli hello gloria parla ducis :
Quaenam mutavit^ quae vos sentenlia vertit
Thannensis Divi fecil et immemores?
und die schliesst :
Ergo redite viam, patronum agnosdle veslrum^
Fidite! cum Domino prislina mira dabit.
«Hört, ihr tapferen Dänen, ihr Pommern am Strande
der Ostsee,
Du, Teutonisch Gestad, fern an des Oceans Flut :
Die ihr erzittert jetzt vor den siegenden Waffen des
Kaisers
Und vor dem Kriegesruhm Tilly's des Helden
erbebt :
Welcher Wahn denn hat euch verkehrt, euch gänzlich
verwandelt,
Dass ihr des Heil'gen von Thann nimmer in
Ehren gedenkt?
Drum kehrt um von der Bahn, erkennt ihn, eueren
Schutzherrn,
Glaubt nuri Wunder, wie einst, thut er mit
göttlicher Kraft.»
Um so merkwürdiger ist es, dass ich auf meine Anfrage
weder in Lübeck, noch Rostock, noch Greifswald einheimische
Spuren der Verehrung des H. Theobald habe entdecken können.
Wenn sonst Alles trefflich stimmt, scheint sich doch in-
betreff' des Lübecker Ringes eine Schwierigkeit hinsichtlich
der Zeit zu erheben. Alt-Lübeck ist bereits H38 durch den
Rügen'schen Seeräuberfürsten Ratze (Race) niedergebrannt und
niemals an derselben Stelle als Stadt wieder aufgebaut worden ;
Graf Adolf H. von Holstein gründete H43 das jetzige Lübeck,
eine Meile weiter abwärts zwischen Trave und Wackenitz. Die
Verehrung des H. Theobald aber wird wohl erst nach seiner
Heiligsprechung, frühestens im Anfange des folgenden Jahr-
hunderts an die Ostsee gekommen sein. Freilich wurde das
— 44 —
erste Minoritenkloster in Lübeck schon 1225 noch bei Leb-
zeiten des H. Franziscus von Assisi, des Landsmannes des
H. Ubaldy gegründet. Aber, ganz abgesehen von der Frage,
ob die Lage AK-Lübecks richtig angesetzt worden ist — und
das ist keineswegs sicher — : das Gnebaude, in dem der Ring
gefunden wurde, kann seiner Kleinheit wegen (56 Fuss Länge
mit der Apsis, 27i/t Fuss Breite) unmöglich die Kirche einer,
wenn auch kleinen, Stadt gewesen sein. Viel wahrscheinlicher
war es die Kapelle eines Hofes (curia), den die Löbschen
Bischöfe spater nachweislich auf dem Gebiete von Alt-Lübeck
errichtet haben, über das sie bis 1317 mit der Stadt Neu-
Lübeck in heftigen Streitigkeiten standen. Wann diese Curie
zerstört worden, wissen wir nicht. — Noch leichter eried^
sich das Bedenken, dass das neben Ring III gefundene Re-
liquienkreuz «wahrscheinlich aus dem 11. Jahrhundert stan]me>,
da sich derartiger Schmuck Jahrhunderte lang forterbte. IHe
Schriflform des Ringes deutet jedenfalls auf spatere Zeit.
Ist nun meine Vermutung richtig, so könnte sie den Aus-
gangspunkt für eine Reihe weiterer Untersuchungen bilden,
die ich mit meinen Mitteln nicht führen kann, z. B. : Findet
sich vielleicht doch noch irgendwo eine Beschreibung des
Ringes des H. Theobald? Wie weit ist die Neuneckigkeit cha-
rakteristisch? Sind inzwischen ähnliche Amuletringe entdeckt
worden? Begegnen im Norden wirklich gar keine Spuren
der Verehrung des Heiligen? Lassen sich Zwischenstat tonen
derselben von Thann bis Lübeck nachweisen ? Wie kam der
mitten im Binnenlande heimische Heilige dazu, auch viel ange-
rufener Nothelfer in Seegefahr zu werden? Sind ferner die
Amuletringe in Thann selbst verfertigt worden, so müsste dort
die Juwelierkunst geblüht haben, vielleicht mit Rheingold
und Markircher Silber: finden sich darüber Nachrichtai?
Da die Verehrung des Heiligen in Thann selbst noch heute io
voller Blüte steht, und besonders der 1. Juli, der Tag der
Translation, seit 1891 wieder aufs feierlichste mit Prozeäsion,
Verbrennung dreier Tannenbäume, Feuerwerk u. s. w. be-
gangen wird, so wird die Lösung obiger Fragen um so inter-
essanter sein.
IV.
Graf Durckheim.
Lebensbild
▼on
K. Hackenachmidt.
xLs war ein reiches, vielhewegtes Leben, das am 29. Juni
1891 auf Schloss Edia (bei Amstetten) in Nieder-Oesterreich
seinen irdischen Abscbluss fand, und das wir im folgenden zu
schildern versuchen wollen.
Wie das Sterbebett des Greisen, so war einst die Wiege
des Kindes fem vom Rhein und vom Wasgau gestanden.
Ferdinand Felix Karl, Graf Eckbrecht von Durck-
heim - Montmart in wurde am 1. Juli 18i2 zu Thüren-
hofen bei Feucht wangen in Bayern geboren. Und dennoch
war er durch seine Abstammung ein Sohn des Elsasses. Seine
Ahnen waren eines der ältesten und angesehensten Ritterge-
schlechter unseres Landes. Schon auf Urkunden des 12. Jahr-
hunderts werden Dürckheime als Burgmänner zu Hagenau ge-
nannt. Im Anfang des 14. Jahrhunderts trat Heinrich von
Durckheim durch seine Verheiratung mit Katharina von Win-
stein in Besitz der Herrschaft Schöneck im Unterelsass.
Wenn der Wanderer von Reichshofen aus den Schwarzbach
aufwärts pilgert, so kommt er hinter dem Jägerthal, dessen
Eisenhämmer nun leider verstummt sind, in eine eigentümliche
G^end. Es sind endlose Buchen- und Föhren wälder, steil
ansteigende, mit wilden Felspartien gekrönte Hfigel, dazwischen
tiefe Schluchten, einsame Thäler. Man kann heute noch stun-
denweit gehen, ohne auf eine menschliche Wohnung zu stossen,
ohne anderen lebenden Wesen zu begegnen, als scheu davon-
— 46 —
eilenden Rehen. Von allen Höhen aber schauen aus dem
grünen Laub romantische Schiosstrümmer herab, stumme und
doch beredte Zeugen einer dahingeschwundenen Cultur. Das
architektonisch so schöne Neu -Win stein b^rüsst uns zu-
erst. Dann tritt das halb in den Sandstein gehauene Alt-
W i n s t e i n hervor. Gehen wir das Thal weiter hinauf, so
erblicken wir zur rechten über Dambach den Hohenfels,
links den Win eck und dahinter das rätselhafte Witt-
schlösschen. Biegen wir um den Berg herum, Ober-
Steinbach zu, so erheben sich vor uns die weitausgedehnten
imposanten Ruinen von Schöneck. Mit der GreschicJite dieser
und vieler anderer Burgen, mit den Sagen, die sie umranken,
ist der Name Dürckheim aufs innigste verknöpft. Ein Hart-
wig von Dürckheim, genannt der Schwarze, war durch
kühne Kriegszuge der Schrecken der Gegend. Wolf Eck-
brecht stand mit Franz von Sickingen in Burgfrieden und
teilte mit diesem Siege und Niederlagen. Cuno Eckbrechl,
sein Sohn, führte die Reformation in Fröschweiler ein. fjn
anderer, Wolf Eckbrecht, war in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts Oberst in kurpfalzischen Diensten und ver-
teidigte vergeblich seine Schlösser gegen die eindringenden
französischen Heere. 1676 und 1677 gingen alle diese Bui^n
in Flammen auf. Obwohl der Nimweger Frieden der Familie
die entrissenen Güter wiedererstattete, wollte es den edlen
Herren unter französischer Herrschaft nicht femer im Elsass
gefallen. Christian-Friedrich wurde Kammerherr des
Kurfürsten von Mainz, Ludwig-Karl, der Grossvater un-
seres Dürckheim, war Württembergischer Gresandter in Wien
und Regensburg und wurde 1764 durch Kaiser Franz I. in den
Reichsgrafenstand erhoben. Er heiratete 1764 die Tocht^ des
württembergischen Ministers Grafen Du Maz-Montmartin, auf
dessen Wunsch er den Namen seiner Gremahlin dem seinigen
beifügte. Karl-Fri edrich- Johann, sein Sohn« war
schwedischer und württembergischer Kammerherr. Das Wappea
der Dürckheim ist ein sogenanntes redendes, eine schwane
Thürangel auf Silber.
Als die Napoleonische Herrschaft ein Ende gefunden hatte,
zog es den Vater unsers Grafen vrieder in die alte Heimat
seines Geschlechts zurück. Er begehrte und erhielt für sich
und seinen Jüngstgeborenen die französische Nationalität, und
damit wurden ihm auch ein Teil seiner Güter im Unterelsass
zurückerstattet, die während der Revolution Nationalgut ge*
worden waren. Die grossen Waldungen gaben in jenen unweg-
samen Gregenden nur einen geringen Ertrag. Er veräussert«
dieselben an die Dielrich'sche Familie, deren Hüttenwerke da-
— 47 —
mals einen grossen Aufschwung genommen hatten. Die Frösch-
weiler Guter und das Schloss daselbst waren im Besitz der
Gebrüder Strauss - Du rckheim , den Nachkommen einer
Seitenhnie der Familie. Graf Karl Friedrich schlug zuerst in
der Nähe seines Stammsitzes, in Hagenau, dann in der Nähe
seiner Schwiegermutter, der Freiin von Bock, in Mutzig seine
Wohnung auf. Nach dem Tode der letzteren (1822) trat er in
Besitz des Schlossgutes zu Bläsheim, wo er endlich für
seinen Lehensabend die erwünschte Ruhe fand.
Es war bereits still geworden um den alternden Herren.
Seine vier älteren Söhne waren erwachsen, als die Uebersiedelung
nach Frankreich erfolgte, und blieben in Deutschland; Otto
und Gustav traten beide in österreichische Militärdienste.
Der Jüngste, Ferdinand, bezog neunjährig das Institut, das
der ehrwürdige Pfarrer Redslob in Strassburg mit grossem
Erfolg leitete, und besuchte von da aus die Klassen des Gym-
nasiums. 1824 bestand er das übliche Baccalaureats-Examen
und verlegte sich sodann auf das Studium der Jurisprudenz.
An Gaben fehlte es ihm nicht, auch nicht an Fleiss, aber
freilich Hessen Ausflüge nach Bläsheim, Landpartien, Reit-
übungen und Jagdfahrten manchmal die Studien bedenklich
zurücktreten. Oestlich von Bläsheim lag unweit vom Rhein ein
herrlich angelegtes Landgut, die Thumenau. Schöpfer und
Besitzer desselben war der damalige Bürgermeister von Strass-
burg, Baron Friedrich von Türckheim, der Sohn jenes
Bernhard von Türckheim, der die einst von Göthe angeschwärmte
Lili Schönemann, die schöne Frankfurter Patriziertochter, heim-
geführt hatte. Drei liebliche Töchter waren ihm erblüht, und
wenn der junge Graf einen Ritt nach der Thumenau allen
anderen Vergnügungen vorzog, so waren es bald nicht bloss die
landwirtschaftlichen Reize der englischen Parkanlagen, die ihn
anzogen. Im Jahre 1832 verlobte er sich mit Mathilde
von Türckheim, und trat, um seine Auserkorene bald
heimführen zu können, in die Landesverwaltung. Sein Name,
seine Familienbeziehungen und mehr noch sein frisches, fröh-
liches Wesen Hessen ihn rasch vorrücken. Nachdem er kurze
Zeit Assessor des Präfekten von Strassburg gewesen war, wurde
er 1835 zum Unterpräfekten von Espalion, im Aveyron-
Departement, ernannt. Die Reise nahm zwölf Tage in Anspruch
und wurde in einer Kutsche zurückgelegt ; zwischen dem jungen
Beamten und seiner zarten Frau lag in einer Hängematte ihr
neugeborenes Knäblein. Vier Jahre verharrte er in jener rauhen
Gegend, inmitten einer wenig freundlichen Bevölkerung; dann
kam er, nach kurzer Wirksamkeit in Nantua^ in sein liebes
Elsass zurück, um die schöne Unterpräfektur von Weissen-
- « —
bürg zu beziehen. Leider sollte er nur kurze Zeit in dieser
Stellung, die seineu Wünschen völlig entsprach, bleiben. Er
hatte die Wahl eines Abgeordneten zu leiten ; der regierungs-
freundliche Kandidat fiel durch, in Paris gab man ihm die
Schuld dieses Misserfolgs und versetzte ihn nach Pe renne
an der Somme. Zu seinem dortigen Yerwaltungskreis gehörte
das Schlots Harn, in welchem damals Prinz Napoleon ab
Gefangener weilte. Der junge Unterpräfekt behandelte den
Prinzen, dem damals schon viele Herzen in Frankreich
schlugen, mit ritterlicher Freundlichkeit und scheint auch auf
den Prinzen einen Eindruck gemacht zu haben. In Provins,
wohin er 1844 kam, traf ihn ein harter Schlag. Schon seit
mehreren Jahren gab die Gesundheit seiner Gremahlin zu
ernsten Befürchtungen Anlass. Ein längerer Aufenlhalt im
Süden hob das Leiden nicht. Am 11. August 1847 wurde sie
ihm in Pau durch den Tod entrissen. Sie starb als gläubige
Christin in seliger Ergebung unter GroUes Willen. Wenige
Monate darauf brach die Februarrevolution aus, der Graf legte
seine Stellung nieder und zog nach Niederehnheim, in die Nähe
der befreundeten Familien. Seine Administrations-Carriere schien
zu Ende. Ein Graf hafte in einer Republik keine Zukunft.
Aber rasch änderten sich die Verhältnisse. Der Gefangene
zu Ham war, wider alles menschliche Denken, zum Präsidenten
gewählt worden. Er hatte, das darf zu seinem Lobe nicht ver-
schwiegen werden, ein gutes Gredächtnis für die, welche ihm
in den Zeiten der Schmach freundlich entgegengetreten waren.
Der Graf wurde an die Unter-Präfektur zu Schlettstadt
und bald darauf, am 12. Mai 1850, an die Prafektur von Cd-
mar berufen. Er hatte in der Zwischenzeit in der Person
seiner Schwägerin, der liebenswürdigen Fanny von Törek-
heim, an Stelle der heimgegangenen, eine überaus treue Ge-
hilfin gefunden.
Colmar war ein schwieriger Posten. Die Bevölkerung war
republikanisch gesinnt. In den Fabrikstädten hatte der Cora-
munismus viele Anhänger. In Mülhausen, das bekanntlich erst
seit dem Anfange des Jahrhunderts zu Frankreich gehörte, regte
sich fort und fort das unruhige Schweizerblut, und die reichen
Fabrikherren dort waren von jeher für die Präfekten kein
leichtes Verwaltungsobjekt. Der damalige Präsident der Repu-
blik erfuhr es selber, als er die östlichen Departemente durch-
reiste, um Stimmung für das Kaisertum zu machen. In Mül-
hausen weigerte sich die Nationalgarde zu seinem Empfang
auszurücken, und in Colmar umringle das Volk die Prafektur
und Hess unablässig bis in die tiefe Nacht hinein die Republik
hoch leben. «Qu'est-ce qu'ils ont donc k crier?> so fragte ein-
- 49 —
mal übers andere während dem offiziellen Essen der Prinz-Präsi-
dent. Er hatte an jenem Abend seine Migräne. Noch in späten
Jahren pflegte man in der Familie die Kammerjungfer, die gute
Annette^ damit zu necken, dass sie damals dem Prinzen das ver-
langte heisse Fussbad in einem einfachen hölzernen Kübel brachte.
Der Präfekt trat sehr energisch auf. Die Entlassung der
Mülhauser Nationalgarde ernüchterte die Gemüter. Dank seiner
Geistesgegenwai*t rief der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851
keine Unruhen hervor. Nach dem Sieg des Kaisertums sollte
das Grericht über die Gegner desselben ergehen. Es war be-
reits i-ine Proskriptionsliste aufgestellt, die die Namen der an-
gesehensten Bürger des Departements enthielt. Hier bewies
jedoch Graf Dürdcheim, dass, wenn er der neuen Regierung
ergeben war, er durchaus nicht gewillt war, ein Scherge der-
selben zu werden. Er reiste nach Paris und trat beim Kaiser
personlich för seine bedrohten Untergebenen ein. Seinem ener-
gischen Einschreiten hatten sie es zu verdanken ^ dass sie nicht,
wie so viele andere, nach Lambessa wandern mussten. Aber
freilich war dieser Beweis der Unabhängigkeit nicht im Sinne
der Herren, die damals das Ohr des Kaisers besassen. Man
verklatschte den Grafen in Paris wegen seinen freundschaft-
lichen Beziehungen zu einigen vornehmen Familien, die der
gestürzten Regierung anhingen, und 1853 hatte er eines Tages
die Ueberraschung, im cMoniteun ein kaiserliches Dekret zu
lesen, das ihm einen Nachfolger ernannte. Er beschwerte
sich sogleich in Paris und überzeugte den Kaiser von seiner
Unschuld. Aber was geschehen war, war geschehen. Zur
Entschädigung erhielt er die gut dotierte Stellung eines Gene-
ralinspektors der Telegraphen.
Unterdessen war ihm infolge des Todes des Herrn Eras-
mus von Strauss-Dürckhei m, seines Vetters, ein Teil
der Fröschweiler Güter und das im Bau begriffene dortige
Schloss zugefallen, — der andere Herr von Strauss hinterliess
bekanntlich seinen Anteil der Stadt Strassburg. Durch den
Verkauf der Bläsheimer Güter wurde er in Stand gesetzt, die
neue Besitzung bedeutend zu erweitern. Er baute das Schloss
aus und im Jahre 1854 siedelte er sich mit seiner Gemahlin
und den drei Söhnen, die sie ihm geschenkt hatte, in dem lieb*
liehen Dorfe an, das auf einem der letzten Vorsprünge der
Vogesen so freundlich zwischen seinen Obstbäumen heraus ins
Land schaut. Seine neue Stellung legte ihm nur die Pflicht
auf, jährlich einige Departemente zu inspizieren. Im übrigen
war er frei und konnte residieren, wo er wollte. Hier begann
nun für den Grafen ein Leben, wie er es sich nicht, schöner
4
— 60 —
wünschen konnte. Er widmete sich mit Eifer der Landwirt-
schaft und suchte, freiUch nicht immer mit Glück, bei den
Bauern für neue Gulturmethoden Sinn zu wecken« Die Abende
gehörten der Litteratur und der Geselligkeit. Im Familienkreise,
der sich um die traute Lampe versammelte, hatte die liebe
cbonne-maman«, die verwitwete Schwiegermutter, Frau von
Tärkheim, den Ehrensitz. Auch der Schwager, Oberf5rster
Adolf von Türkheim, wat* oft zugegen. Der junge geist-
reiche Ortspfarrer, der jetzige Konsistorialrat M. Reichard,
gesellte sich mit seiner Frau zur Tafelrunde.* Dann wurde
vorgelesen und erzählt. Die Inspektionsreisen waren für den
Grafen eine unerschöpfliche Quelle anschaulicher Schilderangen,
besonders wenn sie ihn, wie im Jahre 1866 nach Algerien
und Tunis geführt hatten.
Ich darf hier wohl erzählen, bei welcher Gel^^nheit mir
die Ehre seiner Bekanntschaft wurde. Es war am 5. Juli 1860,
ein herrlicher Sommertag. Ich war Kandidat und hatte mor-
gens in Frosch Weiler meine ers^e Predigt gehalten. An jenem
Tage fand im Bezirk eine Wahl für den Generalrat statt. Der
Graf hatte seine Kandidatur aufstellen lassen ; die Regierung
stand jedoch gegen ihn, so dass seine Wahl zweifelhaft vrar.
Am Abend kamen von allen umliegenden Ortschaften Abgeord-
nete mit den Ergebnissen der Abstimmung. Ueberall glanzende
Majoritäten ! Der Schlossgarten füllte sich mit Landleuten, die
ihrem neuen Vertreter Glück wünschten. Wein wurde auf-
getragen, es war ein fröhliches Treiben, dem ich gerne zu-
schaute. Zuletzt stand der Graf auf einen Stuhl und dankte
mit warmen Worten. Ein Satz seiner Rede ist mir unvergess-
lich geblieben : cMeine Herren, wir müssen, wenn wir fort-
schreiten wollen^ hinüber schauen über den Rhein, und von
unseren Nachbaren, den Deutsöhen, lernen I>
Diesem Friedensbild aus dem Leben eines Landedelmannes
stelle ich zwei andere gegenüber, deren Zeuge ich zehn Jahre
später wurde. Das Ungeahnte, Unglaubliche war geschehen ;
zwischen Frankreich und Deutschland war Krieg ausgebrochen.
Auch das verborgene Jägerthal, eine Stunde hinter Froschweiler,
das ich damals bewohnte, war von französischen Truppen besetzt.
Aber im Laufe des 4. August war alles abgezogen, und gegen
Abend vernahm man im Thale nichts mehr als das rauschende
Wasser und die Signale des Hochofens, und aus weiter Ferne,
vom Nordosten her Kanonendonner. Von Mund zu Mund gings :
1 Kontistorialrat Reichard hat in der Conservaitiven MonalB-
Schrift seinem verewigten Freunde ein Denkmal gesetzt
— 51 —
«Heute sind sie über die Grenze I« Am folgenden Tag ganz
früh machte ich mich auf den Weg hinüber nach Fröschw^iler, ,
um dort, wie ich hoffte, etwas neues zu hören. Als hinter
Neehweiler das Dorf in Sicht kam, da konnte man schon wahr-
nehmen, wie es von französischen Truppen wimmelte. Und im
Dorie selbst, welch ein Anblick! Auf der Strasse, vor den
Häusern, lagen ganze Reihen, die einen schlaifend, die andern
fluchend und schimpfend, alle Waffengattungen durcheinander,
alle mit den Zeichen grösster Erschöpfung. Soldaten drangen
in Scharen in die Häuser und flehten um Lebensmittel. Andejre
suchten sich zwischen Pferden und Wagen an einen der wenigen
Brunnen des Ortes zu drängen. Dazwischen schallten Kom-
mandorufe, die niemand beachtete, Scherze, die niemand be-
lachte. Mühsam gelangte ich ins obere Dorf zur Kirche. Am
Eingang des Pfarrhauses stand der damalige Ortsgeistliche,
Pfarrer Klein. «Was bedeutet das alles?» fragte ich ihn rasch.
Cr nahm mich auf die Seite und flüslerte mir zu, was vorge-
fallen war : die Franzosen zu Weissenburg geschlagen, General
Douai getötet ! eine zweite Schlacht werde in den nächsten
Tagen hier erwartet, das gräfliche Schloss sei französisches
Hauptquartier! Ich schaute hinüber. Eben ritten einige Gene-
rale durch das Schlossthor, in der Mitte Marschall Mac-
Mahon selber! und wie finster blickte er auf das wilde
Treiben in der Dorfgasse 1 Nachdem ich in diese Züge ge-
schaut hatte, war ich über den Ausgang des Krieges nicht
mehr in Zweifel.
Zwei Tage nachher gings wieder hach Frosch weiter, aber
diesmal um Nahrungsmittel und Hilfe zu bringen. Inzwischen
war die Schlacht von Wörth geschlagen worden. Noch lagen
in den Wiesen um das Dorf unljestattet die Leichen der Ge-
fallenen. Im Dorfe rauchten Trümmer, schauten aus den Fenstern
entsetzte Gesichter heraus. Und überall Verwundete, von denen
die meisten noch keine Pflege erhalten hatten 1 Und wie sah
es erst droben, neben der Kirche, die nur noch verrauchte
Mauern zeigte, im Schloss aus? Die Vorderseite des stattlichen
Gebäudes bot mehrere tiefe Breschen, die Blumenbeete waren
zerstampft ; unmittelbar am Eingang streckte ein gefallenes
Pferd die Beine in die Höhe, und im Schlosse selbst, in
den Scheunen und Stallungen, in den Höfen und Gärten nichts
als Verwundete und Verwundete, und inmitten dieses Grauens,
und Jammers die Gräfin, ruhig und gefasst und nach< Kräften
bemüht, der grössten Not abzuhelfen und etwas Ordnung zu
bringen in die Wirrnis.
Und der Schlossherr? Er war beim Ausbruch des Kriegs
nach Metz berufen worden, um das Telegraphenwesen im,
— 52 —
kaiserlichen Hauptquartire zu leiten. Die Depeschen, welche die
ersten französischen Niederlagen und die teilweise Zerstörung
Fröschweilers meldeten, gingen alle durch seine Hand. Man
kann sich denken, wie schwer es ihm war, an diesen Schreckens-
tagen fern von den Seinen zu weilen. Aber er musste an seinem
Posten ausharren^ bis der Zusammenbruch des Kaisertums ihn
seines Dienstes enthob. Nun eilte er durch die Pfalz und Baden
in die Heimat. Welch eine Ruckkehr I Die Gemahlin und die
zwei jüngsten Söhne fand er zwar wohlbehalten wieder, aber
von seinem ältesten Sohn Edgar, der im französischen Heere
diente, war man ohne Nachricht, und bald konnte man nicht
mehr bezweifeln, dass er den Strapazen des Feldzugs erlegen
war. Der zweite Sohn war als Mobilgardist in Strassburg ein-
geschlossen. Noch klafften am Schloss die Kugelbreschen.
Scheunen und Stallungen waren leer, der Park in einen Kirch-
hof verwandelt. Wir Deutschgesinnten fragen uns : Wie wird
sich Graf Dürckheim zu der Sachlage stellen? Wir kannten
seine Liebe zu Deutschland, aber wird dieses Gefühl stand-
halten beim Anblick der tiefen Wunde, die der Krieg seinem
Elsass und seinem eigenen Familienglück und Wohlstand ge-
schlagen hatte, und angesichts des tiefen Grolls, mit dem der Ge-
danken an eine Lostrennung von Frankreich allenthalben, und
besonders von Seiten der befreundeten Adelsfamiiien in der
Nachbarschaft, aufgenommen wurde? Zu unserm fineudigen
Erstaunen blieb der Graf keinen Augenblick unentschieden. Er
machte keinen Hehl von seiner Ueberzeugung, dass trotz alleni
Schweren, das die unerwartete Wendung seines Geschickes für
das Elsass zur Folge hatte, seine Wiedervereinigung mit
Deutschland als ein Glück zu betrachten sei. In einem Schreiben,
das der Niederrheinische Kourier veröffentlichte, forderte er
seine Landsleute auf, sich in das Geschehene zu fugen und
freudig in die Zukunft zu schauen. Freilich hatte dasselbe zu-
nächst nur den Erfolg, diesseits und jenseits der Vogesen einen
Sturm des Zornes und eine Flut von Schmähungen zu erregen,
die der Graf ruhig im (xefühl der vollbrachten Pflicht über
sich ergehen Hess.
Der Krieg war beendigt, auf das Zerstören sollte das Bauen
folgen. Mit seinem Namen, seiner deutschen Gesinnung und
seinem Verwaltungstalent schien der Graf dazu berufen, in
erster Linie mitzuwirken an der Reorganisation der annektierten
Provinzen. Im März 1871 reiste er auf das Zureden des da-
maligen Gouverneurs Grafen Bismarck-Bohlen mit
vier andern Herren nach Berlin, um dem Reichskanzler die
Wünsche und Bedürfnisse des Landes mündlich vorzutragen.
Die Herren wurden freundlich aufgenommen, der Graf in-
— 53 —
Sonderheit, der durch sein entschiedenes Wesen auf den Reichs-
kanzler einen vonäglichen Eindruck machte und auch am Hofe
gefiel. £r kam zurück voll Holfpungen auf eine schöne Wirk-
samkeit im Dienst seines engern Vaterlands. Leider sollten sie
nicht in Erfüllung gehen. Am 16. April fand in Strassburg
jene berühmte Notablenversammlung statt, die das Losungswort
in das Land warf : Lasst uns unsere elsassische Nationalität
retten! und aus der die sog. autonomistische Partei entstand.
Die meisten dieser Herren waren Deutschland sehr abgeneigt,
aber sie einigten sich in dem Grundsatz : Wir unterdrücken
unsere Gefühle und suchen Einfluss zu bekommen auf die
Leitung der Geschäfte, damit die elsassische Eigentümlichkeit
nicht von den deutschen Einrichtungen verschlungen werde«
Eine neue Deputation reiste nach Berlin, die zunächst den Er-
folg hatte, dass eine Anzahl von Anordnungen, welche die
deutsche Verwaltung getroffen hatte, und welche den Herren
besonders ein Dom im Auge waren, rückgängig gemacht wurden.
Graf Bismarck- Bohlen legte seine Stellung nieder und wurde
durch Herrn von Möller ersetzt.
Graf Dürckheim war natürlich mit der Wendung, welche
jetzt die Dinge nahmen, sehr wenig einverstanden. Er miss-
billigte eine ganze Anzahl Massregeln und machte davon keinen
Hehl. Tief verletzte es ihn, dass Männer, die im Privatverkehr
nicht genug Preussen- und Deutschenhass an den Tag legen
konnten, bei der Regierung obenan waren und mit Vorliebe zu
Rate gezogen wurden; ebenso dass junge Leute, die sich durch
Option dem deutschen Militärdienst entzogen hatten, ungehindert
im Lande bleiben und die, welche ihren Militärpflichten genügt
hatten, darüber verhöhnen durften. Wir können freilich nicht
verschweigen, dass der Graf in seinem abfalligen Urteil über
Beamte und Massregeln oft viel zu weit ging und seine Worte
nicht immer sorgfältig abwog. Er war trotz seiner Jahre
jugendlich feurig in Hass und Liebe und jugendlich rasch im
Handeln und im Reden^ und hat sich manchmal unnötig er-
eifert und manchen unrecht beurteilt. Man trage es ihm nicht
mehr nach I Es war eine bewegte Zeit, und auch weniger
leidenschaftliche Naturen wie der Graf fühlten es schmerzlich,
dass bei einer deutschen Verwaltung deutsche Gesinnung nun
auf einmal so wenig galt.
Eine grosse Ehre und Freude wurde dem Grafen zu teil , als im
August 1876 Seine Majestät der Kaiser zum ersten Mal seit dem
grossen Kriege den elsässischen Boden betrat und die an Stelle
der abgebrannten neu und herrlich erstandene Friedenskirche
in Fröschweiler in Augenschein nahm. Der Graf durfte im Auf-
trag der Gemeinde den hohen Monarchen am Eingang des Dorfes
— 54 -^
begrüssen. Er that es in markigen Worten, die sichtlich Eindruck
machten. Vor dem Portal der Kirche standen Abordnungen der
-ländlichen Bevölkerung der Umgegend, die dem Kaiser begeistert
huldigten. Zum ersten Mal bekundete sich die Zaubermacht,
welche die Erscheinung des greisen und doch noch so wunder-
bar geistesfrischen Monarchen und dessen so ungemein leut-
seliges Auftreten auf das elsassische Gemüt ausübte. Nachdem
Seine Majestät die Kirche besichtigt und .seinen Namenszug in
das Fremdenbuch eingetragen hatte, betrat er mit dem Kron-
prinzen und den Herren seines Gefolges das gräfliche Schk)S8
und nahm einige Erfrischungen an. Ich durAe selber Zeuge
sein von der huldvollen Weise, in welcher der Kaiser mit dem
•Grafen und dessen Familie verkehrte. Zweimal musste er daran
erinnert werden, dass die zur Rückfahrt bestimmte Stunde
geschlagen hatte.
Sonst wusste der Graf die Müsse, die ihm seine Pensio-
-nierung Hess, zu litterarischen Arbeiten zu verwenden. Er
übersetzte seine französischen Lieblingsdichter in deutsche Verse.
Er versuchte sich selber mit mehr oder weniger Glück in der
edlen Dichtkunst und gab für seine Freunde ein Bändchen
Gedichte heraus. Folgende Strophe ist gewiss nicht ohne poeti-
schen Schwung.
0 deatsches Lied, da herrlichstes tod allen,
Wie hast dn mich durchs Leben tren geführt !
Ich könnt' noch kaum ein sterblich Wörtlein lallen,
Da hatte schon dein Zanber mich berührt:
An meiner Wiege^ als ob Engel sangen,
Klangst da so hold von süssen Lippen mir.
Der erste Schmerz entwich vor deinen Klängen,
Mein erstes Lächeln dankt^ die Matter dir!
In einer Zeitschrift fand er eine ungünstige Aeusserung
über das Benehmen der Li Mi (Elise Schönemann) gegen
Göthe. Er wollte zuerst nur in einer Einsendung das An-
denken der Grossmutter seiner Gemahlin in Schutz nehmen.
Aus dem Aufsatz wurde aber ein ganzes Buch, das 1879 unter
dem Titel Lilli's Bild erschien, und das einen wertvollen Bei-
trag zur Göthelitteratur bildet. Dem Werk ist ein herriicfaes
Porträt der Lilli nach einem Familienbild und eine Reihe
höchst interessanter Briefe von ihr und ihren Freunden bei-
gegeben.
Mit seinen litterarischen Beschäftigungen erwarb sich der
Graf litterarische Freundschaften. Geibel trat mit ihm in
Brief- und Gedichte Wechsel. Boden stedt besuchte ihn. Der
Pfälzer Gelehrte Dr. Leyser stand ihm ratend zur Seite. Zahl-
— 56 —
lose Besucher des Schlachlfeldes klopften auch im Schlosse an
und ¥^aren willkommene Gäste. Von einem steif zugeknöpften,
stolz berabblickenden, kalt abgeschlossenen Adeligen war Graf
Dürckheim das contrare Gegenteil.
Im Familienkreise hatte sich inzwischen manches geändert.
Die gute Grossmutler Türkheim war vor dem Sturm abge-
rufen worden. Onkel Adolf hatte nur kurze Zeit das Gluck
gehabt, einer deutschen Verwaltung zu dienen. Der älteste' der
Sohne aus zweiter £he, Gra t Wolf, war in den österreichischen
Militärdienst getreten. Der zweite, Erasmus, der sich dem
Forstwesen widmen wollte und vor den letzten Prüfungen stand,
wurde den beklagenswerten Eltern durch den Tod entrissen.
Als der jüngste Sohn sich ein eigenes Heim gründete, fasste
der Graf einen grossen Entschluss. Er uberliess diesem und
seinem jungen Eheglück das Frosch weiter Schlossgut und nun
wohin? Im Elsass geßel es ihm nicht mehr, seitdem die da-
nnalige Regierung nach seinem Dafürhalten das System der
Nachgiebigkeit auf die Spitze trieb. Sein Herz zog ihn nach
Oesterreich, wo sein Sohn Wolf eine glänzende Laufbahn zu-
rücklegte, wo er Verwandte und Freunde hatte, wo der Adel
am meisten seiner Art und Weise entsprach. Er brachte das
Schloss Edia, bei Amsletten, das früher, wenn ich recht be-
richtet bin, Eigentum des Herzogs von Coburg gewesen war,
käuflich an sich (1883), und hier wurde ihm und seiner Ge-
mahlin inmitten einer herrlichen Natur und in Gemeinschaft
mit seinem Sohn und dessen Familie ein schöner, ruhiger
Lebensabend. Doch die Ruhe war keine Unthätigkeit. Er hielt
Rückblick auf die hinter ihm liegende Lebensbahn und schrieb
seine Erinnerungen, die er in drei Bänden für seine
Freunde drucken Hess. Ein unternehmender Stuttgarter Buch-
händler wurde auf das Werk aufmerksam und nahm es in Verlag.
Es erschien aufs neue in zwei Bänden und fand in ganz Deutsch-
land einen so grossen Anklang, dass eine zweite Auflage binnen
kurzem nötig wurde. Diese Memoiren haben einen bleibenden
Wert als Beitrag zur Greschichte des zweiten Kaiserreichs und
zur Charakteristik Napoleon IIL Sie zeigen, dass der Mann,
der durch seine Fehler und Verbrechen so viel Unglück auf sein
Volk gebracht hat, auch seine bessere Seite hatte und nicht
ganz verdienstlos zu seiner hohen Stellung gelangt war. Der
Erfolg dieses Buches und die günstige Beurteilung, die es
überall erfuhr, war eine der letzten grossen Freuden, die dem
Grafen zuteil wurde. Er sah sich dadurch ermutigt, unter dem
Titel Allerlei Gereimtes und Ungereimtes eine
hübsche Sammlung von Gedichten, Novellen und Reiseschilde-
rungen herauszugeben.
— 56 —
Als er die ersten Exemplare seinen Freunden schickte,
war bereits seine bisherige jugendliche Rüstigkeit den €ie-
brechen des Alters gewichen. Doch blieb der Geist bis ans
Ende frisch. Von seinem Schmerzenslager schrieb er an seine
Freunde Briefe voll Ergebung und fröhKchem Gottvertrauen.
Am 29. Juni 1891 schlug ihm die Stunde der Erlösung. Seine
irdische Hülle ruht in Fröschweiler in der Familiengnift unter
dunkeln, rauschenden Tannen. In weitem Umkreise schlafen
dort viele Tausende mit ihm denselben Schlaf. Die GeGide um
Wörth und Fröschweiler sind ein weites gtorreiches Toienfekl.
Graf Dürckheim ist seiner Genossen im Erdenschoss nicht un-
wert: Er hat, wie sie, für eine grosse Sache gestritten und
gelitten.
i
V.
Die Strassburger und die St. Petersburger
Blessigstiftung.
Geschichtliche Mitteilangen
Ton
Julius Rathgeber.
Ziu Anfang des Jahres 1847, aus Anlass der bevorstehen-
den Säcularfeier des Strassburger hochverdienten Professors der
Theologie und begabten Kanzelredners Dr. Johann Lorenz
Blessig, der als Prediger und Seelsorger 35 Jahre lang an
der Neuen Kirche zu Strassburg gewirkt hatte, regte der geist-
liche Inspektor Friedrich Wilhelm Edel in einer kleinen
Denkschrift 1 die Gründung einer mildthätigen Stiftung zur
Versorgung notleidender Kinder an. Er gab auch zu diesem
Zwecke die sog. c Monatblätter der Blessig-Stiflung» heraus,
welche vier Jahrgänge umfassen und von 1847 bis 1850 er-
schienen und äusserst wertvolle, bisher ungedruckte Beiträge
zu dem Leben und Wirken Dr. Blessigs enthalten. Derselbe
erblickte das Licht der Welt zu Strassburg den S^. März 1747
und starb daselbst den 17. Februar 1816. Die Blessig-Stiftung
trat auch wirklich am 15. April 1847 nach der kirchlichen
Dankesfeier zum Gedächtnis Dr. Blessig's, die in der Neuen
I Diese Denkschrift ist also betitelt : Blessig-Stiftung.
Dringende Einladung und Bitte an alle Menschenfreunde am Bei-
hilfe zur Versorgung nothleidender Kinder. cWer ein solches Kind
aofiiimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. » Jesus Christus
Ifatth. 18, ö. Starassborg, bei F. C. Heitz.
— 58 —
Kirche zu Strassburg abgehalten wurde, ins Leben und wirkt
seitdem in segensreicher Weise in Strassburg fort. Die Sta-
tuten der Strassburger Blessig-Stiflung, die den meisten Lesern
des Jahrbuchs wohl unbekannt sein werden, haben tolgenden
Wortlaut :
Art. 1. Die Blessig-Stiflung ist eine der evangeliacheo
Kirche angehörige Anstalt, gegründet am 15. April i847 zum
dauerhaften und gesegneten Andenken an die vor hundert
Jahren stattgehabte Geburt des edlen Menschen, des bewährten
Christen, des um Vaterland und Kirche hochverdienten Christen-
lehrers und Kinderfreundes Dr. Johann Lorenz Blessig.
Art. 2. Ihr Zweck ist Unterbringen hilfsbedürfliger
Kinder jedes Alters und Geschlechts in christlichen Familien,
also bestmögliche Versorgung und Ueberwachung derselben;
aussei*dem auch sonstige Unterstützung notleidender Kinder.
Art. 3. Ihre Wirksamkeit soll sich ausdehnen aber die
beiden Rheindepartemente und, insofern die Mittel es erlauben,
über die angrenzenden Gegenden Frankreichs, also über die
östlichen Departemente.
Art. 4. Indem die Stiftung keines Anstalthauses, keiner
Gehalte für Angestellte, keiner Mobilien noch anderer Gegen-
stände bedarf, so wird sie alle ihr zugewiesenen Gaben für die
K i nderversorgung verwenden .
Art. 5. Für die Stiftung werden jährlich Beiträge ein-
gesammelt ; mit Dank wird auch jede andere Gabe, jede
Schenkung, jedes Vermächtnis angenommen.
Art. 6. Wo mögUch verölTentlicht sie zur Bekannt*
machung und Förderung ihres Zweckes eine periodische Schrift,
unter dem Titel: «Monatblätter der Blessig-Stiflung».
Jeden Monat erscheint ein Heft von wenigstens zwei Bogen.
Der reine Ertrag dieser Monatblätter Üiesst in die Slif-
tungs-Kasse, welche aber, ihrerseits, zur Bestreitung der Kosten
der Herausgabe dieser Schrift nichts beiträgt.
Art. 7. Die Stiftung selbst, die Förderung ihres Zweckes,,
sowie die Herausgabe der Zeitschrift werden durch einen Ver-
walter unentgeltlich besorgt.
Art. 8. Ein Verwaltungsrat, bestehend aus sechs Per-
sonen, ist dem Verwalter beigegeben.
Art. 9. Die beitragenden Freunde der Stiftung bilden die
General -Versammlung, welche den Verwalter und den Verwal-
tungsrat, jenen für sechs Jahre, diesen zur Hälfte alle drei
Jahre, aus ihrer Mitte erwählt. Die Austretenden sind wieder
wählbar.
— 59 —
Art. 10. Die Rechnung ober Einnahme und Ausgabe der
Stiflungs-Kasse wird jährlich durch die Monaibläiier veröffent-
licht.
Art. 11. Alle drei Jahre findet eine General- Versammlung
zu Strassburg statt. Wenn die Umstände es erfordern , können
auch ausserordentliche General -Versammlungen zusammenbe-
rufen werden.
Art. 1^2. Die General -Versammlung hat über die Ver-
waltung und den Gang der Stiftung, sowie über die Rech-
nungen, Berichte und Anordnungen ein billigendes und miss-
billigendes Urteil auszusprechen und erforderliche Massregeln
über die einzelnen Fälle vorzuschreiben.
Dies sind die Statuten der Strassburger Blessig-Stiftung.
Nach dem Jahresberichte von 1890 beläuft sich das Vermögen
der Stiftung, das in den letzten Jahren durch ansehnliche
Legale von J. August £hrmann, Fritz und Fräulein Rubsamen
bedeutend angewachsen ist, auf 112895 Mark. Die gewöhn-
lichen Einnahmen dieses Jahres beziffern sich auf 6225,47 M.,
die Ausgaben auf G141,72 M. Die Blessig-Stiftung unterstützte
40 Kinder, deren Eltern in Strassburg wohnen müssen^ und
zahlte für dieselben durchschnittlich 24 Mark jedes Vierteljahr.
Auch sorgte sie für Kleidungsstücke und Schuhe für ihre
Pfleglinge. Das Patronat jedes einzelnen Zöglings dauert drei
Jahre lang. Der Verwaltungsrat der Strassburger Blessig-
Sliflung besteht gegenwärtig aus acht Mitgliedern und einem
£hrenmitgliede, Herrn Alphons Pick^ ehemaliges Mitglied des
Bezirkstages und des Landesausschusses von Elsass-Lothringen.
Der Präsident des Verwaltungsrates ist Herr Ehrennotar Körttg^,
Vater. Neben der Verwaltungskommission besteht noch ein
Damen-Komitee, an dessen Spitze Frau C. F. Schneegans,
Witwe des Direktors des protestantischen Gymnasiums, steht.
Die Blessig-Stiftung kann, da sie nur eine beschränkte Zahl
von armen Kindern aufnimmt, dieselben desto wirksamer unter-
stützen und hat schon viel Gutes und Segensreiches gestiftet.
Wenden wir uns nun von der Strassburger zur St. Peters-
burger Blessig-Stiftung. Am 30. März (russischer Styl;
li. April nach dem gregorianischen Kalender) des Jahres 1880
wurde in St. Petersburg die sog. c Blessig-Stiftung» eröffnet.
Es ist dies eine Zufluchtsstätte für Blinde, zum An**
denken an Dr. Blessig gegründet. Dr. Robert Blessig, ein
Grossneffe des Strassburger Theologen, dessen jüngerer Bruder
nach Russland ausgewandert war, wurde zu St. Petersburg
den 20. Oktober 1830 geboren. Er studierte an der Univer-
sität Dorpat von 1848 bis 1855 Medizin und widmete sich be-
— 60 —
sonders dem Studium der Augenheilkunde ; hierauf machte er
eine längere Studienreise ins Ausland zum Behufe seiner wis-
senschaftlichen Ausbildung und wurde nach seiner Rückkehr
1858 am St. Petersburger Augenhospital angestellt. Durch
seine hervorragenden Leistungen wurde er bald so berühmt,
dass die Verwaltung des Spitals keinen Augenblick zögerte,
dem noch jungen Manne im Jahre 1863 die Stelle eines Direk-
tors der Augenklinik anzubieten. Während 15 Jahren war
Dr. Robert Blessig unermüdlich thätig in seinem ärztlichen
Berufe und erwarb sich durch seine Geschicklichkeit und seine
menschenfreundliche Liebe in einem seltenen Grade die An«
erkennung seiner Vorgesetzten und das Vertrauen der Leiden-
den. Auch seine ärztlichen Mitarbeiter schätzten den treuen
Oberarzt, der ihnen das edelste Vorbild gewissenhafter Pflicht-
erfüllung gab^ hoch. Es war eine Freude, die innige Freund-
schaft zu sehen, die jeden Unterschied in der Stellung der
Aerzte ausglich und denselben nur an dem grosseren Masse
von Verantwortung sichtbar werden Hess, die dem Oberarzte
der Behörde gegenüber zufiel.
So sehr Dr. Blessig seinem Berufe lebte und mit hoher
wissenschaftlicher Begeisterung seiner edlen Kunst oblag, ging
er doch nicht im Arzte auf. Er war ein wahrer Menschen-
freund im besten Sinne des Wortes, und der Kranke fühlte
sich in dieser doppelten Pflege unendlich wohl. Auch für
kirchliche Interessen bekundete Dr. Blessig einen warmen
Eifer; als Kirchenältester der deutsch-reformierten Gemeinde
von St. Petersburg zeigte er die regste Teilnahme für die An-
gelegenheiten der evangelischen Kirche Russlands.
Seit Jahren trug sich Dr. Robert Blessig mit dem Gedanken,
eine Zufluchtsstätte für Blinde zu gründen. Das St. Peters-
burger Hospital bildet in der Regel nur eine kurze Pflegstatte
für Augenleidende. Tausende erlangen darin das Augenlicht
wieder ; Hunderte aber verlassen es, um in bleibender Dunkel-
heit zu den Ihrigen zurückzukehren. Jahrelang schwebte daher
dem edlen Menschenfreunde der Plan einer Anstalt vor, in
welcher die unheilbar Blinden einen bleibenden Aufenthaltsort
finden wurden und auch durch Erlernung nützlicher Beschäf-
tigungen dem Leben zurückgegeben werden könnten. Wenige
Tage vor seinem Tode — *Dr. Blessig starb infolge des Typhus,
welche Krankheit er sich durch seine Pflichttreue zugemgen
halte — äusserte er diesen Wunsch gegen einen Freund. Er
starb nach kurzer Krankheit am 13. März 1878, allgemein
geachtet und tief betrauert von Allen, die das Glück hatten,
ihn zu kennen. Dr. Robert Blessigs Wittwe lebt nodi in
St. Petersburg ; seine Ehe wurde mit einem Sohne, Herrn
— M —
£duard Blessig, gesegnet, welcher im Jahre i890 der Strass-
burger Blessig-Stiftung eine Gabe von 1000 M. zuwandte.
Einige Freunde und Kollegen des Verblichenen traten im
Mai desselben Jahres zusammen, um eine Stiftung zu Dr. Blessigs
Andenken und in seinem Sinne zu gründen. Bald darauf er-
schien in der deutschen St. Petersburger Zeitung ein Aufruf
mit der Bitte, des Heimgegangenen Gedächtnis durch die
Gründung einer Blindenanstalt bleibend zu ehren. Die Gaben
flössen so reichlich, dass in kurzer Zeit die erforderlichen
Summen zur Stiftung einer Blindenanstalt vereinigt waren.
Diese wurde in einem freundlichen Hause am Riga-Prospect
zu St. Petersburg am 30. März 1880 eröffnet. Die Anstalt wird
aus einem Komitee, das aus sechs Personen besteht, verwaltet.
In derselben werden die Blinden unentgeltlich aufgenommen,
lernen im Lauf von 3 bis 5 Jahren, die sie in der Anstalt zu-
bringen, ein Handwerk und werden sodann entlassen, um zu
Hause selbständig ihr Brod zu verdienen. Alle Entlassenen
bleiben unter der Fürsorge der Anstalt. Es werden Zöglinge
aus allen christlichen Konfessionen und auch bis in die letzte
Zeit Juden aufgenommen ; auch alle Stände der Gesellschaft
sind vertreten. Die Aufnahme findet zwischen dem 16. und
dem 36. Lebensjahre statt. Kinder und ältere Leute werden
jedoch nicht angenommen. In diesem Asyl sollen die Blinden
— ähnlich wie in Illzach bei Mülhausen im Ober-Elsass —
nicht nur freundliche Aufnahme finden, sondern auch in solchen
Beschäftigungen unterwiesen werden, die sie in den Stand
setzen, nach der Rückkehr zu den Ihrigen, selbständig ihren
Lebensunterhalt sich zu erwerben. So besteht denn in St. Pe-
tersburg seit 12 Jahren eine Blessig-Stiftung, die gleich der-
jenigen von Strassburg segensreich wirkt. Die Zahl der
Zöglinge beläuft sich auf 40 bis 42. Die Unterhalts- und Un-
terrichtskosten eines jeden Blinden betragen 298 if« Rubel
jährlich, inclus. Wohnung. Die Kosten der Beköstigung der
einzelnen Personen belaufen sich pro Tag auf 20 Ms Kopeken.
Das Gesamtvermögen der Anstalt betrug am 1. Januar 1891
eine Summe von 85,338 Rubel, 15 Kopeken. Die jährlichen
Einnahmen belaufen sich auf circa 12,000 Rubel. Der Verwal-
tungsrat der Anstalt besteht aus sechs Mitgliedern, worunter
die verwitwete Frau Dr. Blessig.
Im Asyl ist laut einem der letzten Rechenschaftsberichte
folgende Zeiteinteilung eingeführt worden : Die Blinden stehen
um 7 Uhr morgens auf und begeben sich, nachdem sie gebetet
und ihren Thee getrunken haben, um 8 Uhr an die Arbeit,
welche bis 12 Uhr fortdauert, wo das Mittagessen eingenommen
wird. Nach dem Essen wird bis 2 Uhr geruht und sodann
— 82 —
^ederum bis 7 Uhr gearbeitet, doch wird in dieser Zeit äne
halbständige Pause für den Abendthee gemacht. Um 7 Uhr
nehmen die Pfleglinge ihr Abendessen ein und begeben sich
darauf zur Ruhe. In den Freistunden gehen die Blindoi ent-
weder ausserhalb des Asyls spazieren, jedoch stets mit Führem,
oder begeben sich in den beim Asyl be6ndlichen Grarten. AHe
zwei Wochen besuchen die Pfleglinge die Badstube. An Feier-
tagen gehen die Blinden des Morgens in die Kirdie ihrer Kon-
fession und empfangen nach dem Mittagessen die Besuche ihrer
Verwandten und Bekannten. Den Blinden wird aus ihnen ver-
ständlichen Büchern vorgelesen und erhalten dieselben ausser-
dem Unterricht im Chorgesang, der ihnen von einer Lehrerin
erteilt wird, die sich aus Teilnahme für ihre traurige Lage zur
unentgeltlichen Uebemahme dieser Liebespflicht bereit erklärte.
Ferner ist den Blinden Harmonika- und Guitarren-Spiel, sowie
auch das Spielen von Damenbrett und Bix gestattet.
Dr. Johann Lorenz Blessig, der Strassburger Prediger und
Dr. Robert Blessig, der St. Petersburger Arzt, waren zwei edle
christliche Persönlichkeiten, die nicht nur ihrer Familie, sondern
auch dem deutschen Vaterlande, dem sie ihrer Abstammung
und ihrer Bildung nach angehören, zur Zierde und zum
bleibenden Ruhm gereichen. Durch sie ist der Name Blessig
vom Westen nach dem fernen Osten Europas gedrungen und
hat sowohl an den Ufern des Rheins als an den Gestaden der
Ostsee einen guten Klang erlangt. Dort wie hier lebt das An-
denken dieser beiden trefflichen Männer und edlen Menschen-
freunde durch zwei mildthätige Stiftungen fort, denen wir ein
langQ3 Gedeihen und ei he segensreiche Wirksamkeit wünschen.
VI.
Ueber
Thomas Murners Uebersetzun^en
aus dem Hebräischen
Von
M. Spanier (Heidelberg).
xjudmg
Geiger liat in den Jahrbüchern für deutsche
Theol(^e XXI, 190 einen wertvollen A'ufsatz «Zur Geschichte
des Studiums der hebräischen Sprache in Deutschland» ver-
öffentlicht und bei dieser Gelegenheit auch Murners Ueber-
setzerthätigkeit gewürdigt. Aber der Zusammenhang, in dem
hier Murner behandelt wurde, führte es wohl mit sich, dass
einiges, was zur Charakteristik nicht bloss der Uebersetzungen,
soodern auch der Persönlichkeit des interessanten streitbaren
Franziskaners von Bedeutung ist, übergangen wurde. Das
soll in dieser Arbeit, die zugleich einige Angaben Geigers
zit berichtigen hat, nachgeholt werden. Da die in Betracht
kommenden Schriften Murners sehr selten sind, dürfte es auch
nicht unwillkommen sein, wenn ich hier eine genaue Be-
schreibung derselben gebe, um so mehr, da sich in den bis-
herigen Verzeichnissen manches Unrichtige darüber beßndet.
Der Titel der zuerst erschienenen Schrift lautet : npPl
nOOn (= nOOn) Ritus et celebratio phase^ judeorum cum
1 'Weder «in Schreibfehler Marners noch ein Druckfehler, sondern
di» ßchreibimg' der Valgata, die Maroer noch einige Male in dem
Büchlein anwendet.
— 64 —
orationibus eorum et benedictionibas mense ad literam inter-
pretatis cum omni observatione uti soliti sunt suum pasca extra
terram promiasionis sine esu agni pascalis celebrare Per egre-
gium doctorem Thomam mumer ex hebreo in latinum traducta
eloquium. Darunter eine &ichnung, die nicht «in der Schrill
noch 5 Mal vorkommt» ; das Buch hat vielmehr fünf ver-
schiedene Bilder, die ich numeriere :
I. (Titelbild.) Um einen Tisch, auf dem sich die mit einem
Tuch bedeckte «Szederschüssel» befindet, sitzen drei auf Polster
sich lehnende Juden, von denen jeder 4 Becher vor sich stehen
hat. An der Decke hängt eine sog. Sabbatlampe.
Zur Erklärung dieses Bildes führe ich die darauf besag-
liehen Worte des Textes an. Nachdem Murner von dem In-
halt der c Schussel» gesprochen, fahrt er fort : Et quatuor cypfaos
rubei vini singulis anteponat (pater familias) super ku.ssino6
sericos atque pretiosos se reclinantes ordiuntur cenam pascae.
Auf Seite 7 des Buches : Bild II. An einem runden Tisch
3 Juden, der mittlere (wohl der pater familias) den Becher an
den Lippen, die beiden andern erheben den ihrigen. Auf dem
Tisch wieder die gedeckte SchQssel und vor jedem die drei
übrigen Becher. Text: pomposissime ac lascive vinura ingur-
gigantes exordiuntur benedicendo.
Auf Seite 8: Bild III. Ein No. I ähnliches Bild^ der
mittlere der drei sich an Kissen lehnenden Juden zündet ein Licht
an. Text: Hie accendatur candela. (Murner ist falsch berichtet,
am Passahabend wird kein Licht zur «Hawdala» angezündet.)
Auf Seite 10 : Bild IV. Der mittlere der drei Juden er-
hebt ein Brot. Unter dem Bilde steht das hebräische 710
(=: Wie), das Wort, mit dem die Passaherzählung be^^nnt.
Dazu der charakteristische Text: Hie elevatur panis azimus in
altum circumsedentibus summa cum devotione spectantibus et
admirantibus res simillima elevationi corporis xpi si licita stt
haec comparatio.
Auf Seite 21 : Bild V. Die drei Juden waschen sich aus
einer auf dem Tische stehenden Schale die Hände. Text : la-
vando manus.
Auf Seite 23 kehrt gelegentlich einer Weinbenediktion
das Bild No. II wieder.
Das den Vätern seines Ordens gewidmete Vorwort schliesst
mit den Worten : Valete ex franckfordia Anno 1512. Am
Schlüsse des Buches Murners Patientia- Wappen. 16 Bll. in 4ßJ
' Ein Exemplar dieses seltenen Bnchea und der von mir mit B
bezeichneten Ausgabe des Benedidte ward mir von der K. K. Hol-
bibliothek in Wien mit grosser Freandlichkeit übersandt
— 65 —
Hinsichtlich der Charakteristik der überaus leichtsinnigen
Uebersetzung Murners verweise ich auf Geigers Ausführungen.
Doch mögen hier noch einige w^tere eklatante Beispiele ihren
Platz finden.
Eine Stelle, die in deutscher Uebersetzung lautet: (die
Schüler sprachen:) cLehrer, es ist die Zeit gekommen , wo man
das Sch'ma-Gebet morgens zu verrichten hat,» giebt er so wieder:
rabbi nostri hanc in futuris temporibus instructionem ac me-
moriam exitus de egipto.
Für c Welch eine Menge Wohlthaten hat der Allgegen-
wärtige uns erwiesen!» heisst es: Qui ascendent in locum
sanctum eius.
Die Methode im Unsinn der Uebersetzung lässt sich zu-
-weilen aufdecken ; hier z. B. hat das mit ascendent im Hebrä-
ischen korrespondierende Wort (TvHvD) allerdings ein Verbum
mit der Bedeutung ascendere zum Stamm, und die Bezeich-
nung für cder Allgegenwärtige» ist dieselbe wie für locus; alles
übrige aber ist kombiniert.
Das fragende al schum ma (= weswegen) übersetzt Murner
mit super nomen suum — weil schum an schem = Name
anklingt. Es ist natürlich, dass sich bei dieser Uebersetzungs-
methode oft die ergötzlichsten Sätze ergeben, für deren Sinn-
losigkeit Murner selbstverständlich den sonderbaren hebräischen
Text verantwortlich macht.
Es befinden sich aber in diesem Texte — sehr viele Bibel-
stellen ; nun interessiert uns die Frage : was leistet Murner als
Bibelübersetzer, wie stellt er sich zur Vulgata ?
Gleich nach dem ersten biblischen Citat schreibt Murner:
Ne errorem credatis devoti fratres si verba bybliae hie et in
sequentibus ad verbum nostrae translationi non respondeant
mihi curae fuit ad litteram interpretari ad ora iudaeorum
obstruenda cum semper soliti sint ementiri ex suis libris inter-
pretata apud eos non sie haberi interpretemque de ignorantia
culpare non verentur. Das klingt ja recht mutig, nun aber
konfrontiere ich diese Uebersetzung Murners mit der Vulgata.
Marner.
Completi sunt ego (wohl ver-
druckt für ergo) caeli et terra
et omnis exercitus eorum et
complevit deus in die septimo
opus suum quod fecerat et
quievit in die septimo ab omni
opere eius quod fecerat. Bene-
Vnlgata.
Genes. H, 4. Igitur perfecti
sunt caeli et terra et omnis
ornatus eorum. Complevitque
Deus die septimo opus suum
quod fecerat: et requievit die
septimo ab universo opere quod
patrarat. Et benedixit diei sep-
5
— 66 —
dixitque diem septimum et timo et santificavit illum : quia
sanctificavit eum quia in eo in ipso cessaverati ab omni
quievit ab omni opere quod opere suo quod creavit Deus
creavit deus ad faciendum. ut faceret.
Es ergiebt sich, dass Murner die Vulgata benutzt^ aber
um äusserlich abzuweichen, Synonyma eingesetzt hat. In der-
selben Weise verfährt er noch an mehreren Stellen, von denen
ich nur noch eine citiere:
Mnmer.
Ad peregrinandum in terram
tuam venimus quod non sunt
pascua ovibus servorum tuorum
oppressique sumus fame in
terra chanaan et nunc quae-
sumus habitent servi tui in
terra gössen (I)
Volgata.
Grenes. 47, 4. Ad peregri«
nandum ■ in terra tua venimus
quoniam non est herba gre-
gibus servorum tuorum ingra-
vescente^ fame in terra cha-
naan : petimusque ut esse no»
iafaeas servos tuos in terra
Gressen.
Ganz anders aber lautet Mumers Uebei''setzung, wenn die
betreffenden Citate aus entlegeneren Teilen der Bibel stammen,
hier bietet seine Version eine gewisse Selbständigkeit, die
sich allerdings nur durch ihre Fehler auszeichnet. Beispiele
mögen dies erweisen :
Mnmer.
Et dixit iosue ad omnem
populum
I haec dicas | dominus deus
israhel traduxit nos per ior-
danem ubi habitarunt
patres nostri Terah« pater ab-
rahe et pater nochar' servientes
diis alienis.
Ego accepi patrem vestrum in
transitus fiuvii duxique illum
in omnem terram canaan multi-
plicans
Vulgata«
Jos. 24, 2. Et ad populum
sie locutus est
Haec dicit Dominus Deus Is-
rael : Trans fluvium habita-
verunt
patres vestri ab initio Thare
pater Abraham et Nachor:
servieruntque diis alienis.
Tuli ergo patrem vestrum
Abrahem de Mesopotamiae
finibus et adduxi eum in terram
Chanaan : multiplicavique
^ Diese üebersetzang ist korrekt.
s Mamer wählt hier Namensformen, die dem hebräischen Text
nahekommen, oben hingegen schrieb er statt Oosen Oessen — mit
der Vulgata. Nachor lautet in der bei den Jaden üblichen Aus-
sprache n o chaar !
s Maruer verwechselt ^3y (jenseits) mit ^3 VT transire, das er
einige Reihen vorher sogar mit tradacere vertauscht.
— 67 —
semen eius dedique ei ysaac et
dedi ysaac iacob et esau fecique
esau heredem montis seyr iacob
quoque et filii eius humi-
liarunt* egiptum.
Et etiam populo cui servie-
bant Servitute ego post haec
«duxi cum divitiis magnis.
Erami perdidit patrem suum
faumiliavitque egiptum habitans
ibi cum populo pauco.
semen eius et dedi ei Isaac :
Ulique rursum dedi Jacob et
Esau. E quibus Esau dedi
montem Seir ad possidendum :
Jacob vero et filii eius descen-
derunt in Aegyptum.
G(i7ies. 45, 14. Verum tarnen
gentem cui servituri sunt ego
iudicabo: et post haec egre-
dientur cum magna substantia.
Deuter 0. 26, 5. Syrus per-
sequebatur patrem meum, qui
descendit in Aegyptum et ibi
peregrinatus est in paucissimo
numero.
EzechitL 46, 7. Mullipli-
catam quasi germen agri dedi
te: et multiplicata es, et
grandis effecta et ingressa es
et pervenisti ad mundum mu-
liebrem ubera tua intumuerunt
et pilus tuus germinavit: et
eras nuda et confusione plena.
Exod. II, 25. Et respexit
Dominus fllios Israel et cogno-
vit eos.
Ich habe es vermieden, die zahlreichen Fehler Murners
etwa durch Ausrufungszeichen hervorzuheben; durch Ver-
gieichung mit einer modernen Uebersetzung wird jeder (auch
wer des Hebräischen unkundig ist) erkennen, wie gar wenig
Murner berufen war, sich mit Aer Vulgata in einen Wettstreit
einzulassen.
Dass die oben citierten Verse aus dem biblischen Schrift-
tum stammen, musste Murner aus der Art der Anführung im
hebräischen Text («so steht geschrieben») wissen; er hat sich
also entweder nicht die Mühe gegeben, diese Stellen aufzu-
suchen, oder — was mir in den meisten Fällen das Wahr-
scheinliche ist — nicht bald auffinden können. Vor etwaigen
Germinabant sicut ager fruc-
tificans augebantur quoque
magnipendentes circumvene-
iiint me nudi et pauperes pro-
tegisti ergo nuditatem eorum
ei inopiam eorum.
Apparuitque deus filiis is-
rahel ut succurreret illis.
1 So übersetzt Mnrner stets T^^ = descendere. Vielleicht hat
man ihm etwas wie «nieder gehen» vorgesagt, das Mumer dann
(transitiv I) mit hnmiliare glaubte wiedergeben za müssen.
— 68 —
Einwürfen hatte er sich ja durch seine (oben citierte) Charak-
teristik der Uebersetzung geschützt.
In dem Passahfeierbuch finden sich nun auch einige ganze
Psalmen (Ps. 145, 146, 447, 448). Diese Stücke lässl Murnar
wörtlich aus der Vulgata abdrucken, indem er gleich nach dem
ersten bemerkt : Psalmum hunc et alios sequentes sicut Ulis
ordine suo utuntur non ad litteram transtuli sed nostra trans-
latione contentus fui psalmos enim si ad litteram interpretatos
habere cupitis legite divi heronimi psalterium quem ad litteram
est interpretatus. Der Psalmenübersetzung der Vulgata stellt
Murner also merkwürdiger Weise das Prädikat einer wörtlichen
Uebertragung aus und versucht deshalb auf diesem Gebiete seine
Kunst nicht. Aber eine Ausnahme macht Murner — ohne
sein Wissen. Es folgen nämlich in dem hebräischem Buche
einige Psalmverse, auf deren Herkunft nicht durch ein «wie
es geschrieben steht» aufmerksam gemacht wird. Es sind
die Sätze Psalm 78, 6. 7, die schon zu mancherlei theolo-
gischen Streitigkeiten Anlass gegeben haben, wozu freilich,
wenn Murners milde Auffassung dieser Sätze die richtige wäre,
kaum ein Anlass vorgelegen hätte. Murner übersetzt nämlich:
Mnmer. Vulgata.
OI!>liviscere iram tuam super Effunde ir^m tuam in Gentes
gentes quae 1e non noverunt quae te non noverunt et in
et super regna quae non in- regna quae noraen tuum non
vocant in nomine tuo. invocaverunt quia comederunt
Jacob: et locum eius desola-
verunt.
Mir scheint, dass diese kühne Uebertragung ihren Grund
hat in einer Verwechselung des deutschen cvergiess» mit
«vergiss», mag diese auf einem Hörfehler Mumers beruhen,
oder, — was bei dem Stande damaliger Orthographie nicht
ausgeschlossen ist — auf der falschen Auffassung des gelesenen
Wortes. Jedoch ist es auch nicht unmöglich, dass ein Jude
absichtlich Murner diese unverfängliche Uebersetzung g^eben,
denn auffallender Weise übersetzt er Vers 7 nicht, der doch
gewiss auch in seiner Vorlage gestanden. Dass Murner viel
mit Juden über diese Gegenstände verkehrte, teilt er selbst
mit: ego illos meis oculis saepius vidi in ea solennitate taliter
uti caerimoniis multis, was ich freilich nicht ganz wörtlich
nehmen möchte, i Auf dem Titel des Passahbuches hat Murner
^ £. Martin weist in der Einleitung zur «Badenfafart» (III) dar-
auf hin, dass Murner im Abschnitt 25 dieses Baches seine hebraischea
Stadien verwertete. Ich hebe folgende Stelle hervor:
- 69 —
die benedictiones mensae zu übersetzen versprochen — das
ei^nttiche benedicite teilt er aber in seinem Buche nicht mit.
Wo dieses Gebet seinen Platz hätte finden müssen, brin$;t er,
wohl nur, um über die Lücke hinwegzutäuschen, eine kurze
Unterhaltung mit den Juden über das Gesetzwidrige und Un-
verstandige ihrer Passahbräuche. Das benedicite hatte Murner
sich eben für eine besondere Publikation vorbehalten, von der
er sich mit Recht Erfolg versprechen durfte. Ich beschreibe
im folgenden zunächst die Ausgaben dieser Schrift.
A.i «Der iuden benedicite wie sy gott den heren loben
und im umb die speiss dancken durch den hochgelerten herren
doctor Thomas murner barfusser orden von hebrayscher sprach
in deutsch verdalmetschett und wie sy ieren dodten begraben.
Qui bien leur feroit rayson.» Bild III (s. o.).
Am Ende: «Gedrückt in der Loblichen und Keyserlichen
statt Franckenfurt durch Batt murner von Strassburg. o. J.
4 Bll. in 4o.
B. (Bei Goedeke nicht verzeichnet). Jilpn PD">3
l jynpiTVn Der iuden Benedicite wie sy gott den herren loben
und im umb die speiss dancken. Durch den hochgelerten
berren doctor Thomas murner barfusser orden von hebrayscher
sprach in deutsch verdal Imet sehet t.» Bild II. 4 Bll. in 4o.
Am Ende: «Gedrückt zu Franckenfurt durch Beatus murner
von Strassburg.» 0. J.
C.* (hebräische Ueberschrift wie oben).
«Die andern alss die iüdischheit
Ein ander meinung hondt geseit,
Daz got nach diser zyt mit flyss
Bewar uns im paradyss
Da seind sie all znosamen gesessen
Und werden geschorren boren essen
Und aach von dem lein as an.»
Der Leinasan ist kein anderer als der Levjathan, der nach einer
allerdings nicht autoritativen, aber bekannten Lehrmeinang als Zu-
kunftaleckerbissen für die Frommen aufbewahrt bleibt. Hinter den
«geschorren boren» versteckt sich wohl der schor habor
(= auserlesener Stier), der im rabbinischen Schrifttum mit dem
Levjathan als Speise für die Gerechten angeführt wird. Siehe
Hamburger, Real-Encyklop&die für Bibel und Talmud, Artikel:
Zuknnftsmahl, Behemoth.
1 Ich benutzte das Exemplar auf der Wolfenbüttler Bibliothek.
s Ich benutzte das unter den Cimelien der Strassburger Bibliothek
befindliche mir gütigst übersandte Exemplar. Goedekes Angabe:
(Wien) dürfte auf einem Irrtum beruhen, wenigstens befindet sich die
obige Ausgabe weder in der dortigen Hof- noch Universitätsbibliothek.
— 70 —
«Benedicite iudeorum uti soliti sunt ante et post cibi
sumptionem benedicere et gratias agere deo Egregio doctore
Thoma murner Argen tinensi ordinis minorum interprete.»
Bild II. 4 Ell. in 4o.
Am Ende : «Beatus Murner de argn Francfordie Impressit
Anno 1512.» Patientia-Wappen.
Diese Bücher enthalten 1) das Tischgebet, 2) ein «todtoi
gebett» in 41/9 Reihen mit einer ganz kurzen Notiz über jü-
dische Trauergebräuche (was der Titel der Ausgabe A hierüber
verspricht, wird mit keinem Worte erfüllt), dann folgt 3) «das
gebet des trouwms», worüber im weiteren noch einiges zu
sagen sein wird.
A ist jedenfalls zuerst ausgegeben. B unterscheidet sich
inhaltlich nicht von A, nur ist die Orthographie zuweilen ge-
ändert, Druckfehler sind verbessert, der Titel ist gekürzt
(s. 0.), statt der französischen Worte ist die wirkungsvollere
hebräische Aufschrift in mächtigen Buchstaben eingesetzt und
das unpassende Bild III durch das geeignetere Bild II
ersetzt.
C. gibt eine wörtlich genaue lateinische Uebersetzung des
deutschen Textes samt dessen Ungenauigkeiten und Fehlem.
Nur an einer Stelle ist eine Verbesserung vorgenommen. Die
wenigen erklärenden Anmerkungen des deutschen Testes, ^ie :
«Eyn ander gebett sagen sy zu irer fassnacht das sy das
Purum nennen,» der Zusatz «das ist die bescheydung» (so in
A und B!) zu der Stelle «ouch das du hast versiglet deyn
frintschafit in unser fleisch» sind in C nicht übersetzt. Nur
bei der Oratio luctus mortuorum hat hingegen die lateinische
Uebersetzung den Zusatz: — womit hier wohl die Einfügung
des nicht zur Sache gehörigen Stücks entschuldigt werden soll
— Hanc orationem inveni in orationali eorum benedictionibus
mensae permixtam.
Von den übersetzten Stücken interessiert uns hier haupt-
sächlich das Traumgebet. Dieses besteht nämlich zum grössten
Teil aus Bibel versen, die jedoch als solche im Text nicht
kenntlich gemacht sind. Da sich nun Murners Uebersetzungs-
Unfähigkeit hier in ihrer ganzen Grösse offenbart, so stelle ich
Murner wieder mit der Vulgata zusammen. Diesmal mag
zur Probe die deutsche Uebersetzung mitgeteilt werden :
Monier. Vnlgatow
Du hast unser truren ver- Ps. 29, 12. Convertisti planc-
wandlet in eyn freyd im/ tum meum in gaudium mihi,
und gibst freid/ conscidisti saccum meum
— 71 —
und hast mich umgeben mit
freiden
als eyn dantzende iunckfrouw |
und die ersamen alten hastu
ouch also erfreuwet und gibst
in ir speyss ^ in freüden |
also hastu mich getroest mit
freiden. Von alem truren
hastu balam erv^elet |
das unser gott verkert hatt
seyn verfluchen in eyn segen
das dich liebet der her unser
gott
Erlese in freyden meyn sele
und neher dich zu mir mit fil
worheyt.
Erless uns her unser schepffer
und kum in zion mit
lieb und freid ewiglich über
allen anfang der freuden er-
less uns von allem triebsal
und engsten.
Do sprach das volck zu Saul
sol Jonathas sterben der das
gross heyl in israhel gethon
hatt f
bey dem leben gottes es sol
nit eyn har von seynem haupt
fallen f
den gott hett heut durch iona-
thain das volck erleset |
und ionathas sol nit sterben.
Der schepffer |
der do beschafft die lefftzen des
fridens frid den
ferren zä den nechsten
et circumdedisti me*laetitia.
Jeremia 31, 13. Tunc laeta-
bitur virgo in choro iuvenes
et senes simul et convertam
luctum eorum in gaudium
et consolabor eos
et laetificabo a dolore suo.
Deutero 23, 5. Et noluit Do-
minus Dens tuus audire Balaam
vertitque maledictionem eins
in benedictionem tuam eo quod
diligeret te.
Ps. 54^ 19. Redimet in pace
animam m^am ab bis qui ap-
propinquant mihi quoniam
inier multos erant mecum.
Isaia 35, 10. Et redempti a
Domino convertentur
et venient in Sion cum
laude et laetitia sempiterna
super Caput eorum gaudium
et laetitiam obtinebunt et fugiet
dolor et gemitus.
1. Regum 14, 45. Dixitque
populus ad Saul :
Ergone Jonathas morietur qui
fecit salutem hanc magnam in
Israel?
hoc nefas est: vivit Dominus,
si ceciderit capilius de capite
eins in terram,
quia cum Deo operatus est
hodie. Liberavit ergo populus
Jonatham
ut non moreretur.
Isaia 57, 19. Creavi fructum
labiorum pacem, pacem ei qui
longe est, et qui prope,
» Murner verwechselt dSsN (ihre Traner) mit UIQH (ibre
T : V T . T
Speise) ! Hier hätte er also etwas mehr «ad Utteram» übersetzen
dürfen.
— 72 —
spricht der her und seyn er- dixit Dominus et sanavi
lesung
von seynem geist eum. I. Paral. 12,18. Spiritus
der kum üher unser haupt vero induit Amasai principem
inter triginta, et ait:
mit gewalt zu dir dauit Tui sumus o David, et tecum
eyn sun Jesse fridt zu dir fili Isai : pax, pax tibi,
und unser nachbürn dich be- et pax adiutoribus tuis. te enim
schirm der her unser got adiuvat Deus tuus.
erwelendt dich zu eynem Suscepit ergo eos David, et
fursten des heres gotts constituit prineipes turmae.
I. Reg. 25, 6 Et dicetis:
und allen deynen brüdren Sit fratribus meis, et tibi pax,
fiiden und dem gantzen huss et domui tuae pax, et omnibus^
mit aller seyner zügeherden. quaecunque habes, sit pax.
Amen.
Man vergleiche einmal vorstehende Uebersetzung des choch-
gelerten Doktor Theologiae» mit derjenigen Luthers, es ynrd
dann folgende Auslassung Murners in der Schrift cOb der
Känig uss engelland ein lugner sey oder der Luther» in eigen-
tümlicher Beleuchtung erscheinen : cDu bist eben ein iurist wie
du hebreisch bist, wa du etwa ein hebreisch wort am fensterbret
gelesen hast, so schmetterstu es in deine biecbly alsz ob man
solt wenen du bettest dz gantz esrom vearha (=: esrim wearba
== vierundzwanzig, nämlich Bucher der heiligen Schrift) in
einem pfeiTer gessen. Ich bin dreissig iar mit umbgangen,
und kann dennocht noch nüt darin, aber du hast es augen-
blicklich entfangen, meinstu wir sollen so ül uf! dich halten
und dir das glauben?» (Scheible, Kloster IV, 931.)
Ludwig Geiger a. a. 0. S. 197 schreibt : «Thomas Murner
griff, vielleicht nicht ohne Reuchhns Vorwissen, den PfefTer-
korn an, indem er dessen «Osternbuch» ein Buch desselben
Inhalts entgegensetzte.»
Ich kann dieser Meinung durchaus nicht beistimmen. Murner
berührt in den hebräischen Uebersetzungsschriften mit keiner
Silbe den Streit, der über die jüdischen Bücher zwischen PfeflTer-
korn, den Kölnern und Reuchlin entbrannt war.
Es scheint sogar, als ob er den Schein vermeiden wollte,
für einen Gegner Pfefferkorns gehalten zu werden. In der Ein-
leitung zu der Schrift Ritus et celebratio etc. kann er es nicht
genug betonen, dass er, mit andern Arbeiten beschäftigt, nur
durch die eindringlichsten Bitten der Väter seines Ordens, die
ihn bei den Wunden des hl. Franciscus beschworen, die
«24 Traktate» zu übersetzen, dazu bewogen worden sei. Ich
vermute, dass Murners Passahschrift in einem ganz andeni
— 73 -
Verhältnis als in dem des Gegensatzes zu dem Osternbuch >
Pfefferkorns (v. 1509) stand, — Murner wird manches daraus
benutzt haben.
Wenn Mumer bei der Besprechung der Vorschrift über
den Weingenuss am Passahabend einen Vergleich anbringt mit
dem Abendmahl, und wenn er das Aufheben des ungesäuerten
Brotes (s. o.) mit dem Zeigen des corpus sanctum zusammen-
stellt, so dürfte er hier Pfefferkorn folgen, der ja in seinem
Osiernbuch zu beweisen sucht, cdass die judischen Ceremonien
geistlich gedeutet nichts sind, als ein Spiegel der christlichen
Gebiäuche» (Ludw. Geiger, Job. Reuchlin, S. 213). Und wenn
nun Murner aus dem Gesetz Mosis den Nachweis führt, dass
den Juden ausserhalb Jerusalems gar nicht erlaubt sei^ ein
solches Passah zu feiern, und fortfahrt : ciudaei in dispersionem
gentium divisi suamet temeritate contra praecepta divina ausi
sunt novum pascae ritum excogitare ac stultissime fingere quare
ego illos propriae legis haerelicos firmissime credo, > so stimmt
das sehr genau zu Pfefferkorn, der auf dem Titel seiner Schrift
ankündigt: c Weiter würdt aussgetruckt, dass die Juden
ketzer seyn des alten und newenn testaments, dess-
halb sye schuldig seyn des gerichts nach dem gesatz Moysis ;»
aber es stimmt gar nicht mit Reuchlin, der in seinem Gut-
achten sagt : cDie iuden seien nit heretici, dan sy sind nit ab
dem cristen glauben gefallen, die nie darinn gewesen synd.
Darumb sie auch nil mögen, noch sollen ketzer, noch ir bandet
ketzere^ genent werden» (Geiger, Reuchlin, *232, Anm. 8).
Wenn Murner an einer andern Stelle auf die ganz kuriosen
Bräuche des Passahabends hinweist und dann fortfahrt: «Agnum
vero pascalem cum illis extra iherusalem edere non liceat has
humanas inventiones et caerimonias excogitarunt imitantes
Christo dicente praecepta hominum divina negligentes, sed de
hoc alias inlerpres sum non inveclor»^ so hört man hier doch
keineswegs einen Verteidiger sprechen.
Die letzte Auslassung ist übrigens recht charakteristisch
— interpres sum non invector. Murner ist immer sehr ge-
neigt für seine Uebersetzerthätigkeit einen hohen Grad von
Objektivität und Neutralität in Anspruch zu nehmen. So ver-
öffentlichte er 1509 seine Vorlesungen de augustinana hiero-
nymianaque reformatione poetarum, worin die weltliche Poesie,
der er selbst huldigte, aufs schärfste bekämpft wird (S. d.
Charakteristik in dem trefflichen Buche «W. Kawerau,
Th. Murner und die Kirche des Mittelalters, S. 39).» Hat er doch
I Leider konnte ich ein Exemplar dieses Baches nicht erlangen.
— 74 —
gar «Von der Babylonischen gefengknuss der Kirchen , doktor
Mariin Luthers» übersetzt! Einen ähnlichen Standpunkt iiimmt
er in seinen Dichtungen ein ; wenn er — oft gar in der Ich-
form — über die ärgsten Dinge berichtet^ so spricht natürlich
nicht Thomas Murner, sondern es ist die <red der grobiaDer>
die er cnun allein in m e 1 d e n s weyss» anführt.
Ich glaube, dass die Motive für die Veröffentlichung der
obigen Schriften aus dem Charakter Mumers zu erschliessen
sind. Er hatte eben ein gut Teil vom Journalislen, das Wort
nicht im besten Sinne genommen. Von diesem Gesichtspunkte
aus lässt sich vieles bei ihm erklären, — selbst seine Ueber*
setzungsthätigkeit auf juristischem und medizinischem Gebiete
(Huttens De Guaiaci Medicina et morbo gallico hat er übertragen}
dürfte nicht allein auf philanthropische Beweggründe zurück-
zuführen sein. Er hatte einen gar feinen Spürsinn für die
litterarischen Bedürfhisse des Tages, bei deren Befriedigung
ihn auch ein bisschen Sensation nicht zurückschreckte.
Das Interesse für die jüdischen Schriften war nun durch den-
langwierigen Streit Beuchlins mit den Kölnern erregt, be-
sonders von den Osterbräuchen und -gebeten hatte Pfefferkorn
viel erzählt, aber er hatte doch nicht das jüdische Passahbuch
übersetzt, Murner suchte in diesem Punkte die Neugier
zu befriedigen. Dabei war er — das zeigt sich bei allen
seinen Schriften — ein Meister des Titels, wie es ein echter
und rechter Tagesschriflsteller sein muss. Man denke nur an
das merkwürdige Bild, an die grossen hebräischen Buchstaben,
und dann : Der Juden benedicite — die Tischzuchten und
alles, was damit zusammenhing, stand in hohem Interesse; —
das Gebet des Traums, wie die Juden ihre Toten begraben —
das sind Gegenstände, die noch heute den Sinn der Menge
fesseln.
L. Geiger legt zu viel Gewicht darauf, dass Mumer in
den Dunkelmännerbriefen als Gegner der Kölner angeführt wird.
Die Kölner waren Dominikaner^ und Thomas Mumer hatte
sich ihnen in der Schrift cVon den fier ketzern Predigerordens»
(1509) gewiss nicht als Freund gezeigt.^ Wenn es nun im
II. Buche, epist. 59, von Murner heisst, dass er ein cliber in
defensionem Reuchlini»^ verfasst habe, so können wir doch
1 «Das Bernenae scelns blieb eines der Lieblingsthemen in den
Angriffen der Hnmanisten gegen die Mönche.» Geiger, Renaissance
und Homanisrnns, S. 367.
2 «Womit nur eine jener beiden Schriften gemeint sein kann,»-
behanptet Kaweran, a. a. 0. S. 99. Anm. 108.
— 75 —
darunter, wie ich gezeigt zu haben glaube, keineswegs die
hier gekennzeichneten Schriften verstehen. Für sehr be-
achtenswert aber halte ich die Charakteristik, die im II. Buch,
Epistel 3j von Mumer entworfen wird ; sie mag diese Aus-
führungen beschliessen : noviter venit huc unus Doctor Theo-
logiae, qui vocatur Mumer. Ipse est de ordine S. Francisci et
est Superiorista et praesupposuit ita multa, quod non creditis.
Dicunt quod fecit cartas, et qui ludunt in illis cartis discunt
Grammaticam et Logicam. Et composuit unum ludum Scaci,
in quo trahuntur quantitates syllabarum. Et praetendit scire
Hebraicum et componit versus in Teutonico. Et dicit mihi
unus, quod talis Doctor in omnibus seit aliquid. Tunc ego dixi :
In Omnibus aliquid in lolo nihil.
VII.
Die Kunkelstube.
Mitgeteilt
von
Hans Lienhart.
JJie schöne alle Sitte der Kunkelstuben j^eht den Weg-
alles Irdischen. Früher spann die geschäftige Hausfrau mit
ihren Töchtern während der langen Winterabende das Garn
für den Hausbedarf selber; und das war ihr grösster Stolz^
wenn da oben an der Decke cam HäkeU die bretzelarttg in
einander verschlungenen cSchütten» allmählich zu einem grossen
«Kluppen» anwuchsen. Mit kluger Berechnung war das Hake)
so nahe gegen das Strassenfenster zu in die Decke eingeschraubt^
dass man abends von der Strasse aus bei brennendem Lichte
den Kluppen recht wohl bewundern konnte. W^enn dann im
Frühjahr das Garn mehrfach ausgelaugt und ausgewaschen
war, wurde es gespult und zum Weber gebracht, der es zu
Leinen oder Bombasin verarbeitete. Diese wanderten darauf in
die cFarb» (Färberei), wo das Leinen in der Regel blau gefärbt
wurde für Hosen und Kittel der männlichen Hausbewohner^
während das Bombasin schwarz, grün oder rot herauskam und
zu Frauenröcken oder Sonntagshosen verarbeitet wurde.
Die grossartigen Umwälzungen im Verkehrsleben, welche
sich in den neueren Zeiten vollzogen haben, führten diese ganze
Einrichtung fast überall einem jähen Ende entgegen. Das
Spinnrädchen steht staubbedeckt und vergessen in einer Ecke
der hintersten Kammer oder gar auf dem Speicher unter dem
Dache, und das Häkel an der Decke ist leer oder ganz ver-
schwunden. Es ist das sehr zu bedauern, aber nicht zu ändern!
In meiner Heimat, dem Zornthal, fmden die Abendzusammen-
— 77 —
künfte der jungen Mädchen zwar noch statt, man geht noch in
die Kunkelstuben, aber es sind meistens nur Stricksiuben, ja,
hier und da zieht wohl auch schon die eine oder die andere
eine Häkelarbeit hervor! Von halb sechs bis halb neun wird
dann gearbeitet, und dabei werden Geschichten erzählt oder
Lieder gesungen. Um halb neun, an manchen Orten auch
schon um acht, wird die Arbeit unterbrochen, und die ganze
Gesellschaft zieht hinaus auf die Strasse zu den Burschen, die
<ler Schönen schon längst warteten. Unter Gesang und allerhand
Scherzen geht's dann strassauf und ab, je ausgelassener, desto
iieber. Wenn der Schnee grade cdapp» ist, endigt diese halb-
stündige Pause nicht selten mit einem gewaltigen Schneeballen-
hagel, den die Burschen den fliehenden Mädchen bis an die
Hausthür nachjagen. Gearbeitet wird jetzt kaum mehr. Kichernd
stecken hier zwei und dort zwei ihre Köpfchen zusammen und
erzählen sich leise, was ihnen eben zugestossen ist^ und unter-
dessen hat die Hausfrau das Neunubrbrot herbeigebracht ; sie
stellt ein Fläschchen Zwetschgen- oder Kirschbranntwein mit
einigen Gläsern und einem Laib Brot auf den Tisch, giesst ein
und reicht herum. Um zehn Uhr wird die Kunkelstube aufge-
hoben, und dann geht's nach Hause, allein, oder in Begleitung
des Verehrers.
So ist's Brauch im^ Zornthal, so auch im Hanauerland und
inn Kochersberg.
In anderen Gegenden ist der Verlauf einer Kunkelstube
ein anderer, so im Kreis Weissenburg, z. B. in Hunspach, das
durch seine altertümlichen Trachten bekannt ist. Nach der
Kirwe, um den 10. November, wird hier mit der Kunkel-
stube angefangen. Die Mädchen gehen zusammen nach Klassen,
d. h. so wie sie aus der Schule entlassen wurden, jeden Abend
aus, nur am Samstag nicht. Während des ganzen Winters
besuchen sie nur ein einziges Haus, mei.st das einer ärmeren
Frau, wo sie also eine um so grössere Freiheit haben. Holz
2um Heizen und Oel fürs Licht bringen sie regelmässig mit,
meistens mehr als an dem Abend verbraucht wird. In der
Nacht des 24. Dezember halten sie Sperrnacht; dazu steuert
jedes Mädchen an Fleisch und Wein bei, ja, reichere geben
sogar den ärmeren, dass auch diese nicht mit leerer Hand zu
kommen brauchen. Die Buben derselben Klasse, namentlich
aber die Geliebten, werden dazu eingeladen. Nach dem Essen
wird zur Beförderung der Verdauung — es wird nämlich sehr
fett gegessen, ist es doch gerade die Zeit des Schlachtens —
der selbst mitgebrachte schwarze Kaffee obendrauf gesetzt, und
das ganze Fest findet seinen Abschluss in einem Tanzvergnügen
nach den Klängen einer cHärrmonie» (Ziehharmonika), wobei
— 78 —
sich dieses oder jenes Pärchen auf Wollsocken im Kreise
schwingt, zum allgemeinen Vergnügen der übrigen, aber sicher
ebenso leicht wie der Stadter und die Städterin auf ihren Ball-
schuhen. Gegen Ende Februar wird die Kunkelstube ge-
schlossen. Beim Abschied gibt jede Spinnerin der Frau des
Hauses etwa zwei Schütten Garn, so dass diese in der Regel
•ein schönes Stück Tuch davon herstellen lassen kann.-
In einem anderen Teile des Weissenburger Kreises, im
Kanton Sulz u. W., haben diese Abendzusammen künfle den
Namen cMaistubb»; so wird z. B. auch in Niederbetschdorf
«Maistubb ghalte». Höchst selten aber wird ein Spinnrad mit
in die Maistube genommen ; die jungen Mädchen unserer Zeit
würden sich geradezu schämen, ein solch veraltetes Werkzeug
mitzuführen : Häkel- und Strickarbeiten spielen die Hauptrolle.
Wir befinden uns eben hier in einer nicht mehr rein ackerbau-
treibenden Gegend ; die Frauen tragen weder ausgesprochen
städtische, noch bäuerische Kleidung, und beim Kirchgang
passt auch bei den Männern der hohe Cylinderhut durchaus
nicht zu der übrigen Tracht. In den Maistuben ist nun das
Arbeiten Nebensache; bis gegen neun Uhr wird die Zeit ver-
trödelt; dann kommen die cBuwe» herein, und nun beginnen
die Spiele, nachdem der Tisch hinter den Ofen gerückt ist.
Die Gesellschaft verkürzt sich den Abend besonders durch die
folgenden Spiele :
1. Brackebö^jes.
A steht an der Thür und Z kommt zu ihm und fragt ihn:
Z. : Was duusch du doo?
A. : E Brück böüje I
Z. : Was brüchsch dezüü?
A. : E Schüüfel I
Z. : Werr soll se sin?
A. : D* Lüwwis dert, häre mit erre!
Die Luise stellt sich dann dem A gegenüber auf, sodann
werden an sie dieselben Fragen gerichtet wie vorhin an A. Sie
braucht irgend ein anderes Werkzeug oder einen Baustoff,
wofür der Bursche B herbeigerufen wird, der sich neben sie
stellt. Jetzt wiederholen sich die alten Fragen, und schliesslich
bekommt er als Gegenüber etwa die Sälmel oder Leenel, und
das geht so weiter, bis alle Paare einander gegenüber aufge-
stellt sind. Sie reichen sich dann paarweise die Hände und
steilen so gewissermassen die Brückenbogen her. Zum Schluss
kommt dann der Baumeister Z und will nun prüfen, ob die
Brücke auch dauerhaft ist. Er legt sich auf die Brückenbogen,
— 79 —
wobei es sich freilich manchmal fügt, dass diese oder jene
Hand los lässt und der Baumeister in die Tiefe stürzt — wenn
er nicht während des Sturzes noch aufgegriffen wird.
2. Bmder, ich bin gebatst I
Zwei Buwe, A und B, setzen sich auf zwei Stuhle einander
gegenüber, und es wird ein Betttuch über sie gehängt. Die
übrigen gehn nun im Kreise um sie herum, uhd plötzlich ver-
netzt einer dem A einen Schlag mit der Hand auf den Rücken.
Dieser sagt dann zu B : c Bruder, ich bin gebutzt!« worauf B
den A fragt : «Wer hett dich gebutzt?» Nennt A den richtigen
Namen des Schlagenden, so muss der letztere den Platz mit
ihm wechseln, wenn nicht, so wird weiter drauf los geschlagen .
3. Kupplemättders oder Bnschum.
Der Spielordner zählt eine gleiche Anzahl Mädchen und
Buben ab ; die letzteren müssen vor die Thüre wandern, während
sich jene auf die Bank niedersetzen. Nun wird jedem Mädchen
ein Bube zugewiesen, und darauf macht der Ordner die Thür
auf und lässt einen Buben eintreten. Dieser geht auf das
Mädchen los, dem er zugewiesen zu sein glaubt und fragt sie
mit einer Verbeugung : «Isch's erlaubt uf! dinni Schuuss ze
sitze?» worauf er die Antwort erhält: «Ja, wann d'mer zween
Schmitz (Küsse) gisch!> Diese giebt er ihr, und falls er die
richtige getroffen hat, darf er sich auf ihren Schoss setzen,
wenn nicht, so dreht sie sich im Augenblick, wo er sich setzen
will, schnell um, kehrt ihm den Rücken und macht so eine
Verbeugung. Be.schämt muss er dann abziehn, und beim
Hinausgehn bekommt er einen Plumpsack auf den Rücken. —
Hat aber schliesslich jede den ihr Zugewiesenen auf dem Schoss
sitzen, so fängt das Spiel von vorne an, diesmal aber so, dass
Jetzt die Mädchen vor die Thür müssen, während die Buben
drin bleiben.
4. Zanderschzewwerscht.
Die Mädchen setzen sich im Kreis auf die Stühle, während
die Buben zunächst hinten auf der Bank sitzen. Der Spiel-
ordner steht im Kreis und hat einen Plumpsack in der Hand;
er tritt an das erste Mädchen heran und fragt es: «Alle,
weller gfallt derr jetzt am beschte?» Sie nennt den A, der
darauf in den Kreis tritt und sich dem Mädchen auf den Schoos
setzt. So treten auch B, C, D u. s. w. herein, bis schliesslich
der ganze Kreis verdoppelt ist. Dann kommt der Spielordner
wieder zu dem ersten Mädchen und fragt: «Na, gfallt derr
— 80 —
dinner noch?» worauf sie entweder antwortet: cjä, ja, o der
gfallt merr noch so Q^uuti, oder: cNee, derr B. dert gfallt merr
besser!» A und B springen dann auf, um ihre Plätze zu wech-
seln; während sie laufen, schlägt der Ordner mil dem Plump-
sack auf sie los. Dies wird so fortgesetzt, bis der ganze Kreis
abgefragt ist. — Manchmal sagt aber auch eine auf die Frage :
cNa, gfallt derr dinner noch?» — cXee, d'r Herr sälwer!»
dann muss der- Spielordner Amt und Platz wechseln mit dem,
der ihr bisher auf dem Schoos gesessen hat. — Später setzen
sich die Buben auf die Stühle, und dann nehmen die Mädch^i
Platz auf ihren Schössen, indem das Spiel wiederholt wird.
5. Heirathes.
Mädchen und Buben stellen sich nebeneinander im Kreis
auf, und dann wird bis 20 abgezählt. Das Paar 19 — ^20 tritt
in den Kreis hinein, und während sie einander ansehen, geheo
die übrigen in einer Kreiskette um sie herum und singen fol-
gendes Liedlein :
Einst gingen wir durch den finstern Wald,
Da aingen^s die Vögelein, wie's ihnen gefallt;
Sie setzten sich nieder auf ihre Kniee
(Das Paar muss niederknien.)
Und schaaten^s den kleinen Vögelein zu.
Ach, Herr, wenn Da dies Fräulein haben willst,
So sprich nur zweimal ja!
(Er sagt zweimal ja !)
Dranf geben sie's einander die rechte Hand
(Sie reichen sich die rechte Hand.)
Und anch zwei Kasse zum Liebespfand!
(Sie küssen sich.)
Dann stehen sie auf und tanzen nach der Flöte — so nennt
man hier die Mundharmonika — drei Tänze: einen Schot-
tisch, einen Walzer und eine Polka. Das Paar geht sodann
auseinander *, e r ruft ein anderes Mädchen, s i e einen anderen
Burschen beim Namen, und nun tritt dieses Paar in den Kreis
und heiratet unter derselben Feierlichkeit wie das erste Paar.
Wenn die zehn Eheschliessungen stattgefunden haben, ist das
Spiel zu Ende.
Manches dieser Spiele, namentlich das vierte, wird recht
in die Länge gezogen, so dass sich die Maistube in den meisten
Fällen erst spät nach Mitternacht auflöst. Unter Hinterlassung
von grosser Unordnung und einer stauberfQllten Stube zieht
dann die frohe Gesellschaft ab : am frohesten aber sind wohl
die Hausbewohner, dass der Trubel ein Ende hat.
VIII.
Volksmundartliches aus dem Elsass
Mitgeteilt
Ton
Julius Rathgeber.
ElsäMiseh« Sprichwörter und spriehwöriliche Redensarten.
U f e jed's Häfele g'hört sin Deckele. — Wer's Glück het
führt d'Brüt (die Braut) heim. — E Schelm gibt meh als er
het. — Dis isch e Mächer un e Fitzer I (Strassburger Aus-
druck für einen rafGnirten und hochmütigen Menschen.) —
Stark wie e firentewinmann (Branntweinmann), d. h. schwach
und kraftlos. — Märzeschnee thüt alle Früchte weh' (Elsässi-
scher Bauernreim). — Der Tod müss en Anfang han. — Uf
de Leime gehen, d. h. sich bethören lassen durch schöne
Worte. — Im Handumkehren, d. h. schnell. — 's Mül (das
Maul) wässert mer democh. — Dis isch e Schülbüwestückel,
d. h. ein Schulbubenstreich. — Du bisch min herzgebobbelt
Rösel (Rosa). — Dis isch e rechti Bürebrid (Brid ist eine Ab-
kürzung von Brigitte ; Bürebrid bedeutet so viel als ein tappiges
befangenes Bauernmädchen). — Bibeleskäs, weisser Käs,
aGlumms» in Preussen genannt. — Der het sin Geld verthort,
d. b. verdummt, hat Thorheiten damit begangen. — Nottle
heisst in Lothnngen den berühmten Bauernhopser tanzen.
Der Dichter Karl Candidus, der mehrere Jahre Pfarrer in Alt-
weiler bei Saarunion war, hörte wie ein Bauernmädchen aus
der dortigen Gegend von einem Burschen, der mit ihr auf dem
6
— 82 —
Tanzboden gewesen war, sagte : cJo, er kann gut walze, nottle
nwer kann er nit.» Nottle heisst der Grundbedeutung des
Wortes nach, so viel als wackeln oder schütteln. — Der kann
£ine-n-in's G' schirr nehme, d. h. utzen. — Do ka mehr jo de
Bettelsack anhänge. — Mir nix dir nix. — Isch dis e Meer-
wunder, d. h. etwas Ausserordentliches. — e wunder ! Dieser
Ausdruck kommt oft als Bekräftigung der Rede gesprächsweise
vor. — Er het sich selwer in's Au g'schlaue, d. h. er hat sich
selbst geschadet. — Dis isch e bösi Kipp, die isch uf mi los
wie e böser Drach. — Do isch Alles üsgstudirt g'sin bis dort
nüs. — Wenn de als meinsch de hesch noch e gute (sc. Freund)
zen isch er falsch wie der Judas Ischarioth (RodewoMe von
falschen guten Freunden, sog. faux bonhommes). — Mach'
mer.doch ken Plan! — Loss mi ung'k^jt! d. h. in Ruhe. —
In de m Hus isch der hell Kriej (Krieg), d. h. herrscht Un-
frieden und Uneinigkeit. — Dis isch e Kapitalskerl. — Der
isch nimmi kapitelfest, d. h. er hat keine gute Gesundheit
mehr. — Arm wie Lazarus. -^ Arm wie e Kirchemüs. — Er
het sine BQ (Buben) dumm un doüb (taub) g'schlaue. —
Newe-n-em Gizhals isch immer e Verschwender, d. h. jeder
Geizige verschwendet wieder von seinem Gut oder hinterlässt
es Erben, die es verschwenden werden. — Wem's nit will
(nämlich das Glück), dem will's nit, d. h. der ist und bleibt
ein Pechvogel. — Un we mer Ente ufm Wasser schvnmme
het, ze ka mer nix saue, sie könne-n-au untergehen. Sinn:
Wenn alles noch so günstig steht, so kann sich das Blatt
wenden. — 's isch arj (arg) we mer so viel Geld verliert mit
truckenem Mül (Maul), d. h. wenn man ohne seine Schuld
um sein Vermögen kommt. — Jo, i nimm di w^je dine paar
Grosche (von einer Geldheirat). — Do isch's nit g'hier (ge-
heuer). — Wie mer de Salon ufmacht, ze koscht's (kostet es)
Geld. Sinn : W^er ein comfortables Leben führen will, muss
die Ausgaben dazu nicht scheuen. — Stern haujel (hagel) voll
sin (von einem total Betrunkenen). — Dene han sie leder weich
g'schlaue, d. h. durch und dui*ch geschlagen. — Zwische Da
(Tag) un Liecht (entre chien et loup). — Der isch üwerni
Gräwel (Graben), d. h. dieser Kranke ist auf dem Wege der
Genesung. — Dis isch gutes Basler Hüstüch; Basler Haustuch
war in früherer Zeit in allen guten Bürgersfamilien des Elsass
zu ünden und wurde den Töchtern bei deren Ausstattung an-
geschafft. — Kanzdi ist der im Elsass auf dem Lande gebräuch-
liche Ausdruck für Johanni. — Die sin ganz ze Wasser wore,
d. h. haben schlechte Geschäfte gemacht und sind bankerott
geworden. — Jo, dis isch e Narr in sine Sack, d. h. ein hab-
und geldgieriger Mensch. — Isch dis e alt's Castell! d. h. ein
'— 83 —
altes baufälliges Haus. — Wenn e Baum krumm ge^achse-n-
isch, zen isch's bös ne wieder grad ze mache. — Do isch er
awer an de Letze (an den Unrechten) kumme. — I könnt'
hundert Eid schwöre (starke Betheuerung der Wahrheit). —
Halt' din Gösch (Trivialer Volksausdruck für : Halt' dein Maul).
— Nun de Bibbele, Strassburger, halb komischer Fluch, der
dem französischen: Nom de Dieu ähnlich ist. — Dis isch e
rechter Dürmel (Bezeichnung für einen dummen tappigen
Menschen). — Die isch so arm wie's Hans Grete Tochter
(letztere wird in den elsässischen Dörfern als das ärmste Dorf-
mädchen bezeichnet, welches die Gänse hüten muss). — Der
isch jetz grob wie Soüjbohnestroh. — Der Dolle (dieser dumme
tolle Mensch) der hei 's Thor waujewii (wagen weit) ofTe gelon.
— Do isch's finster wie im e Sack. — Die könne nit mit
nander g'schirre, d. h. sie können sich nicht mit einander
vertragen (von einer bösen Ehe gebräuchlich). -— Mer het halt
ken drissig Johr meh, d. h. man ist nicht mehr jung, man
fangt an die Altersbeschwerden zu spüren. — Der oder die
isch glich bi der Heck, d. h. gleich bei der Hand. — Mer
red't halt dis un zell, d. h. von diesem und jenem. cZeller»
ist ein Strassburger Ausdruck für cjener». — Zu gut isch e
Stück vun der Dummheit. — Der het ewe e doppelti Kryd,
d. h. er schreibt eine höhere Summe auf als man ihm schuldet
oder begehrt eine Summe zweimal. — Min Sex ! (Strassburger
Kraftausdruck , entspricht dem französischen : Ma foi I) —
Herkules am Münster ! (Erinnerung an das frühere Krütz-
mannsbild am Strassburger Münster, das man für eine Statue
des Herkules nahm.) — Dis isch jo e rechter Bäschler, d. h.
Einer, der ohne es gelernt zu haben, allerlei Nippsachen zu
verfertigen (bäschle) weiss. — Wie geht's mit dem Patiente
(d. h. Kranken)? Antwort: 's geht mit cm d'Matt na die
Matte hinab, d. h. zu Ende). — Dis isch e rechter Prozess-
krämer. — Samuel hilf! Mit diesem Ausdruck bezeichnen noch
jetzt die alten Strassburger das Leihhaus, weil in früherer Zeit
der Direktor dieser Anstalt ein Israelit war, dessen Vorname
Samuel hiess. — 's Hirn isch em g'frore. Variante: 's Hirn
isch em verbrennt, d. h. er handelt kopflos und unüberlegt.
{Französisch: C'est un cerveau brüI6.) — Welle mer nit Kippes,
d. h. Halbpart mache? — We mer e Boöj ufTühre will, ze
müss mer immer 's doppelt als der Boüjmeister Eim ^aat,
reche (rechnen) un noch e Wisch (eine Menge Geld) derzü.
Sinn : Das Bauen kostet immer viel mehr als man meint.
Elsässisches Sprichwort, zu dem man beifügen kann : £ Sprich-
wort e wohr Wort. — Mer müss stark bisse (beissen) wenn
mer e Wecke esse will vun Barr noch Heljestein. Elsässische
— 84 —
Redensart, deren Sinn folgender ist : Das Städtchen Barr und
das Dorf Heiligenstein sind so nahe beisammen gelegen, dass
die Häuser beider Orte beinahe an einander stossen und man
kaum Zeit hat einen Wecken zu verzehren, wenn man von
einem Orte zum andern gehen will. — Halt' sie ihr Mal
(Maul) un mach* sie Esch' (Asche) druf, d. h. schweige sie still.
— 's isch ken Schlacht so gross, dass nit ein Mann dervon
kummt. -— E gross Gretrumms (Gretrommel) awer weni Sei-
date, d. h. Viel Lärm um Nichts.
VolkflmnndttrtlicheB ans dem Blaass.
Folgende Reime singt das elsässische Volk mit Vorliebe
am Ende eines Volksliedes oder am Schlüsse einer Erzählung:
üad aus ist das Liedel,
Und aus ist der Tanz,
Geh' Maidel, boV Wasser,
Un wasch' mer de Hans.
Und ans ist mit mir,
Und mein Hans hat kein' Thür',
Und mein Thür' hat kein Schloss,
Und mein Schatz bin ich los:
Un weil ich ne los bin,
So freut mi das Ding,
Un e andre zu lieben
Das hab' ich im Sinn,
Der noch so schön ist,
Und der noch so schön bleibt,
Den stellt mir in Garten
Der die Vögel vertreibt,
Und die Spatzen yeijagt,
Und so wonach* ich meim Schätzele
Eine nih'same Nacht.
Ein bekanntes Lied von Kotzebue (August Friedrich von)
wird auf dem Lande im Elsass nach einer eigenen Melodie ge-
sungen. Zwei Strophen des volkstumlichen Liedes werden in
folgender VV^eise umgeschrieben:
Wir sitzen so fröhlich beisammen
Und haben einander so lieb,
Erheitern einander das Leben:
Ach wenn es doch immer so blieb!
i
— So-
und es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter d^m wechselnden Mond,
Der Krieg mnss den Frieden Yertreiben
Und da kriegt mui keinen Pardon.
Strasabnrger Dialog.
Was hesch denn Dännel (Daniel), dass de eso grinsch (weinst)? —
Min Manime (Mntter) isch g'storwe (gestorben). —
Ah so ! W6je dem grinsch eso. Ich ha gemeint din Meis isch d'r hin.
Der Hansel 1111*8 Gretel.
Der Hansel nn's Gretel
Isch e wackeres Paar Leut\
Der Hansel isch narricht
Un's Oretel nit g'scheidt. •
Der Hansel büt't d'Ochse
Un's Gretel hüt't d'K^jh,
Der Hansel frisst d'ßrocke
ün's Gretel süft d'Brüjh (die Brühe).
Der Hansel tanzt
Un^s Gretel singt:
Hans, min Hansel,
Znckersüsser Hansel 1
Du sollst jo min Hansel sein,
Du ganz allein !
Hüwe-n-am Rhein, drüwe-n-am Rhein
Da soll mein Schätzele sein.
Hüwe-n-am Rhein, drüwe-n-am Rhein
Da soll es sein.
Folgende Reime schreiben gewohnlich die elsässischen
Bauernburschen und Bauern mädchen in ihren Liebesbriefen an
einander, zum Schlüsse ihrer Epistel :
Ich küsse dich nnd drücke dich,
Oft, Yielmal, in Gedanken,
Ich schane dich im Geiste an,
Mein Herz soll von dir nicht wanken.
Wenn ich dich schon nicht sehen kann.
— 86 —
Gott lft88^ dich lang gesund!
Bis dass der Hase jagt den Hand,
Bis dass der Mahlenstein,
Schwimmt 4ber d«& Bhän, -
b; ollst da mein Anerliebstfr sein.
Oder:
Sollst da meine Allerliebste sein.
ElsäeLsischer VolkBreimsprach auf die Liebe.
Lieben and nicht haben
Ist härter als Stein graben.
Ein ungedrucktes Gedicht
¥on
Karl Boese. 1
Beim Ansstocken in Algerien.
Seht die rüst'gen Leate an,
Wie sie dorten im Gebüsche,
Bei des frühen Morgens Frische
Graben, hacicen dranf and dran.
Brüder Yon der Alsa Strand,
Schweizer. Welsche, Baiern, Schwaben,
Berbern, Negros schwarz wie Raben,
Alle mit der Arbeit Band!
Rast and Rah* sie nimmer schea^n.
Unter ihren mächtigen Streichen,
Selbst die zahmsten Worzeln weichen.
Splittern grinsend Stock and Stein!
Grabt and hackt, in Kraft and Mat,
Dass die felsenfeste Erde
Locker sei and arbar werde.
Und each spende reiches Gat!
1 Karl Bosse, elsässischer Dialektdichter and Jagendfreond tob
Daniel Hirtz and Aagast Stöber, warde geboren za Strassborg dei
24. Mai 1809. Nach dem Napoleonischen Staatsstreiche von It^l
warde er im Mai 1852 nach Algerien deportiert. Er blieb später
dort and wirkte seit 1856 als Yolksschallehrer in Blidah. Er starb
daselbst in den achtziger Jahren and blieb bis an sein Ende homor
Yoll and witzig.
— 87 —
Gottes Segen folg' Euch nach;
Er yerleih' Euch Kraft and Stärke,
Zn dem schweren Tagewerke,
Di bh nmk liagt ein Acker brash !
Klein ist er, doch eine Welt
Fasset er in seinen Enden!
Auf, umgürtet eure Lenden,
Denn dranf ist es schlecht bestellt
Molch und Nattern allznmal,
Dom and Disteln haasen drinnen;
Keine klare Bächlein rinnen
Darch das Unkraut ohne Zahl!
Diesem Acker, ranh wie Erz,
Traurig, wild und unbegossen
Da des Uebels Saaten sprossen
Rüstige Leut\ gleichet euer Herz.
Drum ans Werk, nur unverzagt!
Kehret um, getrost und wacker
Eures Herzens Todesacker,
Weil es noch auf Erden tagt !
RoUet aus den Eigennutz!
Ohn' Ermüden, durchgedrungen!
Mit Qott ist es bald gelungen
Und dem bösen Feind zum Trutz !
In des Glaubens reinen Grund
Streut der Hoffnung guten Samen.
Der gedeiht in Gottes Namen
Freudig zu der rechten Stund'!
Sind die Herzen so bestellt
Unter allen Erdenzonen,
•Wird nur Liebe drinnen wohnen,
Wird zum Paradies .die Welt !
ßlidah, 5. Juni 1856.
Karl Boese.
Elsässischer Kinderreim.
Komm\ Bibele^ komm\
Will d'r e Hämpfele Fresse gen (geben)
Hab'di gescht (gest^'rn) un hit.nit g*sebn.
Komm', Bibele, komm\
IX.
Die Münsterthäler Ortsnamen
▼on
F. Bresch
Pfarrer in Mühlback (Ober-Elsass).
Vorbemerkungen.
JJer Ausdruck «Ortsname» (abgekürzt : ON) wird
hier im weiteren Sinne verstanden : sowohl die Flur-, Berg-,
Wald- und Fiussnamen, als die Namen der «bewohnten Oerler*,
sind im Folgenden kurzweg als ON bezeichnet. Alle Diejenigen,
die sich mit Forschungen dieser Art abgeben, wissen sehr
wohl wie leicht es geschieht dass Einem dabei Einzelnes ent-
p:eht, oder doch zu spat in den Wurf kommt. Trotz aller
Mühe, die ich mir gegeben, um der ON besonders des hinteren
Munsterthaies habhaft zu werden, schmeichle ich mir durchaus
nicht, alle aufgefangen zu haben. Aus den Gemarkungen von
Sonder nach (abgekürzt: S), Metzeral (Ml), Mühlbach
(M)^ Breitenbach (B) und Günsbach (Gü) dürfte jedoch
nichts Wesentliches fehlen. In ziemlicher Vollständigkeit sind
auch die ON von S u l z e r n (Su) und Stossweier (Stw),
mehr lückenhaft dagegen diejenigen von Münster (Mr),
Luttenbach (L), Eschbach (E),. Hohro d (H), Gries-
bach (Gr) und Weier-im -Thal (W. i. Th) vertreten.
Ab und zu sind noch einzelne ON der Gemarkungen Sulz-
bach, Walbach, Zimmerbach und Türkheim (T)
— 89 —
hinzugefügt. Durch G. Stoffels Wörterbuch i bin ich auf einige
Namen aufmerksam gemacht worden, die mir ohne dieses
Hilfsmittel vielleicht entschlupft wären. Freilich ist besagtes
Verzeichnis, was unser Thal betrifft, ziemlich lückenhaft, * und
auch nicht frei von Irrtümern. Bei so grossen Sammelwerken,
zumal wenn ein erster Anlauf gemacht wird, kann es eben
gar nicht anders sein. Auch sollen obige Konstatierungen das
Verdienst Stoffiels durchaus nicht schmälern. Es kann im Gegen-
teil nicht genug hervorgehoben werden, wie sehr dieser Mann
sich um die Erforschung des elsässischen Volkstums verdient
gemacht hat. Es bedurfte wahrlich eines bewunderungswürdigen
Fleisses, um das zu Stande zu bringen, was er geleistet. Wie
sehr ^ürde die Erforschung des deutschen Sprachschatzes ge-
fordert, wenn jeder grössere deutsche Bezirk seinen Stoffel
fände !
Bei der Aufstellung meines Verzeichnisses glaubte ich die
übliche alphabetische Reihenfolge beibehalten zu
sollen. Dieselbe ermöglicht immerhin das rasche Aufsuchen der
Wörter. Fruchtbare Vergleichungen mit den entsprechenden
oder anklingenden Ausdrücken anderer deutscher Mundarten
können so am schnellsten erledigt werden. Die übrige Anord-
nung ist sodann kurz folgende :
i. Zuerst sind die in unseren Gemarkungen vorkommenden
ON, in möglichst genauer Wiedergabe der ortsüblichen Aus-
sprache, hintereinander aufgestellt. Die Schreibung ist i. G. die
von E. Martin und H. Lienhart für das geplanle «Elsässische
Idiotikon» vorgeschlagene.* Sie war im Wesentlichen schon im
a) Vokale: a e i o u =: die entsprechenden Laute im Nen-
hochdentschen (genauer : e = französ. S [tUy etc.], auch im Diphthong
et) ; der uLant ist übrigens selten (er kommt nnr in der Breiten-
bacher besondem Aussprache vor: Paexwält) ; y = neuhochdeutsch ö.
Alle diese Vokale sind kurz. Sind sie dagegen gedehnt auszu-
sprechen, 80 erscheinen sie mit dem Zeichen f (acut): d itöy;
desgleichen in den Diphthongen di und öi. Sind a e u getrübt, d. h.
werden sie breit ausgesprochen, so haben sie das Zeichen ^ (gravis) :
a = der bekannte gemein-els&ss. Laut in P&paHält;^ = der
Laut des ersten ein Eltern (oder des französ. k ai e in m ö t r e,
mais, sept); ü = der gemein-elsässische Laut in S u p. M ü k,
fürt; ebenso in den Diphthongen äi H üi. Sind diese drei Voka e
noch dazu lang, so erhalten sie das Zeichen A (Circumflex): ä e ü.
Femer: ä = der kurze, ä = der lange bekannte Laut zwischen a
1 « Topographisches Wörterbuch des Ober-Elsasses, die alten und
neuen Ortsnamen enthaltend.» 2. Aufl. Colmax 1876.
2 Wohl die Hälfte der hier gegebenen ON dürfte dort fehlen.
— 90 —
Münsterthäler läiotikon von (Bre^ch-Spieser-) Mankel
angewandt worden.^
Die Mundart (abgekürzt : MA) des Münsterthals zerfallt
eigentlich in drei Gruppen.' Die erste nmfaawt die Sprache der
vier hinteren Grossthaldörfer Sondemach, Metzeral, Mdhlbach,
Breitenbach; die zweite die beiden Dörfer Sulzeren und Stoss-
weier; die dritte das Städtchen Münster und die umliegenden
Dörfer. Abgekürzt ist die erste Gruppe mit GMA (Grosstbal-
mundart) und die dritte (welcher die zweite in einzelnen Stücken
sich ziemlich nähert) mit MMA (Münsterer Mundart) bezeichnet.
2. Ist ein bei uns vorkommender ON durch ältere EVoku-
mente belegt, so folgt der Beleg in der Regel unmittelbar auf
den Namen selbst : in einfachen (eckigen) Klammern, wenn
Stößel ihn bringt, in doppelten (eckigen) Klammern wenn ich
den oder die Belege anderswo, d. h. zumeist in den Kirchen-
büchern von Mühlbach, antraf.
3. Hierauf folgt die von StofTel (abgekürzt : Stofif) gebrauchte
Schreibung, soweit er nemlich den betreffenden ON kennt.
Stoffiel selbst folgt zumeist der Schreibung des Katasters.
Damit wäre eigentlich der Zweck, den ich mir vorsetzte,
ierreicht : nemlich den auswärtigen Sprachgelehrten und
Forschem, wie auch den einheimischen Freunden der elsassi-
schen MA, ein mehr oder weniger neues und vollständiges
Material zu ihren vergleichenden Studien vorzulegen.
4. Indessen konnte ich der Versuchung nicht widerstehen,
mit unseren ON die gleichen oder auch nur anklingenden
ON des Ober-Elsasses (abgekürzt : OE) zusammenzustellen, und
zwar, so viel möglich, in ihrer ältesten Gestalt. Wird, doch
und e; 9 (umgestürztes e) = der kurze, fast tonlose Laut des nhd.
e in unbetonten Silben (Bote, machen); in unserer ÜA z. B. in
Pajr^le, Pfistermkty Krispe* — Die nasalierten Vokale und
Diphthongen werden durch das Zeichen v. unter dem betr. Vokal
oder Diptithong bezeichnet: z. B. Kh&tsel (französ. Laut an)
K l a f a i 1 (französ. Laut ätn, in) H ü t s m e s (franz. Laut on).
Konsonanten : Für nhd. b und p, d und t, g und k (g) existiert
nur je ein Laut, der mit p t und k bezeichnet ist; k kommt ahei
noch aspiriert vor, und wird dann kh geschrieben (Khopf); seft
wird s, ch wird ^, z wird ts geaebriebeB; ng wird dimh q wMer-
gegeben.
^ Der Verfasser dieses Aufsatzes und Herr Pfarrer Spieser von
Mühlbach, jetzt in Waldhambach^ beteiligten sich wesenüicfa an dem
Zustandekommen jenes ersten Versuches einer lexikalischen imd
grammatikalischen Bearbeitung einer els&ssischen Mundart, [YgL
Mankels eigene Angabe in den Strassb. Stud. 2, 115. E. Martin.]
— 91 —
mehrmals ein Name unseres speziellen Gebietes durch ander-
¥rärts vorkommende gleichsam erhärtet, oder aber auch hübsch
und deutlich illustriert.
Einmal so weit gekommen, lag mir eine andere Versuchung
allzunahe. — Ich wagte es, unsere ON selbst zu deuten und
ihre Ableitung zu bestimmen.
Alleixlings ein gewagtes Unterfangen ! Welch eine heikle
Sache es oft um die Erklärung der ON ist, und wie sehr
hierin gesündigt werden kann, davon hätten die Kundigen viel
zu erzählen ! Wenn ein gewiegter Kenner wie W. Arriold
geradezu die Behauptung aufstellt ! Jede Erklärung, die
von der heutigen Namens form ausgeht, ist von
vornherein verfehlt, — so möchte ein bescheidener
Anfanger und Dilettant, der sich der Unzulänglichkeit seines
Wissens wohl bewusst ist, eben auch von vornherein versucht
sein, die Flinte ins Korn zu werfen, und den Meistern die
Deutung der ihn interessierenden ON zu überlassen. Arnold
weiss denn auch ganz ergötzliche Beispiele von Fällen anzu-
führen, wo Deutungen und Ableitungen, die sich ganz von
selbst darzubieten, und klar und durchsichtig wie das reinste
Quell Wasser zu sein scheinen, nichtsdestoweniger durchaus un-
richtig sein würden. Vielgebrauchte ON laufen eben immer
Gefahr, mit der Zeit bis zur Unkenntlichkeit entstellt zu werden.
Der Mund der Menschen schleift sie sozusagen ab, gerade wie
die Hand die viel umlaufenden Münzen abschleift. Unter Um-
ständen büssen viel kursierende Münzen und Namen ihr ur-
sprünglich scharfes und tadelloses Gepräge so sehr ein, dass
sie kaum noch, oder auch gar nicht mehr zu erkennen sind.
Wie manche Münze ist zuletzt so abgegriffen, dass nur noch
ein unbestimmter Umriss der darauf geprägten Figur, eine
Spur der Umschrift, sichtbar ist ; und wie mancher ON würde
durchaus unrichtig gedeutet, wenn nicht seine ursprüngliche
Namensform bekannt wäre! Unbedingt darf da die neuere
Namensform (die oft nicht nur von der alten abgewichen,
sondern noch dazu eine Anlehnung an Ausdrücke der heutigen
Sprache ist) nicht massgebend sein : nur die älteste Form hat
zu entscheiden. Jedermann wäre z. B. versucht, den hessischen
ON Altenstädt als «Alte Stätte» zu erklären; nun aber
lautet dieser Name ursprünglich A 1 a h s t a t und ist vom
gothischen alhs, althochdeutsch alah «Tempel, Gotteshaus»
abzuleiten, also = «die Tempelstätte». Martinhagen scheint
von vornherein in «Hag des Martin» zu zerlegen zu sein; aber
es hiess früher Meribodonhago 1074, Merebotenhagen
1241, Merbod enhagen 1464; daraus wurde später Mer-
— 92 —
tenhain und Martinhagen. Elmshagen bat nichts mit
dem ahd. mhd. elm(boum) cUlme» zu thun, sondern war
ursprünglich ein Edel winsh agen. Wiesenfeld ist nicht
etwa ein «Mattenfeld», sondern ein «Feld des wisunt» d. h.
«des Auerochs]». Hauswurz hat nichts mit der bekannten
gleichnamigen Pflanze (Sempervivum L.) gemein, sondern
ist Huswartes (Hai m), «die Wohnung des Hauswartes».
Mitterode ist keine «in der Mitte liegende Rodung» sondern
«die Rodung des Muoto». Alle diese Beispiele sind den hessi-
schen ON entnommen. Aber auch unter den ON des OE giebt
es eine grosse Anzahl, die man durchaus falsch deuten würde^
wollte man von der heutigen Namensform ausgehen. So ist
z. B. Holzweier (Kanton Andolsheim) nicht etwa ein «Weiler
im Grehölz», sondern vielmehr «der Weiler des Helold», denn
es wird 760 und 761 Heloldowilare geschrieben, woraus
810 Hollalswilre wurde, bis schliesslich nach einer Reihe
von Verwandlungen glücklich das heutige «Holzweier» (MA
H oll s wir) herauskam. Das heutige Hundsbach (Kanton
Altkirch) ist ganz und gar nicht als «Bach des Hundes» zu
erklären : denn sein Name lautete ursprünglich U r s b a c h
823, dann Uncebach 1143, Hunchebach 1179, Hunze-
bach 1195. Im ON Helfrantskirch (Kant. Landser)
steckt durchaus kein moderner «helfender Franz», sondern der
gut alt- und mittelhochdeutsche Personenname «Helfrath», wie
aus dem ältesten urkundlich bezeugten Namen des Orts, Helf-
ratheskirche 1090, hervorgeht. Der Ort Michelbach
(Kant. Thann) hat seinen Namen gewiss nicht von irgend einem
deutschen oder elsässischen «Michel» herzuleiten : vielmehr
muss er als «Grossbach» gedeutet werden, nach dem mhd.
Eigenschaftswort michel = «gross».
An einigen ON des Münsterthals selbst kann man eben*
falls darthun, wie verfehlt unter Umständen eine etymologische
Ableitung wäre, die ihren Ausgangspunkt von der heutigen
Namensform nehmen würde. Da ist z. B. der ON Kheäpari
Gü : die neuere Schreibung (und zugleich Deutung) «Küh-
berg» scheint ganz berechtigt zu sein. Nachdem wir aber er-
fahren dass dieser Name 1252 am Kinberg, 1318 K ü n-
b e r g, 1441 K i e n b e r g lautete, so leuchtet ims ein dass
obige Schreibung und Deutung nicht das Richtige trifft. Weit
eher dürfte man auf der wahren Fährte sein, wenn man an
ahd. chien k^n mhd. kien MMA kheän = «Kien,
Kiefernholz» denkt (man erinnere sich des sprachlich nodi
lebenden nhd. «Kien span») also : «der Berg mit dem Kiefern-
wald». Selbst die Ableitung von dem Keltischen (s. Schluss-
bemerkungen Nr. 6) dürfte noch eher erlaubt sein als diejenige
— 93 —
Vielehe von MMA khüäi pl. kheäi cKuh, Kühe)» ausgehen
würde. Aehnlich verhält es sich mit dem ON Schweins-
bach StWy wo die erste Niederlassung der Mönche, die 633
oder 634 über den Grat der Vogesen ins Münsterthal hernieder-
gestiegen waren, stattgefunden haben soll. Dieser Name ist
gewiss nicht in «Bach des Schweins» zu zerlegen, sondern er
geht wohl auf das ahd. swain «Knabe, Hirte», ist also Bach
des cHirten(knaben)» ; im 13. Jahrhundert schrieb man Swe-
n i nsba ch, 1456 sweinspach.
Aus allen diesen Beispielen erhellt zur Genüge, dass man
bei der Ableitung und der etymologischen Erklärung der ON
sehr behutsam vorgehen muss. Man irrt gar sehr leicht, und
das um so eher wenn, wie bei uns, alte Belege zumeist gar
nicht vorhanden sind. Ich möchte daher durchaus nicht darauf
schwören, dass die im Folgenden versuchten Ableitungen stets
die richtigen seien. Indessen — cEines schickt sich nicht für
Alle». In Hessen, wo man überaus alte ON vor sich hat, mag
die von Arnold aufgestellte Regel gMW am Platze sein. S^r
viele hessische ON sind jedenfalls weit mehr in die Lage ge-
kommen, auf ihrer Wanderung von Mund zu Mund und durch
die Jahrhunderte hindurch «ibgeschlifTen zu werden, als die
verhältnismässig viel jüngeren Namen des Münsterthaies;
denn jene kursierten sehr viel länger als diese. Schon bei den
Zeiten Caesars und des Tacitus bewohnten ja die «Chatten»
das heute noch nach ihnen genannte «Hessen». Dagegen wurde
das Münsterthal wohl erst etwa vom 8. Jahrhundert ab von
Leuten deutscher Zunge eigentlich besiedelt ; und bis das Be-
sitztum der Abtei Münster überall von Lehensleuten und Hubem
bewohnt war, mögen mehrere Jahrhunderte vergangen sein.
So entstanden denn viele unserer ON vielleicht höchstens gegen
das Ende der althochdeutschen und im Anfang der mittelhoch-
deutschen Zeit (700 — 1200). Und da unsere MA seit dem Zeit-
alter des Mittelhochdeutschen überhaupt einen gewissen Zustand
der Erstarrung und Beharrung beibehalten hat, so dass sie
jetzt noch, im 19. Jahrhundert, mehr mittelhochdeutsch spricht
als andere oberdeutsche MA, so folgt daraus, dass auch die ihr
angehörenden ON dieses Schicksal geteilt haben. Sie erscheinen
noch jetzt teilweise in einem altertümlichen Gewand ; sie haben
ihr erstes Gepräge weniger eingebüsst, sind leichter zu deuten*^
^ Als Gegenprobe dient die Aassprache einiger auswärtigen
ON. In Tseimarpä klingt noch, wenn auch auf dem Umweg der Er-
satzdiphthongisiemng, (s. Schlnssbemerkangen Nr. 8) das b des ehe-
maligen Zimberbach (12B4 ff.) nach; As eise ist fast ganz noch
— 94 -r
Wir laufen daher auch weniger Gefahr, bei ihrer Ableitung
2u irren. Sind sie auch seltener durch alte Belege gesichert,
so dürfte doch hier das Axiom, man solle nicht von der heutigen
Namensform ausgehen, nur eine bedingte Geltung haben.
Sehr dienlich waren mir bei meinen Untersuchungen
folgende Werke :
Arn<ftid, W. : Ansiedelungen und Wanderungen deaiadier
Stämme, zumeist nach hessischen Ortsnamen. Marburg
1876.
Bacmeister, Ad.: Allemaunische Wanderungen . Stutt-
gart 1867.
Birlinger, Ant. : HohenzoUerische Orts-, Flur- und
Waldnamen (in der Zeitschrift A 1 1 e m a n n i a, Bd. I
(1875) und ff.
— Rechtsrheinisches Alamannien : Grenze, Sprache, Eigen-
art. Stuttgart 1890.
Bück, M. R. : Oberdeutsches Flurnamenbuch« Stuttgart
1880.
Förstemann : Altdeutsches Namenbuch. I. II. Nord-
hausen 1856 und 1859.
Mone, F. J. : Celtische Forschungen zur Geschichte Mittel-
europas. Freiburg i. B. 1857.
Müllen ho ff, K. V.: Deutsche Altertumskunde. II.
Berlin 1887.
Stehle, Bruno: Orts-, Flur- und Waldnamen des
Kreises Thann im Ober-Elsass. 2. Aufl. Strassburj
1887.
S töber, A. : Alsatia.
das Ansolsheim von 1187, da die Andolsheimer selbst doch
längst Ä n 1 9 1 8 a aussprechen. W o 1 (für La-Bresse), Hornepari
(Comimont), Körsöi (Gerardmer), Wäkat&l (Vagney), Horts
^Le Valtin), Wentrurj (Venti'on) reichen mindestens ins 16. Jb.,
wohl aach noch weiter hinauf, and bezeugen in ihrem Teil die oben
erwähnte Erstarrung and Beharrung unserer MA.
— 95 —
Zusammeiistellung der Abkürzungen.
Münsterthäler Ortschaft«!!.
S = Sondernach.
Ml = Metzeral.
M =- Müblbach.
B = Breitenbach.
L = Lutienbach.
£ = Eschbach.
Mr = Münster.
Su = Sulzeren.
Stw = Stossweier.
H = Hohrod.
Gü = Günsbach.
Gr = Griesbach.
W. i.Th = Weier-im-Thal.
T = Türkheim.
Stoff = Stoffels Topographisches Wörterbuch.
OE = Ober-Elsass, oberelsässisch.
ON = Ortsname, Ortsnamen.
FN = Familienname.
PN = Personenname.
GN = Gemeinname.
MA = Mundart, Mundarten« mundartlich.
GMA = Grossthal mundart.
MMA = Mundart von Münster.
ahd. = althochdeutsch.
mhd. = mittelhochdeutsch.
nhd. = neuhochdeutsch.
m. ^ männliches \
f. =: weibliches > Geschlecht.
n. = sächliches )
MTB = Messtischblatt (Deutsche Generalstabskarte ä Vssooo)*
A.
A f. A^ir A^altla Äwäsa St^inä m. u. n. S, A f (ti
fhriBT, ti häQdr) MetU [[im Mütlaw 1580 im MitÜah
1583 ein kolei^ im MitÜahe 1585 Mitla 1590 der koler im
Mitiah kolben 1(502 Kirchenbb. von M]] Wo Im sä (Wormsi)
f, Stäinä n. [SteincLchs mantag 1339 steynachbrunnen
1456] ^ t Y t ä [ob dem Studach 1456] Ml, Stokä m. [Stockach
. . . . storkach 1456] Witä n. [zi Widach 13. Jh. und
1339 wydach . , , . ah dem wydechelin] M und L, Torni
n. M, Wiläakar B, Tornä [jm domac/i 1456J L, Awäsa
Älit Su, Ä f. Witä n. Stw, Stäinä E. «Ah, Ahwaldele,
Mittiah, Stocka, Steina, Studach, Wida, Doma, Ahlitt.» Im
«
übrigen OE scheint nur die Form Ai Oi vorzukommen, jetzt
«tAu» geschrieben [uss der Auw 1482 Dorf Aue, i^i der Owe
1285 Altkirch, in der Owe 1312 Colmar, Awe 1347 Hirsingen,
Owa 1210 Sulz].
Zwei Wurzeln : a) das gemein germanische a h w a [a p,
ahv\ra, affa, ach u. s. w.] = «fliessendes Wasser,
Wasserlauf, bewässeiler Grund» ; b) ahd. -abi mhd. -ehe,
ein Collectivum, auf massenweis beisammen stehende oder
liegende Gegenstände gehend: Stytä «Ort wo viele Stauden,
Sträucher stehen.»
Aftarmes M. Aftarisamät Stoff hat 15 mit cAi!ter>
zusammengesetzte ON [amr Affterberg 1431 Eschenzweiler, die
efftermaUe 1453 Hartmannsweiler, an dem aftern berge 14. Jh.
Zimmerbach].
ahd. aftar mhd. after, adj., «hinter, nachfolgend». Iq
unserer MA kommt das Wort auch, sonst noch vor : aftarman-
tik, aflar^läk, aftartan.
Aiarstapä Su — Le Valtin, französ. le Tanet. Stoff
falsch < Eggersteinbach» . Daneben hat er noch 4 cAgersten-»
[die Egerstennhurst 1540 Franken].
mhd. egerde, «unbebautes Land»; daher in unserer
MA das Adj. äiorst, «unbebaut liegen bleibend.»
— 97 —
Akarla n. S M B E Su, Älmaijäkar R^narsakar
R^isarsäkar S, Pärdäkar Ml und B, Pürnäkar
Rietdriakar M, Pürnäkar Ndiarsakar Isäksakar
Höfäkar Su, Paitsakarla Läimäkar £käkar
Prükaäkar Pr^nakarla Stw, Täfsäkar H, Hoiäkar
Su Gü, Hoiäkar Amakar Litäker Tsiäilaräkar E. —
«Äckerle, Bären- Born- Benzacker,» u. s. yv. Im OE zieml.
viel «Acker-, -acker.»
ahd. acchar mhd. acker.
Alikmyra pl. Stw Stoff hat «Elligmur» und versetzt
diese Stelle irrtümlich nach S. Anklingend lauten: ^Elli> [im
Ahlin .... Ahelin 1560 Niedermorschweier] und [Aligensch"
weg 1515 Meyenheim.]
Alma^äkar S. Im OE eine stattliche Anzahl «Almend-»
[communis terre que almende dicitur 1299 Contr. Unterl.
Ck)Imar almende .... almeinde 1303 Trouillat III 47, of
den almendenwey 1312 Heiligkreuz].
mhd. almende f. cGemeinweidej»« — Der GN AlmaQ f.
bezeichnet, in jeder unserer Gemeinden, die allen Bürgern zur
Benützung überlassene Gemeintrift. —
Alt- in: Ältakyüt Xltawäsa S, Ältahöf [in
loco qui dicitur im alten hove 13. Jh.] Altaweiar Ml,
Altmat Altmätkhopf M, Ältapari B, Ältakrä(i)
Altawäsa Altmät Su, Ältapari AltapäStw Alta-
kärta Mr, Ältapä/ Gr W i. Th. c Altengut -hof -weier,
u. s. w., Altmatt. j» Die Zusammensetzungen mit «Alt, Alten»
sind bei Stoff äusserst zahlreich ; älteste Belege [AUdorff
Altorff 898 Wettolsheim-Winzenheim, Altenburg 1298 Berg-
heim, in dem alten berge 1298 Kienzheim-Sigolsheim, Alt-
haim, villa 728 Beblenheim-Zellenberg, Altikirch 1102 Alt-
kirch]. — ahd. mhd. alt.
Altekrä(i) s. Kräiapari.
Am f., Amapryo/e S-Ml, Amarfein und, an einer
zweiten Stelle, üf ter Am, ewarti Am Ml, Amäir
Amakar pl. E. Stoff cEmm (auf der) Emmenbrochen, Em-
menrain» und für den 2. Metzeraler ON falsch «Ober-Emm»,
für den Eschbacher ON (äcEmsacker:!». Als älteste Schreibung
für ersteres A m gibt Stoff [auf der End 1576] an ; die
Kirchenbb. von M 1574 ff. schreiben [[vff der Ernmd, vff der
EmmCy vff der EmhdtCy Em^, Sonst im OE nur noch «Em-
menstab [jn dem empenstal .... enpenstal 1451 Tagols-
heim].
I
I
— 98 —
Die Flussnamen Ems, E m m e werden meistens für vor-
deuisch angesehen, Bück und Arnold (zum Fluss N. Ohm)
denken dahei an irisch am amhan «Wasser.»
Ueber die Sage, welche sich an die cEmmkirche» knüpft,
s. J. Bresch, VogesenklSnge, SS. 9 und 136, und cErwinia» 11.
Ämalt&l, Amaltälpürna -pä)^l9 -n^s Ml, Amal-
täl Sulzbach [Ammentalbach 1209]. Ämal^pa H [in alm-
richspach 13. Jh.]. «Ammeithal, Ammelspach.)»
Letzterer ON geht unbedingt auf den PN Amalrich, die
beiden ersten vielleicht auf den PN Amalo zurück.
Axnsepari MI, Ämsakh^pfla Stw. Im OE noch 6
Zusammensetzungen mit «Ameis».
ahd. ameiza mhd. ameize GMA 4ms cAmeise».
Anlas m. Änlsskhopf Ml. «Anlas».
A^elpari B «Engelberg». Im OE noch einige gleich-
namige Orte.
ahd. engil, angil mhd. engel. Oder PN Angil-.
Aijaniösinät S. Wahrscheinlich der [NyessengarU
1456], bei Stoflf «Niessengart». — PN «Agnes».
Äplos m. Su E Gü, Äwlds m. S M, Hösidäwlas
Ml, ^toltsäplosm. Stw. Bei Stoff c Abloss, Ablas.s, Stolzen
Ablass.» MTB 3660 unrichtig «Stolzer Ablass». Im OE noch
ausserdem 4 mal vorkommend.
Unsere ON gehen alle auf Stellen an Wasserläufen ; be-
zeichnet waren wahrscheinlich irgendwelche Vorrichtungen zum |
Laufenlassen aufgestauten Wassers.
Äpferäpä, Apfarspä, Ampfar^pä(x) Stw [im
Ampfersbac .... von Amphershach 13. Jh. Ampferspack
1407 und 1456] ^Ampferspachy einige male Amperspfuh
Kirchenbb. von M 1574 ff;]] Stoff hat das Wort «Ampfen
ausserdem nur noch 5 Mal [an der ampfer Egert 1523 am
ampferen weg 1471 Fortschweier-Sundhofen, im ußeren
Ampferstall 1707 Obersteinbrunn].
?ampfaro mhd. ampfer «Ampfer». Bück ist der
Meinung, dass die mehrmals vorkommenden Flussnamen
«Amer, Amm<?r, Amper, Ambrach» auf einen vordeutschea
Stamm zurückgehen; dagegen sieht Förstemann den Stamm
Ambr «Bach» auch für deutsch an.
. » *
Apshöf Apsakdr Apspari S, pi tar Ap^ir B,
Apswält L Stw, Apstäl [Aptzteüin 1441] Wässerig.
«Abtsberg, -thal, -wald». Kommt sonst nur noch in Wettolif-
heim vor [jm Apizwingarien 1487].
ahd. mhd. abbat mhd. apt, abbet.
— 99 —
Aeltere Leute erinnern sich , dass an der Stelle die
man jetzt noch pi tar Äp^ir B nennt, eine grosse, ganz
zerfallene Scheune stand. — Alle diese ON gehen auf Gelände
die der Abt von Münster, welcher Lehensherr des grössten
Teils des Thals war, in eigener Bewirtschaftung hatte. Vgl.
Härapari.
Arpars f. Fortararpor^mäta Ml [ertprust 1456].
«Erbersch». Daneben noch einige cErdbrust, Erdbruch, Erd-
brunst > [vnder dem erdhrust 1453 Murbach, hy dem erdproat
1441 Wasserburg, erlhrustherg 1348 Uffheim].
mhd. brüst «Bruch», vom Zeitw. ahd. brestan mhd.
bresten «brechen, reissen, bersten». Heute sagt man bei
uns ärtprüx = Erdbruch, Erdrutsch. S. d. W.
In unserer Ar per ^ entstehen viel Erdschlipfe an den steilen
Wänden, welche das Mittlachthal auf der Nordseite begränzen.
Im Winter 1889-1890 sind deren drei niedergegangen.
Artprüx ^'} Ml Stw. Stoff «Erdbruch». Vgl. Arpar^.
Atora m. Su. «Escheren».
ahd. a s c mhd. a s c h «Esche» ? Oder ahd. a s c a mhd.
asche esche «Asche».
Arslit n. E. Stoff und MTB 3660 «Ehrschlitt», mit
falscher Verlängerung der ersten Silbe. Hier dürfte, umge-
formt und abgeschliffen, der sehr alte ON Isneida vorliegen.
Eine Schenkungsurkunde vom 12. Juni 823, umschreibt einen
vom kaiserlichen Staatsgut (fiscus) des Colmarer (Coium-
b a r i u m ) Gaues abzutrennenden und der Abtei Münster zu
schenkenden Wald also : «id est per locum ubi
Breidembach rivolus in Fachinam confluit,
sursum usque ad locum ubi rivolus surgere
incipit, deinde per semitam que nominatur
Isneida usquB ad montem qui appellatur
Swarzumberg etc. (Alsat. dipl. I, 69). Das heutige
Arslit liegt bestimmt auf oder an der hier genannten
semita Isneida; da das lateinische per entweder «längs
an» oder «über» bedeutet, so war gedachter Pfad (semita)
die südliche Grenzscheide des geschenkten Waldes, oder aber
auch ein von dem Thale her zu der jetzigen «Wasserburger
Höhe» hinaufführender Pfad, den die südliche Grenze des ge-
schenkten Waldes etwa oberhalb der jetzt noch Arslit ge-
nannten Stelle durchschnitt. Somit wäre hier ursprünglich
eine Schnaid Schnait, wie man noch in Schwaben und
Sayei*n sagt, d. b* ein «ausgehauener Waldweg, eine ge-
reinigte Waldstrecke» gemeint, ahd. mhd. sneita, sneite
— 100 —
(zum Zeitwort ahd. snidan mhd. sniden «schneiden»).
Vgl. A. Stöber über den ON Paphinisnaida «Pfaffen-
schnaite» in der Rev. d'Als. 1854, S. 46.
Aäpa» m. L, «Aspach». Stoff weist noch 8 « Aspach,
Aspi» auf [Aspach 1307 Dorf A., Arlispach 1305 Arnlispach
1307 Amolczbach 1316 Mittel- u. Niedermuspach].
ahd. aspa mhd. espe «Espe»; oder ahd. asc mhd.
asch «Esche». Doch beweisen die letzteren alten Belege,
dass möglicherweise auch an Ableitung von einem PN Ära-,
A r i n - gedacht werden darf.
ijLtarla, n. S, «Anderle». Daneben noch ein «Enderle»
Öderen und ein «Anderl^» Le Puix (bei Giromagny).
A'waii f. Äwa^jwäi W i. Th. Stoff hat etliche «An-
wander».
ahd. wenti mhd. wende «Grenze, Umkehr, Wendung».
B (s. F).
» (s. T>
«cDarensee» existiert nur in der Schriftsprache [Daren-
see 1576, Darensee 1644J. Die MA des Münsterthals kennt nur
den ccSülts9r(ar)sie oder -so». Auffällig ist, dass der «Stem-
see3> im Massmünsterthal in den alten Belegen [Ternensee 1550,
lac dit Ternensee ou Tarensee 1731] genannt wird, und dass
der Tegernsee in Oberbayern in den Urkunden des 8. bis
10. Jahrhunderts als tegarinseo^ tegaranseoy tagaranse,
Degarensee bezeugt ist. Sollte da nicht eine gemeinsame (kel-
tische?) Wurzel vorliegen? Die Bergseen der Grafschaften Cum-
berland und Westmoreland in England sollen in der alten
dortigen MA tarn genannt werden.
E.
Eimepär Ei|mapayl9 M «Immenbachlein». Es kommen
im OE noch etliche «Inimen-» vor [züjmme gründe 15. Jahrb.
Mörnach].
? ahd. imbi nhd. imbe MA eima m. «Bienensch wannt.
Oder mit am vei-wandt?
£inx8rpä S [niedere- obere eymerbach . . . von Seymer-
back 1456] i<Eimerspachp«
j
— 101 —
ifeiwal f. S cEibelwald, Eibelmissi» MTB 3668 falsch
cEibenwasen».
? ahd. iwa mhd. iwe aEibei».
Äix^olts MI und B, fil^waltlo M, Äi/waltla Su,
Äi^wält H, Äi^holts Äi^hürst E. Stoff führt auch ein
nicht mehr bekanntes [hi der eiche 1476 S] an. Er hat von
den obigen : «Eichholz, Eichwald» ; daneben im OE eine Unzahl
von Zusammensetzungen mit cEich» [alte Belege : eichy eych],
ahd. eih mhd. eich MA ^i^ äi^ <rEiche».
£lk, em £]k9 m. und n., Su, £k n. £kwän flkmät S,
Hyonfek m. n. Ml, £w9r^k M, Fäsdäk Mr [Hugo de
Vesuneca 1161, Henricus de Vesenegga 1222, Vasenachts-
montag 1339, Fesenecke Uii], em fik Gü, em fika W i. Th.
«Eck, Eckmatt, -wann, Feseneck». Im OE an die 50 «Eck, -eckji
{an die egk 1479, auf der Eckh 1725 Leymen, vf der ege
1337 oh der egk 1372 Brunstatt, im Eckwaldt 1567 Wolsch-
weiler, in der eke 1345 Busch weiler].
ahd. ekka «Spitze, Schwertschneide»; mhd. ecke,
«Schneide, spitze Ecke, Kante».
Ekarspari B [Eckersperg 1456]. [[Eckersberg (kjy
Eckerßberg Kirchenbb. von M. 1574 — 1600]] «Eckersberg».
Offenbar = «Ekhartsberg». Der «Eckersberg» bei Alt-Breisach
(Mercure fran^ais XXII, 1639/40) ist ebenfalls ein «Eckartsberg».
£klösrüs m. M. Stoff kennt eine «Eglishaul» [an der
Egelesshalden 1489, an der Egelszhaldt 1656 Sulzmatt] und
eine «Eglisgrub» \by der Egellgrueben 1565 Hirzbach].
ahd. egidghsa^ mhd. egedehse GMA ekl^s f.
«Eidechse».
Eliakhopf, Bergspitze auf welcher die 4 Gemarkungen
S MI M B zusammenkommen. «Liiienkopf oder Jelienkopf».
? vom PN J i 1 g, G i 1 g (Aegidius).
Elm f. M Mr. Stoff (für Letzteres) «Elm». fllmprük
Mr. Im OE noch einige «Elm, Elmen» [in der Elm 1575
Blotiheim, zu den elmen 1441 Henflingen. — ? ahd. mhd.
elmboum, MA jetzt ryüs rüä^ cUlme». — Unsere beiden
«£lm» liegen je an einem Wasserlauf.
JQlsmötla B. Den Flussnamen Elz sieht man meist als
▼ordeutsch an.
Bnsal f. Su, «Insel», ahd. isila mhd. insel.
Erkapä m. £rk9päwaltU M [[Ergebcmh 1741,
handschriftl. Aufzeichnung]] Stoff kennt nur eine «Ergeismatt»
— 102 —
[ergkers matte 1441, erkerszmait 15« Jahrh. ErgoUzmaUer
bann 1682].
Erla n. S [Erlach 1456] Su [[Matti$ Im Erlach, Hansen
im Ehrlachs sehliger Hinderlassener söhn zue SiUtzrah 1580,
Kirchenb. von M.]] Erdlmes £]ralmesrus (auch £ r 1 a m e s)
Ml, Erlewäsa M firJapä B [\Erle[n)bach Ehrlenbach Erla-
bach Kirchenb. von M 1574—1600.]] firlemäts E und W. i. Th.
o:Erlach, Erle, Erlenmatten, -wasen)». Aus dem OE gibt Stoff
einige (icErlach» und 2ahlreiche cErle, Erlen» an [zu Erlach
1441 Hunaweier, jn den erlen 1498 Altkirch, zu erlebrun
1358 Ammerschweier].
ahd. erila elira, mhd. erle, MA örla cErle». Im
Metzeraler ON Eralmes ist noch die ahd. Wertform er-
halten.
am £rp n. Ml .Stoff hat etliche € Erben» \im Erben
1328 im Erb 1588 Hunaweier, zum erbe 1316 zen erben 1347
Wolschweilerj. — ahd. erbi arbi, mhd. Erbe «das Erbe».
Esalrek MI, fisalfärt W. i. Th. [eselwarte 1452].
Stoff hat eine Anzahl «Esel(s)-» [alte Belege : esci-]. — ahd.
esil, mhd. esel, MA esol.
£spa n., das Dorf Q:Eschbach». [Oschinsbach 13. Jh.
eschenbach 13. Jh. Eschispach 1339 Espach 1456] [[Eschenbach
1194 (bei Dom Calmet S. 81) Espach Eßpach 1574 Kirchenb.
V. M]] Fortar^^pa He^er^spa, zwei Dorfteiie. Bei Stoff
eine Anzahl cEsch, Eschen-» [afi der eschen 1451 in der
Esch 1507 Eschbum 1509 Rixheim, am Escbühl . . . Estbühl
1441 Reichen weier, zer eschelin stude 1347 Leymen]. — ahd.
asc, mhd. asch, MA ^t^in^s «Esche».
Estapa m. Gr. — W. i. Th. [apud Gruzensbach Ostern-
bach 13. Jh., in Estenbach 1498] «Östenbach». S. Yostar.
E'wana f. Su, ti kryos fiwana M, £wah^it n. S,
Püä^hoitsöwand Gü. «Ebene, Ebeneheiden». Im OE eine
Anzahl «Ebene», \yff dem ebnete 1441 Brunstatt, vff der ehnen
. , . vf der ebne\bdl Sennheim]. — ahd. eban, mhd. eben
MA ÖW9 (subst. ^W9n9 f.) «eben, flach, grade».
^Warök n. M, £wdrd Preitapä [Obern Breitenbadi
1407 vom oberen Br. 1498] ]\ObeTbrettebach Oberenbreulen-
bach 1574—1600. Kirchenb. v, M]]. fiwarmät Ml und B,
em ^W9ra Hof Su, ti 6war9 K4rta Gü «Ober-Breitenbach,
Oberhof». Im OE viel «Ober-» [Ober- Aspach 1216 Dorf da.
Namens, im oberen veldt 1516 Appenweier].
ahd. obaro, mhd. obere, MA tar ^war «der Obere».
— 103 —
F.
Fall n. Ml Slw, Letsölfail Laqdfalt S Kläfail
Kä^alparifail Ml Altmätfail Pürnfail M L^rixa-
fall B Faltäkor Faltmät9 L Hertofail Gü. «Kastel-
bergfeily Lützelfeil, Lerchen-, Langenfeld, Feldacker.» Im OE
eine Anzahl «Feld-» [Veltpach 4258 Dorf Feldbach, an den
velt stucke 1380 Habsheim, Felakirche 780, actum Felakyrchio
784 Feldkirch].
ahd. fßlt, mhd. velt «Feld, Boden, Fläche, Ebene».
Appellativisch gebraucht, bezeichnet fail n. die Hochebenen
unserer Gregend. Gehört zu denjenigen Wörtern unserer MA
bei welchen, als Ersatz für ausfallendes d t oder h p vor i m n,
ein Diphthong entsteht: mhd. velt wird fail, prant wird
präin, halde wird häil, krumb wird krüim, kumbar
wird khüimar u. s. w.
Fäistarw^ät f. Ml Stoff hat «Finsterewand», sowie noch
einige Zusammensetzungen mit «Finster» [an der finstren
gössen 1468 Mülhausen; im Finsterwaldt 1553 Brunstatt]. —
ahd. finstar mhd. finster, GMA fai^tar.
Fälkmes f. Su «Falkmiss».
Färn-weier Ml «Farrenweiher. Im OE nur wenig «Farn»
[vff den vnderen vomacker 1370 im famacker 1440 Watt-
weiler].
MA färn, ahd. mhd. varn, varm «Farnkraut».
Fäsaök n. Mr [Hugo de Vesuneca 1161 Henricus de
Vesenegga 1222 Vasenachtsmontag 1339 Fesenecke 1411]
«Feseneck».
? Ob ein w i s u n t darin steckt ?
Fa^t f., der das Münsterthal durchfliessende Hauptbach,
die «Fecht» [in Fachinam 772, inter duas Pachinas fiuvium
747 . . . super fiuvium Phachina 865, in fluvio qui Vaconna
dicitur 12. Jh., super rivulum qui Waconos dicitur 13. Jh.
. . . vf die vechin 1371 vff der vechen 1407, Fächy fech 1536,
1552, vff die alt vächt 1560]. — Stoff hat noch da F^chotte«
[an der Fetschatte 1583 Föche-rfiglise] und cFechtenmatten»
Knöringen, cFecken matten» Hegenheim [hi veckenmoitten 1457].
ahd. fah fahh, mhd. vach, eigentlich «Abteilung»,
dann : c Mauer, Damm, Umzäunung im Wasser».
Föklasmät Ml. Ob mhd. vögelins mat? oder sollte
das von Stoff für B angegebene, sonst aber verschollene « Vogts-
matt» [vogtes matt 1456] hierher gehören ?
— 104 —
-fölse m. in: Strälf^lsa Täsf^lsa S, Kräpaf^lsa
KUQk- Pdra- Kletsar- Sata- Rüni- Hunts- Snaka-
Klüsf^lsd Ml, Wisf^lsd Risf^lsd Ml— M, Räpf^lsa B
Krüpaf^lsd Spetsafälsa Siw, Khäntsaräinf^lsa
Rytikfölsa 6ü. Letzterer ist eine Gruppe mächtiger Blöcke
aus Vogesensandstein, der hier aus einem Conglomerat von ab-
gerundeten Quartz und anderen Steinchen, verkittet durch ein
sandsteinartiges Bindemittel, besteht ; daher der pittoreske Name
«räudiger Fels». — Stoff nur «Dahfelsen, Spitz-, Krappen-».
ahd. f^liso, mhd. velse vels, MA f^lse.
tar Ferprönt Reka S, tar Farpr^nt W41t Mr,
«Verbranndt», «Verbrennten Rücken».
Ferstmes f. MI [fursztmusz , chaume 1594] ; in La
Bresse, zu dessen Gemarkung der Hauptteil des «Wasens»
gehört, schreibt man Ferschmuss. Helsafer^t Prdit-
fer^t S [uff ein herg, haist hraitfürst 1550] Palferät Stw
«Firstmiss, Hilsenfirst, Breitfirst». Im OE einige andere «First».
In unserer MA ist ferst noch als Appellativum gebraucht,
und bezeichnet die höchsten Bergkämme. Stoff bemerkt ebea-
falls, dass virst, virste, fürst allgemein gebraucht
wurde, um den Grat der Vogesen zu bezeichnen, welcher Elsass
und Lothringen scheidet : [frömde levt . . . die über die Virste
kement 1315; zwischem dem Rhyne und der Virst 1400].
ahd. first, mhd. virst «Spitze des Daches, First»;
MA fer^tpoim «Firstbaum».
Fespdtle Ml— M. MTB 3660 falsch ecFischhädle». S
Pöta. Stoff richtig «Fischbödle»; aber irrtümlicherweise ver-
setzt er dasselbe in die Gemarkung von Sulzeren. — Fesarwät
Ml. Im OE nur wenig «Fisch-, Fischer-» [vischerbach 1470
Ensisheim, vyscherweldelin 1516 Heilig-Kreuz].
ahd. fisk, mhd. vi seh, MA fe^ «Fisch».
Firstäirüs Ml «Feuersteinrunz».
« <
Fläskriter pl. S, FUslänt B. Im OE nur etwa 10
Zusammensetzungen von «Flachs» [im fUxxland . . . flachszland
1558 Sulzbach, zu flazlande 13. Jh. Flachslanden 1233 Dorf Fi.]
ahd. flahs, mhd. vlahs, GMA fläs.
Flief. MB, Flieakar M, Pfliela S, FlifeäkarStw,
Höfleä Gü [zu der hohen flühe 1456]. «Pflüe, Pflüegle,
Hohfiie». Im OE eine Anzahl «Flieg, Flieh, Flühe, Flüheien»
[tu monte gut dicitur vlüwe ... zu flehen 1250, an der fliihe
1453, in der flüegen 1540 Gebweiler, an die flühe 1453
Kaisersberg, in der flüen 1330 Liebenzweiler, an der fidgassen
— 405 —
1380 fliegassen 1567 Dürlinsdorf, vnder der fluw 1494 Barten -
heim, das flühelin 1441 RappoUsweiler.]
ahd. f)uo(h), mhd. vluo «Felswand». Als Appellativum
in unserer MA verschollen.
Foilarsmäta Gü, Foilsräin E. — Stoff hat drei
«Vogler» [im vogler 1501 Hahsheim, jm fogeler 1465 zu dem
t;ö^6/er 1489Mittelmuespach] und einen «Voglersweyer» Liebsdorf.
mhd. vogelaere «Vogler», ahd. fogal, mhd. vogel
-«Vogel», MA fokal, foil.
Forle weiar Su; Stoff falsch « Fohren weiher» und ebenso
unrichtig einen «Forlen weiher» für Ml (wohl Verwechselung mit
dem «Fischbödle»). Sonst führt er aus dem OE noch einen
<Forellenweiher> und einen «Forellenrunz» an.
ahd. forhana, mhd. förelle (mit Betonung der ersten
Silbe) forle, forhen, forhe. In der MMA sagt man zuweilen
noch förald = «ganz kleine Forelle», ebenfalls mit Betonung
(Verlängerung) der ersten Silbe. Die heutige MA Form für
Forelle ist füral (-L.). — Oder MA förla n. = «Kiefer»
ahd. forha mhd. vor he.
ämFlyüsS, Tsyüflüs m. Ml, Flyäs, Flyäswält,
-mäta L. Für den zweiten dieser ON hat Stoff falsch «Flus»,
mit den richtigen Belegen [zu ulthe 13. Jh., zu Fluß 1576].
Die Kirchenbb. von M haben [[der Meyer im Zuefluß 1580, zum
Zufluß 1591]]. Im OE nur einige wenige «Flöss- Floss-».
ahd. fluss, mhd. vluss, MA flyüs, flüs «Flüss, Guss,
Strom».
FränketÄl n. Frä^jkatälkhaiar (eine Höhle) Stw.
«Frankenthal». Bei Stoff, finden sich ungefähr 12 ON vor,
die mit «Franken» zusammengesetzt sind [Frankhon 1144
terram de francon 1194 Dorf Franken, jn frankental 1421
Heid Weiler, vor franken tMin 1250 Gebweiler, jt/jpta Franken-
wege 1259 Colmar (Weg vom Ladhof in das Münsterthal].
Ein Metzeraler Bürger erzählte mir : Hinter der R ä q k -
myr (Brustwehr, Ringmauer) am nordwestl. Abhang des
Nächstenbühls seien einst die Franken verschanzt gewesen,
ihnen gegenüber, auf dem Hoheneck, lagen die H u n n e n ; es
kam lange nicht zu einer Entscheidung ; endlich stiegen die
Franken (durch den Soldatenschlatten) hinunter in's Franken-
thal, kletterten an der steilen Ostwand des Hoheneck hinauf^
und warfen die Hunnen aus deren Verschanzung hinaus ; viele
derselben fanden den Tod im « Blauen wamsschlatten», einem
Abgrund der sich in's Wormspel hinunter zieht . . .
Yr^kwiv n. [fröschwilr 1498] [[Fröschweier, Frösch-
weyher Kirchenb. v. M, 1575]] L « Frosch weier». Im OE
— 106 —
gegen 40 «Frosch-, Fröschen- [Froeschhach 1272 Banzenheim
Fröschengrahen 1451 Kingersheim, in der fresch 1777 Werenz-
hausen^ zue froschweiler 1580 Sennheim].
ahd. frosk mhd. vrosch MA fr 6s f. Vgl. Wir.
Froiekhopf , auch Froioäkarkhopf Mr. « Frauen-
kopf, Frauenackerk. > Sonst im OE mehrere cFrauen-, Fräu-
lin-» [frowenmatten 1440 Knöringen, vnser frowen sleiffe
1394 Bühl].
ahd. frouwa mhd. vrouwe <Herrin, Gehieterin, Dame,
Cremahlin, Weib». MA. froi «Frau».
Früntsal Fryontsal L [ze fronezeUe 1339] [[fron-
z e 1 1 Kirchenb. von M 1574]], Fryonhof- [zu frankoff 1456
. . . die recht des fron hofes im Münsterthale 15. Jh.] jetzt
nur noch unter dem Namen M ä i a r h o f bekannt, M, F r y o n-
(Frün-)matU B [fronmettelin 1456] Fryomes S. «Fren-
zen, Fronmättlein,» zu OE zieml. viel «Fron-» \fronacker 1892
Ensisheim, fronherge 1289 Herlisheim-Egisheim, fronhof
1359 Dammerkirch] .
mhd. vrön adj., «den Herrn belreflFend, herrschaftlich,
heilig». MA fryün f. «Frohnarbeit».
Füespöte m. B. Stoff, kennt einen «Fussgarten» [/uos-
garten 1278-1493 Kientzheim].
Fürix f- Wäsarfürix Mr-L. Stoff, hat nur wenig
«Furch-» [zer furch 1361 Bettlach, furchmettelin 1453 Geb-
weiler].
MA fürix ^- ^^^- ^uruh mhd. vurch «Furche».
Fürt f. B [zu fürt .... fürt siege 1456] B. «Furt.»
Im OE noch einige andere einschlägige ON [hy der furdt 1561
Brunstatt, Vörte 1314 Fürth 1567 Dürlinsdorf].
ahd. fürt mhd. vurt cFurt». Das Appellativum ist bei
uns total unbekannt.
Fylwäsle MI. MTB. 3668 falsch «Pfulwasen». — MA
fyl ahd. fül mhd. vül «faul».
O (s. K.)
Häi m. Mr— Gü, Häim6l Gü, Häimät E, Häia-
puax^wält B. ocHag, Hagmühle, -matt». Im OE eine An-
zahl cHag, Hag-, Hagen-» [ein felld nennt man den Hag 1550
Sulz, zu Hagen 14. Jh. Egisheim, zu dem Hagene 1489 Haus-
— 407 —
gauen, Hagenach 1292 Reichenweier , die hageten matten
1421 Oberspechbach].
mhd. hac (Gren. hages) <c Dorngesträuch, Grebüsch, Ein-
friedigung, umfriedigter Wald, Park». MA häi cHagii^.
HaifleQ f. Su cHempfiing^ der untere H.)) Daneben hat
Stoff nur noch «Henfling» und cHenflingen» «volkstümhch
Haiflingeni> [Henfflingen 1421 Hemflingen .... Hänflingen
1451 Dorf H.].
? Ob zu MA häpfd) hämpfdi m. f. cdie HandvolU,
von mhd. hant vol. ? oder zu ahd. hanaf, hanof mhd.
handf, hanf «Hanb ?
Häil f. M B L Mr Su Slw Gü, Wajt^rhäii ti Hau 9
pl. [schißhalden 1456] S, Pärthäi'l Paxlashäil M,
Lisameshäil Turhäii B, Klä^häil Soshäil Kharp-
holtshäil Su, Häil Sümarhäil Stw, Lä^häil H.
Bei Stoff lauten diese Worte teils «Hagel -hagel teils -haul
Klanghaul Sommerhaub, u. s. w. Daneben aus dem 0£
ziemlich viel «cHalden» [vnnder der holden 1494 Barten-
heim , die halden 1351 Geberschweier , an der haulden
1578 Sulzmatt] cHallen» [an der halden 1421 Berenzweiler,
vff den halden 1364 Obermuespach, an der hallen 1723
Winkel] und cHaulen, Haub [hy der halden 1340 Liebsdorf
vff der haulen 1671 Tagolsheim].
ahd. halda mhd. halde «: Bergabhang j». — In unserer
MA tritt eine Diphthongisierung ein, als Ersatz für das aus-
fallende d; vgl. präin, fail u. s. w. Aeusserst selten wird
dieses Wort noch appellativisch, d. h. als GN gebraucht.
Häikiesa pl. B Stoff hat nur «Heygiesen» [hogiesen
1563, haggiessen 1608, heygiesen 1783 Gemar] und etliche
«Heu-9 [heuwenherg 1533 Geispitzen].
ahd. g i 0 z o mhd. g i e z e o: Wasserfall , Strudel, enges
Rinnsab. — S. Hoi.
Häitsapöl Stw [Hetzenhühel 1456]. «cHeitzenbühb. Geht
wohl auf den PN Hegizo, Hesso zurück.
HakSdpdtla M Hak sa käs Mr Haksspläts Gü.
<HexenplatZ9. Daneben aus dem OE noch eine Anzahl «Hexen»
Ibi der hexen sitl 1523 Sundhofen, hi dem hechshirböme 1290
Creispitzen].
ahd. hagz issa, hagazussa, hagzus(häzus, hä-
zissa) mhd. hecse f, MA haks f.
HälM f. M-Ml, cauf der Halley».
? Vom früher im Thal verbreiteten PN «Halley)». Oder
mhd. lei, leie <3:Fels, Stein, Steinweg».
— 108 —
Birlinger gibt als ahd. mhd. ein häli, hacle csteil» an.
S. aber auch Schlussbemerkungen Nr. 7.
H&mar m., früher Pfänahämar Mr (jetzt Baumwoll-
spinnerei, früher Kurzwarenfabrik) Hämerämeta f. Wal-
bach (jetzt ebenfalls Baumwollspinnerei und Weberei). Hämar-
^tät Ml. — «Hammer». Im OE noch einige ähnliche ON.
ahd. hamar mhd. hamer.
Hämalamät Ml^ Hämlaswäsia Stw.
? Vom PN <rAbraham», in der MA oft «Hämla» ge-
sprochen.
Hänapürn m., Quelle und Sennerei, Ml [Anna Brunn^
der laufft eins tails jnn das Munstertal anders tails jnn das
Odertal 1550]. «Hanenhurn».
Zum ON cFrau-Anna- Weiher» Heimersdorf bemerkt Stofl
dass das Volk auch «Haneweiheri spricht.
Hanikskrit Stw. Geht wohl auf den Familiennamen
«Hennig», der früher im Kleinthal vorkam, zurück.
HäiE^arpel S, He^arpari H. ^cHinterbühl, -berg». Sonst
im OE sehr viel cHinter-9 \jni hinterab 1548 Mülhausen, in
dem hindern bül 15. Jh. Mömach, hinder hofen 1328 Huna-
weier, hüngers hofen 1451 Osenbach].
ahd. hintar mhd. hinder, hinter, MA hä^ar,
heQ ar.
Häpmötld S, e:H[abmättlein».
Hartsapäl, Hartsapä S (zwei ganz verschiedene und
auseinander liegende Orte).
? PN Herigis, Hartwig.
Häsekärte M, Häsa^wana L, Häsaprüäx Mr^
Häsarensla 6u, Häsapari Gr. cHasengarten, -ebene,
-brochj>. Im OE eine Anzahl «Hasen-» [hasenacker 1301 Brü-
nighofen, hasenbi/l 1362 Niederhagenthal, ym Jiasen yms 1399
Dietweiler, haasen rein 1515 Pfastatt].
ahd. ha so mhd. hase MA häs.
Häsla n. Mr, Höslaäwlas Ml, Häslasäkar M, em
H^sla Stw [zu Hassenlach 1456]. Stoff cHaslach, volksth.
Haslen» und «Heslach». Sonst noch andere «Hasel-» [Hasel
Acker 1340 Liebsdorf, haselsperg 1497 Brinkheim , hasü
brunnen 1311 Hirsingen].
ahd. basal a, basal, mhd. ha sei «Haselstaude». MA
h^sla adj. «von Haselholz gemacht». S. auch Häsa.
Hdfsl f. S (nicht zu verwechseln mit der £iwal) [Heue-
lins montag . . . höffelinns möntag 1339, öfenlins Strange 1456,
— d09 —
Effte Cassini] «Effelei». Ebenso noch im OE : [zu Hefelins
1357 Geberschweier].
? PN Offo.
Hfeilkäs f. S Häilarl9 n. W. i. Th. «Heilgasse». Da-
neben im OE noch eine «Hx> [m der helde gastest 1337, helde-
gasse 1456, hägelgasz 1640 Türkheim] und 3 o:Hellgassei> \jn
der helgassen 1468, in der heltzgassen 1509, in heilendes
gasz 1308 Bennweier-Sigolsheim] .
? ahd. mhd. heil, Gesundheit, Ghlck, Heil, günstiges
Vorzeichen».
am Häita m. n. (tar 6wdr — , tar äx^or H^ite)
üf 9m £w9h^it, H^itaäkar, Pyülhanslas H^ita S,
Ha i 1 9 rä p f Su, H ä i 1 9 pä^ Mr [die zelle ze Heidenbach 1339,
Heydenhach i456\ Häitap^^l Gu, Häit9täl Türkheim [in
heidechten tal 1328].
«Heidenbach, -ranft, -thab. Im OE ziemlich grosse Anzahl
«Heid-» [haidackher 1650 Zillisheim, an der heide 15J37 Senn-
heim, vff der heiden 1477 Leimbach, heideacker 1345 Nieder-
ranspach, heidechien bühel 1278-1439 Niedermorschweier].
ahd. heida mhd. heide MA hdit9-, «Haidekrauf, un-
bebautes wildbewachsenes Land».
Hol f. S M B Hol m. und f. MI, Hölarüs S Stw.
«Höllenrunz, Höllrunz». Daneben eine Anzahl «HöU Hell» ein-
fach oder in Zusammensetzungen [jnn der hell 1431, in der
helle 1453 hi der hellen 1506 Gebweiler, die helle grübe
1433 HeiligkreuZf neben dem hallen weg 1429 Wettolsheim,
jnn dem heUenthaH 1441 .... stoßt an den hellspach 1458
Suizbach].
Unsere sämtlichen ON gehen auf sehr eingetiefte Stellen
oder Rinnsale, ahd. hella mhd. helle «Unterwelt». Wurzel
hei hal «verbergend umhüllen».
Heiseferst f. B, Hels9 (Annexe von Linthal). «Hilsen^
Hilsenfirst». Daneben noch ein «Hülsen» und etliche «Hülsch-
matten» im OE.
H6lwerlyo ffertgr-, häQ9r- n. S, «Helberloh».
? Ob von GMA h^lp «Stiel einer Axt».
H^reätiel pl. S und Ml (letzlerer Ort = Felsgebilde am
Honeck), H6r9pari Ml. Bei Stoff. «Herrenberg» und, für
ersteres Wort «Ritterstuhl», «Fels». Daneben gibt Stoff, noch
zwei nicht mehr bekannte «Herrenwege» [am herwege 1472
Gü und am herweg 1536 M] an. Im OE sehr viel «Herren-»
[alte Belege : her- herr- herren- here- heer-].
ahd. hörro (h^ro) mhd. herre höro.
— 110 —
Im Seiburg (G. Reichenweiher) heisst ein Fels cKüiser-
stuhb ; in Gebweiler ist ein ((Königstuhl» [Küngstül 1453]. --
Der heutige «Herrenberg», ehemals Kloster- jetzt Domanialgiit,
hiess früher Gipich (s. unter Kiwi) und sodann r Abtswald,
Abtsberg» [[ein welscher Koler im Ahtswaldt Cladaly
des kolers ahns Apis Berg fraw 1580, Kirchenbb. von Mühl-
bach]].
Härnleskhopf Ml Su, «Hömleinskopf». Sonst im OE
noch 4 aHörnlen» [im hörnlin 1590 Beblenheim, an dem, hom
1516 Herlisheim].
ahd. mhd. hom «Hom». Vgl. Hornapari.
Hertefail n. Gü. S. Schlussbemerkungen Nr. 8.
Herstare m. Su [jn Hurschenrene 13. Jh.] Prätlit-
her^tpl. M, Witaherst f. W. i. Th. ÄixhürstE.
«Hirscheren, Widenhurst». Für den 1. ON hat MTB 3660 falsch
« Hirschen D.
ahd. hurst, borst f. rahd. hurst f., pl. bürste^
MA hür^t pl. her^t «Gesträuch, Gebüsch, Dickicht».
Hertsep^l L, Hertsal^x^'' M'*- «Hirzenböhl, -lochen.
Sonst noch im OE viel «Hirz-, Hirsch» [6t hirsers sieg 1371
Colmar, hirstein 1300, hirtzstein 1358, Hirczenstein 1394
Watt Weiler, hirzfeld 728 Dorf Hirzfelden].
ahd. hiruz hirz, mhd. hirz, hirze, MA herts
«(Hirsch».
H^rtsikspürne , am Honeck, Ml-La Bresse (französ*
«la fontaine de la duchesse»). «Herzogsbrunnen». Sonst noch
etliche Zusammensetzungen mit «Herzog» [vnder der hertzogenn
hiirst 1571 Niederhagenthal, jn der hertzigen mat 1507 Lutfer].
ahd. h e r i z 0 go mhd. h e rz o ge «Heerführer». Davon
unser Familienname «Herzog», in unserer MA Hertsik.
Hetelpä Stw. «Hüttelbach». Nicht Deminut. von MA
het «Hütte» : denn es musste unbedingt Hetla(pä) lauten.
Het&tät f. S M, Hetstätkh^pfU M, PäQorthet»
Gü «Hüttstatt, -köpfte».
MA Hot (9) ahd. hutta mhd. hütte «Hütte, Zelt».
Hienleskrit S Heänlasprük Mr [an die hüner-
leisß Brück 1681] Hienarkfris B. «Hüenleskritter Huenles-
brück». Dazu im OE eine Anzahl «Hühner-» [vor dem hiener
holtzli 1567 Buschweiler, jnn der hüenermatten 1568 Frö-
ningen, hnnrehach . * * vff das hünrtal 1453 Bühl].
? ahd. mhd. huon (pl. ahd. huonir mhd. huener).
Vielleicht aber auch PN H u n o 1 1. Und das von Stoff, beson-
ders gegebene (heute) durchaus unbekannte «Hirliskrüt» [Curia
— Hl —
Urlugis 13. Jh.] S bezieht sich doch wohl auf den ersten unserer
drei ON. Forstmann kennt einen PN U r 1 i uc 9. Jh. U r I ioch
11. Jh., von ahd. urliugi «Kriegi».
-Hik in Paxlashik f. S HikUskäs B und S.
Letzteres vielleicht vom PN Hügün, der vor 200 — 300 Jahren
in B. vorkam.
Hislaspari Su, S t ö i n ä h i s 1 a Ml (ein Complex von
teilweise überhängenden Felsblöcken). Hys (ü f) Ml-Wilden-
stein-Krüt. cHüsHsberg, Huswald».
? ahd. mhd. h ü s, MA hys Demin. hisl»^ «cHausi».
Hof, em fewere, Höfäkar Su, Sütshof S Altahöf
(s. d.) Kherixhof (auch : H6i lakh el ixbof) Ml,
M^iarhöf Khelixhof Tümesh^f M Laimlashöf
Maridhöf B, Khäi wah^fla Gu, Prathof E: «Hofacker,
Schützhof, Alten-)». Stoff, hat 28 verschiedene « Hofacker 9, und
noch andere Zusammensetzungen mit Hof [hofdcker 1397
Hegenheim, Hoffacker 1480 Ober- und Niederspechbach, zu
hofsteUeix 1458 Mömach].
ahd. mhd. hof «Hof, Gehöft, Garten:».
Hoiaker pl. MI, Hoiäkar sing. E Su Gü, Hoi-
kärte E. Stoff, falsch cHennacker» (für Su).
MA hoiäkar «Futteracker j», von hoi, ahd. he wi mhd.
höu, hou, houwe, «cHeu».
Hoilare m. S Hoildrkh^pfla B Hoilapäx*
wäsa Gü. cHaulenbachwasen». Im OE über 30 «Holder
Holder-» [zu holder 13. Jh. Meyenheim, jm holderpaum 1565
Golmar, hey der holder hurste 1347 Hirsingen, zu holderlow
. . . zue holderlewe .... 1369 — 1551 Bergheim, zem holder-
stocke 1421 Henflingen].
MA hoildr m. ahd. holantar, holuntar mhd.
hölunder holder «Holunder». In der MA ist o zum
Diphthong geworden, als Ersatz für das ausgefallene d der
mhd. Form. — Der dritte ON gehört vielleicht eher zu Häil.
Hölpry ox Hölarwält, HöUrkharpholts S,
Hölkäs M, Hülox Stw, Holawäi Hölsläif Gü.
«Hohlbrachen, Hohlerwald». Sonst im OE viel «Hohl, Hohle-,
Hohlen -D [zu der holengaasen 1441 Zimmersheim, am holen
weg 1567 Alt-Pfirt].
ahd. mhd. hol, MA hol.
Holtsm&t, HoltssUk S H^ltsla B Kharpholts
Kharphältsle S, Kharpholts (zwei verschiedene
Steilen) ßi^bolts Ml, Krüäholts Püä/holts Gü,
— H2 —
Ai^holt s E. crHölzlen, Kerbholz, Gruholz«. Dazu viel cHolz-^
-holz» im OE [alte Belege : -holtZy -holcz, holz].
ahd. mhd. holz «Wald, Gehölz». In diesem Sinne bei
uns nicht mehr appellativisch gebraucht.
Hömät Hyor^in Ml^ HostätaL, Hömät Höpel
Su, Horöt (s.d.) Hofleä Howäila Gü. «Hohmatl, Hoh-
roth, Hohbühl, Hohflie (Hoflie)». Im OE eine Unzahl «Hob-, Auf
der Höhe, Hohen- und ungefähr 50 cHohrain;» [zum hohen Reine
1329 Bendorf, vf dem hochen rein 1455 Eglingen, an dem
hohen Rhein 1416 Alt-PQrt, Hoenchirche 870, ob der hohen
werben 1333 Piaifenheim].
ahd. höh mhd. hoch MA hyox> hö- «choch».
Hornapari^ veraltender Name des Stadtchens Corni-
mont im französ. Departement der Vogesen. [[Homenberg in
den Kirchenbb. von M. 1574 ä,]].
Horot n., das Dorf «Hohrod». [Wemherus de hohenrod
13. Jh., ze hohenroden 1339 Hohenrode .... hohenrade 1456,
Horot 1576]. [[Hohenroda, Hohenrolha 1574 ff., Hohe(n)roÜi
1684 Kirchenbb. von M.]] Horotpari, Annexe von Hohrod.
cHoroth, Horothberg».
s. Köt.
Hüntsmes £ Su. «Hundmiss, Hundsmissliach» . ahd.
mhd. bunt {d) oder PN H u n o 1 1.
HÜQsrlox Su. «Hungerloch». Ziemlich viel «Hunger-»
im OE : [hungerberg 1421 Brünighofen, am hungervelde 1296
Isenheim, hungerburne 1389 Egisheim, in der hungerlachen.
1453 Sulzmatt, hungerloch 1592 Rufach.
? ahd. hungar mhd. hungar.
Hütsaküät E «Hutschengut».
Hünäk m., T-La ßaroche [Honnach 1198, Hunach 1210,
hohenack 1251, hohennac 1279, hohinnac 1288, Hohnack 1397]
der «Hohenack».
Mone leitet -a c k und -n a c k vom keltischen ab, nach
Analogie des irischen 'n aighe «(kleiner) HügeU. Der H.
liegt im Sprachgebiet der roman. MA des Kaysersberger Thals.
Aber man darf wohl auch an ahd. nacch hnacch mhd.
nac nacke «Hinterhaupt, Nacken» denken.
Nicht zu verwe<:hseln mit dem :
Hyon^k, Hün^k, n. (und m.) Ml «Hoheneck». Der
höchste Gipfel des Münsterthals, 1368 m überm Meer, [an den
grabeji von hohenecke 15. Jh., la pUxine du haut de chaulmey
en alemand hoheneck 1594] . Hünäkpürna, Quelle am
— 113 —
südl. Abhang des Gipfels. Stoff, hat viel <Hoh-, Hohen-»
alte Belehre : hohen-y hoh-^ kochen-, hoen-] und 4 «hohe Eck»
vff der kohenecky uff hoheneck 1540 Jettingen, vff die hohen
egk 1388 Steinsulz].
Vgl. H6- und Hünäk. ? ist viell. auch an ahd. hün
«Riese» zu denken.
Hü.rst s. Herstara.
I.
lakleshMta pl. S. «Jäglesheiden», vom PN Jikla,
geschrieben cJägle».
löslasprüky I^slasmät Ml. In dieser Form vom
FN I ä s 1 a (geschrieben :Jesle, Jessle). — MTB 3660
falsch «Esels-Bruckei».
letale m. Ml, ein aufrechtstehender schmaler Fels, auf
einem der cSpitzeköpfj», weithin sichtbar.
Der Familienname lötala (geschrieben: Jedele) ist im
Thal verbreifet. Es mag sein, dass irgend ein Träger des-
selben, zum Spass, dadurch verewigt worden ist, dass der
beireffende Fels nach ihm benamst wurde.
Ich kann mich indessen des Gedankens nicht erwehren,
dass hier, in der Form einer Anlehnung an einen modernen
Namen, ein Ueberbleibsel aus sehr alter Zeit vorliegen dürfte.
Sollte nicht in unserm I ^ t a l a ein uralter Jötul, Jutul
oder Jutun stecken, d. h. ein Riese der altnordischen Mytho-
logie? Diese Riesen (verkörperte Naturkräfle) hausten in. den
Bergen, und ihr Herz und Kopf war nicht selten aus Stein.
Sie kämpften gegen die Grötter, und auch gegen die Menschen
zeigten sie sich feindselig. Auf den, für den menschlichen
Fuss fast unzugänglichen Spitzeköpfen, konnte die Einbildungs-
kraft der ersten Germanen, die sich im Thal ansiedelten, gar
füglich die Heimstätte eines Riesen vermuten. Wenn die
Stürme vom Honeck in die Wolmsd herunter fegten, so war
der Jötul hoch dort droben mit im Spiel ....
Dem I^tala gegenüber liegt das sogenannte Amaltäl,
eine sehr grosse Mulde; unterhalb des Honecks, nach Nord-
westen, befindet sich das Frä^katäl : beide Namen erinnern
lebhaft an die althochdeutsche Zeit .... Allerdings können
sie eben so gut von PN abstammen, die ihrerseits auf jene
Völkerschaften oder Geschlechter hinwiesen, als von den Namen
dieser selbst. Immerhin scheint das Vorhandensein dieser
8
— 114 —
Namen in der Nähe unseres 1 6 1 a 1 a obige VermutuDg zu
unterstützen.
Noch ist auf folgendes Zusammentreffen aufmerksam zu
machen. Die Burg zu Diedoltshausen heisst und hiess beson-
ders früher le Bonhomme, ^das Männlein», gewiss nach
dem hoch aufragenden isolierten Felsblock, auf oder bei dem
sie sich erhob. Aber sie hiess in sehr alter Zeit auch Goten-
burc 1199y Gutenburg 1235, dann domus Indelin
1394, Jüdelinshus 1441. Liegt nicht auch hier, in «nem
ähnlichen Zusammenhang wie vielleicht bei unserm I 6 t a 1 9 ,
ein mythologischer Untergrund vor?
Ilakhopf B-L, IIa pari Gü. Stoff hat 1 clhlengässlein»
[jnn Vhlengaszen 1592 Rufach].
ahd. üwila, mhd. iuwel, iule, MA 11 f. cCule».
is&ksaker Su. Ob wol früher is-ach cEisbach»?
isemötle, Äftorisamät B, cisenmatt». Sonst im
OE noch ziemlich viel cIsen-> [am yszen ackher 1605 Witten-
heim, ysenhcu^h 1441 Sankt-Kreuz, ysenbreit 1475 Rufach,
über den Eyserinne^i Heyne 1394 Rappoltsweiler].
ahd. isan (isarn), mhd. isen (isern) MA, isa, n.
Iftn m. W 1. Th. cJohn». Als GN (appellativisch ge-
braucht) ist iün (GMA iyüna m., dem. iinla) ein
schmaler Streifen Landes, das man beim Bearbeiten vornimmt ;
auch ein langgezogenes schmales Rebstück.
lytapürne S, eine Quelle unweit der £iwal. Die
Sage will, dass dort ein Jude ermordet worden ist. Darum
spuckt es oft in jener Gegend. Vernimmt man von dorther
ein Winseln und Jammern, so steht ein Umschlag der Witte-
rung bevor. Ein Einwohner von Sondernach — es war ein
fryünfä^takh^it (Frohnfastenkind), und als solches sah
er mehr als andere Menschen, besonders die Geister
waren für ihn sichtbar — stieg einmal dort hinauf. Einige hundert
Schritte weiter oben erblickte er einen andern Einwohner von
S, den Leids Märtlos Mätis, ebenfalls am Berg hinan-
steigend ; an seiner Seite schritt ein Begleiter, den der ihnen
Nachfolgende durchaus nicht erkennen konnte ; dieser be-
schleunigte seine Schritte, und holte endlich den Mätis ein:
dessen geheimnisvoller Begleiter war aber verschwunden. Auf
die Frage : wer denn sein Grefährte gewesen sei, und wo der-
selbe hingekommen, antwortete Leias Märtlds Mätis höchst er-
staunt und erschrocken : er sei mutterseelenallein da herauf
stiegen. Vierundzwanzig Stunden später war 4^9r Watar
(andere Witterung, Unwetter) eingetreten ....
— il5 —
Das lässt einigermassen schliessen, dass man es hier mit
einem cWuotan-Brunnen» zu thun hat. — Stoff kennt einen
[joden bronn 1488 Eipsheim] und über 30 «Judengasse,
Judenkirchhof» und Aehniiches.
K.
K&löisift^re pl. Stw. Der FN «Geley» war früher im
Thal ziemlich verlwreiW.
K&liepan Mr. cGalgenberg» [in galgeherc 13. Jh.^
galgeherg 1456]. Im OE zieml. viel cGalge^, Galgen-» [alte
Belege: galgen].
ahd. g a 1 g 0 mhd. g a 1 g e tGalgen, Gestell am Zieh-
brunnen».
Kamlasm&t Su. Stoff falsch cGaulesmatt».
-Karte m.y in: Häsakärta, Krytkärta M, KärtU
(französ. cMartin-Gazon») uud Kärtlasräin Su-Le Valtin»
Khelp9lkärt9 Stw, Kheri^kärta, Rapkärte^ ti
fewora Karte, Ystarkärta Gü-W. i. Th., Hoikärtö
E, «Gärtlesrein, Hasen-, Ostergarten.» Nur wenig Einschlägiges
im OE.
ahd. garto, mhd. garte, MA karte.
Käs f., H^ilkäs, Prainleskäs, Yelikasle S,
WaUkäs, Wolfskasle, KasU Ml, Kasle, K hei ix-
kasle M, Lyokäs, Räwekasla, Hikleskäs, Wi^M-
mätkäs B, Läi^arekäs, Käspürna Su, Mortskäs
Stw, Snakekasle Mr. < Heil-, Brendelis-, Ueligasse, -gass-
lein». Im OE ziemlich viel cGasse, Gass-» [in Gassen 1659
Feldbach, vf der Gassen 1550 Tagolsheim, in den Goßen
15. Jh. Rappoltsweiler, gässlinacker 1715 Linsdorf].
ahd. gaP^a, mhd. gaßffe, «Gasse»; GMA Käs «Hohl-
gasse» .
KJt^alpari, Grat und Ostabhang des Bergzugs, welcher
den Rheinkopf mit dem Hohneck verbindet, «Kastelberg»
[super montem qui dicitur Kostelberg .... super montem
KasteWerg 16. Jh., auff ein Berg oder Kopff den man nennt
den Alltenkassten 1550]. Stoff hat noch ungefähr 16 ON mit
«Kastei-» [neben dem kurczen Kastelbach 1537, Castelbach
18. Jh. Leymen, an Kastil 1250 Gebweiler, der Castenberg
1567 Köstlach, Kastellegräben 1338 Regisheim]. Die Mehrzahl
dieser Namen scheint Orte zu begreifen, wo sich einst Burgen
oder Verschanzungen erhoben. — Daneben etliche «Kasten»
— 446 —
[an dem grossen Käst oder felssen genannt 4567 SewenJ, eia
<GastelwalGl» Nieder-Burnhaupt, ferner cKaschelber^» Nieder-
burbach und cKaschelbach* [im Kastelhach 4584 Rammers-
matt].
Zu Kasten als Bergname erklärt Bück : cschrofier
Fels, Bergvorsprang», was euuferiBMsen durch obiges Citait
(4567 Sewen) erhärtet wird. Auffallend ist, dass die letzte
Spitze eines Ausläufers unseres K a ^ o 1 p a r i den Namen
ti Pürk (cdie Burg») trägt.
Käsjnöi n. M-Stw, Kä^näiriet Stw, «Gasebney».
Bei cGasteren» (Landschaft) und cGeschinenc (Ort in der
Schweiz) denkt Bück an das roman. casateria Senn-
hütten, bzw. an casones, casinas <!rHütten».
KMskhopf, Köism^tla S, Käisp^tla, Keis-
läkdr Ml, K^ispa, Käispa L [geissenbach 4407J
[[außm geißhach 4588 Kirchenb. v. M]] und E, Keis-
herts^los und Keisrek(a) B-L, Keispari, Köismät
L, Käispari Su, Käi^tik f. [an den geiszbühel 4313]
Gü, W. i. Th. — Im OE sehr viel Zusammenss. [an geiseberge
4308 Bergheim, am geysperg 4347 Kötzingen, an dem geis-
bvhel 4290 Hochstett]. — ahd. mhd. geiz, GMA keis,
MMA k ä i s «Ziege» .
KelWläQ f. MI, cGilbling, Gilwling». Sonst hat Stoff
nur noch [im Gilbling 4727 Bendorf] und [gilwin hürstUn
4 424] Henflingen.
? Ob zusammen zu stellen mit KhalwläQ L (s. d. W.)
oder ist an ahd. gälo (gen. gälwes), mhd. gel cgelb» zu
denken ? — In romanischen Gegenden ist (nach Bück) g i 1 1 =
«Hügeb, kymrisch gilbin ccBerghöhe».
Kemarkpari Gü. Stoff kennt nur ein cGimmermeh»
und 2 «Kimmersberg» [vff die Kummertzmatt 4380, auf
kümertsberg 4602 Hellfrantskirch].
? PN Gimpert.
Kensp9, Kemspo (GMA: Kai^po), n., das Dorf
«Günsbach» {Heimricus de Gvnnisbach . . . Cunradtts et
Walterus de Gunnishach . . . in bamio Gunnensbach . . .
apud Gunnelbach 43. Jh., Güninspach 4278 — 4493, ze Gün-
nespach . . . Günischbach 4339, Günspach 4392 und 4456,
Ginspach 4575]. [[Gimsbachj Gimspoc/i Kirchenb. v M.,
4574 ff., Ginnsckbach 4645.]] — In der Gemarkung von
Gü : tor 't' s 1 9 r k e m ^ p a, ein kleines Waldthal.
? PN Gund- Gunzo (Stamm Gin-); oder wäre mit
Arnold (bei dem Flussn. <Göns» und den ON <Gunz, Gänz-
burg») an irisch gun «Bachi zu denken?
— Ii7 —
Kepä (iif em) n. Ml ; auchiP^wält. P^waltlaL
Päwält Su. Stoff, hat ein« Anzahl Zusammensetzungen mit
«Bann> [under hanbül 1359 Leymen, an dem hanholz 1%26
Ammerschweier, zu dem hanla 1305 zem banUhen 1322 Knö-
ringen].
ahd. mhd. ban, bann cVerbot».
Kepräx n. Su— H tGebräcb».
Ob spätere Form von p r y o ^f ?
K^rsM Karsai [[Görz Oertza Gertze Görtzey Goretze
Goriiz Kirchenbb. von 1574 fi.'^ ausser Brauch kommender
Name für G^rardmer, im französ. Departement der Vogesen.
Kärtsäker Su. «Gerzacker».
Wohl vom PN Gerhard oder Gerold.
Kese'W^el m. Mr T [am gisse übel 1278] «Gisübel».
Daneben noch in dem OE ein Dutzend andere G : [der gyszoble
1500 Ensisheim, Küsdbuhele 13. Jh. gyszübel 1432 giszgübel
1542 Ingersheim].
? ahd. mhd. geiss «Ziege». Oder PN Gozilo?
Kbäiwehefle n. Gü. Nach Stoff, im OE über 60 mit
cKaiby Kaiben» zusammengesetzte ON [am Keihacker 1436
Obermichelbach, Keybacker 1370 vff der Keübengrub 1480
Weier i. Ried].
nhd. k a i b k e i b, «Aas» MA k h ^ i p, k h ä i p Schimpf*
und Fluchwort.
Khäle^wäs (e), Khäldwdskhopf, -r^sL. «Kaien-
wasen». S. P^li }(9.
? ahd. chalo mhd. kal «kahh.
Khäliköfe m. Gü. Stoff, hat ungefähr zwei Dutzend
«Kalchofen]> und etliche andere «Kalch-> [bi dem kalchsiege
1297, Fislis, ad fumum calicum : . . . 1135 Wemher von cal-
couene 1275 Gebweiler, am Kalchofen 1522 Hunaweierj.
ahd. chalch chalh, mhd. kalc, MA khälik «Kalk».
Khälpe m., Khälpastäin Mr [versus calpach 13. Jh.]
«Kalbach».
ahd. mhd. kalt «kalt» oder ahd. cbalp mhd. kalp
«Kalb».
Khält- in: Khältwäbar S u. B Khältapürna Ml
Khältapürn Su Khältapründ Wasserbg. «Kaltwasser,
Kaltenborn. «brunn». Im OE eine Anzahl Zusammensetzungen
mit «Kalt-» [in der Kaltenbach 1421 Niederburbacb, zu Kalten-
humen 1425 Traubach, vncz dem Kaltenloch 1450 Wittels-
heim].
ahd. mhd. kalt.
— 118 —
Khäli^erxnes f. Ml. cKälbermiss». Im OE wenig
«Kalber-, Kalbs-» [auf der Kälber Almendt 1667 Obertrau-
bach, kaJbesmettelin 1453 Murbach]. Vgl. Khälpa.
Khal'wleQ m. L. «Kälblin». Im Kirchenb. von M 1665
kommt ein vielleicht mit diesem identisches [[ÜLoZö^in^]] vor.
Stoff, gibt ausserdem noch sieben c Kälblin, Kälbling»
[uf die kelin 1441 Kaisersberg-Urbach, des herges keibUng
17. Jh. Bergheim, helbling 1660 Sanct-Pilt^ an den kekoyling
weg 1490 im kölbling 1578 am keUbling 1589 Sulzmatt].
? kelt. calbh «Berg».
Kha^elmJtt Ml. Stoff, hat mehrere «Känelmatten,
Kandel, Kendel, Kannen-» [amm Kanndel .... Kannelbach . . .
ze kannelmatten 1453, im Kandtel .... bey CandelmaU
18. Jh. Bühl, Kandelpum 1567 Dolleren, jnn dem KendeU
1522 Hunaweier, Kantenbaum 1611 Kiffis].
Nach Bück ist Kandel f. (Canabis) = Wasserrinne,
und vireiler = Holzrise, Vorrichtung zum Herabrutschen des
Holzes von einem Berge.
In unserer MA ist khaQol m. := (hohler) «Siengel,
Halm»; daher kliskhaQdl = «wilde Möhre, Gleisse». So-
mit dürfte KhaQdlmat einfach die «Wiese mit der vielen
Gleisse» bedeuten.
Khäntseräin m. Gu. Wahrscheinlich = «der Johannis-
Rain», vgl. unser MA Khan tstik «Johannistag» khiintsfir
c Johannisfeuer > , khäntstriwol « Johannibeere» . Oder auch
der «Rain mit den Kanzeln», denn es befinden sich dort
mehrere «Kanzeln», s. kh^tsol.
Kh4päQ f. M. KhampeQmyr B. — MA ein Appel-
lativ, welches ein hölzernes Halsband für Kalber bezeichnet,
von kham «Hals des Rindes, etc.» und pä^o «binden».
Khäpel (e ter) S, KhäpoUkor M B, Khipal
Khäpolwäi Mr, Khäpalomäta W i. Th. «Kapdl,
Kapellenacker, Kapellacker.» Viel Einschlägiges [bi dem keppeUn
1421 Emiingen, in der Cappelmatten 1561 lUzach, am capM-
acker 1479 Blotzheim, Cappehvasen 1694 Luemschweiler]
im OE.
ahd. chapella, mhd. kapelle.
Kharpholts, Kharph^ltsla S, Kharpholts 10
(2 mal vorkommend) L, Kharphol tskärta L. Khar-
pholts, Kharpholtshäil Su. «Kerbholz». Daneben im
OE nur sehr wenig «Kerbholz, Kerben» \jm Kerbholz 1533
Ck)lmar] mhd. körbe, körp «Einschnitt».
Kharäl&X» f- M. Eine sehr steile Rinne.
— 419 —
m. Gö-W i. Th. (fewor- m etlor- eqer
Khä rwäi) Kharixlo'^di M. «Karrweg». Im übri^ren OE
nur noch etliche Zusammensetzungen mit «Karren-, Karr» : [in
Karrichstal 1328 Niedermorschweier, Karrickweg 1465 Colmar].
ahd. Charruh (hh) mhd. Karrech, Karrich MA
Kh äri }( cKarren».
KhaSTvai S. Stoff, hat etl. «Käs»», worunter ein «Käs-
weg» Niedersept. — ? ahd. chäsi mhd. Kaese.
Kh&tsastaile n. M, Khäts9khopf B Khätsa-
p f 1 y 9 k Su, Khatsa^täin H. «Katzenköpflein, -pftu^?. »
Im OE gegen 40 Zusammensetzungen mit «Katz-, Katzen-» [zu
Kotzenlande 1328 Winzenheim, Chazinthale Kazinthal 1184,
in Kancendale 1222 Df. Katzenthal, Ita de cazwanch in
43. Jh. Bennweier].
Bück : Katzenstaig, f. nennt man in Oberschwaben
steile Pfade oder Stiche an Fahrwegen. Wohl bildlich nach
dem Kletterbrett der Katze am Bauernhof, das allerdings k.
heisst. Möglich dass in einigen Namen Katze auch eine
mythische Bedeutung hat.» — Der «Katzenstein» von Hohrod
sieht ordentlich wie ein ehemaliges heidnisches Denkmal aus.
ahd. chazza mhd. katze.
KhästOTvält Ml. Stoff, kennt nur den « Kasten wald»
zwischen Colmar und dem Rhein [Kastenholz 1364] und zwei
«Kasten» [am Kasten .... an der grossen Käst oder felssen
genannt 1567 Sewen, by dem stock vnder dem Kasten 1399
Sierentz], sowie den < Kasterbrunnen» von Grebweiler.
Bück meint: «Kasten» (Bergname): schroffer Fels, Berg-
vorsprung.
Khätsel f. MI; vorspringender Fels am Hohneck. MA
auch Appelativum, um solche Felsen zu bezeichnen. Stoff,
kennt vier «Kanzeln» im OE.
ahd. chanzella mhd. Kanzel.
Kheäpari Gü-W i. Th. [am Kinberg 1252, vf das
höchste des Künberges 1318, am Kienherg 1441]. — Khyo-
s6s9r m. Su, Kheäldiar [heim Kühe läger ißiß] Winzen-
heim. «Kuhbei^, Kuhsoser, Kuhläger.» Stoff, hat sonst noch
an die 20 «Kähläger» und ziemlich viel andere «Küh-» [der
kugin Hof 1371 Colmar, bey der Kueh Cappell 14. Jh. Geh-
Weiler, vff der Kugleger 1500 Heilig-Kreuz, Kugewasen 1346
Berrweiler].
Für die 2 letzten ON ist wohl sicher ahd. mhd. Kuo,
pl. Küeje die Wurzel; für den erstem ist offenbar an ahd.
chien, kän mhd. kien «Kien, Kiefernholz (vergl. Kien-
— 120 —
span, Kienfackel) zu denken, wenn nicht an kell, c u n (kymr.
cwn) «hoch, die HöheD.
Khdföi m. Ml— M i^Kuhfeib: — Ob wirklich förKhei-
fail? Es wäre das einzige Wort, in dem das Z von fail
weggefallen und kh^i (pl. von khyü) sich in kb^ verflacht
hätte.
Khdiserspryox m., Khäisarsmät [hi des keiserz
mMen am angere 43. Jh.] Khäisersprenla Mr. — Im
OE noch einige «Kaisers-i» [Keysersgasse 1365 Golmar].
ahd. Keisar mhd. Keiser.
Kh^kelrets m. B «Kögelritz». Ob zusammengesetzt aus
unserm Kh ^ka 1 cKegeb und einem sonst nicht vorkommenden
Worte «Ritz:» f. m., welches nach Bück «Heumatte, Wiesei
bedeutete ?
Kheliymötle S H^itdkhelixhof Mi (eine öde Stelle
am unteren Ende der Wolmsä; die Ueberlieferung wilK dass
dort zur «Heidenzeit» [das ist : «in sehr früher Zeit»] ein Be-
erdigungsplatz gewesen sei), Kheri^hoft Kheli^kasU
Kheri^^ält M, Kheliywäi B, Kheriymäta Su,
Khelpol Stw, Kheri^wäi Gr, Kherixkärta 6ö,
Kheriywäila E.
«Kirchmatten, -weg, -gasse.» Im OE über 200, Kil-,
Kirch-, Kirchen-, [in Küchthal 1328 Türkheim, in Kilmatien
1424 Kürchhühel . . . Kilchbühel 1594 Roderen, Kilwart hcm
1358 ßlotzheim].
ahd. chiribha chilihha, mhd. kirche kilcbe, MA kheli^
kheriy «Kirche».
Khelpel m. Stw. [Hesso de Kilchbuhele , . . de kilpule
13 Jh., kilchbühel 1339, ze kirchbühel (ceüa in — , cappelle
ze) 1407. Khelpdlkärta Stw. Sonst im OE nur noch
2 «Kirchbühb [Kilchpühel 1568 Obertraubach, Kürchlmhel . . .
kilchbühel 1594 Rodern]. S. Kheliy.
Khersasupreke B. Stoff, hat eine Anzahl «Kirsch-»
[zu dem kirszboum 1347 Hindiingen, zem kirsbomlin 138ü
Kötslach, der Kirszgarten 1567 Pürt].
ahd. chirsa mhd. kirse kerse MA khers «Kirsche».
Kh^rtsmät S, Kh^rtsspari Khertsapari-
khopf M. Stoff, hat nur 2 «Kerzen-» [Kertzenmätüein 1567
Buschweiler] .
? PN Kero.
Kh^VT'laspari Su, Khäwalarüns E. «Köblesberg».
Wohl von FN «Köbele, Köble,» MA Kh^w(a)l9 ausgesprochen.
-- 121 —
Khiespe Kheäspa H, «Kiespach» [de prato in Ctishach
13. Jh.]
? ahd. mhd. kuo, pl. küeje.
Kliipeäker Su, «Kipacker».
Khölhoi f. KhöUlox S. Khöldrsmät MI, Khö-
likwasla St\v, K h 61 hoi Su, Khöldrüns Gü. Kohlhaul,
-hau, Kohlenrunz. Daneben noch viele Kohl-, Kohlen-, Kohler-»
im OE. [alte Belege : Kol- Coler- koll-.]
ahd. cholo, mhd. kole.
Kholpe, Kholin^9 m., Kholwaf^lsa Ml. Stoff,
meint «Kolben» «für Kolbach». Sonst hat er nur einige wenige
«Kolben-» [jn kolbengass 1365 Niedermorsch weier].
In dem Kirchenbb. von M, 1574 ff: [[vom, im Kolben,
der koler im Mitiah kolhen.^]
? ahd. cholbo, mhd. kolbe, «Kolbe, Keule, Knüppel»,
oder: ahd. cholo, mhd. kole «Kohle» mit s^hd. bah, mhd.
bach, also «Kohlbach»?
-Khopf m. (dem. Kh^pfle, pl. Kh^pf) in: Spets-
khopf Klönskhopf Snapfsri etkhopf LaQdfalt-
khopf Stritkh^pfU Nüis^lkhopf H^rnlaskhopf
S, RikhopfR OS khopf, Kh^pfle ti §pets9kh^pfRyo-
tepäkhopf St^wäsakhopf Kläkh^pfU Ml, Hyonä-
khopf Ml-Stw, Altmätkhopf NäUtap61khopf Präin-
khöpfla Kä^n^ikhopf M, Eliakhopf M-Ml-S-B, Ri-
Xäkarkhopf B, Khäla was khop f B-L, KhöpfU
Pärakhopf RäpakhopfSu, Froiakhopf Mr, Häita-
p^lkh^pfla Läiarmätkh^pfla 6ü, Pa/lakhäpfla
E. Bei Stoff. «-Kopf, -Köpf, -Köpfle». — Sonst hat Stoff, nur
einige wenige «Köpflin» [vf dem Köpflin 1380 Moos, Khöpfflin
(der berg vff dem) 1568 Mörnach].
MA Khopf, m. «Spitze, Gipfel». .
Khüimer m., Khüimarmät S, Khü imarkhopf,
Khüimarwän Su. «Kumerbach, Kummerweg, vodere
Kummer, Kummerwand.» Daneben noch einige OE Kumer,
Kummer, [am Kumer 1567 Dolleren ; an der Kümerten matten
1540 Franken].
mhd. k umher «Schutt, Unrath, — Not, Bedrängnis.»
Diphthongisierung als Ersatz für das ausgefallene b (wie
fail für velt, krüim für krumb u. s. w.)
Khümpf m. Gü [ob dem kümpffe 1456] «Kumpf». Da-
neben bringt Stoff, nur noch 4 «K.» [im Kumpf 1635 Thann].
mhd. kumpf m., «Gefass». MA khüpf, khümpf,
m., = dass tiefe hölzerne Gefass, dass der Mäher an seinen
— «2 —
ledernen Leibgürtel hängt, und worin sowohl der Wetzstein als
das zum Schärfen der Sense mittels desselben nötige Wasser
enthalten ist.
Khürtsape m. Gr cKurzenbach». Ziemlich viel OE
«Kurz-, Kurzen-» \jin kurtzen gelend 1399 Reichenweier, in
ktrtzen gössen 1454 Türkheim].
mhd. ahd. kurz.
Khüirv^et&l, abgehender deutscher Name des oberhalb
La Bresse gelegenen und französich «Colline de Chajoux»
genannten Thaies.
Kiöre m., Kiära^wana S. Nicht bei Stoff.; dagegen
führt er sehr viel «Gehren» aus dem OE an [an dem geren
4347 Hindiingen, der gere 1407 T, zu Gere 13. Jh. Walbacfa,
am gerwasen 1452 W. i, Th.
Unser ON geht auf einen zugespitzten Komplex von
Feldern und Wiesen, ahd. göro «Spitze, Ecke» mhd. g^re,
«keilförmiges Stück Zeug, Schoss» MA kiöra «Schoss«.
Kiermäte pl., Su. Stoff, falsch «Kirmatten».
Wohl zu ahd. mhd. gir «Geier».
Kiesepä Ml [im Geissebach i456] «Giesenbach».
? ahd. jesan «sprudeln, wallen».
Kikeröpiirik W. i. Th. [Tietricus de Girsperc 1185,
Conradus de Girehberc 1198, Genfridus de girisperch 1214,
Girsberg 1241] [[Girspurg^ Gyrspurg^ Kirchb. von Mr 1029 ff.]]
Stoff. «Girsperg, volkst. Gigerspurg». Dann «Girsperg» (eines
der 3 Schlösser von Rappoltsweiler, welches früher der Stein
hiess, sodann aber den Namen der im 14. Jh. damit belehnten
Familie aus dem Münsterthal annahm) [Gyrsperg 1316, Güers-
perg 1394].
ahd. mhd. gir «Geier».
KiiTV'i m. Ml, bei Stoff. «Gipich» [Gippichy Gippisch
1575]. Felshügel, dem «Herrenberg» vorgelagert ; letzterer
scheidet das Mittlachthal in zwei Teile, sodass der Kiwi in
einer Weg- bezw. Thal-Gabelung liegt.
ahd. giwicci Wegscheide.
Klämersm&t 6ü.
KläQk m. M, KläQ(k)häil KU^mäto S, Kläqk-
f^ls9 KläQkrüs MI, KlaQkle SienekläQ(k) B,
KläQhäil Kläiimäta [in den glangmatten 1456] K\änk\9
TywokläQ Su. — «Klängle, Klanghaul, Schönenklang».
? ahd. chlang mhd. chlang, klanc «Klang».
— 123 —
Kl&spfät Ml, KUspürn Su— H, KUsrus La
Bresse (unterhalb des Hohneck). «Glasborn».
? ahd. mhd. glas «Glas».
KlltstäLii(e) (üf) W. i. Th. [an livoen steinach 1452,
vff läwesteinott 1475]. «Klaus Steinen».
Klä'we m. Mr^Gü, «Klebach». Sonst nur selten vor-
kommend [;m clehe 1487 Wettolsheim, im klebbach 1550
Mitzach].
ahd. c h 1 e b ö n, mhd . kleben «kleben, haften, fest-
sitzeni>. Bück sagt: kleb, kleeb, n., in Kleben, in der
Regel ein nasser Ort.
Klä^w^lesrMn M. Vergl. Kl ä Hai na.
Klafail Kläfail Ml Kläinrüns E. «Kleinrunz».
c <
Kl^nskhopf S — Linthal ; dazu : KHnskhopfrüs,
-w ä 1 1, -^ w 9 n 9 [Klinskopf 1738, Glintzkopf 1760], «Klins-
kopf ». MTB Nr. 3668 schreibt ziemlich richtig «Klinzkopf».
Die Schreibung «Kleinskopf» ist ganz unrichtig. In Büchern
oft der Lauchenkopf genannt; 1328 Meter überm Meer.
Kl^pf, üf ter, M. KUpfarsmät S. Stoff, kennt:
«Kleff» [am Klefen . . . am Kläven^ an die KlefiSßl Rimbach]
•Kleffelbach» [jnn klepfelhach 1550 Weiler bei Thann] und
[ob dem Klaff er 1479 Wenzweiler, Klopfer 1764 Rädersdorf].
? ahd. Klapf, «Stein, Fels» oder ahd. Klaph, chlap-
hdn, mhd. Klaf, Klapf «Knall, Krach, Schall». — Der
ON Kl^pfersmät scheint übrigens mit dem PN (Spitz-
namen) Klöpfar zusammen zu hängen.
Kletserstöin M, Kletsarfälsa Ml «Glitzerstein».
Sonst nur noch in Alt-Pfirt vorkommend.
mhd. gli t ze rn, MA kletsara «glänzen, glimmern».
Klokeplyiimemät Ml, Wiese (am Fusse des Kiwi)
auf welcher zeitig im Frühjahr massenweise eine gelbe Nar-
zisse (MA klokaplyüm «Glockenblume») blüht. Stoff, hat
einige «Glocken-« [Glockenmatten 1620 Bruebach].
ahd. glocka mhd. glocke, MA klok.
Knexel m.. Ml. Eine Stimmoräne im Wolmsathal. Stoff,
hat fünf «Knichel» [auf dem knichell 18. Jh. Obersteinbrunn,
in dem knüchel 1427 Pfaffenheim, am knichel 1567 Rimbach,
im knühel 1547 Sausheim).
? mhd. hnol «Berg, Gipfel« ; oder ahd. nacch, hnacch,
mhd. nac, nacke, «Hinterhaupt, Nacken». — Ich hörte das
Wort knexel auch einmal appellativisch für «kleiner Berg».
KnoleäJb:er S, Knob m. Stw.
? mhd. Knolle «Erdscholle, Klumpen« oder hnol?
— iU —
Kr&femäta Su , «Grafmailen» und auch sonst noch
einige «Grafen-» [am Grauenackher 1558 Mülhausen, am
gräfenacker 1429 Niedermagstatt , in groven gerut9 1312
Heilig-Kreuz, in grafenmatten 1537 Niedermorschweiler, die
grafen sleiffen 1250 Gebweiler].
Kräiepari M-B und B (zweimal vorkommend) X Ha-
ler ä(i) Su. «Kreyenberg» .Altenkray». Im OE viel -Krey,
Krey-, Kreyen-» [uf der kreyen .... vf der kreye , . , . vf
der kreyh 1591 auf der krewen 1723 Winkel, uff der dürren
khreyen 1655 auf der dürren krayen 1694 im^ düren krey
1740 Oberlarg, am oberen krey gen 1762 Obersept, im kregen-
herg 1575 Niederhagenihal am Kreyenhühel 18. Jh. Gebweiler,
kreyhühell 1550 Häusseren- Wesserling , kreyenbüchell IKO
Ramspach, kragenhühel 1441 Reichenweiher, an den kragen
hüchel 1429 Wettolsheim, in der Kreyenbach 1250 Kregeinback
1286 Gebweiler, bi chreienbade 1288 Kreyenbach 1537 Alten-
schlag].
abd. chräia chrawa chr^, mhd. kra^a MA krii
f. «Krähe«.
Indessen deuten ON wie vf der dörren khreyen,
im Krayen, Obergrey auf ein anderes Etymon hin, als
auf den Namen des, wenn auch noch so verbreiteten und be-
kannten Vogels. Nun aber hat sich im französ. und schweizer.
Jura das Wort cra crä cras craie cr^ cröt erhalten,
welches teilweise noch jetzt ein Appellati vum oder GN ist und
«Berg, Hügel« bedeutet ; in ON kommt es besonders häufig
vor. Beispiele: le cr^t perr6 (= «le mont pierreux») und
le crä de Combats in der Gemarkung von Saint-Dizier
unweit Delle ; die «colline d'Hermont» bei Pruntrutt und Cour-
genay heisst in der dortigen MA le cras d'Hermont.
Sogar in Zell (La Baroche) in unserer Nähe kommt der ON
1 e cra vor. Von Stoffel angeführte und wohl zumeist hierher
gehörige ON sind ferner : la craie, la combotte de
la craie [en la craye 1737 Villars-le-Sec], au cras, sur
le cras Florimont, Botans, Olttendorf, \au cras du Banney
1737] Croix, le cras du Moulin Lufendorf, la cha-
pelle de crets [im Cr«t 1544] Courcetles. In einem von
Trouillat 1 324/325 mitgeteilten Dokument (Nr. 24, 13. Jh.) ist
als Zeuge genannt: Magno abbas de Altecrest; dieses ist
ein 1134 gegründetes Cistersienser Kloster im Bezirk Orbe
(Schweiz) ; französisch heisst es: Haut-crest: das wäre
gleich werthig mit dem deutschen (allemannischen) «Hohen-
krähen» [craige 1221] in welchem Bück und Bacmeister
übereinstimmend ein vordeutsches (keltisches) cra ■Bei'g, Fels»
— 125 —
zu erkennen glauben, indem sie dabei an irisch craige «Fels»
denken ; die gleiche Ableitung lässt Bück auch für den ON
«Heukragen» gelten. — Bemerkenswert ist noch dass
Kräidpari zwei mal in B vorkommt, und dass Stoffel fünf
OE «KreyenbühN kennt: nimmt man in diesen 7 Namen
das erste Wort als Grundwort an, so löst sich der betr. ON
einfach in die Tautologie «Berg-Berg» oder «Hügel-Hügel» auf,
ein Vorgang der, wie die Fachleute wissen, unzählige male
vorkommt. Ganz besonders dürfte Alt8krä(i) vordeutsch
sein und durchaus die Bedeutung von Haut-Crest «Hoch-
bergo haben, was auch örtlich zutrifft. Alts als Bestimmungs-
wort wäre hier das, wie es scheint, nicht nur dem Lateinischen
sondern auch dem Keltischen eigene alt- «hoch». Vgl. den ON
(lat.) Alteripe, ein Kloster bei Freiburg in der Schweiz,
französ. •Haute-Rive», deutsch «Altenryf», wobei Alten
ebenfalls eine irrtümliche Anlehnung an das deutsche zu sein
scheint. — Unser Ältekrä(i) liegt eher im Gebiet der ro-
manischen als der allemannischen MA.
Krämersmät f. Ml.
Stoff*, führt aus dem OE mehrere mit «Krämer» zusammen-
gesetzte ON. [Krämerherg 1674 Hochstalt vnder dem Kremarnn
i540 Niederranspach, Kremei^sache 4441 Buenzweiler, Krämers-
melte 1566 Hindiingen.]
mhd. Kram «Bedachung eines Kramstandes».
Xräpafölsa Ml, im Zuge der Spitzenköpfe. «Krappen-
felsen».
Elsäss. (aber nicht Münsterthäler) MA kräpo, ahd. rabe
{rappo) mhd. rabe «Krähe, Rabe«.
Kräpsrüs S, Kräpspayle Sulz-W. i. Th. Kräps-
prekla W. i. Th. «Krebsbach, -brück -runz». Daneben noch
«ine Anzahl «Krebs-» [Krepshach 1565 Hirzbach, Krebsloch
1565 Hirsingen].
ahd. chrebisz, chrebaszo mhd. krebesze kre-
besz MA kräps «Krebs».
Kräwe (üf am) m. Mr, Weäätkräw» L. Ersteres
•ein Stadtteil längs des ehemal. Stadtgrabens. Stoff, hat noch
-em Dutzend «Graben, Graben-» [uff dem Graben 1537 Senn-
heim.
ahd. grabo mhd. grabe MA kräwd.
Kresa, em, m. Su «Griesen». Sonst hat Stoff, noch
•einige «Gressen-, Gressig-» [Gressnaw 1630 Oltmarsheim,
gressigbrunnen 1744 Kiffis] .
— 126 —
Krestlaskyüt B. MA Kre^tla = Deminutiv von
€ Christian».
KrötleSTväsa, m. S. [[Kretles loassen 1741 Chronik
von Matern Jägle von M]].
St. hat einige cKrotten-^ Kröttli».
Kre^^leQ m. Stw E [greweling böm 1456] «GhTeuling».
Stoff, hat ein «Greuel» [jm grikoel 1471 jn greüwel 1546 Hül-
hausen] und noch 3 «Greuling» [im greweling 1290 Wueo-
heim]. Er erklärt «Der Greuling ist eine Art Birne».
Kriäpe n., das Dorf «Griesbach« [opud Gruzenshach • . .
Rtidigerus de gruzinbach 13. Jb.^ Grtissichspach . . . Grus-
senspach 1411, GrygpcLch 1434, Grüspach 1456, Gruselback
1480] [[auss'm Grispach 1574—1600, Kirchenbb. von H;
GHschbach 1656]].
mhd. g r i e z (g r ü z) «Sandkorn, Sand, Gries» .
Kriter, iif to, (pl.) Poiarskrit FUskritar S,
üf tar Krit f. MI, Kritarwält E, Hanikskrit Stw,
Öfapä^kritdr Gü. Bei Stoff. • Kritter, Kritterwald ■ und,
neben «KrQt* (dem Dorf) über zwei Dutzend «Grüt* [de Gereuih
1342|Geruf6 1357, zu Gerut 1416 [[GerüU, Gerüth, van Crithen,
Gereith Kirchenb. von M, 1574 ff.]] das Dorf Krüt, an dem
gerütte 1489 Appenweier, in dem greuth 1588 Bebienheim,
im gerate 1488 Hattstatt, in dem oberen Gereith 1661 Hoch-
statt, in dem grutte 15. Jh. Rappoltsweiler]].
mhd. riuten «ausreuten, urbar machen«; ahd. riuti
mbd. r iute, «durch Reuten urbar gemachtes Land« ; geriute
= Collektiv. MA krit n. (meist am Waldesrande und hoch
gelegenes) Feldstück, das abwechselnd mehrere Jahre hinter
einander angepflanzt, und sodann wieder einige Jahre brach
liegend gelassen wird.
Kritspe L Stw. Kritskhopf Su, Stäindkrits L,
Kritsäkar W. i. Th. Stoff, hat nur ein «Kreuzbach^. Da-
neben aber eine stattliche Anzahl anderer «Kreuz, Kreuz-« \bi
dem crüce 1328 Ammerschweier bi dem kruze 1380 Köstlach,
zem Krucze 1436 Obermichelbach, auff der Creutzmatten
1431 Ligsdorf].
ahd. chrüzi mhd. KHuz y Kriuze , MA krits n.
•Kreuz».
Kriiäholts Gü—W. i. Th. [Grünholtz 1742, Grueholz
um 1790] «Gruholz». Nahe am Grat welcher das Münster-
thal vom romanisch sprechenden Urbisthal (Kaysersbergerthal)
scheidet.
? gael. cruach «Haufe, Berg«, oder creuch «Sumpf*.
— 127 —
Krüimäker M. • Krummacker «. Im OE über 100
cKrumm-» [der krumbe acher 1296 Alt-Pfirt, vff die krumbe
fürte 1400 Munweiler].
ahd. chrumb mhd. krump(b) MA krüim «krumm^
gekrümmt, verdreht».
Kryep f., Kriewla, Su, Selwarkryüp Ml fetäin-
krüäp Gü — H. «Grieblen». Sonst wenig «Gruben-, Grüblen»
im OE [in grUen 1359 Leymen, im Grübler . . . zu Grieben
durch 1567 Buchsweiler, bi der wolf grub 1380 Mörnach] .
ahd. gruoba mhd. gruobe, MA kryüp kryap,
krüäp «Grube».
Kryot Kru9t Krüt, n., Kryotkh^pfl9 B. «Kroth,
Krothköpflein».
mhd. grät «Fischgräte, Rückgrat, Bergrücken». MA
kryot, kruot, krüt n., «Grat», nur noch selten als Ap-
pellativum gebraucht.
Kryosplyiine, Kryosprfeitferät S, Kryosläiar
(-läkar) S — B, Kryosöwano M, Krüwesrüs Krüwas-
mät (auch Kr6smät gesprochen) Su, Kruste k Gü. «Gross-
matt, Grossrunz». Im OE weit über 200 «Gross-» [alte Belege :
gross- groß-].
ahd. mhd. gro§, MA kryos krüs krüwos.
KülÜQ m. auch K h u 1 ü q (erstes u wie nhochd. u oder
franz. ou ausgesprochen), m. Scheint, auf den früher im
Thal vertretenen französ. PN Coulon zurückzugehen.
Kiirliö n. Ml.
-Kyüt in: Altakyüt Ml— S, Kietle Ml, KrestUs-
kyüt äpältarskyüt B, Hütsoküät E.
•Altengut, Hutschengut»,
ahd. mhd. guot.
Kwarpfät f., S. Stoff, hat nur ein paar «Querchweg
[1536 Oberenzen] «Querren weg» [auf dem Querren Weg 1588
Andolsheim, ze querrenwege 1328, am querchweg 1529 Nieder-
morschweier, querichgesselin 1453 Gebweiler].
ahd. dwörah, twerh mhd. twerch, dwerch,
dwer, querch «schräg, quer». MA nur noch ewarts-
wariy.
Kv^rarrva, Kwarpa, m. S [under der werben . , . vff
der werben 1456], «Querben».
Collectiv von MA warp f. «kleine langgezogene Boden-
Brhöhung» ; oder mhd. tw^r-bach.
— 128 —
Läimäkar m. Stw. Stoff, hat viel «Leim-^ Leimen-»
[Leymbach Leimbach 1323, 1361 das Dorf L, am Leimen 1342
Moos].
ahd. leimo xnhd. leim, leime «Lehm» MA l^ima
läi m 9.
Laimlaswäsa MI, Laimlashöf B. Geht in dieser
Form aut den PN Lämle (vor 300 Jahren Lämble Lemble
geschrieben) zurück. Ausfall des b, Diphthongisierung des
Vokals.
Laits, Laitswäsa, m. Su. «Lenzwasen*. Ich borte
auch L a i t s. Diese Formen scheinen auf den PN «Lenz» zurück*
c «
zuführen. Stoff, hat nur einige «Lenz-* [lencacker 1287
Hundsbach].
Laker, Läiar n. m. La i armät kh^p fla Gü, K^is-
läk^r Ml, Kryosläiar B, Kheäläiar Winzenheim [beim
Kühe läger 1640] «Kühläger«. Im OE eine kleine Anzahl
«Läger-» [jm leger an dem. heidenberg 1511 Osenbach].
ahd. legar mhd. löger MA läkar, läiar ■Lager-
stätte».
LtämMspari B. «Lameisberg». Geht auf den PN «Lamey»,
der im Münsterthal ziemlich verbreitet ist.
Län Län, f. MI. Scheint ganz modern zu sein und mit
dem PN gleichen Klangs («Magdalena») in Verbindung zu stehen.
— Anderseits würde auf die Lage der betr. Stelle ganz gut
das ahd. lina hlina mhd. lene «Lehne, reclinatoriumi
passen; vgl. auch got. hlains m. «Hügel» anord. hlein
Felsvorsprung* .
LiäQinät B. LäQakarla H-Mr [ad langin agger
13. Jh. am langenacker 1407] LäQdpd Gr [langenbaek
1441] LäQdpäy H Läqara m. Lä^ardkäs, Läqmat
Su, LäQ9wäs9 Ml LäQhäil LäQwarp LäQsläta
Stw LäQprü)f E. «Langäckerlein, Langenbach«, u. s. w. Im
OE eine Unzahl «Lang- Langen-» [alte Belege : lang-, langen- .
ahd. lang, mhd. i a n c, MA lä q. — Hiezu gehört auch :
LaQepä S [in lengenbach 13. Jh., lengenbach 1456 [[r)f
lengenbachy auff Lengenbach 1580, 1583 Kirchenb. von IT],
LaQafalt La q df a 1 1 k hopf S-Linthal [lengenfeld . . . .
lengenfeldkopf il^4], Laqepari H. «Lengenbach, Langen-
feld- ; MTB 3668 (ebenfalls falsch) Langenfeld (statt Lengenfeki).
Sonst im OE nur noch ein «Lengen-» [montis Lenginberc
1188, Lengenberg 1319 Hattstatt-Vögtlinshofen].
— 1!29 —
Liäntspurn m. E. «Landsburn».
LÄtara m. La ti nies f. S. «Lattern».
Nach Bück ist «Lade», FlussN in Lada Ladusa La-
derna U.S.W. = altkeltisch latis.
Lätarspäi m., zu S gehörender Weiler; [in landoltispach
dB. Jh.^ in lander$chhach 1456] ][Lander8pach^ Kirchenbb.
^'on M 1574 fif.]] Lätarsd, üf Lätssr S (oberhalb des
Weilers). «Landerspach, Landerse, Landersematten».
Geht auf den PN Landolt zurück.
luki t\ S Ml M Gü W. i. Th. T Läxmät Mr. Stoff.
kennt nur -Lach» M und «Lachmatt» T. Aus dem übrigen
0£ hat er eine Anzahl «Lach, Lachen, Lachen-* [vff die lachen
1479 Folgensburg, jn der lachen 1318 Riespach] Er erklärt:
im Sundgau ist Lachen synonym mit Noden und bedeutet
• Wiesen, Feldlachen, Feldwiesen» an dem Ablauf eines Weihers.
— ahd. lacha mhd. horlacha • Schlammpfütze». MA
Jä^ f. «kleine Wasseransammlung».
Layterwim f. B. Stoff, und MTB 3668 falsch «Lechter-
^vand». s. Wdn.
Löfalsmät E. Stoff, kennt im OE : «Am Löffel, Löffel-
bach, -matten, -thal, Löffelseben, Löffelstiehl».
Leimal m. M «Leimel». Ist auf ahd. «linta-buhil»
mhd. «li nde- b ü hei» zurückzuführen, entsprechend den
lautlichen Eigenthümlichkeiten unserer GMA. Erst Fortfall des
e und des d, worauf das übrigbleibende h das n in m um-
wandelte; dann Fortfall des 6, und als Ersatz dafür Di phthon-
gisierung des Vokals; am Ende des Worts Verflachung von
b üh e 1 in pal.
Aehnlich leitet Arnold «Steimel» ab, = «SleinbühU.
Liöi'waltäl Ml, Läiwalspä B. Wohl für Letzteres
hat Stoff, ein sonst unbekanntes «Lauben» B. Im OE noch
einige anklingende ON : «Leiblesmatten» Ballersdorf, und et-
liche «Leiber, Leiberen» [neben dem leiwer .... ein houeatat
bi dem leiwer h^me 13. Jh. Meyenheim, am löwer 1534 im
leiiwer 1563 jm Levber 1577 Riedisheim, vff der leweren
1489 a7i dem leewenen 1495 Schlierbach-Dietweiler, an des
l^ebers acker 1380 Orschweier, by dem leüweren , ^ . vff dem
Leuwer bühel 1534 Niedersteinbrunn]. Den ON «Lifepvre =
Leberau» erklärt Aug. Stöber durch das celtische laib, laibe
•Lehm» (Rev. d'Als. 1854, 87 ff.).
Lent-, LeQ- in: Lentalsäkdr B Lental Dorf
«Linthal», [[Linthel Lindel^ Kirchenbb. von M 1574 ff,.]]
L e n 1 0 1 1 d 1, das nach diesem Dorf benannte Ende des Geb-
9
— 130 —
Mreilerthales [[Margreta zue höfen im Linthellhal
Kirchenb. von M 1577]], Lenta abgehender deutscher Name
des Dorfes Le Thillot im Vogesendepartement, Le^apükal
Stw, LeQdwäsa Gr. Im OE eine Anzahl «Linden' [alte
Belege stets: linden-].
ahd. linta mhd. linde MA lent f. «Linde».
Lepskäs f. S. Soll auf den PN «Philips^ MA Leps
zurückgehen.
Löriyafalt n. B, Leriyap^l m. Su L^riyapari GQ.
•Lerchenfeld, -buhl*. Im OE gibt es eine Anzahl «Lerchen-i
[Lerichenbet'g 1507 Altkirch, l^rchenberg 1337 Berenzweiler,
in lerchenuelde 1308 Rappolts weiter, in lerichen velde 14. Jh.
Türkheim].
ahd. I^rahha mhd. l^rche «Lerchei» oder mhd.
lerche, larche, «Larchenbaum* wofür ahd . 1 e r i h (AA)
vorauszusetzen ist ; für beide hat unsere MA 1 ^ r i )r f.
Läsaräin, m. Gü. In dieser allein bekannten Form
= «der Rain» des (PN) Lfesar, geschrieben «Löscher».
? PN Luitgoz?
Letsalfail n. S. «Lüizelfeil». Im OE eine Anzahl
cLützel-» [luzelbach .... lüzzelenbach 1278-1493 Rappolts-
weiler, lützelnberg 1489 Westhalden, im lüczleu sewe 1421
Ammerz Weiler].
mhd. lützel «klein». Trotzdem ist das Sondernacher
Letsalfail verhältnismässig recht gross.
Liprük Su «Libruck*. Ist aber keine Brücke, sondern
eine Sennerei oberhalb des Sulzerer See*s. G«ht vielleicht auf
ahd. hrukki «Rücken».
Li^spe m, Liespemäta, Li^spsreka Stw «Lies-
bach». Stoff, hat das Wort noch 4 mal [zer Liespack 1279,
liessbach 1390, das bei Sanct-Apollinaris entspringende «Lies-
bachbächlein» ; ließbachgraben 1497 Blotzheim].
? ahd. lisca «Riedgras».
Li^stäi S B, Lifelala Lielalakas, Try^lie,
K ü r 1 i fe MI , L i e n. L i ^ m ä t a (an zwei verschiedenen
Stellen), B, Li^mat Liematwät Liematwäsla Stw,
L^la n. [Löhly .... zu dem löhelin 1455] Gü-W. i. Th.,
Liemät Su. Stoff, hat nur «Lögele, Lögeleköpfle (W. i. Th.)
Löhly (Gü) Lehmatt (Su).
Mehrere Ableitungen möglich: von ahd. hleo «Hügd,
Grenzhügel»; oder Deminutiv von Lyo, Lüjr s. d. W; oder
ahd. lehan mhd. I^hen «geliehenes Gut».
I
— 131 —
Ldöyt9X*8 m. Siw. «Liechtern».
? ahd. licht mhd. lieht «hell^ leuchtend (gelichtet)»
und aran, «pflügen, die Erde behauen».
ti Ltiewarei, f. Ml. Ob wohl damit zusammengestellt
werden dürfen : «Löbere* [an der I6wer 1453 Wuenheim] und
•Li verseile» [lyef'erschell 1441 Markirch] ?
Liisames n. B., Lysp^l Siw. St. «Lissermiss». Im OE
ziemlich viel «Luss» und «Lussbühl» : [vf der lusse 1407 Bilz-
heim, jm pferren lu8 oder im vsserenn lus 1548 Brunnstatt,
im luhsse .... in dem Lusse 1362 Colmar, in der luße
14. Jh. Hattstatt, vf der lus 1380 Sulzmatt, liissebuel 1279
Blolzheim, Luspühel 1603 Ck)lmar, lyßbfkhel 1507 Ensisheim,
Laussbühl 1717 Sigolsheim] auch einige «Lies-» [zer liesbach
1279 lieschbach 1535 ließbachgraben 1479 Blotzheim].
Ob auch Lyspa S (h. d. W) hierher gehört?
A. Siöher sieht in lys lis, luss ein keh. Wort, =
Zusammenziehung von lu «klein» und ais «Hügel», in kelt.
MA lus leus lous luos. Rev. d'Alsace 1872, 510 ff.
— Das Wort kommt auch im Unter-Elsass vor : [[am lusebuhel
1348 Tieffenbach im Weilerthal]] (aus einem Kaufakt, mitge-
teilt in Th. Nartz : Le Val de Vill6, S. 224).
Lit f. und n., als GN nicht mehr gebräuchlich, als ON
immer auf ausgedehnte Halden oder breite Bergabhänge gehend :
am Lit, Litaäksr, Sümarlit Ml, Prdtlit M,
Wäitarlit B, Arslit Litäkar E, Älit, Pfäflit Su,
üf'tor Lit Stw., Wentarlit H-Gfi [an den Uten i^]
Stak lit W. i. Th. [in stekkenliten 13. Jh., vnder stecken^
Ute 1452] und Wasserburg, Hölit T [an hohen Uten 13. Jh.J
StofT. gibt diese Namen mit «Litt, Litten, Sommer-, Brand-,
Winter-, Ehrsch-, Ah-, Pfaff-, Stecklitt wieder». Ausserdem
hat er noch eine Anzahl «Litt, Litten», einfach oder in Zu-
sammensetzungen : [vff dei* Utten 1421 Buetweiler, an der
Uten 1453 Bühl, an der Leuthen 1551 Sennheim, an der Ute
1328 Sigolsheim, in Uta 1272 Sulz, in der litten 1441 Zim-
mersheim].
ahd. hlita, Uta mhd. lite «Bergabhang, Halde*.
Liitslaslüx n. Stw.
LiOipä m. Su «Laubbühl».
? ahd. loub mhd. loup «Laub»; oder der PN «Lau»
MA Loi?
LiOiyariet, Loiyaraijk pl. S, Loiya m. Linthal-
Lautenbach. Im Gebweilerthal spricht man L ä i a / a La i a y 9,
mit stark gutturalem y. «Lauchen» [jm lauchen , . , in lochen
— 132 —
1496.] Die am «Lauchenkopf» (bei uns: Kl^nskhopO ent-
springende «Lauch» heisst [Loffichia . . . Loffcia . . . Lor-
faha 728 Lauf aha 8i7 apud aquam Louchach 1259 an der
Lochen 1369, u. s. w.]
Aug. Stöber (Rev. d'Al». 1854, 87 ff,) erklärt da$ Wort
durch walo-celtisch Clwch «Fiuss, Zusamnienfluss», und fährt
noch an : I o u g h im gaelo-celtischen «Sumpf», loch 1 1 w c h
im walo-celtischen «See» bedeutend.
Lotd f., als GN = «(schlechte) Hütte aus Reisig oder
Brettern», im ON Sälpietarlots M.
? ital. 1 0 g g i a .
liOX n. in: Khölaloy S, Otarlo}^ Hü^arlo^r
Lo)fmes Su, Holoy Stw. «Olterloch, Hunger-, IxK:hmi.ss».
Im OE viel «Loch, Loch-, Löchlein», die teils zu ahd. loh
mhd. loch «Verschluss, Gefängnis, verborgener Aufenthalts-
ort, Höhle, Loch, Oeffnung», teils auf ahd. lö loh mhd.
looch gehen dürften. S. Lyoy und L ü n.
Luierspa m. \V. i. Th. (-Gü) St. »Luefersbach«. [Wemher
de Rothe von Luuersbach 13. Jh., u. luoverspach ....
luverspach .... Itiofersbach 1278-1493, pn l^fferbach 1452
lüferspach 1456, vor am Lüferspach zu Gunspach 1472].
-lün in Pvdylün Su. «Buchlohn». Daneben hat StolY.
noch einige «I^hn, -lohn» : [lonpach 1418 Rimbach-Zell, Ion-
graben lograben 15.*fö Obermichelbach, im lungen lo 1361,
;m langen Ion 1374, am langen Idn 1489 Fislis-Bettlach].
lün ist dat. pl. von ahd. mhd. lö loh, welches «Wald,
Gehölz» bedeutete. Bei den hessischen ON erscheint dieser dat.
pl. in vielen Formen. Ein Buhlen bei Waldeck wurde ge-
schrieben : Buohloha 850, Buoclohon 1074, Boclon 1126, Bulon
14. Jh. (Arnold, Ansiedelungen u. s. w., 117. 119. ün>er
P y e y 1 ü n =r= daher «Buchwald- . S. L y o y .
Lüntap^l (L ü t a pe 1 ; GMA L ü t a p 6 1) zwei Senne-
reien unweit des Honeckkopfes. Tit^lüntapel, ein Doppel-
wasen, liegt in der Gemarkung von Stossweier, Waislütepe 1
(franz. Montabey) liegt jenseits der Grenze. — Lütapä
Su. — «Deutsch-Lundenbühl, Lundenbühlrein. Lundenbach>.
LykSTvarp f. M «Luxwerb». Daneben noch einige
Lux-» im OE [ob dem lovcchsberch 1278-1493 Walbach].
? ahd. mhd. luhs MA lyks »Luchs»; oder PN «Lukas.
MA Lyks.
Lyoy, Lyo, Lüy, Lü, n. Ml M B L Stw [zu Loch . . .
zue lochen 1339] Hfelwarlyo S Lyoymatla Lyokas
— 133 —
Pr^illyo M, .Ranilü;r Litslasluy Stw. «Looch, Loh-
matt, Breitlau, Helberloh, Remloch». Ausserdem gibt Stoff, eine
Anzahl «Loch, Loch-» aus dem OE [zue looch . . . zue lauch
18. Gebweiler] und einige «Loh, Loh-» [in der lochen 1537
Sennheira].
ahd. mhd. lö loh n., welches in Hessen (in vielen Ab-
stufungen und Abschleifungen) so liäuüg vorkommt dass W. Ar-
nold (S. 117-119) es geradezu zu einer der uralten Bezeich-
nungen für «Wald, Gehölz« statuirt. Siehe Lün, Pyeyiün)
— Für einzelne ON könnte man auch mhd. lochboum «ein-
gekerbter Baum» (zum Bezeichnen einer Grenze oder des Stehen-
bleibens) von ahd. lahha «Einhieb» heranziehen; «Loch,
Loche» war im mhd. geradezu ein «Grenzbaum», sogar ein
« Grenzgraben». —
Lyspe m. Lyspapürne, Lyspawasla S. Vgl.
L i s am es.
Lytapä n., M-Ml und (das DorO •Lullenbach» [Luten-
back , 1120 , Litten bah . . . Lutinbah 13. Jh. , Lutembach
1456, Lautenbach 16. Jh.] [[Lauttebach, Lautebach Kirchenbb.
von M 1574 ff.]] Stoff, hat aus dem Oberelsass noch einige
gleichnamige ON [vnder der lutenbach 1453 LinthalJ.
ahd. hU (hlüt, hluda) mhd. lut MA lyt «laut, laut-
tönend» ; der «lautende Bach».
91.
Mäk'äispari Su, « Mageisberg». Vom FamilienN -Mägei,
Mägey», der im Thal vorkommt.
Mänspari m. Su [am Mannsperg . . . mansperg 1456]
«Mansperg»^ Im OE 3 «Mans-» [Manspach 1151 «das Dorf M»,
Mansperg 1569 Niederburbach].
? PN Manno.
Mäntik m. Stw «Montag». Im OE noch 4 andere
[möntag weg^ mentag weg 1573 Nieder muespach], — « Montag i,
n., ein ehemaliges Flächenmass.
Mariepürna M. Mariaho'f B. Stoff, hat 15 «Maria,
Marien-».
-Mät f., kommt äusserst zahlreich vor Metle Lyo-
matla Tornämäta Eimapämatld Mörlasmät Wit-
mäta Slifmät PfyülmätRosmätPaymätau. s. w.
allein in M. Die in den anderen Gemarkungen vorkommenden
— 134 —
Mäta aufzuzählen ist unnöthig. Es sei nur bemerkt dass das
Eschbacher Mätia hierher gehört, und nichts mit i Mittlach*
zu thun hat, wie Messtischblatt 3660 falschUch schreibt und
Stoff., neben dem richtigen «Mattlein» auch noch will. Beleg
nur für Pr^itmäta S [de agris apud breitenmatun 13. Jh.
ze Breitmatten 1339]. Im OE viel «matt, -matt», u. s. w.,
l'W att^ -mattey -mettlin].
mhd . mate, malte «Wiese» . Unsere MA kennt nur
das einzige Appellativum mät, f.
MatsarM n. [a villula que Mezerol dicitur 817 Meterol
824 Mecerol 12. Jh., Macerol 13. Jh. de Mezzerol ... in
Mezerol , . . de Mizirol ... in Mezzeräl 13. Jh. Metzeral
1408] [[Metzeral Metzerall selten Metzer ahl Metzral Kirchenbb.
von M 1574 ff.]].
? PN Mazo. — Arnold leitet die in Hessen zahlreich
vorkommenden ON mit Metz- von ahd. mezan meizattj
•schlagen, metzgen» ab, und denkt dabei an heidnische Opfer-
plätze. — Ob bei der Endsilbe an ahd. äl öl «Sumpf« zu
denken ist?
M^iersp^l S Mäidrsprü/ Su, Meiarhöf M [zu
fronhoff 1456] [[der Meyer vffm Hoffe, vffm fron hoffe^ fron-
hoff 1574-1600, auff dem Meyerhoff 1668, landspurgischer
Meierhof 1716 Kirchenbb. von M]] Mäiarhoft Gr. «Meyer-
bihl, Meyersbrochen, Meyerhof». Im OE 30 «Meyer- Meyers-«
[in Meyersberg 1492 Hohenrodern, bi dem yneiger tunjie
13. Jh. Meyenheim].
ahd* meior, meier mhd. meier, meiger «Bewirt-
schafter, Pachter, Oberaufseher eines Gutes».
Meliyrüs m. S «Milchrunz».
ahd. miluh mhd. milch.
M^lm^t Ml M E H M^lmäta Haim^l Gü, MeU
akarM, M^lwält Wasserbg. Stoff, nur «Muhlmatt». Im
OE eine Unzahl «Mühle, Muhl-, Mühlbach [alte Belege: mühl-,
mullin, 7nüllen--j mit, miel, mulli, mühle],
ahd. muli mulin, mhd. mül müle.
Mebsia m. Su. «Mülmen». MTB 3660 falsch «Mulwen-
wald».
Melpe n* das Dorf «Mühlbach» [[ad Melin ecclesiam S9^]]
[capella ad Mulebac 1057-1072 ... ad amnem qui muleback
nominatur 13. Jh., Albret de Milbach 13. Jh., die zelte zu
Mühlbach 1339, Mxilebach 1407, Mulbach 1456] [[Mülöach,
einmal Milbach, Kirchenbb. v. 1574-1600]].
— 135 —
? ahd. muH mwh'n, mhd. mül müJe, — Die hessischen
ON Miehien [Milene 1132 Milen 1326] und ähnliche be-
treffend, verweist Arnold auf das keltische melin «Mühle»;
irgendwelche Erklärungen im Deutschen seien kaum zulässig (?).
Meni/pari Mr [apud munchenberg 13. Jh. «Münch-
berg».
Im OE viele einschlägige ON [M^nchhusen 1250 Ensis-
heim, Munickhoven 1458 Niederaspach].
ahd. munich mhd. münch, mönech «Mönch*.
Menster n. (Maistar in GMA), die Stadt «Münster»,
die ihren Namen vom monasterium oder Kloster erhalten
hat, welches um das Jahr 660 am Zusammenfiuss (C o n-
fluens) der beiden Haupt-Thalbäche enstand. [ad monaste-
riolo Confluentis 673, ad manasterio sancti Gregor ii , , . in
ipso monasterio Confluentis 141^ u. s. w., Gerhardt militis
de Munster 13. Jh. . . . Münster in sant Gregoriental 1339
Clara de Münstre 14. Jh zu Monstern 1524, u. s. w.]
Menätartäl (Mä j std rtäl) das «Münsterthal» [in valle
Sancti Gregorii 1235, vallis sancti Gregorii 13. Jh., in
Münstertal 1339, Monsterthal 1434, Vaux de Monstier 1594].
— Maistarmät, MI. M^istörwai M Men^tarwäi Gü.
— ahd. klang das lat. Wort munustiri munustri mhd.
m ü n st e r.
In der romanischen MA der Bewohner von Ober- und
Niederhütten, im oberen Kaysersbergerthal, hat man zur Be-
zeichnung von «Münster» den Namen Wormat^i. S. Schluss-
bemerkungen Nr. 7.
MSrlesmät M. Stoff, hat nur «Merle .... Märleweiher
Öderen, und «Merlerunz» Ober-Ürbeis.
M^rtsäkar Mr, M e r t s a p r ü n 9 Gü. Im OE über ein
Dutzend «Merzenbrunnen» [uf mertzen brünlin 1471, bi dem
merzelburnen 14. Jh. Zimmerbach , zu mertzenborn 1488
Wettolsheim].
? ahd. marzio mhd. merze «März».
? oder PN Meginhard,
Mes f. Häiwalmes Fryomes Lätimes R6t-
Idsmes S, firalmes (firlames) Rüntmes Khük-
lä^t^^^s P6st(o)mes Khäl warmes Witamesla
Lä^kmes MI, Lisamfes Hämalmes Nüiwäimes
Aftarmes B, Ferstmes MI-La Bresse [fursztmusz 1594],
Mysmes Präitmes Loymes Myrholtsmes Por-
matsmes ti Mesa Su , Hüntsmes E Präitmes
Hüntsmes Tsantnarsmes Stw.
— 136 —
Bei Stoff., soweit er diese ON hat : «Eibelmis, Fro- Erlen-
Breitmiss», u. s. w. Er hat weiter noch über ein Dutzend «Miss,
-misse» [die hinder miecz 1550 Ranspach, Missmath 1567
Rimbach ; inn ein TobeU, ist ein mosz oder Riedt, haist die
rote Miesz 1550 Krülh].
mhd. mies, moos, mos, MA mes «Sumpf».
Metelpari M H Metalp^l Su E Metalpe Gr. Stoff.
Citat [de prato in Mittelbach 13. Jh. B] dürfte auf einen «Mittel-
buhl» in B. gehen, der jetzt verschollen ist, aber noch im
Taufbuch von 1712 vorkommt. «Mittelberg», -bohl, -bach». Im
OE sonst noch recht viel «Mittel-» u. s. w.
ahd. mittil mhd. mittel, adj. «in der Mitte be-
findlich».
Metara m. Su, «Mittern».
Metlä n., Annexe von MI (&. A).
M etl 9wält Su,. «Mittlach», «Mittelwald».
Daneben im OE noch «Mittlachmühle» zue Mittelach 1302
ze Mittela 1371 Mittlo 1480 Colmar] und «Mittelaue» [mittel ow
1516, die mittel auw 1547 Dammerkirch].
ahd. mittil mhd. mittel *m der Mitte befindlich».
Maxalmätri^s m. S Meyalmyr Meyalmät f. Stw.
[in michelen gernure 13. Jh.] «Michelmattrunz, Michelmur».
Daneben hat Stoff, noch etliche «Michel-» [Michelbach 1105
Michlenbach bi tanne 1460 das Dorf dieses Namens ; niicheU
velt 1265 Sankt-Ludwig;.
michel mhd. ahd. «gross».
Mishäimla n. Su, Stoff, und MTB 3660 falsch -Miss-
heimle», mit SS oder kurzem t.
? M.\ mis pl. von mys «Maus».
Mokaäkar B.
? MA moka m. = «Brocken, grosses Stück» l)ezw.
«Erdscholle».
Morts, ausser Brauch kommender Name von Le Valiin,
nördlich von der Schlucht, im französ. Departement der Vogesen
[[MoriSj MortseCy von Morlsen Kirchenb. von M. 1574 ff.]]
Mortskc^s Stw., Hohlgasse in der Richtung von Le Vallin-
Morts.
Miilt f. M. Eine tiefe Stelle in der Fecht.
mhd. mulde «ausgehöhltes Gefass» ; MA mült »Bix)d-
mulde".
Müslaspari Slw\ [Curia Muschardi 13. Jh.] «Musch-
lesberg».
— 137 —
MyoresprÜTjk m. B., «Morenspning». Im OE einige
•Moren-» [Marren- Morenveldt 1568 Sondersdorf, Mohren-Feldt
1605 Wiltenheim, gen Morsote 1489 Herlisheim].
MA myor f. . «Multerschwein, Zuchtsau» mhd. möre
(eijrenll. «schwarze» von maurns) «Sau».
Myr (üf ter) S, uf am Mirla n. S, ti Wismyr Ml,
W i s m y r S-Linthal, M e y a l m y r f . ' Ijn michelen gemure
13. Jh.] Käl eism yra Ali km y r a Reqkmyr Stäinmyr
Slw, M y r p ä M y r h o 1 1 s m e s Su. Bei Stoff. ■ VVeissemauer,
Michel- Ellig- Steinmur Murhach und falsch «Miihlholzmiss» ;
für letzteres schreibt auch MTB 3660 falsch «Missholzmiss».
— ahd. raura, muri mhd. mure mi\r «Mauer». Unser
MA myr f. bezeichnet auch die naturlichen Steinwälle und
Sfeinanhäufungen.
Myrlospari m. Su «Murlesberg».
Mysmes f. Su, «Musmiss». In Oberhütlen «Manis» j?e-
nannt, weshalb Stoff, für letzteres falsch einen besondern Ort
statuirt. Vgl. M is h ä i m 1 a.
Myür (am), M y ü r a 1 o y M, M y u r m ata B [hedina de
prato mure 13. Jh.] Meärmäta W. i. Th. [jn den mttren
1462] Myürapä S. «Morbach, Morenloch, Muer, Muermatten».
— Vgl. GMA Myiirfalt das «Moorfeld» der Gemarkung
Lauten bach-Zell [morchenfelldt 1550] , welches fast überall
falsch «Mordfeld» jiesch rieben wird.
Sloff. hat einige «Muer, Muer-» [im Mver 1538 Betten-
dorf, in dem mure 1421 Carspach, im mur .... mcr 1489
Sulzmatt].
mhd. muor «Sumpf»; ebenso MA m y ii r, müär.
X.
Einige Bemerkungen
znr schriftstellerischen
Behandlung der Mundarten
durch Beispiele aus dem Münsterthäler Dialekt
erläutert von
J. Spieser.
I.
V iele, meist einsilbige, Wörter nehmen in unbetonter
Stellung im Satze eine kürzere Form an, indem lange Selbst-
lauter verkürzt, doppelte vereinfacht, kurze zu 9 verflüchtigt,
und Endbuchstaben abgeworfen werden. Da es mir scheinU
dass diese Thatsache von manchen mundartlichen Schriftstellern
nicht immer genügend beachtet, und vielfach die volle Form
für die abgestufte gesetzt wird, so halte ich es nicht für über-
flüssig, einmal darauf hinzuweisen, indem ich ein Verzeichnis
der Wörter gebe, die in meiner heimatlichen Mundart obigem
Gesetze unterliegen.
aem, am ihm ; an, ä an ; aen, e in ; aena, * na i/in, ihnen ;
ar, ar, ar er; as, s* es (nom.) ; amyol, amol einmal; er, er.
1 Jeder Vokal Tor m, n, I) ist nasiliert, d. h. die Oeffinung
des Gaumensegels, die bei diesen Lauten stattfindet, tritt schon beim
Einsetzen des Vokals ein, was besonders bei langen Vokalen dentlicb
zu kören ist. Bisher habe ich diese Nasalierung nach dem Vorgehen
Mankels nnbezeichnet gelassen, hier bezeichne ich sie bei langes
Vokalen.
2 Nach Yoransgehendem s «es», z. B. was es mäyt; mä^t s at ?
ploys es!
— 139 —
ar ihr (1. dat. sing. 2. nom. plur.); ^r, er ihr (pron. poss.);
es, s* es (acc); fän, fä von\ P^r, fer für; för, for vor; haimer,
hani9r haben wir; hiets, hets jetzt; 1%, i, 1. ich 2. euch; jyo,
jo ja; kaimar, kamar geben tmr ; ki^, k^ i. gehen 2. gen;
kyüt, kül* gfwt ; ni6r, mer, mar 1. mir 2. lütr ; mi, mi meiny e ;
miesa, mesa mu88en ; mix, '^i mich ; n^i, n^i, n^ nein ; nyo,
no nac^; pär, pär Paar; päs, päs Tante ;^ pi, pi, pa* 6^-;
sai, sai segne ; sdeimar, ssemar sind wir ; • s^, se, sa sie ; sj,
si S6tn, e ; si^, si stcfi (acc.) ; so, so sa so ; täna, tana diesen
(acc. s. ; dat. pl.); tär, tar dieser (nom. m. ; dat. f.); tör, ter,
tar dir; tarnyo, tamo, no darnach^ dann ; ti, ti dein, e; tie,
te diese ; ti^, ti dich ; tsyü, tsü, tsa zu ; türiX> ^ur durch ;
ly, ty, ta, — ,* du; tyo, to da; ün, ü, a* und; iis, as uns;
waimar, wamar wollen wir ; w;pna, waena wen ; was, was was ;
w^r, wfer wer; wie, we wie; wyii, wu U'o, a^s. Vergl. ferner
die Zahlwörter 4 — 19 in Mankels Arbeit in den Strassb. Studien
II, S. 136.
II.
Wenn man sich nach der landläufigen Art, in der Mundart
ru Schriftstellern, einen Begriff machen wollte, wie das Volk
wirklich spricht, so wurde man nicht nur in lautlicher Hin-
sicht irre geführt, sondern man bekäme auch vom ganzen
Wortschatz und namentlich vom Stil der Mundart ein falsches
Bild. Fast überall merkt man es den Verfassern an, dass ihr
mundartliches Sprachgefühl durch die in der Schule erlernten
Schriftsprachen getrübt und verdunkelt worden ist, so dass sie
auf Schritt und Tritt Ausdrücke und Wendungen gebrauchen,
deren sich der Mann aus dem Volk, der in seiner Mundart
lebt und webt und sie unbefangen und ohne gelehrte Beein-
flussung spricht, nie bedienen wird. Da begegnen dem Leser
1 Siehe Anmerkung 2 auf vorhergehender Seite.
2 Z. B. küt läw08 mky9 spielen, küta moxjo ! u. s. w.
«
s Veraltet, z. B. ti päs Anamei die Tante Annemarie, «päs» nennt
jetzt meist nur noch das Gesinde die Herrin.
* Z. B. pe tsite früh,
^ Vergl. Mankel a. a. 0., S. 137 unten.
« In den Redensarten hälwe hMp, khisa pryot, kbas& ärt^pfel,
knala fäl, pi liwa Uwe, pi weine water, swärtsi hywo hMslüp (Haube
und Halstuch), t&ke nä/,t, ts^i kritse fatse (ganz zerrissen); achte
dabei auf die Veränderung, die dieses e im vorhergehenden Wort
bewirkt: hälw für hälp, liw für lip, wein für w«it, hyw für hyp,
t&k für t&.
— 140 —
mit geringer Laut Veränderung Wörter wie also, allmäh-
lich, bekanntlich, bedeutend, sofort, in der
That, hof fentlich u. s. w. u. s. w. nicht bloss auf jeder
Seite, sondern zuweilen fast auf je'^^r Zeile, von welschen
Fremdwörtern ganz zu schweigen. Einigermassen lässt sich
das nun damit entschuldigen, dass es überhaupt einem Ge-
bildeten schwer wird, beim Gebrauch der Mundart derartige
Wendungen des Schriftdeutschen ganz zu vermeiden.
Diese Beobachtung veranlasste mich seinerzeit, mir eine
Sammlung von Beispielen anzulegen, wie in der Mundart
meiner Heimat derartige Wörter und Wendungen wieder-
gegeben werden. Die Sammlung hat zwar bisher nach keiner
Richtung irgend weiche Vollständigkeit erreicht ; da ich aber
in absehbarer Frist nicht in der Lage sein werde, sie erheblich
zu vervollständigen, so ziehe ich. vor, sie in ihrem lücken-
haften Zustande zu veröiTentlichen in der Hoffnung, da&s viel-
leicht der Eine oder Andere dadurch veranlasst werde, in
diesem Stück selbst zu beobachten und zu sammeln. Ich be-
merke noch, dass die hochdeutschen Ausdrucke sich keines-
wegs durchgängig oder auch nur grösstenteils mit meinen
mundartlichen Uebertragungen genau decken. Um den Umfang
und Inhalt dieser letzteren fest abzugrenzen, wären zahlreiche
Beispiele notwendig, was aber hier der Raum verbietet und
mein Zweck nicht verlangt.
Da der Wortton bei den folgenden Ausdrücken weder
gleichgiltig noch selbstverständlich ist, so bezeichne ich ihn,
und zwar nach dem Vorgang vieler Phonetiker mit einem über
die Zeile gestelhen Punkt vor der Tonsilbe.
Allerdings frili ; allmählich nyot-nyo; allzusehr -trewar-
newar, tsyü fä§ ; als Jüngling {Jungfrau) 'letjarwis ; also,
folglich wion 'sal e§, e 'tarn nyo, üf -tie ärt, tar'nyo, waia
•tam ; auf der Stelle^ sofort kli/, 'äsafäs, aj-n^tarnyo, pletsli,
ilas ; auf jeden Fall 'älawäi, S9 kawes [se^or] äs -epas, üna
•fälar, 'älamyol, s -fält si nel; aufs Geradewohly üf wyolkd-
•ryot; aufs neue üf 9 'nüis, Ufa fress; aufwärts^ in die Höhe
•ewarsi ; augenscheinlich oik'sinli ; bedeutend äs fepas "es, äs
tar-wärt es ; beinahe sa fil äs 'fepas, sa fil äs 'nit, tsa raya,
fäs, fäs-kär; bekanntlich jo, nöy t ; besonders forä, nä'kär;
bestimmt sa kawes äs 'epas, i/ terf 'r^ta ; bistüeilen, hie und
da tän at -wän, äl'myol, älmol a 'tyr ; damals "salmyols;
da7*um waia 'tarn; dennoch feinawui ; direkt aeis-ka^ks;
durchaus rünt-ys; etwas {gross) -wyol (-kryos) ; fortivährend
ä äim 'stek ; gegen Ende des Jahres -nystsyii; -nyswärts ;
gegenwärtig 'täto ; genau kvdiy üf ta "tüpfa; geschweige
farkswika; gezwujigenerweise ev/dT' inäyi; gleichgiUig •apila»^,
— 141 —
'aejtyün ; grossenteih fil ; hauptsächlich s miörst ; heimlich
«m far'stfekta, näwa'nys ; hoffentlich epa ; iminer noch nicht
•als nä net ; in der That 'sal es 'wyor; in diesem Fall waen
•las ['salj e§ ; iii gewissem Sinn üf '»i ärt ; je nach dem -nyo
tarn; kaum^ schwerlich 'kheimarli, 'pli^sli, 'plüt ü -pli^sli,
s neem mi'wötar ; kürzlich, neulich 'kasnük ; lauter 'itli ;
manchmal ma^myol, älmyol, 'älkapot, älmol 9 'tyr ; mög-
licherweise, vielleicht khä -sa^, s khsent [khä] ka-ryota, taqk-
•wyol, fviiyt ; nach meiner Meinung wie 'i^s fai'stäQ, 'tiyts
mi ; nächstes Jahr Atarjyor ; nati^rlich a-myol, sal -§11;
nennenswert , ordentlich äs äp9s 'eä ; nichtsdestoweniger
'^inawai, waialam-tox ; niclit se/ir 'ne Isa [net S9] kär, 'net
fas, 'ne kryos ; ob wohl? -wutar -e, kho'khä fe; er pflegte
zu sagen dr *het als *ks^it (als umschreibt das Imperfektum
vieler Sprachen) ; plötzlich ewor »isli -myol ; rückwärts
*h£eQai*si, (bildl.) tahfe^a -nä ; scheinbar -ti^^ts eina ; schliess-
lich s l^tSt, am 'ant ; schnell 'weitli, knäl a 'täi, 'kalaeQd,
'täpfdr^ kswa^nt ; so 9sö, üf 'tie ärt, 'täna wäi ; soeben krät,
tar*f6r, hälwars'tsyü ; €S(mdem^ wird durch Voranstellen des
betreffenden Satzes wiedergegeben, zuweilen blas ausgelassen,
z. B. •net ryot, -Swärts; soviel als was; tapfer -retdrli ; übrigens
*khümt mar i, was i 'säka wel ; ungefähr isB'raiXj^, hp^, 9
stekar {ungefähr 4 Tage 9 iä -ßera); verhältnismässig e tar
•sa/ nyo ; vorwärts fer ; wahrscheinlich 'ife äs net, 'älawäi ;
wie man sagt kawos, frili {er soll heim gekommen sein 9r
•es k9we8 [tVili] *heim khüma) ; wie mir scheint kloi, Sints,
•tiyts nii(y); ivie mir eben einfällt noxt.
Druckfehler in frühem Jahrg^ängen.
Die Druckfehler meiner Sprachproben in Jhrg. I sind m
Jhrg. II S. 167 aufgezahlt; die von Jhrg. II in Jhrg. VI S. 145
verbessert. Meine Sprach proben in Jhrg. IV sind druckfehlerfrei.
In Jhrg. V S. 128 Z. 4 ist das i im Wort «rajsd» nachträglich
ausgefallen, ebenso von unten Z. 6 die Akxente im Wort
Käi^, und S. 137 Nr. 55 hinter cl^ia» ein t (löid t aidra).
Uebersehen habe ich dort auf Seite 136 in Anmerkung 4 das
e, ü, ü statt 9, ü, ü in ciür§a, Süns^t, sünSt». In Jhrg. VI
S. 145-153 ist in Nr. 161 das Nasenlauthäkchen unter «hätal»
nachträglich ausgefallen, ebenso Nr. 197 im Worte sa das s (müs
sa hieta). Undeutliche Zirkumflexe stehen Nr. 44 in sata,
Nr. 89 in prötja, Nr. 115 in löia, 117 : häs, 123: rf^yiB, 132:
w^ra, 141 : kär, 189-196 wÄr (mehrmals), undeutliche Gravis
152: khä, 190: w6is. In Jhrg. VII S. 176 Z. 22 habe ich
irrtumlich ctsan> statt cts^n» gesetzt. Störend sind die un-
deutlichen Akzente in Z. 13 in t^\e* und «Is^rSt».
J. Spieser.
XI.
Mundartliche Sprachproben
aus den Dörfern
TATiebers-weiler, Waldhambach und Rosteig
mitgeteilt von
J. Spieser.
JL/en Stoff zu den nachfolgenden Sprachproben verdanke
ich Herrn Lehrer Stengel in Dehlingen, der mir seine reich-
haltige Sammlung von Sprichwörtern und sprichwörtlichen
Redensarten freundlichst zur Verfugung stellte. Um nicht zu
viel Raum in Anspruch zu nehmen, wähle ich nur aus, was
mir in sprachlicher Hinsicht besonders interessant erscheint.
Herrn Stengels mündlichen und schriftlichen Mitteilungen ver-
danke ich auch Alles, was ich hier über die Mundart von
Wiebers Weiler, seiner Heimat, sagen kann.
Was dem Elsässer Beobachter an dieser Mundart wohl am
stärksten auflalU^ sind ausser dem eigentümlich singenden Ton-
fall, die stimmhaften Mitlauter. Wohl die meisten Konsonanten
sind von einem schwachen Stimmton begleitet ; ich habe dies
in der Schrift aber nur da ausgedrückt, wo dieser Stimmton
ganz deutlich und unleugbar hervortritt. Dies gilt in erster
Linie vom stimmhaften s-Laut, der auch in Norddeutschland
im An- und Inlaut regelmässig gehört wird, und den die
Orthoepisten ziemlich einstimmig für mustergiltiges Deutsch
verlangen. Er unterscheidet sich vom süddeutschen s (und
norddeutschen % ff und d), das ein blosser Geräuschlaut ist^
— 144 —
durch das Mittönen der Stimmbänder. Es ist der Laut, der
niederländischem, englischem und französischem z zukommt.
Da in unserer Lautschrift für den Doppellaut des schriftsprach-
lichen z «ts» steht, so wird ausser der Gewohnheit der Leser,
unter z ts zu verstehen, dem Gebrauch dieses Zeichens für
stimmhaftes s nichts im Wege sein. Auch stimmhaftes 9cfc,
franz. j, im Folgenden durch 2 bezeichnet, wird deutlich ge-
hört in Wörtern wie iwarzi^ aufwärts, füri^iyr vorwärts.
Ob auch die stimmhaften Verschlusslaute &, d, g vorkommen,
habe ich nicht zu entscheiden vermocht. Ich gebrauche daher
einstweilen wie in den übrigen Dialektproben die Zeichen p.
ty k für die Verseht usslaute ohne nachstürzenden Hauch, d. b.
für die süddeutschen 6, d, g ; und p/i, th, fe/i, für die Ver-
schlusslaute mit nachstürzendem Hauch, die man gewöhnlich
im Deutschen unter den einfachen Zeichen />, t, k versteht.
Mit 1 bezeichne ich ein 1, bei dem die Zungenspitze nicht
am obern Zahnfleisch anliegt, sondern gegen den harten Gaumen
gedrückt wird.
Unter den Selbstlautern macht dem Ungeübten beim Nach-
sprechen ein eigentümlicher Zwischen laut zwischen ü und u
grosse Schwierigkeit, der etwa norwegischem oder schwedischem
u nahe kommen dürfte. Die Lippen werden dabei wie })ei u
oder u gerundet; während aber bei ersterm die Vorder- und
bei letzterm die Hinterzunge in ihre höchste Lage gehoben
wird, geschieht dies bei dem in Rede stehenden Laut mit dem
mittleren Zungenrücken. Da wir für den Laut des hochdeutschen
ü in der Lautschrift das Zeichen y gebrauchen, so wähle ich
das dadurch frei gewordene Zeichen ü für diesen Zwischenlaut.
In Ermangelung eines besondern Zeichens setze ich ü auch da,
wo es, zwischen Selbstlautern, zum Mitlauter geworden ist und
sich englischem w nähert.
Zum «singenden» Charakter der Mundart gehört es, dass
gegen Ende des Satzes die kurzen Vokale halblang werden, und
auch auf die Konsonanten mehr Zeit verwandt wird, als ich es
von meinem heimatlichen Dialekt gewohnt bin.
Zum Vergleiche füge ich die lautlichen Abweichungen der
Waldhambacher und Rosteiger Mundarten bei, ohne Rücksicht
auf das Vorkommen der betreffenden Redensart in Wh. u. R.
In der erstem Mundart macht das r die schon Jahrgang VII
S. 175 und Jahrgang V S. 134 von mir erwähnte Schwierigkeit.
Nach längerer Beobachtung bin ich zu folgender Ansicht ge-
kommen. Ganz alte Leute sprechen noch wohl überall Zungen-r.
Leute von mittlerem Alter sprechen Wörter wie Wirt, wird,
Garten, Dorf, fort: weot, wa?8t, köata, töaf, füat aus,
während sie wör, rör, rar, pyr (geworden, Rohr, rar, Bauer
— 145 —
= Pferdebesitzer, Fuhrmann) im Auslaut mit einem r sprechen,
das nur wenig schwächer als das Auslaut s-r ist. Das jüngere
Geschlecht verwandelt alle nicht durch einen nachfolgenden
Selbstlauter geschützten r in a oder wirft sie ganz ab. Ja Ein-
zelne, und ihre Zahl nimmt stets zu, machen aus dem r ein
volles den Wortton tragendes a, vor dem der Selbstlauter zum
Mitlauter wird, oder mit ihm einen aufsteigenden Diphthong
bildet. Nach dieser Aussprache kommt wöa (wüa?) geworden
dem französischem "Wort voix sehr nahe.
Wir haben also hier Gelegenheit, einen Lautwandel in
seinem Werden zu beobachten, einen Lautwandel, der, soviel
ich sehen kann, durch keine äussern Einflüsse, etwa durch eine
für vornehmer geltende städtische Mundart hervorgerufen ist,
sondern der einer innern, in der Natur der Sprach Werkzeuge
liegenden Notwendigkeit folgt und denen, die ihn mitmachen,
nicht zum Bewussisein kommt, (vgl. z. B. dasselbe Schicksal
des r im Englischen). Man wird daher, weil die Mundart noch
in der glücklichen Lage ist, sich von innen heraus ungestört
fortzubilden, wenigstens in lautlicher Beziehung nicht wie in
meiner Heimat die Sprache der Alten als die für den Ort be-
zeichnende darzustellen haben, sondern eher die des jungem
Geschlechts. Darum lege ich diese im Folgenden zu Grunde,
Von der Rosteiger Mundart will ich hier nur die eine Er-
scheinung besonders hervorheben, die ich auch anderwärts
schon häußg bemerkt habe, dass nämlich auslautende lange
Selbstlauter nicht bis ans Ende ihre Reinheit bewahren, son-
dern etwa im letzten Viertel ihrer Zeitdauer in den Mischlaut
a ftbergehen, indem die Zunge aus der betreffenden Vokalstellung
in die Ruhelage zurückkehrt, während die Stimme noch fort-
tönt, z. B. ty9 du, pÜ8 Knabe, söa so, knia Knie.
Aus Mangel an besondern Typen habe ich etliche kleine
Lautverschiedenheiten unbezeichnet lassen müssen. So sind
die beiden ch -Laute (ich, ach) durch dasselbe Zeichen
5^ dargestellt. Der ich -Laut ist nicht nur nach Vorder-
zungenvokalen und Konsonanten zu sprechen, sondern auch
nach dem r- vertretenden a (z. B. in tüa/ durch). Dieses a hat
auch auf den vorhergehenden Vokal Einlluss, in dem es Hebung
der Zunge bewirkt, so nähert sich ed einem ed, aea, einem ea
u. s. w. — Das i klingt in Rosteig und Wiebers weiler oft nach
e hin, ohne diesen Laut zu erreichen. Da ich etwas Sicheres
darüber aber nicht auszumachen vermochte, so sehe ich einsl-
^veilen noch vom Gebrauch des Zeichens i ab. — In Wald-
hambach und Wiebersweiler kommt das d dem schriftdeutschen
et näher als sonst im Elsass. o steht zwischen ä und o. —
10
— 146 —
Mit <(5» und «oe^» bezeichne ich geschlossenes und offenes öy
wie ersteres allgemein deutsch in «König» oder im franz.
<K p e u », und letzteres nach norddeutscher Aussprache in
«ckönnen» oder im franz. « s e u 1 » gesprochen wird, cob»
ist ein Laut, den man bei erstmaligem Hören nicht leicht von
ca» unterscheidet, ein cca» das etwas nach <oej» hinneigt.
Um den eigentümlichen Tonfall der Wb. Mundart zu
veranschaulichen, hat Herr Stengel die Güte gehabt, nachfol-
genden Sätzen musikalische Noten beizufügen :
1^ j g g m ;' r j^ ^lHhM^-^Hf
i
im zeit to;if we ix z6u. wtl khümst ti h^t
es ist 80. Und es ist doch wie ich sage. Wo komniBtBm her?
ik zeit ez6.
^-4Hf-^-l^
/TS
t
i
\?==^-
wü khümit t9
Wo kommst du
h^r? h6n iy ne/t o - tar net?
her? Habe ich recht oder nicht?
^t\
t
-^-
X
3
4:
t
■^-
hÜt tin mttl! phäk ti;^ ^i^^s!
Halte deinen Mund! Packe dich hinaus!
tö khüm h^r:
Da komm her!
6 k^t tor kr&t we z» - lüm füks; wi tifer üwd
Es geht dir gerade wie je - nem Fuchs; als der auf ein
1& - plät kaiprim est ün h^t kamsent, zeit a pj6r,
Laubblatt sprang, und meinte, es sei eineBine,
^^
t
t
^
t
*
T
hat ar ka - zät: „i;^ hffit di;|r to;^ net ka - fnes,
sag - te er: „Jch hätte dich doch nicht ge- fressen.
w
^
f
:?5:
V-
Ur
_y ^ ^ ^ ^ 1^ '
im wön ta a p6r ka - waen wörst!"
selbst wenn du eine Birn ge-wesen wärest!"
1
— 147 —
I.
4. 'Wb. taer mäxt a kazi/t, äs mar zix fablet.
'Wh. > » )) kse^t, » ma sex f*^*«
R. 2> » » ksi^t, täs mar six farixt.
Der macht ein Gesicht, daas man sich fürchtet.
oder : we wön ar ta ^six äla kazof haet.
wi 1» a D i> :» ksof i^
:» y/än ar d 9 » > hM.
tri« wenn er den Essig aüen gesoffen hatte.
oder: we trei tä rseiawaetar.
wi » 5 » waeta.
» » » » waetar.
voie drei Tage Regentoetter.
2. A?Vb. mar msent, mar müs üf tar zöü fürt, ün wön khaen
"WTi. ma » ma » » ta söy füat, » » *
R. mar » mar » > tar söü fürt, » wän »
3fan meint, man muss auf der Sau fort, auch wenn kein
fsbrkal em Uä\ e§t.
faeakah > :» es.s
farkal 2> :» };»
Ferkel im StaU ist.
3. "WTd. tö maent mar tox, mar mest pet stiwla ün §pöra
TTVli. t(N }» ma » ma )) met }i> » :»
R. tö xy mar » mar müs » j» > ipöra
Da meint man doch, man mius mit Stiefeln und Sporen
oder: pet Sü ün §tremp
met D ]!> j»
» sy » »
mi^ Schulden und Strümpfen
oder: pet ta f(6s tren spreqa.
met )) 9 j» ]»
]» i> fis :» })
mit den Füssen drein springen
4. Wb. tö zol tox ^^^X *®r tünar tren §l^n.
"Wh. tö sol » » ta tüna » sicfewa.
R. iö :» i> kWiy tar tünar i> Slän.s
Da aoK doch gleich der Donner drein schlagen.
1 In Wh. sagt man hier gew. csw6nt8> {Schwanz).
2 «est» hört man in Wh. noch oft bei alten Leuten, bes. am
£nde des Satzes.
3 Andere Infinitive auf n sind in Rosteig ausser hkn haben,
ksen geben, k§n gehn, ksln sehen, sen sein, stdn stehen,
tfkn thun, noch: flin fliegen, frön fragen, kr6n kriegen,
lin lügen, lyn schauen, pin biegen, ryn ruhen^ s&n
sagen, trän tragen, tsin ziehen, win wiegen, wägen.
— 14« —
5. Wb. löü, iy mgen, iy müs tar ta khop arä ris9.
Wh. low, ey » ey » le » >> » »
R. lye, ix » iy » lar * » arüniar reisa.
5c^u, icT^ meifie, ich muss dir den Kopf herunter reiuen,
6. Wb. wer z a wünar, won i^ tiy^ taet prün ün plö sl^n?
Wh. waea s » wünta, » ey tey » pryn » i sldfewa?
R. waer » » wüntar, wän iy tiy » pröün » plöa slän ?
Wär'8 ein Wunder, wenn ich dich würde brcuin und blau
schlagen,
7. Wb. täs k^t äwar toy iwar s ponal^t anüs.
Wh. tes D äwa » iwa » ;d anys.
R. ^ » äwar » iwar j» pönalit anöüs.
Das geht aber doch iiber das Bohnenlied hinaus.
8. Wb. pi taem hat z ^If kawörf.
Wh. » » » s » kawöaf.
R. p^i » » D 61af kawärf.
Be» dem haVs 11 geworfen (er ist im Begriff drein sn
schlagen).
9. Wb. taer zetst älawil um hoya phaert.
Wh. taea seist d üf um i> pha&at.
R. taer » älawfeil üf am höya pha§rt.
Der sitzt immer auf dem hohen Pferd.
40. Wb. taer zetst kliy üw um özal.
Wh. taea setst » üf » fesal.
R. taer » kleiy ^ am ^sal.
Der sitzt gleich auf dem Esel (ist gleich beleidigt).
11. Wb. en taena färl z anen we süts.
Wh. » )> föal s » wi a »
R. 3) « färt jD » » » syts.
In den fahrfs hinein wie ein Schuss (Jähzorn).
12. Wb. las est a raeytar tsörijal {Zornigel).
Wh. tes es » raeyta tsoanijal.
R. » » » raeytar Isärnikal.
13. Wb. taer waes zin tsör khaeii eq (Ende).
Wh. taea » sim tsöan » a?Q.
R. taer wais seim tsäni » aent.
14. Wb. won laer em tsör est, röst ar we weltas ter.
Wh. » taea(r) » tsoan es, » a wi a » t^.
R. wän tfer » tsärn » rast ar » j ji t^r.
15. Wb. taer hat üf ta ts^n kakrekst fön tsör.
Wh. tsea » » » d kakretst » tsöan.
R. taer j) j» » » kakrilst fün tsärn.
— 149 —
16. Wb. ix krfei fön lütar ts6r nöjr la swentzü/t
Wh. e^ kr6 » lyta tsoan » t swentsü^t
R. i^ kr6a fün löütar tsärn noy j> Swentsy^t
Ich kriege vor lauter Zorn noch die Schmndiucht
ön ta häls.
kn » hals.
an den Hals,
17. Wh. mar msent, taem est a lüs iwar ta Ijfewar kakräwalt.
Wh. ma » » e§ » lys iwa t laewa >
R. mar >> » » » löüs iwar t Isewar »
üfan meint, dem ist eine Laus über die Leber gekrabbelt,
18. Wb. mar maent, taer hat a pöpa n em hern {Käfer imHim),
Wh. ma » laea » » » » hean.
R. ma » taer » » » n » hern.
49. Wb. wön ta nüma w6rst, wü tar pbaefar wäkst !
Wh. » » » waeas, » ta phaefa "p
R. wän t » wij§r§, wy (wi) tar phaefar »
iiO. WT). wärt, taem wel ij( tsa^ia, was trfei sbrpsa für a pre ken I
Wh. w6at, » » ey » » » aeapsa » » » »
R. wärt, » » i^ tsaia » » arpsa fär a pr6a kaen I
Wartj dem will ich zeigen, was 3 Erbsen für eine Brühe
geben!
iM. "Wb. wärt, iy wel tar sün ta Stära Staey^.
Wh. wöat, ex » ta » » stöa §taeya.
R. wärt, iy » tar » » slära »
Wartf ich wiU dir schon den Star stechen.
"22. "Wb. wärt nüma, tu phifst nöy üs üman önara lox I
Wh. wöat » ty phiß » ys » öntara »
R. wärt » » phäifs nox öüs aman äntara »
Warte nur, du pfeifst noch aus einem andern Loch!
23. "Wb. täs est tar tesraöl net kaäe^ktldiesma/ nicht geschenkt).
Wh. tes es ta » » ksaei^kt.
R. » » tar tesmöl » i>
24- Wb. tesmöl sl6n ix tar ta khop arä.
Wh. » §lä ex ta » » »
R. tesmöl släa ix tar » » aräa (arüntar).
25. Wb. täs farkabs iy tar net, ün wön iy hünart jör alt waer.
WTi. tes fakaes ex ta » » » ex hüntat ^ » waea.
R. » farkaes iy tar -» » wän ix hüntart jör » war.
i>»ea vergesse ich dir nicht, selbst wenn ich hundert Jahre
a2t werde.
— 450 —
26. Wb. täs zol lar üw um kawesa praena.
Wh. tes sol » üf }» » »
H. 2> » ]» )» am » »
Dies aoU dir auf dem Gewissen brennen.
27. Wb. naem tix en ät, tu hast üf tar mil {Mühle),
Wh. » tei » äxU ty hää » ta »
R. » tix » äxt, » Ä » tar »
II.
!• Wb. taBF e§t krop we zöüp6nastro {Saubohnensirok).
Wh. taea(r)eä » wi soyp6aastr6.
H. taer y> i» y> söü »
2. Wb. pi taem in6nt ix net zöuhert zen.
Wh. » » m^yi ex » söyheat sen.
R. p^i » » ix 1^ söühert »
3. Wb. tö khümt mar ön we zöü ema jütahüs.
Wh. tö » ma » wi a söw » jytahys.
R. tö » mar an >» d söüw y^ j^'tahöüs.
4. "Wb. taer est nöx net wsbia zinar hdflixkhaet en ta zöüstil
Wh. taear es i» » waeia sinara h^flexkha§t » » söystal
R. taer n nox * >> säinar höflixkhait 2> » söüsül
wegen
kaspert wör (worden).
kSpöa wöa (w^a).
käpär war.
5. Wb. tas est a krowar läts (Wifaier), a raexlar flöjal, a wüstar ki§t.
YSTh. tes es » krowa > » raexta » » wysta >
R. » :i> » krowar » )» raextar flökal, a wiSlar 9
6. Wb. taer färt aem {Einem) äla iä tsön möl iwar ta näs.
Wh. taea föat » » » » » iwa t >
R. taer färt » yt täa ts^ möl iwar » »
7. Wb. taer löst zix net üf ta ts^wa {Zehen) traeta.
Wh. taea » sex » » t » »
R. taer last six » » » » trseta.
8. Wb. taer §nöütst aena {Einem) ön, äs khaen hünt khsen stek
Wh. taea Snöytst » »»>»>>
R. taer snöütst y> an, täs ]» i^ j i
pröt mS fön aem naema taet.
» » fün » ]» taet.
j
— 151 ~
III.
i. Wb. teer k^t trüf anen we muni (Stier) üf 9 hauhüfa.
"Wh. taea » » > wi a myni » » hdeyhyfa.
R. tser » » y> :^ y> müni > » hauhöüfa.
^. WJt). wön mar taena he^a anüs jäit, khümt ar förna aren.
Wh. » ma » » anys jaeit, » » föana »
R. wän mar » henta anöus jäkt, )» }» färna »
3. Wb. taer hat ta söm en ta aua, ün t^ trekt ar tsü.
Wh. taea » t » » » dewa, » » » a »
R. taer » » §äm » » n awa,» ti >> ar tsya.
4. Wb. §öm tix, tu käst !
Wh. » tex, ty »
R. Saem ti^r, » »
5. Wb. üma pazofana zol a hauwäua üs am v^aei tära.
Wh. * psofana sol a hdeywcfewa ys » » 3»
R. ema > i» )> hauwäwa öüs am wdea >
Etilem Besoffenen soll ein Heuwagen aus dem Wegfahren^
6. Wb. taem kah^ra ta höza kaSpont.
Wh. » höra t hösa k§pönt.
R. 9 ]) ^ hosa kspant.
7. Wb. taer e§t um tfeiwal föm swönts kaääwti {geschabt),
Wh. taea(r) e§ » » » » k§äwt.
R. laer » am )) füm swänts kSäpt.
S. Wb. pi taem eät hop ün mälts farlör.
Wh. » » es » » » falöa.
R. p^i » » » » » farlör.
9. TVb. taer est net za z6ta üu net za piöta {sieden^ braten).
Wh. taea es y> tsa sela » » tsa »
R. taer » » » sita » » » pröta.
dO. Wb. taer löüt e^ar^ix we h^nart^p.
Wh. taea löyt e^arse^ wi e h^natip.
R. taer löüt üntaräiy » » hinartip.
Der schaut auf den Boden wie ein Hühnerdieb.
A\, Wb. taer hat fön tar ünzaniy {wüter^d) khü kafraes.
Wh. taea » » » ünsane^ » kfraes.
R. taer » fün » ünseniy khya »
1 In der Laatyerbindnng wt mass der Ungeübte sich hüten,
<das8 er kein 9 hineinbringt.
— 452 «-
12. Wb. taena zol mar pet fenfe^arkrüt ts^jrs.
Wh. » sol ma met » kryl »
R. » » mar » fenafeqarkröüt tsaiya.
13. "Wb. laem kah^rt ünkapncnti äe§ üfkaläit.
Wh. » höat » 1 ajs »
R. » hört ÜQ 9 » jf
14. "Wb. mar noaent, tser wot Jena pet ta aua tür}fstafe}ra-
Wh. ma » tjea » » met » dewa tüa^r^tx^a.
R. mar » tser » » » »nawa türijr^taeya.
M(tn meint, der woUte Einen mit den Augen durchstecheiL
15. Wb. waer taem e^ar ta klöwa {Klauen) feit, taer est farldr.
Wh. Wcca » » t » fält, taeaes falö».
R. waer » üntar » » » taer > farlör.
16. Wb. taer est üf miy kafäl, we ta foüla (Vögel) üf a il.
Wh. taea e§ » mey kfäl, wi t föila » > »
R. taer » » miy » » y^ fökal 9 » n äl.
17. Wb. pet taem est net kül khöila {kegeln)^ ar wäferft aem ta
Wh. met » es » » » a waeafl » t
R. )) }i> 9 » kC^t khökia^ ar warft 9 i
khüüal« ön ta khop.
khywal » » »
khykal an » i>
18. Wb. wön taer aem en s hüs khümt, zol mar s krits maua.
Wh. » taea(r) » . » d hys » sol ma » > mä^a.
R. wän taer » > > höüs > » mar » kreits »
19. Wb. tö müs mar ziy üs um stäp säfa.
Wh. tö » ma sey ys » staep »
R. tö )) mar siy öüs am stäup »
20. Wb. tair hat ta staerna föm hemal arä kaflüyt.
Wh. taea y> t staeana » » ^ kflüyt.
R. taer » » starna füm himal arüntar kfly^l.
IV.
1. Wb. taer künt khaem mens niks.
Wh. taea » » maens neks.
R. taer :» y> » •»
Der gönnt keinem Menschen etwas.
1 Ohne nachfolgendes Haaptwort wurde es in Wh. lantea
kaprsenti, z. B. tes es a ktiti, a pr&fi !
« Vergl. föüa^ Vogel, rüüal Spielkugel, loeüa^ Legel,
plöüal Klopfholz zum Waschen.
— 153 —
S!. Wb. taer farkünt aem ta münfal pröt wii mdr afest.
Wh. taea fakünt » l(?) »i » » » aest.
R. taer farkünt » ta mumpal j^ wi y> »
Der miasgöfint Einem den Bissen Brot, den man isst.
3. Wb. tö hon iy en a w^spalsnäät kasto^.
Wh. tö » e/^ » » » kstoy.
R. tda han iy ^ » waespalsne^t ^
Da ^&e tcÄ m ein Wespennest gestochen.
4. Wb. tar t^iwal s6rt tä ün nät ön ta lit.
Wh. ta » siat td^w a näyt » » »
R. tar » sert täa ün näyt an » J^it.
Der Teufel schürt Tag und Nacht an den Leuten,
V.
4. Wb. täs est a ra^ytar Süsal (Ohertriehener Mensch).
Wh. » es )) raeyta »
R. tes » » ra?xt9r sysal.
^. Wb. mar maent, taer est kaphekt em hern.
Wh- ma » taea es » » hean.
R. mar j> taer y> kaphikt x» hern.
Man meint, der ist gepickt im Hirn,
3. Wb. iy kläw, taer est pet ara p^ltsakhäp kasos,
Wh. ey » ta^a es met » p^ltskhäp ksos.
R. iy kläp, taer » » » ^ »
IcÄ glaube, der ist mit einer Pelzkappe geschossen.
VI.
d. Wb. taersmörtaemtapr^iümsmülarüm,äwar khaenaanen.
Wh. taeasmöat » » » » »myl » äwa » »
R. taersmört » » » » » möul » äwar » >
Der schmiert Einetn den Brei um den Mund herum, aber
keinen hinein.
^. "Wb. täs e§t a när en zina zäk.
Wh. » es » nöa » sina säk-
R. tes 2> }) när )> s^ina »
3. Wb. taena khön mar waferfa we mar wel, ar fölt älawil
"Wh. » » ma waeafa wi ma » a fält »
R. 1» khän mar warfa wi mar » ar 9 älaw^il
Deti kann man tceffen wie man wUl, er fäüt immer
üf ta fes we khäts.
» t » wi a j>
» » fis ^ ]i^ j)
auf die Füsse wie eine Katze.
1 Veraltet; jetzt meist: <myl fol>.
— 154 —
4. WJt). ta3r tret üf tswö äeltara wäsar.
Wh. taea trat » » » wäsa.
R. tser 3) j) tswöd sültara vrasar.
Der ^rä^^ au/ 2 Schultern Wasser.
5. Wb. taer e§t klät we el (Aal),
Wh. töea es » wi 9 öl.
R. ta3r )) 2) )» » 61.
6. Wb. taer wies, äs tsön phünt rentfla^s 9 p^sdri züp ken.
Wh. laea » » » • > flie§ > » süp »
R. taer wais, > ts^a > » flais » » » >
Der tretss, cfa«5 iO Ffd. Rindfleisch eine bessere Suppe geben
äs tswabi.
» tswaei.
» tswai.
7. Wb. taer waerft a klina fü§ en s wäsar für a kr6sa za fo^a.
"Wh. taea waeafl « » fe§ » » wäsa füa » » tsa »
R. taer warft » klaenar füs » » wäsar fär » » » fä^a.
Der wirft einen kleinen Fisch ins Wasser^ um einen grossen
zu fangen.
»
8. Wb. taer hält zi^r ta pükal züwar.
Wh. taea » se)r » » sywa.
R. taer » six » pykal söüwar.
Der hält sich den Bücken frei (sauber).
9. Wb. taer hat s n6)r älawil üma onara en ta sük kasüt.
Wh. taea » » » » » öntara » » » käut.
R. taer » > no^älaweil eman äntara » » syk k^et.
Der hats fwch immer einem Andern in den Schuh gesdriittä.
10. Wb. taem prü^^t mar net pet um s6rtdr weQka.
Wh. » pryx^ *^^ * ^^^ * siatöa »
R. )» pröüyt mar }» Ji> am söiartör >
Dem drauc^t man nicht mit dem Scheunenthor zu ynnkxn,
IJ. Wb. taer smört ta lit pet 6rüm sbiana §mälts.
Wh. taea smöat t » met » aeiana »
R. taer Smdrt » l^it » » aiana »
Der schmiert die Leute mit ihrem eigenen Schmoiz.
i2. Wb. tasr naemt s net zo kanau, taer lost khäua^ iwar
"Wh. taea » » » so kandey, taea » khywal iwa s
R. taer » » » » kanau, taer last khykal iwar >
Der nimmts nicht so genau, der lässt Kugel übers
holts k^n oder: taer löst Mfa krät zen ün naemt
» » taea » 61f » sen » »
» » taer last ölaf » » » »
Holz gehn der lässt 11 gerade sein uud nimmt
— 155 —
Iritsen für 9 tütsat.
» » » »
Ir^itsfea för » lytset.
13 für ein Dutzend.
43. Wb. taem est s mül en lar rüüw lös kö^.
"Wh. » e§ » myl » tö röy » »
R. » » » inöül » tar ry» » käq.
Dem ist der Mund in der Rulie los gegangen.
-14. "Wb. taem m6nt i^ min mül net e -wüy l^na.
"Wh. » mäyi e}r » myl » » » »
R. » » i)r m^i* möul » » » »
Dem möchte ich meinen Mund nicht eine Woche leihen.
15. "Wb. taem zol mar a märkslos ön s mül he^ka.
Wh. » sol » » möak » » » myl hae^ka.
R. » » » » mark » an » möül »
Dem sollte man ein HängescMoss an den Mund hängen.
16. Wb. t6 klaepart ta köntsa tä we milrät.
'Wh. » klaepat » » » wi a »
R. tia klepert » käntsa täa » » milrät.
Die klappert den ganzen Tag wie ein Mühlrad.
"17. i'Wb. taer Hit äs mar tarpi töntsa khent oder
Wh. taea leit » ma tapi » khaent
R. taer lit täs mar tarp^i täntsa »
Der lügty dass man dabei tanzen könnte,
äs si/ ta pälka p6ia oder: s plö föm hemal arä.
» sey t » » » » » » »
täs siy » » pin » ploa tum himal aräa.
Dass sich die Baiken biegen, Das Blaue vom Himmel herunter,
-48. Wb. taer liit zo stärk äs a phaert, (Pferd) raent.
Wh. taea leit so stöak » > phaeat » (spre^t).
R. taer lit » stärk las y> phäert ^
49. Wb. taer k6t pet niks äs pet liia üf s lönt.
Wh. taea » metneks » metleia > >» »
R. taer > > > täs » lia » > länt.
Der geht mit nicfUs als mit Lügen aufs Land.
20. "Wb. üs taem khent mar tswön jüta maua, im taet toy
Wh. ys » khaent ma > jyla mäya » » »
R. öüs » » mar » » » > » >
Aus dem könnte man 2 Juden machen und toürde doch
nöy a krest iwriy pliwa.
» » > iwrey >
noy » » iwriy pläiwa.
fiocÄ ein Christ übrig bleiben.
— 456 —
21. Wb. taem khön mar niks zdn, taer farfaetart älas.
Wh. » » ma neks sdewa, taea fataetat >
R. » khä' mar > sän, taer fartätart »
Dem kann man nichts sagen, der verschwatzt Alles.
VII.
1. Wb. taer est azo ful, äs ar net kazit {sieht).
Wh. taea e.^ aso fyl, » a > ksit.
R. taer » » fööl, täs ar » ksit.
2. VlTb. taer hat ziy nö^ n4 khaen met klet {müdes GUed)
"Wh. taea » sey » » > > »
R. taer > siy no)r n^a » mitas klit
kamä/t.
>
3. Wb. taer hat zina teka pMts ä net föm safa.
Wh. taea > sina » » ae » » >
R. taer » seina tika ß äa > füm »
Der Äa< «einen (2icÄ:en Peh auch nicht vom Arbeiten,
4. Wb. taer fraesi ün züfl kiit ün tut niks.
Wh. taea fraest » syft > » > neks.
* R. taer » > söüft küt ji > >
5. "Wb. täs est azo rar we mürar§waes {Maurerschweissy
Wh. 9 e§ aso röa wi myrar »
R. tes » > rar » möwararswais.
6. "Wb. taer fart^nt iwar zim §äfa s wäsar net, wü ar treckt
"VSTh. taea fat^nt i\va sim » » iväsa > » a >
R. taer f artint iwar säim » > wäsar > wi ar >
Der vere^tent über seiner Arbeit das Wasser nidU, das
er trinkt,
7. Wb. taer kM äla öwat pet ta h6nara üf ta zaetal.
Wh. taea > > » met > » » » saetal.
R. taer » > nöwat > > hinar » » saesal.
Der gelU jeden Abend mit den Hühnern auf die jSton^
8. Wb. taer khümt älawil -befand we lömi kÖQS oder: weta
"WTi. taea > » > wia» » wit
R. taer > älawäil'lientanö » » lämi käns > >
Der kommt immer nach wie eine lahme Gans, wie die
alt fäsanät.
> fäsanä^rt.
> fäsanä)(t.
alte Fasnadht.
— 157 —
9. Wb. l«r w6r küt nöm tot seka, lö khent mar 16q hew9.
^WTi. ta»a w<l»a » » » * 16 khsent ma » »
R. taer wjer küt nöm » » tö9 » mar läia »
Der wäre gut nach dem Tod schicken^ da könnte man
lang leben,
10. Wb. taem k6t {geht) s we tar zael Snaek (ScÄn^c/ce), te est
"Wh. » » » wi ta ssel >> » eä
R. » » )) » Sielara » tia »
zewa (7) j6r lö^j öma pöm (ßaum) anüf kakräwalt,
sewa 5) » » » » »
siwa jör läQ äma päm » »
ün wi za tarnö arä kfäl eU, bat za kazät : «ila
» » sa tanö » » es^ » sa ksät : »
» » » tarno arüntar )) » » » » «iwar^ila
preQt khaen kiek.»
tut » küt.»
» » küt.»
11. Wb. tö k^t s «khüm iy hit {heute) net, khüm iy morja».
Wh. tö » » » ey » j> » eymöaja».
R. töa « » » iy hfeit » » iy märja».
12. Wb. taer hat nöy net fartönt für en a höla tsönt {Zahn).
"Wh. taea » » » fatent füa » » » »
R. taer » noy » fartint lar » » » tsän
13. Wb. taer waert kaheqkt ^w ar tswöntsiy jör alt e§t.
Wh. taea waeat khae^kt ^w a twöntsey » » es.
R. tier wart » äw ar tswäntsiy jör » »
Der wird gehenkt, eJie er 20 Jahre alt ist.
14. Wb. taer löst niks leia äs a milstain {Mühlstein),
Wh. t«ea )) neks » >> » »
R. taer last » » n » »
15. WTj. iwar taena müs mar ziy zae^a oder: ta zaL-ia spraeya.
"Wh. iwa » » ma sey säßia » sabia »
R. iwar » » mar siy » » » »
lieber den mu8S man sich segnen ; den Segen sprechen.
16. Wb. täs est a spetspü za krös ün hol äs ar est.
"Wh. » es » » sa » » » » » es.
R. tes » » spetspüa » » » » täs » »
2>a8 ist ein Spitzbube, so gross und hohl er ist.
17. Wb. tier zuft, äs ta penza em wäksa.
Wh. tiea syfl, « t pensa » »
R. taer söüt't, täs t » » »
Der säuft, dass die Binsen in ihm wachsen.
— 158 —
48. Wb. für taena est ter waei net prs^t kanük.
Wh. füa » es ta » » praet ^
R. fär » » tar waea » prait kanüa.
J\ir den ist der Weg nicM breit genug.
19. Wb. taer löüt tren \ve tar Sa^arhönas.
Wh. taee löyt » wi te se^ahonsdl.
R. tasr lyt » » tar sentarfaänas.
Der sieht drein toie der Schinderhans.
20. Wb. tas e§t tar tswafeit khär^^smörSmüla.
WTi. » es ta tswaeit khöa^smöasmyla.
R. tes » tar ts^rait khäii^sm^rsmyla.
XII.
Volkstümliche
Feste, Sitten und Gebräuche
im Elsass.
1892.
Mitgeteilt von
Bruno Stehle.
(Fortsetzung.)
Fastnacht.
(^feraulsbach (Kreis Thann). — Über den Fastnachtdienstag er-
zählt ein alter Mann folgendes: Früher wurde in unserm Dorfe am
Fastnachtdienstag in allen Wirtshäusern getanzt. An diesem Tanze
durften nur Männer und Frauen teilnehmen, nicht aber Junglinge
und Jungfrauen. Dabei entschieden die Eheleute über das Wachstum
ihres Hanfes. Sprangen sie beim Tanzen hoch auf, so durften sie
im nächsten Sommer ein schönes Hanffeld erwarten. War es ihnen
aber, wie man sich ausdrückte, c nicht recht in den Beinen», so er-
hielten sie nur kleinen Hanf.
Daher folgendes:
«Du bisch bim Tanze nit hoch g^sprunge,
Drum hasch o kä schena Hanf bakumma.»
Boppenzioeüer (Kreis Altkirch). — Es herrscht die Sitte, dass
an Fastnacht einige junge Burschen im Dorfe herum gehen. Alle
sind verkleidet, und einer Yon ihnen hat einen Korb auf dem Rücken
hängen, um Eier einzusammeln. Dieser Bursche wird an einer Kette
— 160 —
Yon einem andern geführt. Sämtliche singen dann vor jedem Haoie
folgendes :
«Wir gehen das Gassele anf und ab.
Wir battle Eier un' Anke,
D^Mntter isch fo Franke;
Redelstei rot, d' Faldbabe sind tot,
Dr Holzschlegel übers Hüs,
Dr Kuckuck sufFt alli Eier Ü8.>
Haben sie dann viele Eier, so gehen sie in ein Wirtshans und
verzehren sie.
Mittlach (Kreis Colmar). — Am Fastnachtdienstag gehen die
Kinder vor die Häuser des Dorfes und singen folgende zwei
Strophen :
1. «Sida, Sida Fada, um das Hüss, um das Hüss,
^s steht na scheni Frau im Hüss,
Kiachler rüss, oder i schlag na Loch ins Huss.
2. Ffanna, Pfanna kracha,
Dia Kiachler sen gebacha,
Qam mir äins oder zwäi,
Demo gang i weder häim.»
Hernach erscheint die Hausfrau und überreicht den Kindein
Küchlein. Gibt sie aber nur eines, dann singen die Kinder folgende
Strophe :
«^8 bisst (beisst) mi ama Fiasala,^
Hat garn'^ na Kiachala,
^s bisst mi numa na wenig tra,
Hat garn zwai kha.>
Bitschioeiler (Kreis Thann). — An Fastnacht holen die Jünglinge
bei ihren Liebsten die sogenannten Fastnachts-Küchlein und singen
dabei folgende Worte:
«Reiha, reiha Rosa,
D^Kiachla sen geblosa,
D'Kiachla sen gebacha,
I ha si hera kracha,
Kiachla hevüs,
Kiachla herüs,
sVsch a schena Jungfer im Hü&>
Kiffis (Kreis Altkirch). — Am zweiten Fastnachtsonntag wiid
nachts ein grosses Feuer angezündet, und dieses nennt man Fast-
nachtsfeuer. Bis um das Jahr 1830 wurden Reigentänze um dasselbe
aufgefühi-t. Jetzt werden nur noch Fackeln geschwungen. Alte
Leute erzählen, dass ihre Qrosseltern ihnen gesagt haben, man habe
früher einen grossen Strohmann darein geworfen.
Dieser Gebrauch soll von den Heiden herrühren.
1 Füsschen.
« Gern.
— 161 -
Knstsheim (Kreis Gebwtiler). — Es war von jeLer Sitte, am
ersten Fastensonntage das Fastnachtsfener anzuzünden. Am Nach-
mittage yersammeln sich die Knaben des Städtchens. Sie gehen von
Haas zn Haus, die Leute bittend, ihnen etwas zum Fastnachtsfeuer
beizusteuern. Dabei sagen sie folgende Verse: Holz fir a Wolf, a
Stangel fir a firika Bange] und Strauch fir a alti Frau (Holz für
feinen Wolf, einen Stengel für einen feuerigen Bengel und Stroh für
eine alte Frau).
Vor dem Städtchen wird das Gesammelte zu einem Haufen auf.
getürmt. Abends ziehen jung und alt singend auf den Platz, wo
das Feuer angezündet werden soll. Die jungem Knaben laufen mit
Fackeln und Strohbüscheln, die auf Stangen befestigt sind, auf den
Aeckern umher. Plötzlich ertönt der Befehl, den Haufen anzuzünden.
Unter Jauchzen und grossem Jubel wird dieser von den Knaben an-
gezündet. Während das aufgetürmte Brennmaterial brennt, werden
mehrere Lieder gesungen. Ist das Feuer erloschen, so begeben sich
die Teilnehmer vergnügt nach Hanse. Der Gebrauch hat sich bis
auf den heutigen Tag erhalten.
Fastenzeit und Karwoche.
TagöUheim (Kreis Altkirch). — Am Hirschmontag (Montag nach
Aschermittwoch) sind die Frauen Meister. Sie gehen in den Wald,
fallen eine Eiche und verkaufen sie. Das Geld gehört ihnen, wo-
für sie sich in einem Wirtshause belustigen. Auf der Gasse nehmen
sie den Jünglingen die Kopfbedeckung und geben sie erst dann
wiedej dem Eigentümer zurück, wenn dieser sie in eine Schenke
ührt, wo sie auf seine Kosten trinken.
Katzenthal (Kreis Rappoltsweiler). — Es herrscht der Aberglaube,
dass, wenn man am ersten Fronf asten sonntag spinnt, das Fronfasten-
weibchen kommt und das Spinnrad zertrümmert.
Türkheim (Kreis Colmar). — Die Kinder, die in der letzten Fron-
fastennacht geboren sind, stehen unter der besondern Gewalt der
bösen Geister. Deshalb dürfen sie nicht nach dem Angelusläuten,
das Haus verlassen. Auch soll keines dieser Kinder zu irdischem
Glück gelangen.
Türkheim (Kreis Colmar). — Die Nacht des letzten Fronfasten-
iags ist die Durchspinnnacht An diesem Abend kommen die Frauen
zusammen, um bis um 12 Uhr zu spinnen. Mit Anbruch der Geister-
stunde begeben sie sich zu Bett, damit nicht das sogenannte <Fron-
fastenweibchen> zu ihnen kommt. Gewöhnlich gibt es den Frauen
eine schwere Spinnarbeit auf. So soll es einst zu einer Frau ge-
kommen sein Es gab ihr auf, in einer bestimmten Zeit 12 Spulen
zu spinnen. Lange dachte sie über diese unausführbare Arbeit nach.
Da kam ihr der Gedanke, auf jede Spule nur drei «Aetling> zu
machen zu Ehren der hl. Dreifaltigkeit. Als das Fronfastenweibchen
zurückkam, sagte es: «Du hast Glück gehabt!»
Ein Schuster arbeitete mit seinem Gesellen in dieser Nacht bis
JXTDL 12 Uhr. Beim Glockenschlag forderte er seinen Gesellen auf,
11
— 162 —
zu Bett zu gehen, damit nicht das FronCastenweibchen komme. Der
Geselle aber äusserte r «Es mag nur kommen, ich schlage ihm den
Hammer auf den Kopf.» Und er arbeitete weiter. Da trat das
Weibchen herein. Der Geselle stürzte sich auf dasselbe. Plötzlich
war der Geselle Yersch wunden. Man sah ihn nie mehr.
Um das Fronfastenweibchen fem zu halten, bindet man an einen
Stab ein« Gabel und stellt ihn in die ficke vor die Thüre. Daran
sticht es sich.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Am dritten Fastensonntage (auch
llittelfasten genannt) ist die sogenannte Jungfrauenfastnacht. An
diesem Tage wurden früher Kuchen gebacken, die sogenannten Jung-
frauenkuchen. Jetzt ist dieser Gebrauch YöUig verschwunden. In
dem Nachbardorfe Begisheim herrscht dieser Gebrauch jetzt noch.
Bopperunoeüer (Kreis Altkirch). — Am Karfreitag Morgen um
6 Uhr wird neben der Kirche ein Feuer gemacht. Daselbst werden
die Ejreuze, die auf dem Kirchhofe umgefallen sind, sowi« auch alte
Bretter aus dem Kirchturme genommen und yerbrannt. Ein jeder
holt sich dann Kohlen oder N&gel, die darin sind und legt sie in
den Stall. Dies hält den bösen Feind von dem Vieh ab.
Diese Sitte nennt man «den roten Juden verbrennen».
Palmsonntag.
Krüt (Kreis Thann). — In Krnt ist es Sitte, dass am Palmsonn-
tag die Knaben Palmen (Zweige der Stechpalme zusammengebunden
und mit einem Stiele versehen) in die Kirche tragen, wo sie gesegnet
werden. In diese Palmen pflegt man lange Ruten des Hase^nuss-
Strauches zu stecken. Die geweihten Ruten werden in die Viehställe
gebracht, damit durch sie das Vieh vor Krankheit bewahrt werde.
Die gedörrten Palmen werden auf dem Feuerherde angezündet, so-
bald ein schweres Gewitter über dem Hause steht.
Ober^Stdzbach (Kreis Thann). — Am Palmsonntag werden in die
zu weihenden Palmen Zweige von einem Sevenbaum gesteckt (im
Elsass ist die Pflanze bekannt unter dem Namen «Sevi»). Sind die
Palmen nach Hause gebracht, so wird einer von diesen Zweigen in
den Garten gesetzt. Wächst derselbe, so stirbt jemand ans dem be
treffenden Hause.
Kiffis (Kreis Altkirch). — Am Palmsonntag pflegt man Seve-
bäum in die Erde zu stecken, um zu sehen, ob das Jahr ein glück-
liches oder ein unglückliches wird ; denn wächst der Sevebaura.
«0 hat man ein unglückliches Jahr zu erwarten, andern Falles ein
glückliches.
Dieser Gebrauch besteht heute noch.
Kiffis (Kreis Altkirch). — Vergisst man am Palmsonntag die
geweihte Palme in den Garten zu stecken, so kommt der Sakristan
und steckt dieselbe hinaus. An Ostern muss man ihm dann Ostei^
eier geben.
Ist im Sommer ein Gewitter am Himmel, so zündet die Hausfrau
ein Büschel geweihte Palmen an, und der Rauch leitet den Blitz ab.
— 163 —
Ostern.
Friesen (Kreis Altkirch). — Hi«r ist es Sitte, dass die jungen
Barschen bei den Jangfranen an Ostern die Ostereier holen. Die
Mädchen rechnen es sich zur Ehre an, wenn sie die in Bereitschaft
gehaltenen Eier los werden. M&dchen, bei denen die Eier nicht ge-
holt werden, müssen sich schämen und werden damit ansgelacht,
dass sie auf ihren Eiern braten müssten.
Maifest.
OstiMusen. (Kreis Erstein). — FrfLher gingen die Knaben des
Dorfes am ersten Mai in den Wald. Einer von ihnen warde dann
mit grünen Zweigen and Blumen umwunden, so dass man nichts
Ton ihm sah, als das Gesicht, und dieses wurde mit Mehl gepudert.
Dieser Knabe wurde dann von den andern im Triumph durch das
Dorf geführt. Voran ging einer mit einem grünen Baumzweig. Ein
anderer trug einen Korb und sammelte Eier. Diesen mit Zweigen
and Blumen geschmückten Knaben nannte man cdas Maimännchen».
TagoUheim (Kreis Altkirch). — Am ersten Mai führte man einen
mit Blumen und grünen Zweigen bekränzten Jüngling yon Haus zu
Haas. Dieser sang den Leuten den Mai an und erhielt Ton diesen
Wein, Eier und Speck. Wenn er fertig war, gingen alle in ein Wirts-
haas, wo sie einen Schmaus hielten und nachher tanzten.
So war es bis Yor 30 Jahren.
Pfingsten.
Damhaeh (Kreis Schlettstadt). — Das Pfingstpflütterle. — Die
Weidbuben, deren Zahl zwischen 20 und 30 betrug, feierten am
Pfingstmontag folgendes Fest:
Um 2 Uhr nachmittags trieben einige von ihnen die Herden
heim ; die anderen hüllten während dieser Zeit einen ihrer Kameraden
so vollständig in grüne Zweige ein, dass er nur noch ein wenig aus
den Augen schauen konnte. Waren die mit der Heimfahrt beauf-
tragten Buben auf die Weide zurückgekehrt, dann zog der ganze
Tross — in der Mitte das Pfingstpflütterle von 2 Weidbuben geführt
— dem Städtchen zu. Einige derselben trugen Körbe, Krüge und
grosse Weinlogel zur Aufnahme der Gaben. Am unteren Stadtthor,
•durch welches die Gesellschaft einzog, wurden sie von der Dorfjngend
erwartet, und sobald diese das Pfingstpfiütterle erblickte, rief alles:
«Das Pfingstpflütterle kommt, das Pfingstpflütterle kommt!» Die
Weidbuben stellten sich in den Strassen von Zeit zu Zeit in einem
Kreise auf, nahmen den grünbelaubten Genossen in die Mitte,
knallten mit der Peitsche, während das Pfingstpfiütterle gleich einem
Tanzbär in dem Kreise herumtanzte. Alt und Jung freute sich an
^lem munteren Treiben, und alles sang und sprang und jauchzte mit
Die mit der Sammlung betrauten Weidbuben gingen in die
Häuser und erhielten hier von den gastfreundlichen Leuten Eier,
Speck, Würste, Brot, Mehl und Wein. Waren die Krüge und Wein-
logeln gefüllt, so wurde ihr kostbarer Inhalt in ein Fässchen ge-
tragen. Nachdem der Umzug durch alle Strassen der Stadt gemacht
— 164 —
war, begab sich die reich beschenkte Qesellschaft in ein Hans, wo
an demselben Abend noch die Gaben nuter Mithilfe einer Anzakl
geladener Freunde and Freundinnen bei Sang und Klang Terzehit
wurden.
Osthauaen (Kreis Erstein). — Früher ritten die Bauemsöhne am
Pfingstmontag in das Feld. Derjenige, welcher das beste Pferd hatte
und d«r erste war, erhielt als Preis «inen Blnmenstrauss.
Nieder-Beischdorf bei Sulz u. W. — Früher fanden hier wie
anderwärts Umzüge der Schuljugend statt, wobei Eier, Mehl, Speck
und Wein gesammelt und später gemeinschaftlich verzehrt wurden.
Diese Sitte wird jetzt gründlich verhöhnt in der Gestalt des «Pfingste-
dreck». In der Dämmerung der beiden Pfingsttage springt plötzlich
ein mit Reisig um und um bedeckter Junge aus irgend einer Seiten-
gasse auf die Hauptsfrasse; hinter ihm her laufen Gruppen von
Kindern und singen folgende Schmähreime :
«Pfingstedräck het Aerpse gfrässe,
D^Khii un d'Ross im Stall vergässe;
Schlupf unte nüs, schlupf owwe nüss.
Hebb alli blutt un blindi Vöijel üss.
Ganz genau so wird es in dem nahe gelegenen Bübl und in
Lobsann gemacht ; nur tritt in Bühl das Lied in folgender Va-
riante auf:
«Pfingstedräck hat Aerpse gfrässe.
Hat sein Ross im Stall vergässe ;
Reit unte naöüs, reit owwe naöüs,
Heb alli blindi un bluddi Vöijele aöüs.»
In Lobsann :
«Pfingstedräck het Eier gfrässe,
Het dUoss un d'Khii im Stall vergässe;
Fliig unte nüss, fliig owwe nüss,
Hebb alli blutt e blindi Vöjele üss >
Neben Eier und Speck wird hier auch Geld gesammelt, das nach-
her verteilt wird.
In Schleithal findet die Vermummunc; und der Umzug am Sams-
tag vor Pfingstsonntag statt; hier lautet das Reimliedchen etwas
anders^
•■Pfingstedräck hat Hawwere gfrässe,
Hat sei Ross im Stall vergässe.
Hann ir khä Hawwere, bann ir khä KleeV
Allee!»
Dabei balgt sich der «Pfingstedräck» mit anderen Kiiabeo und
wälzt sich einigemal auf dem Boden herum.
Postdorf (Kreis Saarburg). — Umzug am Pfingstmontag. Ein
weiss gekleidetes Mädchen, das Gesicht gleichfalls mit einem weisses
Tuch überdeckt, mit einem Blumenkranz auf dem Kopf und um die
Lenden, wird durch zwei Begleiterinneu durch das Dorf geführt.
1
— 105 —
Ihnen folgt die ganze Schaljagend, nnd vor jedem Haas wird Halt
gemacht anter Absingang des folgenden Mailiedes:
«Der Mai ist gekommen in unser Land,
Bringt ans brav Laab (Laab) in ansere Hand.
Tanz, Marei, da hast gewonnen ;
Ein roter Apfel, ein schwarzer Kern.
Die Frau ist hftbsch and lachet gern.
Bringt ans brav Butter and Eier daher.
Die Fraa ist Meister and aach der Mann.»
Nach dem Lied werden Gaben in Empfang genommen, Mehl, Eier
nnd Batter, and im Lauf des Nachmittags werden im Hanse eines
Mädchens Pfannkachen daraas gebacken and gemeinschaftlich verzehrt.
— Sobald der Umzag beginnt, sagt man <d*r Maiboot sehe hommt».
In den letzten zwei Jahren hat derselbe nicht mehr stattgefunden.
Hürtigheim (Landkreis Strassburg) :
«Do komme di Hirrikner Pfingscbdeknächt
Und wolle hawwe das Pfingschderächt :
E Stick Spack
Vonn d^r Mohre Sitt ewagg,
Nit ze gross un nit zu kl&in,
Sohnäide-r-e wenig wäit hinäin;
E Hafe voll Millich, e Kann voll Wäin,
Da wolle wir damit zufridde säin ;
Eier erus! Eier erüs!
Odder merr schigge de Morder ins Hihnerhüssl»
(Mitgeteilt von Dr. L i e n h a r t)
Rirchweih.
Münster (Kreis Colmar). — Von allen Kilbentagen ist der letzte
Montag der lustigste. Zur besonderen Belustigimg trug das so-
genannte «Pappeessen» bei. Auf dem Sandbuckel, wo der Tanz-
boden steht, wurde ein langer Tisch aufgestellt Ueber demselben
war zwischen zwei Bäumen eine Schnur gespannt, woran mit Gries-
snppe gefüllte Töpfe hingen. Um den Tisch nahmen die Burschen
über 14 Jahren Platz. Dann wurden ihnen die Augen verbunden
und Schüsseln, die ebenfalls mit dicker Griessnppe gefüllt waren,
vorgesetzt. In der Suppe befanden sich auch Geldstücke, z. B.
20 Pfennigstücke^ halbe und ganze Markstücke. Die einzelnen
Barschen durften aber nicht ihre eigene Suppe essen, sondern mussten
sie dem Nebenmann eingeben. War ein Geldstück darin, so gehörte
ea dem, der es. in den Mund bekam. Während dieser Mahlzeit
-wurden die Töpfe über dem Tische von Buben deren Augen ebenfalls
Terbonden waren, zerschlagen. Dass es sehr beschmutzte Gesichter
und Kleider gab. und dass mehr Suppe verdorben als genossen
'wurde, ist natürlich. Diese Sitte dauerte ungefähr bis 1880.
Ferner mussten die Buben von 12—16 Jahren «Sack hüpsen»
(hüpfen). An demselben Tag um 2 Uhr nachmittags gingen sie auf
das Rathaus, wo sie im Gesicht mit den verschiedensten Farben an-
— 166 —
gestrichen wurden. Jeder erhielt eine farbige Mätze, einen mmmnen-
gefaltenen Sack um die Schalter and Masikinstramente Ton Papp-
deckel. In dieser Kleidang zogen sie hinter der Mosik dorch die
Stadt. Auf dem Sandbackel wurde eine Bahn von etwa 300 Schritt
Länge mit Seilen abgegrenzt. Kam der Zag an, so wurden die
Barschen in die S&cke gebunden, so dass sie auf dem Boden des
Sackes standen und nur den buntbemalten Kopf ans dem Sack
hervorstreckten. Am andern Ende befand sich ein Tisch, auf dtm
Preise im Werte von 0,60 .^ bis b Ji für die Laufer aufgestellt
waren. Auf das Zeichen eines Polizisten begann das Wettrennen.
Mancher trat im Eifer auf den Sack und purzelte dann zu Boden,
wo er Uegen blieb, bis ihm seine Kameraden aas der unbequemen
Lage unter Hohn und Spott der Zuschauer befireiten. Die 5 besten
Läufer erhielten die Preise. Dieses Spiel wurde 188Ö zum letzten
Mal gefeiert.
Ernte.
Friesen (Kreis Altkirch). — Im Herbst findet man oft auf Kar-
toffeläckern ein kleines Pflänzchen (Gauchheil). In dem Kelche be-
finden sich flachrunde Samen in der Form kleiner Geldstücke. Sind
die Kelche, oder wie man sie hier nennt, «die Glückhäfela» Kill
Samen, so bedeutet dies, dass das folgende Jahr ein gutes sein
werde; sind die Glückhäfela aber leer, so deutet dies auf ein Miss-
jahr hin.
Escheneweüer (Kreis M&lhausen). — Das «Gleckhamfala». Bd
den Bauersleuten des hiesigen Dorfes herrscht folgender Gebrauch.
Wenn der letzte Weizen geschnitten wird und nur noch wenige
Aehren stehen, so knien sämtliche Schnitter bei denselben auf ^
Erde. Dann beten sie mit lauter Stimme fünf «Vater unaer» und
fünf «Ave Maria». Sobald das Gebet vollendet ist, erhebt sich der
Bauer von der Erde, nimmt eine Sichel in die Hand und schneidet
den noch stehenden Weizen ab, indem er die Worte spricht: «Im
Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.» Darauf
werden neun der schönsten Aehren zusammengebunden und in der
Wohnstube hinter das Kruzifix gesteckt. Diese neun Aehren bilden
das «Gleckhamfala>, Dasselbe bleibt hinter dem Kruzifix, bis im
Spä^ahr der Weizen gesäet wird. Dann wird es heruntergenommei;
die Kömer werden aus den Aehren gerieben und Termischt mit dem
Saatweizen ausgesäet
lAehsdorf (Kreis Altkirch). — Wenn man den letzten WeiKn
mäht, 80 schneidet man das Glickhempfele. Dieses geht folgender-
massen vor sich: Man lässt eine Anzahl der schönaten Aekr«
stehen. Am Ende schneidet ein Mäher die Aehren in drei Streicba
ab, indem er die Worte spricht: «Im Namen des Vaters und des
Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.» Nachher wird auf den
Acker gebetet, damit Gott das Eingeerntete segnen wolle. Gewohnüdi
legt der Meister Geld zwischen die Aehren, welches dann der, weide
das Glickhempfele schneidet, nimmt Dieses wird dann sasamniS'
geflochten und mit Blumen und kleinen Bändern geziert. Nachdes
1
— 167 —
im Dorfe die Ernte beendigt ist, wird dasselbe in der Kirche vom
Pfarrer gesegnet.
Friesen (Kreis Altkirch). — - Anch hier wird, wie im vorigen Jahr-
gang beschrieben, das «Qlickhampfele» geschnitten, nnd die Körner
desselben wwden im nächsten Jahr unter den Saatweizen gemischt.
Daher kommt auch der Name. Dieses Hämpfele (band voll) Kömer
soll Glück und Segen im nächsten Jahr bringen.
Liebsdorf (Kreis Altkirch). — Wenn die Weizenemte beendigt ist,
so feiern die Bauern ein Fest."Die&es Fest nennt man «Sichlete». Es
werden Kuchen gebacken und zum Mittagessen gute Speisen bereitet
St. Johanni.
Gereuth im Weilerthal. — Hier wird am Johannistag ein grosses
Feuer gemacht. Die Jugend sammelt Holz im Dorfe und singt dabei
folgende Worte:
«Salvei, karei,
Gleck es hüs,
Ungleck herüs.
St. Johannes stira,
St. Johann soma,
's Gald wurd bald kumma,
Bitzel, ratzel
Schonazazel
Mit 77 junge Rawaknacht
Gan is auii a Wecka,
Met 77 Ecka,
Gan is aui ^ a Küacha,
Mer wana scho versüacha,
Gan is noch a Schteckel* Spack,
Soscht geh mer net vo der Ther awak.
KeeUnkciU (Kreis Schlettstadt.) ^ In Kestenholz wird am Jo-
bannistag ein sogenanntes Johannisfeuer angezündet Die Jünglinge
sammeln Holz und singen folgende Worte:
«Salwei, klarei,
St. Johannes Stirel,
Gan is fer a Firel.
Mer se vo St Maretz (St. Moritz),
Gan is aui Schnetz ;
Mer se vo St. Marta (St. Martin),
Mer kena net erwarta;
Mer se vo Keschtaholz,
Gan is aui a Schitel Holz ;
A Schit a rüs
Oder i schlag a Loch es Hüss.»
1 Gebet uns auch.
* Stückchen.
— ie» —
St. NikolaoB.
Orschweier (Kreis Qebweiler). — Unartige Kinder pftegt man da-
durch einznschücktam, dass man ihnen vorstellt, Hans Trapp käme
zur Thür herein mit dem Kopf unter dem Arm, mit ledernen Zähnen
und mit dem Hintern im Schnappsack.
Sitschtoeüer (Kreis Thann). — Am Nikolausfest verstecken sich
die Kinder, wenn abends der St. Nikolaus mit dem Hans Trapp
kommt, und sprechen :
«Balla, kapa,
Ga mer Sü!
Da Sü esch di !
Niki, naki,
Hinterm Ofa stak i!>
Bedeutungsvolle Tage.
ürbis (Kreis Thann). ~ Wer am 12. Juli, also am Feste «Hein-
rich> auf einen Baum steigt, fallt herunter.
Wingenheim (Kreis Colmar» — Regnet es den ^. Dezember
(St. Nikolaus; und den 5. August (Maria Schnee), so erfrieren die
Reben.
Regnet es den 8. Juni (Medard , so soll es die darauf folgenden
vierzig Tage regnen.
Tctgolsheim (Kreis Altkirch). — Wenn man an Barbara (4. De-
zember) einen Zweig eines Apfelbaumes in einem Gefass mit Wasser
in die Wärme stellt, so blüht der Zweig an Weihnachten.
Kiffis (Kreis Altkirch.) — Am Tage des hl. Laurenzius (10. Au-
gust) findet man überall, wo man nachgräbt, Kohlen.
Da es um diese Zeit keine heftigen Gewitter mehr gibt, so
sagt man :
«St. Loranz
Hetts Watter verschlanzt.»
üttenheim (Kreis Erstein <. — Am 26. Juni, am Tage von Johannes
^nd Paulus, gehen die Schulknaben von Haus zu Haus und sammeln
Holz. Dasselbe wird am Abend vor dem Dorfe verbrannt als soge-
nanntes < Hage 1 f euer >•
Beim Holzsammeln singen die Kinder:
«Ga nis euw a Stirl
Züam a Heulfirl,
Sankt Blasa, Sankt Blasa,
Ga nis euw a altr, stumpfigr Basa,
Sankt Martin, Sankt Martin
Ga nis euw a Scheppala Winn,
Sankt Fidd, Sankt Fidd
Ga nis euw a Schitt,
Sankt Teil, Sankt Teil
War nigs gedd, dar kummt i d'Hell.»
En8i8?ieim (Kreis Geb weiler). — Der Dreifaltigkeits-
sonntag will drei Opfer haben; einen Ertrunkenen, eioeo
— 169 —
Erhängten nnd einen Verunglückten. Die Kinder werden vom Baden
nnd Klettern auf Bäumen abgehalten.
Fislis (Kreis Altkirch). — Wenn am Dr eifaltigkei tss onn-
tag Regen fällt, so erntet man um die dritte Garbe weniger Ge-
treide.
Am 14. Mai; am Tage des hl. Bonifacius, werden die Bohnen
gesetzt. Es herrscht nämlich der Glaube, dass sie, an diesem Tage
gesetzt, besser gedeihen.
Am Tage des hl. Blasius und der hl. Agatha erhält jedes Stück
Vieh ein kleines Stück des gesegneten Brodes, um sie vor der bösen
Gewalt zu schützen.
Wenn am Tage des hl. Pankratius Regen fällt, so fallen die
Birnen herunter, wären sie auch mit Draht befestigt.
Gebart und Taufe.
Oberaulzbach (Kreis Thann). — Wenn ^n Kind getauft wird und
dasselbe schreit, so sagt man: Das Kind bleibt gesund und wird
stark; weint das Kind dagegen nur wenig, so glaubt man, es werde
nicht viel mit ihm werden. Weint aber das Kind gar nicht, so wird
es bald sterben.
Bäldersheiin (Kreis Mülhausen), — Ist bei einer Kindtaufe die
Patin schön gekleidet, so sagt man, dass auch das Kind immer schön
gekleidet sein werde.
Niedermorschtoeüer (Kreis Mülhausen). — Wenn eine Wöchnerin
zum ersten Male ausging, riefen ihr die altern Leute zu : <I wünsch
dr Glick an d^Sunna un's nechsta Johr wieder umma.»
So war es bis 187(^
Hochzeit.
Niedermorachweiler (Kreis Mülhausen). — Wenn die Brautleute am
Altare knieen, giebt der «Ehrenknabe» dem Bräutigam eine Ohrfeige
und sagt: «Gang ab dr Gassa.»
So war es bis 1870.
Friesen (Kreis Altkirch). — Hier sagt man : «Eine lustige Braut,
eine traurige Frau > Deshalb sieht man's nicht gerne, wenn eine
Braut fröhlich ist.
Baneenheim (Kreis Mülhausen). — In früheren Zeiten trug die
Braut keinen künstlichen Kranz wie heutzutage, sondern einen grünen,
der von der Braut selbst aus Rosmarin verfertigt wurde. Wenn die
Hochzeitsleute nach der Trauung die Kirche verliessen, entfernten
sich die zwei Brautleute vom Hochzeitszuge, jedoch so, dass sie von
den andern nicht gesehen wurden. Sie gingen in ein nahe bei der
Kirche gelegenes Haus. Bemerkten alsdann die Hochzeitsleute, was
vorgefallen war, so wurden die zwei Geflüchteten gesucht. Sie
gingen von Haus zu Haus, und so geschah es manchmal, dass sie
sämtliche Häuser durchsuchen mussten, bis sie dieselben fanden.
War nun der Hochzeitszug zu Hause angekommen, so streute eine
Person Weizenkömer über die zwei Getrauten, als Zeichen der Frucht-
barkeit. Hatte die Braut die Stube betreten, so nahm man ihr den
— 170 —
Kranz vom Kopfe ab. Derselbe wurde sofort unter dem Aussprache
der drei höchsten Namen verbrannt.
Baldersheim (Kreis Mülhausen). — Schneidet die Brant ihr Hoch-
zeitskleid selbst zu, so zerschneidet sie aach zugleich ihr Gluck.
AUdarf (Kreis Molsheim). — Stammte die Braut aus einem be-
nachbarten Dorfe, so wurde sie am Hochzeitstage mit einem Wagen
abgeholt. Dem Wagen voraus ritt ein schön bekränzter Jüngling.
Während die Braut auf den Wagen stieg, trank der Reiter ein Glas
Wein auf das Wohl des zukünftigen Paares. Bei der Abfahrt warf
er das Glas auf den Boden. Zerbrach das Glas nicht, so stand dem
jungen Ehepaar Unglück bevor. Ging hingegen das Glas in Stücke,
so war dies ein Zeichen des Glückes, und dies wurde um so grösser,
je zahlreicher die Scherben waren.
Ältorf (Kreis Molsheim). — Vor Jahren führte der Bräutigam
die Braut selbst in die Kirche. Auf diesem Gange durfte er die
Braut nur an einer Ecke der Schürze festhalten.
Friesen (Kreis Altkirch). — Fällt in unserer Pfarrkirche eine
Trauung und eine Leichenfeier auf den nämlichen Tag, so sagen die
Leute, eines von den beiden jungen Ehegatten müsse bald sterben.
Niedermorachweüer [Kreis Mülhausen). — Wenn die Eheleute aus
der Kirche kommen, werden sie nicht ins Haus eingelassen, bis sie
versprechen, etwas zu bezahlen.
Niedermorschioeüer (Kreis Mülhausen). — Wenn die Eheleute aus
der Kirche kommen, nimmt der Brautführer dem Ehemann die Braut
und gibt sie ihm nur gegen ein Geschenk oder ein Verspredien
wieder zurück.
So war es bis 1870.
ürbis (Kreis Thann). — Wenn einer zum zweiten Male heiratet,
so gehen abends während des Abendessens die jungen Leute vor das
Haus und machen mit Glocken, Deckeln, Kochhäfen u. s. w. eiii«i
grossen Lärm, man nennt dieses Schariwari. Alsdann werden die
betreffenden hereingerufen und bekommen zu essen und zu trinken.
Krankheiten.
Ingersheim (Kreis Rappoltsweiler). — Mittel gegen Magenfiebec.
Wenn jemand Magenfieber hat, so soll er ein wenig Kampfer, Frauen-
haar (Pflanze), Brotkrumen und Knoblauch untereinandermengen.
Diese Mischung muss er in ein Tüchlein einwickeln« Bei Sonnen-
aufgang wird die Mischung mit dem Tüchlein mittelst einer Schnur
um den Hals gehängt, so dass das Tüchlein mit der Mischung auf
dem Magen liegt Dieses muss man neun Tage auf dem Iftagen
liegen lassen. Bei Sonnenaufgang am neunten Tage trägt man die
Mischung in ein fliessendes Wasser. Beim Hineinwerfen in das
Wasser kehrt man demselben den Rücken. Die Mischung wird über
die linke Schulter in das Wasser geworfen ; dabei darf man sich nicht
umsehen. Wenn man alles genau so macht, wird die Krankheit
schwinden; unterlässt man aber etwas davon, wird das Fieber nicht
geheilt.
— 471 —
Bischofsheim (Kreis Molsheim). — Mittel für Zahnweh. Hat man
Zahnschmerzen, so nehme man einen neuen Nagel und steche damit
so lange in den Zahn oder in das Zahnfleisch um denselben, bis er
blutig ist; dann schlage man den blutigen Nagel in eine Stelle, wo
weder Sonne noch Mond hinscheint. Die Schmerzen sollen sofort
aufhören.
Friesen (Kreis Altkirch). — Wenn man Brot isst, das in einem
neuen Backofen gebacken wurde, bekommt man innerhalb einer
Jahresfrist kein Fieber.
OberstiUbach (Kreis Thann). — Wer Kuchen isst, der in einem
neuen Backofen gebacken wurde, der braucht keine Angst zu haben,
von der Schwindsucht befallen zu werden.
Fislis (Kreis Altkirch). — Wer mit der Gliederkrankheit behaftet
ist, darf während sechs Wochen keinen Kirchhof betreten, nicht über
fiiessendes Wasser und nicht in die Kirche gehen, sonst sind alle
Mittel erfolglos.
Seniheim (Kreis Thann). — Ein Mittel, den Kindern das Zahnen
zu erleichtern. Glaubt man, dass ein Kind schwer zahnt, so muss
sich der Vater des Kindes nach einem lebendigen Maulwurf umsehen.
Bei einem Knaben muss es ein männlicher Maulwurf sein und um-
gekehrt. Der Vater muss das Tier in seinen Händen sterben lassen.
Hierauf werden dem toten Maulwurf die beiden vorderen Füsse ab-
geschnitten. Dieselben werden in ein Säckchen eingenäht, und der
Vater muss diese kostbare Reliquie einige Zeit um den Hals hängen
und mit sich herumtragen.
Wurde noch vor einigen Monaten angewandt.
Oberstdjsbach (Kreis Thann). — Arzneien oder überhaupt Flüssig,
keiten, welche den Kranken gereicht werden, dürfen nicht mit der
Spitze eines Messers umgerührt werden, sonst bekommt der Kranke
das Stechen.
Wird jetzt noch von vielen Leuten geglaubt.
Fislis (Kreis Altkirch). — In der Umgegend sind Leute, die sich
mit Hilfe von geheimen Gebeten und Zeichen verschiedene Gewalten
zuschreiben. So könnten sie z. B. starken Blutverlust gänzlich stillen,
ohne dass sie selbst gegenwärtig sind. Diese geheime Kunst nennt
man «bschurme>.
Tod.
Friesen (Kreis Altkirch). — Wenn sich in einem Hause viele
Mäuse befinden, so deutet dies einen baldigen Todesfall in der
Familie an.
BoppenzweHer (Kreis Altkirch). — Stirbt ein Verwandter in der
Fremde, so sagt man, er würde dieselbe Nacht, in der er stirbt, zu
Hause einen warnen. Dieses kann in Klopfen oder Poltern im Hause
bestehen, oder es kann plötzlich ein Licht erscheinen, oder man kann
eine Uhr schlagen hören, die sogenannte Totenuhr.
Friesen (Kreis Altkirch). — Beim Sterben einer Person wird in
dem betreffenden Hause sofort alles «gerührt», wie die Leute sich
— 17-2 —
ausdrücken. Das Vieh nnd die Schweine werden in ihren Stallen
aufgejagt. Der Wein and andere im Hanse sich befindlichen Flüssig-
keiten werden geschüttelt, sogar die Erde in den Blumentöpfen wird
aufgewühlt, sonst würde nach dem Glauben der Bewohner in kurzer
Zeit alles absterben, die Flüssigkeiten dagegen schwinden.
Friesen (Kreis Altkirch). — Nach der Beerdigung einer Person
werden sofort des Verstorbenen Kleider, Bettzeuge etc. gewaschen.
In dem Strohsack des Bettes wird neues Stroh gethan. Man glaubt,
wenn dies alles nicht geschehe, so würde der Verstorbene keine
Ruhe finden.
Friesen (Kreis Altkirch). — Wenn jemand stirbt so wird bei
der Leiche, nebst einer beliebigen Anzahl Kerzen noch ein Oel-
lämpchen angezündet und bis zur Beerdigung brennend erhalten.
Sobald aber am Beerdigungstage die Leiche aus dem Hause getragen
ist, wird das Lämpchen in den Backofen gestellt und fleissig nachge-
sehen, ob dasselbe während der Beerdigungsfeierlichkeit auslöscht
Ist dies der Fall, so wird es als ein gutes Zeichen angesehen. Es
herrscht nämlich der Glaube, dass dann die Seele der Terstorbenen
Person an ihren gehörigen Ort, d. h. an einen guten Ort ge-
kommen sei.
Bitschtoeüer (Kreis Thann). — Folgen bei einem Leichenzug die
Frauen in einem grossen Abstände hinter den Männern nach, so
glaubt man, es werde bald wieder jemand sterben.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Viele Leute glauben fest, dass
Verstorbene, die ein Versprechen, wie eine Wallfahrt zu machen, Messen
lesen zu lassen etc., nicht erfüllen konnten, im Grabe keine Ruhe finden
und Verwandte oder Freunde auf das Versprechen durch Erzeigen
etc. aufmerksam machen und sie bitten, dasselbe zu erfüllen.
Haben Verstorbene Geld vergraben, so finden sie keine Enhe,
bis das Geld gefunden ist.
Ensisheim [Kreis Gebweiler). — Alte Leute behaupten, dass der
Priester die Verstorbenen, für welche er die hl. Messe liest, während
der hl. Wandlung in Person sieht und erkennen kann, an welchem
Orte im Jenseits sie sich befinden.
Von Vermissten erfahrt der Priester, ob sie noch leben und wo
sie sich aufhalten. Solche Messen heissen Zwingmessen.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Beim Tode eines Familienange-
hörigen werden Wasser und Milch ausgeschüttet : die Leute behaiq^ten,
die Seele des Verstorbenen fährt durch Wasser und Milch.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Einer toten Weibsperson, welche
bei der Geburt des Kindes starb, pflegt man Schuhe an»n riehen.
Man glaubt nämlich, die Mutter kommt sechs Wochen in der Nacht
zu ihrem Kinde, um es zu nähren. Man legt ihr Schuhe an, um sie
zu hören, wenn sie kommt.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Ist der tote Leichnam runzelig,
wenn man ihn in den Sarg legt, so holt er jemand nach, d. h. es
stirbt jemand aus der Verwandtschaft kurze Zeit darauf.
Fislis (Kreis Altkirch). — Wenn während der hl. Wandlung die
— 173 —
Tarmahr schlägt, gilt dies als ein Zeichen, dass bald jemand im
Dorfe stirbt.
Hexen nnd Geister.
Boppemtoeiler (Kreis Altkirch). — Wenn man draassen etwas
findet, so soll man zuerst das Kreuz darüber machen, denn der böse
Geist könnte Gewalt darüber haben.
Boppenzweiler (Kreis Altkirch). — Es herrscht der Aberglaube
dass des Nachts nach dem Abendläuten alle Katzen Hexen seien, be-
sonders die schwarzen.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Weibsleute sollen nach dem
Läuten der Betglocke nicht ohne Schürze das Haus verlassen, weil
sonst die Hexen Gewalt über sie haben.
Ingersheim 'Kreis Rappoltsweiler). — Abends nach dem Läuten
des englischen Grusses soll man keine Milch mehr über die Gasse
tragen, sonst wird sie verhext werden.
Fislis (Kreis Altkirch). — Wenn man nach der Betglocke Milch
Ton einem Hause ins andere trägt, so besprengt man sie mit Weih-
wasser. Man glaubt nämlich, die Hexen hätten um diese Zeit Gewalt
darüber.
Leute, die fest daran glauben, geben um diese Zeit keine Milch
mehr aus dem Hause
Oberaulzbach (Kreis Thann). — Wenn es Betezeit geläutet hat,
darf keiner Katze mehr etwas mit der rechten Hand oder Fuss ge-
than werden, wohl aber mit der linken, sonst erhält der böse Geist
über einen Gewalt.
Osenbach (Kreis Gebweiler). — Die Hexen lassen sich viel in der
Gestalt von Hasen sehen. Wenn man einen solchen Hasen halten
oder schlagen will, so muss man es mit der linken Hand thun, denn
mit der rechten wird man ihn nie treffen.
Osenbach (Kreis Gebweiler). — Ein Mann, der schon mehrere
Ochsen verloren hatte, und dem wieder einer krank wurde, nahm
auf Anraten eines Wiedertäufers ein schwarzes Huhn, das aber keinen
weissen Fleck haben durfte, und schlug es in einem Sacke so lange
mit drei Haselruten, bis er glaubte, es sei tot. Als er aber den
Sack aufthat, sprang das Huhn fort. Am andern Tage aber lag eine
Frau, die als eine Hexe verrufen war. im Bett und starb zwei Tage
darauf. Als der Wiedertäufer etwas über den Ochsen gesprochen
hatte, wurde er wieder gesund.
Boppenzweiler (Kreis Altkirch). — Wenn jemand in einem andern
Haus Milch holt, so gibt ihm der Besitzer des Hauses Weihwasser
und sprengt auch davon in die Milch, damit der böse Feind keine
Gewalt hat
Kiffia (Kreis Altkirch). — Findet man auf einem Acker den
Zahn einer Egge, und zwar so, dass die Spitze nach oben schaut,
80 nimmt man ihn am Weihnachtsabend in die Messe. Schaut man
während der Wandlung durch denselben, so sieht man die Hexen
opfern
— 174 —
Bitschweüer (Kreis Thann). — Früher glaabte man, und die alten
Leute glauben noch heute, dass ein Marksteinversetzer nach dem
Tode als feuriger Mann erscheinen müsse.
Gereuth (im Weilerthal). — Hier glauben die alten Leute, dass.
wenn man einen gehörnten Ochsenkopf im Stalle aufhängt, das Vieh
Tor den Hexen bewahrt wird.
Katzenthal (Kreis Rappoltsweiler). — In Katzenthal verordnen
alte Leute, einen ganz schwarzen, fleckenlosen Geisbock zu halten,
-durch welchen das Vieh vor den Hexen bewahrt werde.
Kiffis (Kreis Altkirch). — Legt man ein Brot so auf den Tisch,
dass die Obenseite nach unten kommt, so haben die bösen Leute
Gewalt im Hause.
Kiffis (Kreis Altkirch). — Liegt ein Messer auf dem Rücken, so
reitet der Teufel darauf, und man schneidet der lieben Muttergottei
ins Herz.
Oaenbach (Kreis Gebweiler). — Tötet jemand dem Nachbarn die
Hühner, und will man diesem Menschen schaden, so muss man das
Herz eines Huhnes nehmen, es voller Nadeln stecken und dann in
das Kamin hängen. So wie das Herz nach und nach verdorrt, so
wird auch das Leben des Menschen nach und nach dahin schwinden.
AJtorf (Kreis Molsheim). — War eine Hexe im Stall, so dass die
Xühe mager wurden oder wenig Milch gaben, dann rief man den
Hexenmeister. Dieser verlangte ein schwarzes Huhn in einem neuen
'Sacke, um Mittemacht schlachtete der Künstler das Huhn. Zu
derselben Zeit musste sich der Eigentümer des Viehes mit der
Windmühle auf den Dunghaufen stellen und diese in Bewegung
bringen. So wurde die Hexe aus dem Stalle vertrieben.
Oaeribach (Kreis Gebweiler). — Wenn eine Kuh verhext ist, so
nimmt man die Milch derselben und schlägt sie mit drei Haselruten,
welche vor Sonnenaufgang in den drei höchsten Namen gehauen
werden, so lange, bis sie blutrot wird. Dann wird die Hexe kommen
und etwas verlangen, aber man soll ihr die Thüre nicht öffnen.
Man lässt auch manchmal die Milch in einen feurigen Hafen-
-deckel laufen.
Ohersulzbach (Kreis Thann). — Kin Mittel, eine Hexe in einem
Hause zu bannen. Kommt eine Hexe in ein Hans und man stellt
einen Besen hinter die Hausthür, aber derart^ dass der Stiel am
Boden steht, so kann die Hexe nicht mehr zum Haus hinaas. Ins
der Besen weggenommen ist Dasselbe kann man erreichen, wenn
man einen Laib Brot verkehrt auf den Tisch stellt.
Fislis (Kreis Altkirch). — Wenn ein Haus abgebrochen nnd aa
einem anderen Orte wieder emchtet wird, stellt man an der früheres
Stelle zwei Ziegel in Form eines Daches gegen einander, damit das
Gespenst, das sich im Hause befand, darunter wohnen kann.
Enstsheim (Kreis Gebweiler). — Wenn die Brüstchen der kleinen
Kinder anschwellen und sich mit Milch oder Wasser füllen, so
isagen die Leute, s'Dockala kommt des Abends und sangt bei dem
Kinde.
— 175 —
Mittel, s'Dockala zu vertreiben.
Es wird den Kindern ein in der Oktav des Fronleichnamsfestes
geweihtes Kranzchen anf die Bmst gelegt. Andere hängen dem
Kinde den Ehering nm den Hals. Am meisten wird der Dockalafoss
(Droidenfnss) angewandt. Es gibt einen einfachen nnd einen
doppelten. Der Dockalafoss mnss in «inem Zuge gemacht werden.
Man macht ihn an die Thüre nnter Sprechen der drei höchsten Manen.
AUe Ritzen nnd selbst das Schlüsselloch werden verstopft. Die Leute
behaupten, dass man anf diese Weise das Dockala abhalten nnd ver-
treiben kann.
Orschtceier (Kreis Gebweiler). — Es geht die Sage, dass, wer an
Weihnachten in der Mitternachtsmesse ein Ei von einem schwarzen
Hnhn oder einen Eggenzahn in der Tasche trage, mit Hilfe dieser
Dinge erkennen könne, wer eine Hexe sei. Dieselbe werde nämlich
plötzlich das Gesicht im Nacken haben und den Betreffenden, der
die Untersuchung anstellt^ unverwandt ansehen.
Dessenheitn (Kreis Colmar). — Wenn man an Weihnachten in
die Mittemachtsmesse neunerlei Holzstabchen zusammengebunden
mitnimmt, so müssen die Hexen während der hl. Wandlung sich
umkehren und rückwärts schauen. Aber nur jene Person sieht die
Hexen, welche die Holzstäbchen in der Tasche hat.
Emisimm (Kreis Gebweiler). — Wer am Weihnachtsabend vor
Beginn des Gottesdienstes zwei Messer in Form eines Kreuzes auf
eine Brunnenschale legt oder ein 4 blätteriges Kleeblatt oder dreierlei
Holz in der Tasche trägt, erkennt in der Mittemachtsmesse die Hexen.
da sie während der Wandlung ihr Gesicht vom Altare weg nach
hinten richten.
Der Betreffende muss aber vor Schlnss des Gottesdienstes die
Kirche verlassen, weil jene im Freien demselben Leid zufügen und
Gewalt über ihn haben, bis der englische Grass des Morgens ge-
läutet wird.
Osenbach (Kreis Gebweiler). — Das sogenannte «Dogala» soll
des Nachts in der Gestalt einer Katze kommen. Es soll auf die
Brust des Menschen sitzen, so dass man nicht mehr schnaufen kann.
Wenn man mit Licht kommt, so soll es f ortlauf en, oder sich in ein
anderes unscheinbares Ding verwandeln.
Boppenztoeüer (Kreis Altkirch). — Wenn ein Geist zu einem
kommt, so sagt man: «Alle guten Geister loben Gott den Herrn!»
Dann fragt man ihn : «Was ist dein Begehren ?> und gibt ihm die
Hand, aber nur, wenn er antwortet. Antwortet er nicht, so reicht
man ihm den Nastuchzipfel, sonst würde die Hand verbrennen. Das
Jahr darauf aber stirbt man.
Türkheim (Kreis Colmar). — Nachtjäger. Hier besteht allgemein
der Glaube an einen Nachtjäger, das sogenannte «Hüsstata-Männchen» .
Jede ältere Person weiss etwas davon zu erzählen.
Ein Mann bewässerte des Nachts nach 12 Uhr in dem sog.
Rotenbuch seine Wiese. Plötzlich hörte er ein wildes Schreien und
Hnndegebell. Da sauste von einem Berge herunter eine Hundeschar
— 176 —
an ihm vorüber. Ebenso rasch eilte sie den gegenüberliegenden
Berg hinauf nnd verschwand hinter demselben. Noch einige Zeit
lang will der Mann das Geheal in den Lüften gehört haben.
Besonders viel soll das Hüsstata-M&nnchen aaf dem Eichberg
gesehen werden. (Dies ist der Rebhügel, an dem Türkheim ange-
lehnt ist.)
Zur Zeit der fcanxötischen Revolution lebta hier ein Gelehrter,
der sich aaf Schwarzkanst verstanden haben soll. Einst fahr er mit
seinem Schwager in einer Kutsche von Walbach nach Türkheim and
zwar des Nachts um die zwölfte Stunde. Als sie an das Thal kamen,
das den Schlossberg (Plixburg) von dem Stauffen trennt, sagte er
zu seinem Schwager: «Ich will dir etwas zeigen!» Mehrmals rief er
nun zur Thüre hinaus: «Hüssta-ta!> In demselben Augenblick um-
kreisten Hunde, Pferde von schwarzen Jägern beritten die Kutsche.
Es entstand ein furchtbares Hundegeheul, und von allen Seiten her
erscholl der unaufhörliche Ruf: <Hüssta-ta!> Dies dauerte einige
Zeit fort, bis der Schwarzkünstler etwas zur Kutsche hinausriel
Plötzlich war es wieder still.
Man bezeichnet besondere Orte, an welchen Geister erscb einungen
häufig sein sollen. So das abengenannte Rotenbach. (Dies ist das
Thal, durch welches die Strasse nach Drei-Aehren fuhrt) Dann der
Schlossberg (Plixburg), an dem sich die bekannte Sage von dem Burg-
fräulein knüpft. Ferner das westlich von Türkheim gelegene Hausen-
feld. (Hier sollen vor dem 30jährigen Krieg Häuser gestanden haben).
Auf diesem Felde hörten mehrere Arbeiter im Jahre 1884 ein
Jammern in den Lüften. Es kam vom Schlossberg her und schallte
nach dem Hohnack hinüber.
Lützel (Kreis Altkirch). — Ein Förster aus Dürlinsdorf ging in
die Wälder der Lützler Klosterherren. Als er durch den Wald schritt,
sah er auf einmal ein Schloss vor sich. Der Förster verwunderte
sich, hier ein Schloss zu sehen. Diese Stelle war sonst mit Wald
bedeckt, und der Förster, der die Gegend gut kannte, wusste es wohL
In dem Schlosse ging es lustig zu. Als der Förster hineintrat, kam
«r in einen grossen Saal, wo viele Hexen ein lustiges Mahl hielten.
•Sie assen, tranken, sangen, und unter dem Schall der Musik tanzten
sie. Bei seinem Eintritt fragte man den Förster, ob er in diese
Gesellschaft eintreten wolle. Da er Ja sagte, reichten ihm die Hexen
ein Buch und forderten ihn auf, seinen Namen in dasselbe einzu-
tragen. Er sollte nämlich unterschreiben, dass er von Gott abfalle.
Da schrieb er den Namen «Jesus» hinein. Plötzlich verschwand das
Schloss mit allen Hexen, und der Förster sass mit dem Buch in der
Hand mitten in einem Dornbusche. In dem Buch waren die Namen
vieler eingetragen, die der Förster persönlich kannte. Zu Hause
angekommen, gab er das Buch dem Pfarrer, welcher es verbrannte,
Winkel (Kreis Altkirch). — Gespensterhafter Ort Zwei Bftänner
•hielten bei ihren Herden Nachtwache. Die Weide war umzäunt und
lag im Distrikt Wiukler Reben. Mittendurch führte ein Weg. Ds
.sahen die Hirten zwei Reiter, die ihre Pferde der Thüre zu lenkten.
Der eine der Hirten sagte zu dem andern: «Du machst die Thore
— 177 -
auf, und ick luklte den Hut hin. Das sind Tomehme Hemn, und da
gibt es ein h&bsches Trinkgeld.» Wie dieser von Trinkgeld sprach,
verschwanden die Reiter. Am folgenden Morgen waren die Köpfe
der Hirten heftig angeschwollen.
Obersulzhach (Kreis Thann). — Früher wurde bai uns sehr fest
daran geglaubt, dass, sobald des Abends das «Ayc Maria» gelautet
wäre, die bösen Geister über einen Gewalt hätten. Deshalb ging
nian am Abend nicht mehr hinaus, um Milch oder Brot etc. zu holen.
Besonders glaubte man an den sogenannten Nachtjäger. Sehr oft
hörte man ihn seinen Hunden rufen: «Do dia dia dia dia!» Man
glaubte, dass, wenn einer dem Nachtjäger in dieser Weise dreimal
nachriefe, er ohne Erbarmen von ihm mitgenommen würde. So er-
zählt eine Frau, die jetzt einige 60 Jahre alt ist, folgendes : «Als ich
noch ein Mädchen von ungefähr 10 Jahren war, kam es vor, dass
der X dem Nach^äger in angegebener Weise nachrief. Als der X
das zweite Mal rief, war ihm der Nachtjäger näher gekommen. Als
er das dritte Mal nachgerufen hatte, nahm ihn der Nachtjäger mit
sich fort. Unter einem Schuppen ruhte er mit ihm aus. Die Leute
aus dem Dorfe eilten ihm nach und besprengten die Luft mit Weih-
wasser. Da Hess endlich der Nachtjäger den X in einem Walde
(Qrossbirkenwald) auf einem Klafter Holz liegen. Der Nachtjäger
hatte den X so sehr am Halse gedrückt, dass der Unglückliche fast
nicht mehr atmen konnte und an dieser Stelle ganz blau war.» Die
Leute, welche dies gesehen haben wollen, halten ea für wahr und
lassen sich durch nichts davon abbringen.
NiedermorschtDeüer (Kreis Mülhausen). — Abends sab man öfters
eine Kutsche ohne Gespann durch das Dorf fahren.
NiedermoTsehweHer (Kreis Mülhausen). — Auf einer Wiese und
bei einem Brunnen im Dorfe sah man öfters einen Jäger mit vielen
Hündchen, der rief: «Alle mine Hindala hütatata.»
Niedermorschweiier (Kreis Mülhausen). — Abends sah man öfters
einen grossen Mann mit einem breiten, schwarzen Hut durch das
Dorf gehen; was ihm in den Weg kam, schlug er zu Boden. Er
ging immer denselben Weg; er kam vom Winzerhaus her, ging
mitten durchs Dorf und versteckte sich dann in einer Höhle eines
Hügels, Simliberg genannt. Sein Weg führte ihn durch ein Haus;
in diesem soll er sogar einmal die Mulde, an welcher die Hausfrau
den Teig bereitete, umgeworfen haben
Ammerachfoeier (Kreis Rappoltsweiler). — Früher sprach man
viel von dem Stadttier. An finstern Winterabenden lief einer auf
allen Vieren, eine Zain (einen Korb mit zwei Handhaben) auf dem
Rücken, durch die Gassen und schrie aus Leibeskräften. Am andern
Morgen hörte man dann überall sagen: «Heute Nacht hat aber das
Stadttier wieder gebrüllt.»
Enstsheim (Kreis Gebweiler). — Alte Leute behaupten, das
N a'c h tk al b gesehen zu haben. Dies ist ein gewöhnliches Kalb, das
aber bald so gross wird, dass es in den zweiten Stock hineinsehen
kann. Es lacht die Leute aus. Wer den Arm nach ihm ausstreckt
oder das Fenster öffnet, erhält einen sehr angeschwollenen Kopf.
12
— 478 —
Fislis (Ks-eis Altkirch). — Früher herrschte de^ allgememe
Qlaabe, dass in jedem Dorfe das sogenannte «Dorftier» banse. Wenn
man am Abend der Fronfastentage zwischen 11 nnd 12 Uhr hinaos-
ging, so legte es sich einem in den Weg. Es hatte dabei eine nn-
gehenre Grösse nnd die verschiedensten Tiergestalten.
Dies glaubte man bis 1850
Obersuigbiich (Kreis Thann). — Fenermänner. Wenn einer einen
Grenzstein Oder einen Grenzpfahl versetzt, so mnss der betreffende
nach seinem Tode als ein feuriger Mann so lange kommen, bis der
betreffende Stein (Pfahl) wieder an seiner richtigen Stelle steht.
So erzählt man folgende Geschichte : Auf einer Wiese wurde oft
ein feuriger Blann gesehen. Mehrere Jünglinge des Dorfes fassten
den Bntschlnss, den feurigen Mann einmal n&her zu sehen und ihn
nach seinem Begehren zu fragen. Als nun eines Abends der feurige
Mann wieder an derselben Stelle sich sehen Hess, liefen die Jüng-
linge auf ihn zu. Als sie aber nahe bei ihm waren, verloren alle
bis auf einen den Mut und kehrten um. Letzterer aber trat an den
Feuermantt heran und sprach folgendes zu ihm : «Alle guten Geister
loben Gott den Herrn und ich auch. Sage mir, welches ist dein
Begehi'en ?> Der Feuermann entgegnete : «Gehe nach Hause, im
Hausflur wirst du eine Schaufel und eine Hacke finden, hole sie her.
Der Jüngling that, wie befohlen. Als er wieder zurück kam, zeigte
der feurige Mann auf einen Grenzstein nnd sagte : «Setze diesen Stein
hier hin.» Als es geschehen war, sprach er zum Jüngling: «Ich bin
dein Taufpathe. Nun bin ich durch dich ein Kind der Glückseligkeit
und in kuzer Zeit wirst du auch ein solches sein.» Hernach ver-
schwand er. Kurz darauf starb der Jüngling.
Gewitter.
Roppenzioeüer /Kreis Altkirch). — Kommt ein sehr schweres
Ungewitter herangezogen, so nimmt man gesegnete Palmen, die man
aufbewahrt hat, und wirft sie ins Feuer. Dadnrch, glaubt man,
wird sich das Wetter verziehen.
Tiere und Pflansen.
Tagohheim (Kreis Altkirch) - Wennn man abends eine Spinne
sieht, hat man Glück; sieht man sie am Morgen, so hat man Unglück.
Wenn man eine Elster schreien hört, so bedeutet es Unglück.
Wenn des Abends in ' der Nähe eines Hauses eine Eule ihre
Stimme hören lässt, sagt man, in dem Hause stirbt jemand.
Wenn man an Adam nnd Eva (24. Dezember) Obst geniesst, so
bekommt man Geschwüre.
Oberaulsbiich (Kreis Thann). — Alte Leute dniden es nicht, dass
man die gestockte Milch (Dickmilch) mit einer Gabel esse. Sie be-
haupten, so oft man mit der Gabel in die Milch sticht, ebenso oft
sticht man der K u h ins Enter.
Münster (Kreis Co l mar). — Mittel, um Wanzen zu vertreiben.
Man streut Erlenblätter in dem Zimmer umher, in dem man Wanzen
verspürt, oder legt auch von den Blättern unter das Bett. In drei
- 479 —
finstein Nfichten von Vtl2?~12 Uhr klopft man an verschiedenen
Stellen an den Wänden. Anf dieses Zeichen verschwinden die Bett-
wansen.
Friesen (Kreis Altkirch). — Wenn die Vögel' wShrend'der Sommer-
zeit vor den Wohnhfinsern Nahrang suchen, so bedeutet dies eine
tenre Zeit.
Boppenzweüer (Kreis AltkirchJ. — <Rätzt> eine Elster in der
Nähe eines Menschen, so ist er am nämlichen Tage noch un-
glücklich.
Fislis (Kreis Altkirch). — Wenn jemand ein neugekauftes Stück
Vieh zum erstenmale tränkt, so wirft man gesegnetes Salz ins Wasser.
Uitenheim (Kreis Erstein). — Wenn jemand eine Eidechse tötet,
so sagt man, dass es den darauf folgenden Tag Regen gebe.
ürbis (Kreis Thann). — Wenn einer ein Rotschwänzchen tötet,
so färbt sich die Milch rot.
Uitenheim (Kreis Erstein). — Wenn jemand ein Rotkelchen tötet,
so sagt man, die Kuh giebt rote Milch.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Das Viertel Weizen (100 1) kostet
in jedem Jahre so viele Fünffrankenstücke, als der Kuckuck, wenn
er zum erstenmale ruft, nach einander ohne Pause Kuckuck schreit
Geberschweier (Kreis Gebweiler). — Wenn in einem Hause ein
Marder gefangen wird, so trägt ein Knabe aus dem Hause denselben im
Dorfs umher. Er nimmt einen Korb mit und geht mit dem getöteten
Marder von einem Haus zum andern und ruft zum Thor hinein:
<Ga mer na Ei,
Oder der Marder frisst i d^zwei.»
Oft erhält er so viel Eier, dass er nach Hause gehen und den
Korb leeren mnss.
KriUh (Kreis Thann). — Wenn eine Jungfrau gern wissen will,
welches ihr zukünftiger Mann wird, so nimmt sie ebensoviel Wunder-
blumen (Centaurea jacea), als sie Liebste hat: sie bezeichnet jede
Blume mit dem Namen eines Geliebten. Hierauf werden die Randblüten
abgeschnitten und so acht Tage in der Tasche aufbewahrt. Während
dieser Zeit darf nicht nach denselben geschaut werden. Wenn nun
die Blume eines Geliebten wieder aufblüht, wird derselbe ihr Mann.
Ensisheim (Kreis Gebweiler). — Im Zeichen der Jungfrau werden
keine Bohnen gesetzt; die Leute behaupten nämlich^ sie blühen
immerfort und tragen keine Früchte.
ObersuUbach (Kreis Thann). — Setzt man Kraut, wenn sich
die Sonne im Kreis der Zwillinge befindet, so gibt es anf jeden
Setzling zwei Krautköpfe. Diese beiden Krautköpfe sind aber nur
klein, weshalb man sich hütet, zu dieser Zeit das Kraut zu setzen.
Besprechiingen.
Ingersheim (Kreis Rappoltsweiler). — Wenn jemanden etwas ge-
stohlen wird> so kann der Eigentümer bewirken, dass der Dieb zu
ihm kommt.
— 180 —
D«r Eig«ntiimer mass nm Mitternacht anf dem Gottesacker drei
N&gel ans einem Sarg holen. Daranf moss er die Nügel in ein
Brett oder in ein4 Wand schlagen. Den ersten Nagel schlägt er mit
den Worten ein: ^Dieb, ich nagle dich an im Namen des Vaters;»
Den zweiten Nagel schl> er ein mit den Worten: «Dieb, ich nagle
dich an im Namen des Sohnes ;> den dritten mit den Worten: «Dieb,
ich nagle dich an im Namen des heiligen Geistes.» Nachdem dies
gethan ist, mnss sich der Dieb zeigen.
Dies wurde bis zu den Jahren 18^—40 geglaubt, und danach
wurde auch gehaüdeli
Bangenheim (Kreis M&hlhausen). — Wie der Dieb das Gestohlene
wiederbringen mnss. Man geht vor Sonnenaufgang zu einem Birn-
baum und nimmt drei Nägel aus einer Totenbahr oder drei unge-
brauchte Hufnägel mit, hält dieselben gegen der Sonne Aufgang mid
spricht : «0 Dieb ! ich binde dich bei dem ersten Nagel, den ich dir
in deine Stirn und dein Uirn thu schlagen, dass du das gestohlene
Gut wieder an selben Torigen Ort musst tragen : es soll dir so weh
werden nach dem Menschen und nach dem Ort, wo du es gestohlen
hast, als dem J&nger Judas war, als er Jesnm verraten hatte. Den
andern Nagel, den ich dir in deine Lung und Leber thu schlagen,
dass du das gestohlene Gut wieder an seinen vorigen Ort sollst
tragen, es soll dir so weh nach dem Menschen und nach dem Orte
sein, wo du es gestohlen hast, als dem Pilato in der Höllenpein.
Den dritten Naget, den ich dir Dieb in deinen Fuss thu achlagen,
dass du das gestohlene Gut wieder an seinen vorigen Ort ransst
tragen, wo du es gestohlen hast: 0 Dieb, ich binde dich und bringe
dich durch die heiligen drei Nägel, die Christum durch seine heiligen
Hände und Füsse sind geschlagen worden, dass du das gestohlene
Gut wieder an seinen vorigen Ort musst tragen, wo du es gestohlen
hast»
Die Nägel müssen aber mit Armens&nderschmalz geschmiert
werden.
Bamenheim (Kreis Mülhausen). — Dass einer das Gestohlene
wieder bringen muss. Gehe morgens früh vor Sonnenaufgang zu
einem Wachholderstrauch und biege ihn gegen der Sonne Aufgang mit
der linken Hand und sprich: «Wachholderbeerbusch, ich thue dick
bücken und drucken, bis der Dieb dem N. N. sein gestohlenes Got
wieder an seinen Ort getragen hat » Du musst einen Stein nefames
und auf den Bu8<^h legen, und unter dem Stein die Hirnschale vmi
einem Uebelthäter. Du musst aber Achtung geben, wenn der Dieb
das Gestohlene wieder gebracht hat, dass du den Stein wieder an
seinen ersten Ort trägst und hinlegst, wie er lag, und den Basdi
wieder losmachst.'
Bamenheim (Kreis Mülhausen). — Ein besonderes Glück eines
zu bezwingen, der sonst für Viele gewachsen ist Sprich : Ich, N. N.,
thue dich anhauchen ; drei Blutstropfen thue ich dir entziehen ; des
ersten aus deinem Herzen, den andern aus deiner Leber, den drittes
aus deiner Lebenskraft, damit nehme ich dir deine Stärke nnd
Mannschaft
— 481 —
Bamenheim (Kreis Mälhaasen). — Wie man beim Spiel gewinnen
kann. Man binde sich mit einem rotseidenen Fadfn das Herz einer
Fledermaus an den Arm, womit man auswirft, und man wird alles
gewinnen.
Banzenheim (Kreis Mülhansen\ — Einen Stocken zu schneiden,
dass man einen damit prügeln kann, so weit er auch selber entfernt
sein mag. Wenn der Mond an einem Dienstag neu wird, so gehe
vor Sonnenaufgang aus, iritt zu einem Stecken, den du dir zuvor
schon ausersehen hast, stelle dich mit deinem Gesicht gegen der
Sonne Aufgang und sprich diese Worte : «Steck, ich greife dich im
Namen des Vaters und des Sohnes und des hl. Geistes. Amen.>
Nimm dein Messer in die Hand und sprich wiederum: «Steck', ich
schneide dich im Namen t f f, dass du mir sollst gehorsam sein,
wenn ich den Namen desjenigen rufe, den ich prügeln will. Darnach
schneide an zwei Orten am Stecken etwas hinweg, damit du folgende
Worte darauf schreiben, stechen oder schneiden kannst: abia, obia,
asbia; lege einen Kittel auf einen Scheerhaufen, schlage mit deinem
Stecken auf den Kittel und nenne dieses Menschen Namen, welchen
du prügeln willst, schlage tapfer zu, so wirst du denselben eben so
hart treffen, wenn er auch viele Meilen von dem Ort entfernt ist.
Statt des Scheerhaufens thut es auch die Schwelle unter der Thüre.
Allgemeine».
Uttehheim (Kreis Erstein) — Wenn man einen herausgerissenen
Zahn in ein Mausloch wirft, so wächst wieder einer nach.
Urbis (Kreis Thann). — Wenn man mit dem Messer in den fjaib
Brot sticht, so sticht man dem Heilande in das Herz
Enstisheim (Kreis Gebweiler). — Wer sich früher vom Soldaten-
leben befreien wollte, ging um Mitternacht auf den Kirchhof, holte
einen Knochen daselbst und nahm ihn mit sich, wenn er seine
Nummer zog. Er glaubte dadurch eine hohe Nummer zu ziehen,
wodurch man vom Militärdienst gewöhnlich frei wurde.
Roppenztoeüer (Kreis Altkirch\ — Wenn man ein Vaterunser
beten kann, während ein Stern (Sternschnuppe) zu einem andern
fährt, hat man eine arme Seele erlöst.
Bappemtoeäer (Kreis Altkirch). — Wenn zwei in demselben
Augenblick die nämlichen Worte aussprechen, ohne es zu wollen, so
sagt man, sie hätten eine arme Seele erlöst
Boppenzvoeiler (Kreis Altkirch). — Man sagt, wenn man eine
arme Seele erlÖHt, so wird man das nächste Jahr sterben.
Fislis (Kreis Altkirch). — Wenn einem auf der Jagd oder aii^
Reisen zuerst eine weibliche Person begegnet, so soll man den ganzen
Tag unglücklich sein.
Es ist schon vorgekommen, dass Leut^, die fest daran glauben,
trieder umkehrten.
XIII.
Der Hüsherr!
Lasispiel in einem Act von Daniel Gnttav Adolph HorsiA.
Scöne I.
(Der rideau geht uff — d'sc^ne blibt während dem Monologue leer.)
Linsespalter : (hinter de Coulisse.) Pfui Deifel, was isch
denn des vor a Staub ? — Wer klopft denn do widder sinni
Debbi* ufTem Gang öss? Ah» 's isch der Schnieder ! Heh do
howwe, diss kenne sie bliewe lonn. Schunn nit geoüe,
dass eini ihri sechs Kinder de ganze Daa üewerem Kopf
herum trepple^ dass er eim schier verspringt, un dass Ihri
Frau hit widder d' Wasserleitung laufe losst wie wüihi ;
wenn Ihri Frau wasche will, ze soll sie an de Bach gehn,
denn für diss hawi sie nit inrichte Ion. — Was riech ich
denn nurre? ah, d'Madam Bierebaum brennt widder Cafe;
heh, Madam ! Sie könnte Ihre Cafe awer au glich gebrennt
kaufe, statt so e Dampf ze mache, diss riecht jo abscheilich,
mer verstickt fascht ! — so Dings lied i nit in miem Hües ! ! !
Se^ne II.
S^raphine : Herrje, hitt isch widder nimmi züem üshalte
mit dem Mann, hitt isch er awer au zue üwel ! I mein
minne Babbe. S*isch halt widder amol 's Ziel gewese geschl,
un i mein als *s hann noch nit alli de Hüszins gebroocht,
dorum isch er so bös ! Au fond isch er e güeter Mann,
min Babbe, wenn nur 's Geld nit ward. Z'ersch komm ich
1 Teppiche.
— 183 —
b'ihm, un derno kommt awer glich hinte nooch 's (xeld ! —
Zitier denne Morye wueth er awer do in der Stub erum.
Z'ersch hawi nit gewusst was loss isch, no hawi awer
uff der Kalender geluet un hab's halt gsehn wo's fehlt.
Wenn i nur wüsst wer noch züe regliere hett ! Voyons un
peu : der im rez-de-chauss^ het*s glich gescht morye ge-
brocht, denn er kennt ne ! 's Herr Brummeis sin au exact ;
die wohne im erschle, no komme mir, — es kann doch
der Schnyder au nit sin, wo im dritte wohnt, un die
Wittfrau in der Mansarde, wo ihri pension alle Vierteljohr
touchirt, isch 's sicher au nit. 1 hab doch nieme vergesse ?
Ah si 1 awer der Herr muess bezahlt han, (zögernd) — denn
s'isch unser Garniherr un, un natirli hett er bezahlt!
1 muess emol 's ßabette froye^ verlieht weiss diss, wer schon
do isch gsin, denn die Maidle, mer weiss es jo, hasse halt
gar zue guet uff alles uff, 's isch als vielmohl awer au nit
guet. Enfin — Babelle, — Babette !
Scene III. ■
S^raphtne. — Babette.
Babette : (Kommt herin, links.) Was beliebt, Mamselle
S6raphine?
S^raphine : Ich hab dir schun vielmol gsaat, di'i sollsch nit
Mamsell Seraphine sauwe! Du weisch jo, dass i denne
Name nit liede kann. 1 kann au gar nit begriffe, worum
min Babbe mich so laufe het lonn ; wenn i zellemols schunn
babble hätl könne, ze hätt i mi gewehrt. — Düe solsch
einfach sauwe, Mamsell Finnele.
Babette : Awer d'Mamsell sin zfie alt un züe gross, dass. . .
Seraphi ne : Sülle, liewi Babette, bisch schunn so lang im
Hües bi uns, dass ich dir dis erlaub.
Babette : Wie Sie welle !
Seraphine: Apropos, due kensch d'Lünne au von mim
Babbe.
Babette : (bei Seite) 0 jeh !
Seraphine : Wie? •
Babette: Oja!
Seraphine: Un wursch au schon gemerkt hann, dass er sie . . .
Babette : Hitt het. 's isch au kein Wunder, 's isch halt
gescht Michaeli i gsin, un — Sie sehn, Mamsell, dass i ne
guet kenn I
1 Michaeli ist ein Vierteljahrstermin.
— 484 —
S^raphine : Hör, Babette, henn denn noch nit alii bezahlt?
Babette: So viel ich weiss, nein.
S^raphine : Herrje was, na do grieje mer noch ebbs ze-
n-erlewe. Wer esch denn noch nil do gsin ? (bei Seite)
es wurd doch der Herr Schmalhans nit sin ?
Babette : I glaub als d'Madam Bierebaum, d'jung Wittfran
im dritte . . .
S^raphine: Qame soulage I
Babette : I bin noch nil ferti — un der Herr Schmalhans!
S^raphine: Oh mon Dieu, der, der exact Herr, due trum-
piersch di sicher, — gell due trumpiersch dich ?
Babette: Nein, Mamsell Finnele^ i habb gewiss guet acht
genn, un s' isch eso wie i do saa.
S^raphine : Awer hör, diss isch jo gar nit möjli.
Babette: Worum nit. Nittwohr, der Herr isch jung, hei
grad noch kein brillanfi Zahlung un . . .
S^raphine : Awer Babette !
Babette: Si excusire, i will Sie nit offensiere, i weiss, dass
Sie un er . . .
S^raphine: (bei Seite) Es wurd doch noch nix gemerkt
han. (laut.) Was wit du domit sauwe?
Babette : Na, was oll i sauwe, i weiss, dass Sie denne
junge Herre gern hann.
S^raphine : Awer nein, i hab der doch gar nix gsaat !
Babette: Zell schun, Mamsell, awer mer hett jo Ohre ud
Auwe.
S^raphine : (bei Seite) Oh die Magd !
Babette : Sie wäre wisse, dass der Herr Schmalhans au
viel d^pense denne Monet het g'het, z'erscht diss nei Kleid,
wo Ihne d'Farb dervun so guet gfallt, — un derno e Huel
un e halb Duzed neji Hemder, Sie wisse jo, die, wo Sie
ihm sinni Initiale nin g'stickt hann !
S^raphine (bei Seite): Je tombe des nues. (laut) Was
sa^sch de do, wer hett dir denn dis gsaat?
Babette: Gsaat ? Nieme I nein Mamsell Finnele, sehn Sie,
ich pass nur uff; e jeder Schritt un Tritt, wo Sie mache,
weiss i. (S^raphine fait un geste) Unterbreche Sie nüe nit,
ich gib ufT Sie acht, wie wenn Sie mini eije Tochter wärde.
Hawi nit au e bissei s' Recht derzue? isch Ihn Mammeoit
kurz noch Ihne Ihrer Geburt gstorwe, un hawi Sie net
derno ganz uffgezöye, wie wenn Sie min eye Kind werde
gsin? Vergewe Sie mer dorum, wenn ich Sie hüet, awer
— 485 —
i mein's guet mit ne. Der jung Mensch isch ordeirtli un
gfalit mir au ganz güet, awer Sie wäre e schwerer Stand
hekumme un an de Wille von Ihrem Bahbe sfosse. Der
jung Mensch isch brav, awer was im Herr Linsespalter am
beschte gfallt, s' Geld, diss het er halt leider nii. Na, Ma-
demoiselle, griene Sie mer nit, i hab ne wohl jetzt s' Herz
e bissei schwer gemacht, drum vergewe Sie mir noch emol,
un i wurr ne au in dem Fall niitzli sin! (knejl hin.)
S^raphine (Hebt sie uff, sie umarme sich.) Oh du güeti
Babette. Du hesch erecht, du bisch mini zweit Mamme,
un wie i Di hab jetzt so höre redde, ze isch mer gsin,
dass nur e Mueter uff die Art züe Ihrer Tochter redde kann.
Seime IV.
Die Vorigea. — LtesespAlter.
Linsespalter (sieht beide umarmt)» Lue do, was isch denn
diss? Hann ihr nix andersch ze thnen, als do here zue
stehn un euch zue bichte? Euch hawi au noch gebrächt,
für mir 's Lewe sör ze mache. Welle ihr mache, dass ihr
an euri Arweit kume!
(Babette tritt ab. ~ S^raphine nimmt-e-n-Arweit.)
Seraph ine: Oh Babbe, was hesch de denn, düe besch hit
gar nit güet gelönt.
Linsespalter : Was bin ich! E Wunder! (Pustend.) Uff!
isch diss e WirthschaA in dem Huss, was hawich für Lo-
catar. Zwei Hüsszins sin noch nit leglirt, un gescht esch
's Ziel g'sin. 's isch nit zuem ushalte! Awer die solle nur
kumme. Uffsaa due i ne, grad uff der Siell, oder soll i ne
glich der Hässje schicke, i hab's ganz willes. Do isch zuem
erschte der, — der na — wie soll i saa, unser Chamber-
garnizipfel, do der Schmalhans, na der soll mer nurre kumme,
der isch mer doch schun a Wyll zueviel.
S^raphine: Ach Crott — oh Babbe, wie kansch nurre so
redde.
Linsespalter: Was saasch ? Wie ich so redde kann, na
wursch sehn wie i denne empfang. — No zuem zweite die
Wittfrau, die hett bigott au noch nit bezahlt. Na di wur
i awer au grieje. (bei Seite) Hein, was hawi gsaat? Die,
die. . .
Seraphine : Nein, so Dings kann ich nit höre, i geh in
min Zimmer. (S^raphine ab.)
L i nsespal ter : Geh weye mer zuem . . . halt, 's isch jo mini
Dochter. — I möcht nur wisse, was diss Maidel hett, es
macht mer schun e Wyl e so e sunderbars Gsicht. Diss
will mir bardu nit gfalle.
— 186 —
Sc^ne V.
Linsespalter. — Mme. BierebAvm.
(Es klopft.) (Linsespalter setzt sich an den Tisch.)
Linsespalter : Awer alles will mi glauwi hitt emh^tiere,
i glaub, jetzt kommt am End au noch Visit ! — Entrez !
Mme. Bierebaum : Bonjour, Herr Linsespalfer.
Linsespalter: Guete Daa.
Mme. Bierebaum : (erstilnt) Tiens, tiens, hit esch er awer
Irucket, gewöhnli isch er gar nit so mit mer ! —
Linsespalter : (ungeduldig) Madam, dummle Sie sich a
bisseL
Mme. Bierebaum : (bei Seite) I glaub er wurd au noch grob.
Do hawi jo gar nit 's Herz ihm ze sauwe, dass i d'Woh-
nung geranschiert möcht han. Herr Linsespalter, do bring
i ne de Huszins, un . . .
Linse Spalter : Eh, dass mer witterscht redde, welle roer
sehn obs richtig isch.
Mme. Bierebaum : (bei Seite) Oho! (laut) Do, Herr Lin-
sespalter, lueje Sie nooch un do han Sie 's Büchel zöem
inschriewe. (Sie legt das Geld auf den Tisch. — Linsen-
spalter zahlt.)
Linsenspalter: 's isch erecht, (er quittirt.)
Mme. Bierebaum : (bei Seite) Er hetts «merci« vergesse!
(laut) Unn derno möcht ich au d'Wohnung geranschiert
bann, denn . . .
Linsespalter : (auffahrend) Was welle Sie ? d' Wohnuo«:
geranschiert han, ah, par exemple ! i hab sie jo erseht for
8 Johr wissle un dabeziere Ion. Sie komme mir erecht,
Madam. Ich bin nur erstünt, dass Sie mer so ebbs l>egehre?
Erschtens komme Sie e Daa mit-em Zins züe spoot, un
derno welle Sie au noch arrangements. Wisse Sie was,
wenn ihne d'Wohnung nimmi gfallt, so könne Sie uff Wy-
nachte zeye. — I loss nix mache, i kann nit, i will nit,
i hab kein Geld.
Mme. Bierebaum: Herr Linsespalter, diss halte Sie nier
awer au im e bessere Ton sawe kenne ua nit so grob!
Na, 's het allewil gheisse, dass sie nit ari fin sin un i liab's
jetzt mit mine eijene Ohre müen höre !
Linsespalter : Auesblickli verloon . • .
— 487 —
Mme. Bierebaum: Guet^ guet, i weiss schun was noch
kummt, awer sauwe will ine nur noch, dass Ihr Benemme
wuschter esch als mini Tapet, und dass Ihri Seel noch viel
schwärzer esch als min Plafond, (spöttisch) : Adje, Herr
Linsespalter, nix für unguet. — (ab.)
Sc^ne VI.
Linsespalter : (ruft ihr nach) Hein ! Was, hör ich erecht?
Awer, Madam Bierebaum, diss zahle Sie mir heim ! So
growi Beleid igunge eim an de Kopf ze schmisse. Diss loss
i nit derbi un wenn i mit Ihre vor der Herr Maire muess.
Ufl* der Stell geh i hin un verklau Sie. — (ruft) Babelte!
Babelte !
B a b e 1 1 e : Was beliebt, Herr ?
Linsespalter: Min Stock, min Huel, mit Angles ! un e
bissei flinker als sunscht, denn i bin leids pressirt.
B a b e 1 1 e : Glich, Herr Linsespalter, (ab.)
Linsespalter: (Zieht das rohe de chambre aus.) Ich wur
doch einmol sehn^ wer der Hüsherr esch.
Babelte: (Babette erscheint.) Do haw i's, — soll i ne helfe?
L i n se s p a 1 1 er : Jo, (Duel sich an) alle ! schick di : So. —
Nein, diss isch mir jetz doch zu viel, meinsch, kommt do
d' Madam Bierebaum, un macht mir Grobheite ! awer ich
nemm sie vor, un düe bisch 2^ije.
Babette : Ich hab jo ni.v ghört noch gsehn !
Linsespalter: Diss macht nix. Sin schun viel andri au
Zeije gsin un han noch weniger gsehn als wie du. (ab.)
Sc^ne VII.
Babette — dsnn Schmalhans.
Babette : Was isch do vorgfalle? Ha ha! die wurd wohr-
schinli d' Wohnung gemacht welle han ! Na do het sie de
letze verwilscht ! Unser Herr isch zäh wie a Bifteck uss-m
Kuppelhof ! Un derno isch er dllewey grob worre un sie
wohrschinli spöttisch, denn sie kann's. — I weiss nit, er
wurd verlicht unterweys reuig un kehrt widder um, denn
die Madam duet ihm grad nit so uewel . . . ('s klopft.)
Entrez . . . enfin, i kenn mini Lytt.
Schmalhans : Bonjour, Babette, isch der Herr Linsespalter
nit do?
— 188 —
Ba bette : Nein, er isch grad ewe furtgange un diss in eim
Schüm ! Awer, — wenn Sie welle, dass i ne d'Mamsell ruef,
die isch d'heini.
Schmalhans: Jo^ wenn Sie so guet welle sin. (Babette ab
rechts.) Was e Gifick ! Ireff ich doch emol die Mamsell
ellein, un brüch nit Angst ze bann, jedi Secund verscheicbt
ze wäre, als wie uns diss als bassirt, wenn mer uff-m
Gang stehn un e Wörtel mitnant redde . . . (hört) sie
kuiyinit.
S^raphine: (zögernd.) Herr Schmalhans !
Schmalhans: S^raphine, — pardon Mademoiselle, wenn i
ne so saa, awer ich kann nit andersch. Ich vergeh fascht
vor lüdder Fraid, dass ich doch endli 's Glück hab, Sie so
ellein zu treffe, dass ich ne emol erecht saawe kann, was
min Herz für Sie empOnd, un dass nur Sie allein min
ewiger Gedanke sin ! (drückt ihr die Hand.)
S^raphine: Ach, Herr Schmalhans, halte Sie in, — wenn
dis der Babbe höre dat.
Schmalhans: Oh, Mademoiselle, mit Ihrem Babbe wur iau
schun ferti wäre. Und wenn Sie welle, ze fröj ich bi ihm
um Ihri Hand, un hitt noch.
S^raphine: (coquett bei Seite) Diss war mir erecht. —
(laut) Awer Herr Schmalhans, Sie wisse jo gar nit, ob i
au wott!
Schmalhans: Wie? Nein, diss isch Ihr Ernst nit, gelte
Sie? Sie wisse jo wie gern dass ich Sie hab. Wie viel
Mol soll ichs denn noch saawe I Sie sin min Engel, min
HofTnungsstern ! (zärtlich) Voyons, dites moi, bann Sie roi
nit au gern?
S^raphine: (moitiö vaincue.) Herr . . .
Schmalhans: Nur e ganz kleins Bissele.
S^raphine: (vaincue.) Oh... doch, e bissel-viel ! (rou-
gissante.) A, mon Dieu, jMai dit.
Schmalhans: (fallt uff d'Kney, halt ihre d'Händ.) Ob, du
liewer Käfer, Sie nemme mir a Zentner-Lascht vom Herze.
— Ah, quel bonheur S^raphine — du bisch min 1 1 !
(kusst ihr knieend die Hände.)
1 Scköm oder Hatz will beissen «Hetze, wüthend».
— i89 —
Scilla vm.
Die Vorige. — Babette. — Linflespalter.
(Im nämliche Moment, wo der Linsespalter eryn kommt, steckt
's Babette de Kopf rechts eryn.)
Ba bette: Ich komm zue spoot, i hab welle preveniere. (ab.)
Linsespalter: Der Gükuk un kenn End ! !! was sieh ich
do?
Söraphine: Der Babbe, ach Gott ('s wurd ihre üewel ! Der
Schmalhans fangt sie ufT iin hett sie in de-n-ärm.)
Schmalhans: (bei Seite) Diss isch jetz e schoeni Gschicht.
(laut.) Herr Linsespalter, Ihn Dochter . . .
Linsespalter: (einfallend) Sie, Herr Schmalhans, was sin
Sie eyetlich au für a Burscht. Kneye Sie do mir nix dir
nix in miner eeijene Stub uff mine eijene Bodde, un diss au
noch vor mim eijene Kind ? Dort isch dThür !
Schmalhans: (bei Seite) I dät gern, (laut) I kann jo nitt.
Herr . . .
Linsespalter: (steht vor-ne.) Was sauwe Sie, Sie könne
nit? Ja, was hebt Sie denn, ich nit. — Ja^ meine Sie,
dass ich mir diss alles von Ihne gfalle los? Verklaut wäre
Sie — höre Sie — verklaut, ah Sie meine, dass mer mich
mit so Mins bezahlt! — Allez-vous en (Linsespalter dreht
ihm den Buckel).
Schmalhans: (bei Seite) Sapristi isch d'Mamsell S^raphine
awer schwer! Diss hätt i nit geglaubt. — Was soll i
nurre-n-anfange ? (laut) H^ (ruft) Babette, Wasser !
Linsespaller: Ja wie viel Mol soll ich Sie noch heisse näss
gehn? Könne Sie denn nitt französch?
Babette: (kommt.) Herje, unseri guet Mamsell! (schitt
Wasser in e Glas) — ich glaub 's wurd ihre weh !
Schmalhans: (bei Seite) Mir au, wenn ich sie noch lang
hewe muess. (laut) Babette, helfe Sie mer sie do ufl's
Canap^ laje — so — merci. Awer jetzt geh i, sie macht
d'Aue schon widder uff!
Linsespalter: Luej do, — ma (ille, min Kind, wach uff!
Babette: Do sin Sie Schuld dran.
Seraphine: Oh, Babbe, hesch du mich verschreckt!
Linsespalter: So, so, diss heisch du verschreckt, wenn i
diss töte-ä-töte do zuem Glück verstört hab, wo du mit
dem Herre do g'het hesch? Na wart nur, ich will dem
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schon saawe vor wem dass er züe kneje hett. Babette, saal
Sie ihm, er soll so schnell als möjli mache, dass er zuem
Hüss nüss kommt. Der soll nimm so ufidringlich sin un
dir Angst un Schrecke injauwe.
Ba bette: Diss due i min Lebdesdaa nit.
Linse Spalter: Hah, jetz wurd's guet ! Du au wursch sletti,
was esch denn diss für a Complott? Ah-so, eh bien, weisch
was, do hesch dinne Laufpass, Geh un pack dini sewe
Sache zamme un süffer mir mini manage! (Babette ab.)
Seraphine: Herrjerum, Babbe was machsch Du; schicksch
's Babette fürt !
Linsespalter: Was i do mach ? de siesch jo, alles diss Un-
geziefer müss mer züe der Barack nüss, sunsi gibt's kein
Rüeh. I will doch emol sehn, wer do Herr un Meister
^sch I
S^raphine: (entschlossen.) Eh bien, Babbe, ich geh au fürt !
Linsespalter: Haha, hör a Mol do, was fallt denn Dir in?
Seraph ine: Es fallt mir nix in, Babbe, awer in denne Con-
ditione kann i nimm d'heime bliewe. Do isch jo eim
's Lewe verleid ; Du duesch jo hilt, wie wenn Du äs em
Hiesel wärsch.
L i n s e s p a 1 1 e r : Ma ßlle, i ghub Du widd mir au noch Moral
mache ?
Seraphine: Moral oder nitt. Du hesch der Madame Biere-
baum uffgsaat, der Herr Schmalhans hesch furtgschickt,
un jetzt hesch au noch 's Babette fürt heisse gehn, eh bien,
jetzt blibt mer nix mehr anderscht üwrig, als au ze gehn.
Linsespalter: (bös.) Du bischt jetzt still, du babbelsch
ganz Zitt vom Fortgehn. Wo wottsch Dfi denn hin? Du
worsch schön do bliwe.
S^raphine: Nein, i geh zu minere Tante, die wurd mich
schun bie Ihre b'halte, un verzähl ihre, was Du mir ge-
macht hesch un wie mit de Litt bisch, wo bi Dir wohne.
Linsespalter: Was ich Dir gemacht hab ?
S 6 r a p h i n e : Der Herr Schmalhans hättsch nitt
Linsespalter: (aufbrausend.) Kein Wörtel meh. — Ah so
raucht's? D'Mamsell het e Schatz. Eh bien, ma fille, denne
müsch Dir üssem Kopf schlaa — , do wurd nix drüss.
Tiens, tiens, diss hätt i nit gedenkt, dass diss Ding so
Ernscht esch ! Da kommt der Erseht beseht eim in's Hös
un verdreyt eim synere Tochter der Kopf un meint diss
geht eso. Nein, niemols.
— 191 —
S^raphine: Entweder wurd der Herr Schmalhand min.
Mann, oder i geh in's Kloster ; i nemm kein anderer.
Linsespalter: Oh,/s wurd als besser. Diss welle mir e
mol sehn ! Ich saa der awer nein, un domit punklum,
kannsch mache^ was Du witt.
S^raphine: Na^ ze geh ich fort.
Li n ses pa It er : (ufgebrocht) Miliionelement^ ze geh weje
mir zum .... un los mir min Fried.
(S^raphine ab.)
Scöna IX.
L i n s e s p a 1 1 e r : So, jetzt wurd's doch emol Ruej genn !
(setzt sich.) — Do zeje ihr ey-e-ri Maidle gross un diss
isch der Dank. Kümm henn Sie de lange Rock an un
de Zopf gei-e-ne posierten coifTure vertuscht, so meine Sie
schon, sie sin's un derfe mache, was sie welle. Un stetti
isch des Maidel, i hätt niemols gedenkt, dass es mir mit
so etwas geje de Kopf stosse wurd ; na es wurd wirklich
sich driwer noch denke und sicher sehn, dass i recht hab.
I könnt mer de Kopf verschlauwe, dass ich an so ebbs
nit gedenkt hab, wo der Schmalhans yngezoie-n-isch. Hatt
i gedenkt, dass sich mini Tochter mit dem chambregarnie
abgitt ? Awer do tröje jemand ! nit emol sich selber kann
mer meh tröje (steht auf.) I bin neigieri ze wisse,
was s' S^raphine do hüwe in der Stub macht? (luejt nin.)
Gomment, 's isch jo nitdo? sollt's am End jo.. . Ah, di.ss
esch nit mögli, mini Tochter — kann mich doch unmögli
so verlonn ! (ruft.) Finaele, S^raphine ! . . . Kein Antwort !
Oh Gott, was hawi angstellt, min einzig Kind thuet mi
au noch verlosse un losst mich arme, alte Mann allein !
Verlicht trumpier ich mich, un es isch am E]nd bi jemand
im Hus,. ich muess es süeche, ich zitter, ich ridder . . . i
muess Gewissheit bann I (ab au fond.)
Seine X.
S^raphine. — Linsespalter.
S^raphine: (kommt herin, zum Ussgehn gerischt.) So, jetzt
bin i gerischt. Ach Gott, 's fallt mer doch a bissei schwer
s'Furtgehn. Was wurd min armer Babbe anstelle, wenn
i nimmi do bin. Awer es geht nimmi anderscht. Na, adi^
Maman (eile envoie un baiser au tableau repr^sentant sa
— 492 —
m^re) — (avec Emotion) adi6 Stub! (Linsespalter kummt
erin links) adj6 Bal^!
Linsespalter: Ma fille, S^raphine, — witi denn Du mich
jo verlonn ? Kannsch Du mich denn . . .
S^raphine: (S^raphine langsam ab.) 0, Babbe, ich hab
Dich jo so gern, awer der Herr . . . Schmalhans au, un diss
ischs, wo mich fürt triebt.
Linsespalter: Schon widder der Name . . . was soll i denn
mit dem Maidel mache? 's isch doch nix anzufange (ne la
voyanl plus) S^raphine, wo bisch ? (lauft an d'Thür.) Fin-
nele komm zeruck. Du sollsch ne bann ! — (S^raphine
freudig herein.)
S^raphine: Oh, merci, liewer Babbe, (embrassant) awer
gell^ glich uff der Stell gibsch uns zamme?
Linsespalter: Pressirts denn eso !
S<^raphine : Oh ja, no wurscb au niemmi reig. Un gell,
Babbe, de losch mi au mit dem Hebre denne Owe uff de
Ball, wo sinni Soci^tät gibt?
Linsespalter: Au noch, weje mir. — Ja, was isch denn
diss for a Soci^tät?
S^raphine: Ei d'Harmonie.
Linsespalter: Ah gell, diss isch die, wo der Pr^ident
dervon erseht kürzli in de Gemeinderoth isch komme?
Seraph ine: Jo, Babbe.
Sc^ii« XI.
Die Tori|r«ii. ~ Babette. — ScknaUuivs.
Ba bette: (kummt herin getischt züem Furtgehn.) I will ne
myni Adj^ mache, drum komm i noch emol herin.
Linsespalter: I glaub, Dir esch nit guet? Glich blibscfa
Du do un hol mer amol d'Madam Bierebaum. (Babette ab.)
S^raphine: D'Madam Bierebaum ?
Linsespalter: Ei jo, un Du geh und hol Dir emol denn«
Herr . . .
S^raphine: Oh gern (wie si Thür ufmacht, steht er dervor
e valise in der Hand).
Schmalhans : Adi^, S^raphine, Du siesch, ich geh von
danne.
S^raphine: Mach kenn Dummheite und kumm emol erio.
Schmalhans: (stotternd) Ich — i — ich? soll erin kumroe?
(bei Seite) ja un din Babbe?
- 193 —
Linsespalter: Approchez donc, junger Mann^ Sie solle
an mir e Vater bann, drum geh ich Ihne do mini einzig
Tochter, — Do, Seraphine (lui met sa main dans celle de
sa fille) hesch-ne.
Schmalhans: (losst vor plaisir d'valise falle.) Oh, Herr S6-
raphine, Sie mache mich zuem glücklichste Linsespalter.
Linsespalter: Was saat der?
Seraphine: De sisch jo, er isch ganz verwirrt, (zu Schmal-
hans) AUons, calmier dich doch !
Seene XII.
Die Vorigen. — Babette. — Mme. Bierebanm.
Mme. Bierebaum: (en entrant ä Babette) Höre Sie, sin Sie
au sicher, Babette, dass er mich het ruefe lonn, denn i
kann nit begriffe worum?
Babette: Er wurds ne jetzt schon klar mache !
Linsespalter: (apres avoir touss^.) Madam, Sie y/äve sich
erinnere .kenne, dass i gsaat hab, dass ich mit-ne vor de
Mär kumm?
Mme. Bierebaum: Ich glaub fascht — un derno ?
Linsespalter: Un derno — na nemme Sie mich als Mann,
no komme mir vor de Herr Mär.
Mme. Bierebaum. Ho, worum nit, wenn's ne plaisir macht
(bei Seite) Er bessert sich, mir isch's
erecht.
S^raphine: Hein Babbe, was machsch denn do?
Linsespalter: Ich nemm e kleini Revanche uf! euch zwei,
— so bekommt min Schwejersohn au noch a Schwejer-
mueter.
13
XIV.
D'Milionedande üss Amerika
oder
d'Verwande uf der Prob.
Schwank in 2 Akten von Emil Oberthflr.
Aufgeführt im cStrassburger Nautischen Verein»
am 30. November 1889.
Personen :
ToMSON Mbtir, Reotner aus Amerika sorfick.
Tante Lbhnbl, deasen Frau.
RoBiNB Sbnft, deren Schwester.
JuLBs Sbmft, Sohn.
Gboro Havmbr, Mechaniker.
Lina, dessen Frau i *t «• ■• i^t. ,
T T» o L-fl. ' Neffe und Nichten
Jakob Rudbr, Schinmana ; , „. , , i
o - T%T • der Tante Lehne!.
boPHiB, eine Waise 1
Jabnobl, Lüiblb, WtBSBLi Hammer'^ Kinder.
GuscHTBL, Fritz, Ruderer.
i
— 495 —
Akt I.
(Die Scene stellt eine Partie des Ostwaldes bei Strassburg vor^
ist leer, man hört einen fernen, sich annähernden Gesang.)
I. Scene.
(Jängel, Lüiel und Wiesel kommen angesprungen.)
L ü i e 1 : Ah ! do isch e schöner Platz, kumme, do isch Schatte
un scheen Gras. (Güschtel und Fritz springen wie aus
einem SchifT und helfen den übrigen Personen beim Aus-
steigen.)
Rosine: [schreiend.) Gewen acht, i bin krietzli.
Ta n t e : Ach, wie scheen isch's do ! Awer min Kumplement
dene junge Litt, wo so scheen un so schnell gfahre han,
die kenne's emohl.
Jakob : Mer sin jo alli Mitglieder vum Strossburier Nodische
Verein, wenn wir nit fahre kennte, zell war, weier, noch
scheener.
Jules: Vergessen awer numme den Immes und d'Rafräsch-
issema nit üs em Schiff ze lade, (zu Tom) Was steht Er
do, wie en Oehlgetz, hol Er ebs ze drinke derzue, versteht
Er mich.
Tom: (welcher den Tauben spielt) Ja, recht scheen Wetter
hit.
Jules: Ach was I scheen Wetter, lang Er de Budellekorb,
schaff Er ebs.
Tom; Am Missisipi isch awer viel heisser.
Jules: Isch denn Er daub oder het Im, par Hassar, am
Missisipi, d'Sunn s'Hirn usgerohtzt.
Tante: Schüll, sei nur guet mit em Tom, 's isch jo der
beseht Mensch, wo mer finde kann.
Jakob: Drum meecht i au de cousin Jules bitte, 'ne anstän-
diger ze traktiere, sunsch wurr ich em zeije, wo der Bartel
de Moscht holt.
Jules: Jo, 's isch guet, Schagebel, mer weiss jo, du meechtsch
der e roths Reckel verdiene.
Georges: (Mit Auspacken der Esswaaren beschäftigt.) Was
isch denn do? Do isch jo e Duzed Serwila, wo nur acht
Stück dran sin.
— 196 —
Guschtel: Kenn Wunder, der Herr SchCiU bet halt de
Proviant ze verwalte g'het.
Jules: I hab unterwijs als numme geluit, ob si au frisch
bliewe un do hawi vun Zit ze Zit eini versueche mien. I
hab sie doch nit kenne verowose losse.
Georges: Ja, un do isch e gebroteni End, wo nur noch
ein Schinkel dran isch.
Jules: Die isch iwerm Schlofe gemetzt worre, do schtehn d
als numme mit eim Fues do.
Fritz: Oder der Schüllele hat sie unterwäis ambütiert.
Tante: Jetzt, ihr Kinder, welle mer's es bequem mache ud
unser Breakfast in Gremüthlichkeit milnand geniesse un
dene scheene Da in Friede un Einigkeit zuebringe.
Georges: Awer diss isch jetzt doch nit ein Duen, do sin jo
bigosch nix als leeri Budelle in dem Korb, hätt denn ehe
der Schul! die au üsgeluckelt.
Jules: Es sin nur d'ewerschte zwei, do het d'Sunn so drof
gebrennt, dass sie allewei ingedrikelt sin.
Jakob: Schüll, i sa der jetzt, wenn's noch emol vorkumml,
dass ebs uf die Art verdrikelt no isch, no wursch Du ge-
dünkt, nit dass Du es am End au noch ze druket wäre
dätsch.
Georges: Na, loss nur guet sin, Schacob, mer weiss jo, dass
der knifflisch Schul allewiel sini Schteess loos muess lonn,
un dass em die zwei weggebutzte Budelle besser gschmekt
han, als wenn er vier anderi u(T en ehrlichi Art bekumme
hätt.
Jules: Merci, Jörri, für dini Verteidigung, awer so en Ad-
vokat hätt i keine gebrucht.
Tante: Kein bilteri Wort, Ihr Kinder; Sehn, i bin so glickli
unter Euch ze sin. Ihr kenne gar nit glauwe was des e
Gruenz isch für e Strossburjer Kind 90 Johr lang, vun
sinere Vaterstadt entfernt gelebt ze han, ohne de Minster-
zipfel ze sehn, und no wider heimzekumme frisch un gsand,
un e grosser Deil vun sinnere liewe Famili wider ze finde.
Obschun sich viel hie verändert het, allwiel mir in unserm
Hinter wald in Amerika gelebt han, wo ich au manches
erlebt hab ; ze sin mer mini Jugenderinnerunge wider ganz
frisch inkumme, un d' Anhänglichkeit an mini Famili un
d'Lieb zu mim Heimatsland sin starker als noch jemols in
mir wach worre.
Georges: Jetzt Tante welle mer awer au en Awotsante
mache.
— 197 —
Tante: Ja, vun ganzem Herze soll's erst Glas unserra liewen
Elsass un sinere Hauptstadt, unserm guete Strossburi,
gelde.
Alle : (stehn auf.) Strossburi soll lewe !
Tante: Ja Strossburi! mini Heimat, du schöner Ort, wo i in
minere Jugend, d'erst Freud un's erst Leid empfunde hab.
Wo i durch d'Lieb un d'Sorgfalt vun mine arme, awer
braven Eltern, ufgezöue un gelehrt bin vvorre, min Brod in
Ehre ze verdiene. Er gedenkt mer allewiel noch, der
Schmerz, wo ich empfunde hab, wo ich dich verlosse hab
mien, fascht ohne Hoffnung dich je widder ze sehn. Ich
hab's gfiehlt, wie unglickli die arme Mensche miese sin,
dene's Schicksal nit erlaubt, in ihri Heimat zeruck ze
kehre. Un wie glickli bin ich, in mim Strossburi, wo's
eso schön isch un bi allem, was mer uf der Welt am
liebste isch, min Famili, jetzt ze lewe un . . . emol ze
sterwe. (Die übrigen Personen auf der Szene stimmen
den Chor an : In der Heimat ist es schön, von J. Krebs,
Musik A. Zöllner.)
Lina: Tante kumm, jetzt welle mer e Promenädel mache in
de Wald, de wursch sehn, wie's der doil bi der Fischer-
insel gfallt, d'Hecke un d'Bäum sin noch wie friejer un
d'Ill, die isch noch do's nähmli wie vor 50 Johr, het mer
als min Babbe g'sad.
Rosine: Herjeh ! do isch e Blindschlich im Gras.
Jakob: (springt hinzu und hebt eine Cigarre auf.) Ah, ba,
's isch nur eini vum Schüll sine plein-air-Cigarre, wo er
uns als d'Schnoke mit verscheicht.
Alle : Jetz awer in de Wald.
J ä n g e 1 : Ich mach e Wiedepfiff .
L ü i e 1 e : Un ich fang Papillons.
Wiesel: Un ich mach de Tante e schön's Strissele.
Jakob: Awer einer mues do bliewe un d*Kleider un d'Ess-
waare biete.
Tante: Der Tom kann dies schun b*sorije.
Jules: (zu Tom.) Awer nit, dass Du Dich do derhinter
machsch^ Du alter Bär.
Tom : Nein, nein, ich geh nit mit, min Mistress hat g'sad,
ich soll stop hier.
Jules: Ah, dini Mistress, na dini Mistress isch en alti
Kwatsch (alle ab ausser Tom).
»>
— 498 —
II. Szene.
Tom: (versichert sich, dass er aliein ist.) Also, dini Mistress
isch en alti .... wie het er gsad ? Na 's isch doch e fa-
mosi Idee, wo i hab g'het, minere Frau, dere guele Tante,
angerothe, ihri, ihr unbekannte Famili, e Bissei üssze-
speküliere, für ze wisse, mit wesse Geisteskinder mer's
eietli zu thuen het. Die guet Frau meint, dass bi dene
Veränderunge, Vergrösserunge un Verschönerunge, wo
zitter unserm Uffefhalt in Amerika, in Strossburi gemacht
sin worre, d*Litt gebliwe sin, wie vor 50 Johr, dass Handel
un Wandel noch so ehrli betriwe wäre, wie zue zelle Zitte.
Ja, heb's am Oerel ! Sie losst sich nit im Traum infalle,
wie obsenat mer mues mit de Litt hitzeda's umgehn, wenn
mer sie nit genau kennt, — ärjer als mit den Indianer.
Mer darf nur d'Reklamme vun de Zittunge lese, was do
nit alles vorkummt : Ausverkauf, Unterm Fabrikpreis, Noch
nie dagewesen, sogar in Vers sueche sie d^Litt in d'Läde
ze locke, für sie drin ze mutze! Doch still, do kummt Je-
mand, jetzt g'schwind widder de Dauwe gemacht.
III. Sxene.
Bofllne und Jules.
(Tom begleitet die 2 folgenden Dialogue mit mimischen
Bewegungen.)
Rosine : Ich sa Dir, Du muesch vielmeh sueche der Tante
ze g'falle; Du muesch dühs schiene wie e Lämmele un
ehrli wie e Bimmerle, für dass Du emol ihr Haupterb
wursch un awer unterdesse so viel wie möili erüs trottsch
an dem viele Massumme, wo sie het. Awer bedenk's : mit
growe, unanständige Worte lenkt mer ken Hund unterm
Offeloch evor. Still, do isch jo der Tom.
Jules: Oh, der daub Hafe mit sim dumme G'sicht, der kann
uns g'schtohle wärre.
RJo sine: Jules, De weisch, mer kan hitzedas ken Mensche
meh dröüe.
Jules: 's isch schun guet, Mama, Du weisch jo, dass ich
g'scheider bin, als die Alli, un dass i unser ganz Famili
zeh Mol iwertilpel. Ich hab mine Plan. Z'ersch due i
emol mini Kusine's Sofferle hierothe, i bin in die lieb' Krott
ganz verschösse, zitter dass i weiss, dass zwölfdöusend
Märkte uf sine Kopf placiert sin, wo em üsbezahlt wäre,
— 199 —
am Da, wo's majoren wurd. Dovun weis der Jacob
kein sterwes Wörtele, der plump Schiffisch, un doch
schlicht er dem Maidel noch ; un i glaub ersch noch, dass
es ne gern sieht. Awer, wenn ich emol uftritt un mini
offres de Service mach, no kann der Pfutscher de Latrett-
marsch anschlaue, wenn er will«
Rosine : Ja, wenn's nur au so sicher war, wie Du Der's in-
bildsch.
Jules: Awer Mama, d'Wahl zwischen em Jockei un mir kann
jo nit andersch als uf minen Awantasch üsfalle. Betracht
mi doch emol recht. Un no die schön Position, wo ich
em ofTrire kann.
Rosine: (lachend) Position, ha Position, Du verdiensch jo
nit emol Geld für der . . . Pummade ze kaufe. Du bisch
jo üs alle Krembeläde, wo de bisch g'sin, näsgejauit worre,
wil de de Litte d'Waar verpfuscht hesch.
Jules: Verpfuscht I nix hawi verpfuscht. Die Spitzbuewerei . . .
ah, Spezereihändler han die hittige progräs nit verstände,
sunsch hätte sie sich nit verzirnt, dass i dem Eine sini
schlechte Schikori mit gemahlene Lokäs verbessert un im
Andere sine Pfeffer mit Leime verstärkt hab. Un wenn i
de Hunni mit Fruchtsirop verlängert hab, was han sie
denn do derbie verlöre?
Rosine: 's Zuetröüe un d'Bratik han sie verlöre.
Jules: Na wart, wenn ich emol im Sofferle sini Minz hab,
no fang ich e grosse Pariser Lade an un mit minere In-
telligenz mues ich gueti Geschäfte mache. No wursch nim
saue, dass ich ken Position hab. Doch jetzt mues i gehn,
i bin sicher, 's lieb Soffejel suecht mi iwerall. Jetzt 's
schad nix, wenn die Mamselle als e Bissei noch eim
schmachte mien. (ab.)
Rosine: (ihm nachschauend.) 's isch halt e Birstel, wie en
Engel, (ab.)
IV. Szene.
Sophie. — Jakob.
(Tom im Hintergrund.)
Sophie: Was nur diss isch mit fmim cousin Schakob, e
Zitt her kummt er mer ganz andersch vor, als sunscht,
er isch nim üszegschtehn. V^enn er mi als anluit, bin i
ganz verdattert, un wenn er so artli mit mer isch, bin i
Widder so verschameriert. Redd er mit mer, ze bobbelt
— 200 —
mer's Herz iwerlütt. Diss isch e Zuestand, der kann nit
so bliewe. Bi der erste Geiejeheit will i*s em awer stecke,
dass er nimm mit mer ze redde brücht un mi au nim
anluie soll.
Jakob: (inzwischen eingetreten.) Sofferle, was hawi g'hört?
Wem wid*s verbiete, dass er nimm mit der redde soll?
Sophie: (für sich) Na, so schnell hätt die Geiejeheit nit ze
kumme bruche. (zu Jakob) 's isch jo nit bös gemeint. I
hör Di gern, wenn d'mit mer reddsch, awer De soUsch's
nit duen un i sieh Di au gern, awer, i bitt Di drum, blie
vun mer eweck.
Jakob: Liebs Cusinel, do halt'sch mer jetzt e raisonnement,
diss isch so klar, wie e Knöpfelbriej. Also Du hörsch mi
gern, awer i solFs Mühl halte, un De siesch rai gern,
awer i soll d'Platt butze, comprends pas. Uebrigens hawi
Di ufgesuecht, um en ernsts Wort mit Der ze redde.
Sophie: (für sich) I wurr ne doch nit beleidigt han, am End
will er jetzt nix meh vun mer wisse, (weinend) 's isch
halt en Unglick, wenn mer ken Mama het, wo eine gidiere
kann un eim saue kann, wie mer sich ze benerame het,
— (weinend) dass mer e Mann krieit. (zu Jakob) Ja, was
hesch mer denn so seriöses ze saue?
Jakob: Ah, was i der ze saue hab. Hm, Hm, (a parte
Heidegaleh ! jetzt bring i glauwi nix meh rüs. — Wenn
mer diss Gebabbeis nit gewohnt isch. Hm, Hm, i hab
noch express e langi Redd instudiert, hab awer jed's
Wörtel dervon vergesse, (laut) Ah ba ! D' beseht Red isch
die, wo frisch vun der Lewer eweck kummt, die vergisst
mer nit (nimmt Sophie an der Hand). Liebs Sophie, do
isch min Herz, diss schlaht nur für Dich un do isch mini
Hand, die begehrt nur für Dich ze schaffe; wenn Der
Eins un's Ander guet genue sin, ze g'höre heidi Din. E
grossartigi Lewesart kann i Der nit verspreche, awer geliebt
un g'ehrt sollsch sin, wie d' vornehmst Frau, un so lang
mer en Au offe steht, un i e Glied riere kann, w^urr i
derfur sorje, dass der Mangel und d'Noth de Wej iewer
unseri Schwell niemols finde wäre, (für sich) Jetzt isch's
hüsse. (zu Sophie) Was! De sasch nit nein, jetzt bin i
der glicklichst Mann. — Do's Handel druff.
Sophie: Ja, do hesch's, un vun ganzem Herze; awer ein
Cundition muess i stelle.
Jakob: Un die war ?
Sophie : (geheimnisvoll) In acht Da wurr i majoren, un vor
dere Zitt derf nieme vun unsere Verhältnisse ebs wisse.
— 201 —
Jakob: Diss isch hart für mich, denn i möcht jetzt schun
unser Glieck in d'ganz Welt nüss possöüne, awer wil Dü's
verlangsch, wurd's MQhl g'halte un zuer Bschtädigung e
guets Krächerie (kusst sie).
Tora: (während dem Kuss) Hizah I
(Sophie und Jakob laufen erschreckt auseinander, während [die
Gesellschaft singend aus dem Walde zurückkehrt.)
V. Ssene.
Lüieie: Uiah ! Ich hab e Schwalweschwanz un e Miller-Maler
g'fange.
Jängel: Un i hab e Spitzel für an min Fischgert abg'schnitte.
Tante: Was e herrlicher Spaziergang, der schön grün Wald
und diss prächtig Wasser.
Jules: Do find i nix schöns an dem Wasser, wenn Einer
ninburzelt un kann nit schwimme, versöfft er wie a
Schieng, wie im en anderen Wasser au.
Tante: Kinder I ich bin witt erum kumme un hab grossi
Fliss un See mit grossartige Landschafte g'sehn, awer
diess Gemietliche, diess Anzeiende, was unseri III an sich
het, diess haw i nienes g'funde. Die frind liehe Uefer, wo
sie inbändle, der stät un dühs Lauf, der grün be wachse
Bode un diess hell un rein Wasser ; mer meint grad, sie
will de Charakter un d'Seel vun ihre Anwohner drin ab-
schbiejle.
Rosine: (pathetisch) Ja ! un die gefitzt Partie Blindmieseis,
wo mer gemacht han.
Tom: (einen grossen Brief aus der Tasche ziehend und ihn
der Tante übergebend) Do den Brief hat diesen morning
der postmen gebracht, und ich hab im Truwel vergessen
zu geben ab, exkius mi.
(Tante öffnet den Brief und fallt in Ohnmacht.)
J akob : (nimmt den Brief und liest)
My dear Lady !
Es ist mir sehr disagribi Ihnen zu teilen mit, dass your
Bankier, Herr Windbörs, nach haben realisirt all ihr
Hauses und Länder in veri guet Banknots, ist gebrannt
damit durch, und ich kann ihnen schicken nix mehr
monney. Sie leben wohl.
Your trueli
Schwindelsohn.
— 202 —
Georges: Armi Tante, was e harter Schlab.
Jules: E harter Schlah? d'Folje vum e leids Lichtsinn, 's
Yermöje vun ere ganze Familie im e so en amerikaDische
Windbittel anzevertröue. Na, i hab allewiel gedenkt, 's
isch nit viel loos mit dere Tante. Kumm, Mama, mir
gehn heim, do isch doch nix meh ze zowle, un 's gilt
emend noch e Gewitter, d'Uetili isch schun ganz umhenkt
(mit Rosine ab).
Lina: (zu Tante) Tante, muesch Di jetzt nit so grame, wenn
den au din Geld verlöre hesch, ze hesch den als Ent-
schädigung e ganzi Famili gewunne, zwar nur en armi,
awer i hoff, Du wursch glickli drin lewe, denn D& bliesch
bi uns. Mer richte der e netts Schtiwele in, un din
Pi&tzel an unserm Tisch wursch de jede Da gedeckt linde.
Tante: Ja, Du reddsch guet, awer was sad din Mann derzue.
Georges: Awer Tante, ich wurr doch minere Frau ihrem
guete Herze nit wideratrewe. Niemols, i hätt sie jo gar
nimm erkennt, wenn sie andersch geredd hätt. Also, üs-
gemacht. Du bliesch bi uns.
Tante: (reicht ihm die Hand) Ja, un der Tom ?
Jakob: Der bliet hie mir, für dene guete Tschooli wurr ich
schun sorije.
Georges: So isch recht, jetzt awer in d'Schiff, dass mer
dene schöne Owe, iwer der Heimfahrt, noch geniesse
könne.
Wiesel: Tante, do isch au min Kranzel, wo i der gemacht
hab (setzt der Tante, welche sie küsst, einen Kranz au).
Vorhang fallt.
Akt IL
I. Sxene.
LinA, dman Georges,
(Die Szene stellt eine gewöhnliche, gutgehaltene
Arbeiterstube vor.)
Lina: (sitzt zur Seite an einem Tische und näht, steht dann
auf) Wo bliebt numme die Tante so lang; sie isch doch
numme zuem Euttler gange, für Bletzer ze hole für imser
Z'nachtesse. (geheimnissvoll) Ich weiss gar nit, was diess
isch : Zitter mir die Tante im Hüs han, meint mer grad 's
Glück un der Seje sin mit eren ingezoüe. Mir fiehren e
besseri Kost un doch hawi iwer d'Hälft vum mim Wuche-
— 203 —
geld iweri un obschun i mer vorgenumme hab, allen Owe
e bissei länger ze schaffe für e Bissei ebs meh zu verdiene,
ze kumm i halt Gottsnamme keine Da derzue. Allewiel
ebs andersch, wo mi dervun abhalte duet. Einen Owe
kreje mer Freikarte für in's Theater, an andere Da sin
mer ingelade für in e Kunnzert, no gibt widder der Nodisch
Verein e Familiefescht, do will mer doch gewiss au nit
fehle. Un die Tante, die will doch iweral d'Nas vorne-
dran han, was welle mer no mache? mer gehn halt mit.
Georges: (in Arbeitskleidern tritt ein) Guete Owe, Lina,
(küsst sie) wo sin denn d'Kinder, sin sie alli allärt?
Lina: Ja^ Gottlob ! Sie han so schön ihri Dewuar gemacht
für in d'Schul, no hawi sie noch em Z'owenesse e Bissei
nah gelon für mit den andere Kinder ze spiele. Dr
Jängel het g'sad, er will im Baba e Bachet Gressle fange.
Awer was meinsch, was mir arrewierl isch, hitt hawi e
Wunder erlebt.
Georges : Awer gewiss kein so grosses als ich.
Lina : Oho ! Hör nurr : Wil i so guet mit mim Geld üskumm,
un i noch ebs iweri hab, hawi unseri Husmadam gfröüt,
ob sie uns diess leer Schtiwel ufT unserm Bode, zuem e
resonawle Pries verlohne wott. Do hett die mer awer zer
Antwort gewe : Hör Sie^ Frau Hammer, ich sieh wohl,
dass ihr zen eng loschiert sin> un wil ihr jetzt die Tante
erhalte mien, können ihr au nimm dene Hüszins bezahle,
drum . . .
Georges: Het sie uns ufgsad?
Lina: Diess war jo ken "Wunder, hör nur widdersch. Drum,
het sie g^sad, nemmen ihr die Schtub, un vun jetzt an
zahlen er alle Vierleljohr zeh Mark wenjer. Het mer je
emol so ebs vun ere Husmadam erlebt? Isch diess ken
Wunder, hesch Du mer au so eins ze verzähle?
Georges: Dass unseri Husmadam e scharmanti gueti Frau
isch, hawi scbun lang gewisst; awer e so e Schenerosität
bätt i mer halt doch nit vun ere erwart. Jetzt will i der
awer au zeije, dass was s*Mirakl anbelangt ich Dir nix
schuldi blieb. Ich hab mine Meischter um e Ogmantation
ang'sproche, do min Famili sich immer vergrössert, hawi
em gsad, mögt i jo gern derfur alle Da zwei Stund iwer
Fiehrowe schaffe. No hett er e Bissei nochsimeliert un
gsad : Schorsch, i begriff dini Lau ganz guet, awer iwer
Fiehrowe will i nit geschafft han, un i sieh au, dass Du
Dich de Da durch genue plöüsch, für dass Du Owets Dini
Ruej brüchsch.
— 204 —
Lina: Un do will er natihrli nix vun ere Lohnerhochung
wisse.
Georges: Ei ! no war's jo ken Wunder, wie Du vori g'sad
hesch. Dorum Schorsch, het er widdersch gedewert, vun
hitt an schaffsch Du e Stund wenjer 's Da's un griejsch
alle Wuch zeh Märkle meh Lohn. Was sasch jetzt, liebs
Linnele, isch diss nit wunderbar, het mer schun so ebs
am e Meischter erlebt?
Lina : (nimmt ihn bei den Händen) Na, was han mir Glick,
kumm mer gehn g'schwind der Tante ergeje fur's ere ze
saue, dass sie sieht^ dass sie uns gar nit läschti isch.
(Beide ab.)
II. Szene.
Jakob, dann Jules and Jän^el.
Jakob : Isch niemand do, oh sie wäre nit wit sin. Also hit
isch der lang gewunsche Da, wo's lieb Sophie majoren
isch, wo i diss G*heimnis, wo i schun acht Da fasch( dran
verwurj, emol offen erus babble kann, un wo i alle Litt
saue darf: denke nur 's Sofferle, diss Zuckerschnäwele,
diss Makronegösch ele wurd min herzgelK)bbelts Wiewele.
(Man hört Lärm, Jules stürzt herein, gefolgt von Jängel,
welcher ihn an den Angel hat.) Na, was giebt's denn do?
Jules: Hilf! Hilf! Mordio! Es hett mi einer im finstere Hus-
gang vun hinten angepackt. Hilf! Mordioh !
Jakob : Halt nur Jules, *s g'schiet der nix, ich bin jo do für
Der ze helfe, (zum Jaengel) Was hesch denn angschteih,
Du kleiner Sakerdieh.
Jaengel: Ich bin grad vum Fische heimkumme, wiel's doch
nit gebisse het, un hab welle min Angel unter d'Scht^j
verschtekle, do isch der cousin Jules kumme un isch mit
sim Frack am Aengele henke gebliewe, (weinend) e gani
nejs zwei-Pfenni-Aengele.
Jakob: So, do hesch e Nickel, do kannsch der widder e
ganz neiji Angel kaufe.
Jaengel: Merci cousin! (im Abgehen) Wenn i nur so e
schwers Rottel dät fange, wie i ewe eins dran hab g'het
Jules: Für Dini Hilf sa i der vielmol merci, Schäkel, Du
bisch doch eielli e gueter Kerl un franchement. Du dührseh
mi, denn was de hit Owe vun mer erfahre wursch, wuril
Di nit b'sunders freije.
Jakob: Oh! Ja, was wur i den erfahre?
— 205 —
Jules: I will frank mit der sin, Du wursch gemerkt han,
dass i schun lang en Au uf s SofTerle geworfe hab, weisch
diess Maidel isch nit ze veraachte un's hett au ebs Ver-
möje so e zwanzig döQsig Märkle, wie i hitt bi der Karle-
schlauere erfahre hab^ un hitt soll unser Hirot usgemacht
wäre. Ja, hitt will i mi deklariere.
Jakob: (zornig) Was, mit Dir soll's Sophie Hochzittere wäre?
Jules : Na tröscht Di nur un denk, 's isch doch besser, dass
's Geld un's Maidel in der Famili bliet. Siesch, do hawi
en anoniems Briefel bekumrae, do steht, i soll unfehlbar
hitt Owe daher kumme, es erwart mi e grossi Surpries,
verstehsch jetzt.
Jakob: (lachend) Ah, e Briefe], grad wie ich eins bekumme
hab, do gibt's gewiss e grossi Surpries.
Jules: (a parle) 's guet dumm Sofferle meint es macht mir
en Iwerraschung mit sinere Münz, wie wenn i's nit genau
wisst, denn ohne die Monete war unser Sach nisco. (zu
Jakob) Also Cousin, bisch mer nit bös.
Jakob: Ich, ganz un gar nit, 's Maidel bliet jo in der Famili.
III. Szene.
Die Vorigen. — Georges und Lina treten ein, dann die Kinder.
Georges : Guten Owe, Ihr Herre Vetter, was verschafft us
d'Ehr (reicht ihnen die Hand).
Jakob: Ei, mir sin do her b'stellt worre.
Georges: Ja, vun wem denn ?
Jules: Diss wisse mir nit, do les (gibt ihm den Brief).
Georges: Diss isch fuericht, d'Tante isch au verschwunde,
mer wisse nit wohin (Die Kinder treten ein).
Wiesel: Mama, esse mer bal z'Nacht, ich hab Hunger.
Lina: Glich, d'Tante kummt den Auesblick mit de Bletzer.
Rosine: (in die Stube einlaufend) Wo isch der Schüllele,
min liebs Söhnel.
Jules: Do bin i, was isch denn los, Alti.
Rosine: Ach, Gottlob, noch lawendi, 's heisst in der ganze
Stadt, d'r Senft-Schüll het sich ufg'henkt, wil em der schön
Lade, wo er mit em Sofejele sin Geld hat welle kaufe,
vor der Naas eweck isch g'schnappt worre. Un der
Schtupferle, wo doch sunsch allewiel d'Wohrheit redd, het
mer g'sad, er weiss genau, dass ne der Ruder Jockei loos-
g'schnitte het.
— 206 —
Jakob: Ja, dass isch wohr, der Schüll isch am Jaengel sim
Aengele g'henkt un ich hab ne loos g'scl^nilte. (Tom, Tante
und Sophie treten ein.)
IV. Szene.
Die Vorisea. — Tom. — Tuite. — Sopliie.
Tom; (eine Kassette auf den Tisch stellend) Ihr Kinder, ich
hab Euch im üfdrah vun eurer Tante eingelade uf hitt
Owe, um Euch en Uewerraschung ze mache.
Jules: Was, der daub Bedienter hett sich erlaubt . . .
Tante: Nit Bedienter, sondern Herr Thomson Meyer, min
Mann (zu Jules) un au nit so daub, wie Du meinsch,
denn er het schun manchs Wöi-tel g'hört, au vun ere ge-
wissen alte K watsch.
J ul es: Awer Tante.
Tante: 's isch guet, gib mer d'Hand.
Tom: Z'ersch will i emol zur allgemeine Beruejchung ebs ös
eme Brief vun mim Korrespondent us New- York vorlese :
(liest.)
My dearl
Ich habe presentli gebracht in Erfahrung, dass mein
Schreiber sich erlaubt hat zu machen ein Spass und hat
Ihnen Ihr Fortune als verloren gemeldet, das ist no wohr.
Ich sende Ihnen hierbei Ihr Kapital in ch^ques über. . . .
Jules: (sieht von hinten in den Brief und ruft) 5 Milionen ! !
Tom: Do diess e grosses Glick für uns isch, mögt d'Tante
han, dass d'ganz Famili sich dran beteilige soll un offriert
Eich verschiedeni kleini Presentle, wenn er sie annehme
welle.
Jules: Ja, ja, mer nemmes an.
Jakob: Mit Dank.
Tom: (aus der Kassette ein Papier nehmend) En Eletums-
recht vun 2 neje grosse Kanalschiff mit Pferd, e Hüs am
Kanal mit Stallunge un alles, was zue der SchüTeret
g'hört.
Tante: Für de Schakob unter der Gundition, dass er sini
Kusine 's Soflejele hirot (zu Jakob) ; bisch Dü's inverstande?
Jakob: Gewiss, liewi Tante, 's Soflterle thät i au hirote ohne
d'Schiff, denn mer sin schun zilter 8 Da verspreche.
Tom: Isch diss wohr, Söphiele?
— 207 —
Sophie: Ja, Du weisch jo, liewer Unkel, dass i soglicklibin,
Du hesch jo unser Verspreche b'städigt, weisch mit dem
famose «Hizahi> im Ostwald.
Jules : Diss isch Verrot : ich hab's Söfferle welle hirole, wart
nur Jockei.
Jakob: (zu Jules) Du wursch mer doch nit bös sin, Vetter,
weisch. Du muesch Di mit dem tröste, dass doch 's Maidel
in der Famili bliebt, un de hesch der jo e surprise er-
wart.
Tom: E Kauf iwer diss Hüs mit dem grosse Italienerslade^
wo im Jules gest vor der Naas eweck kauft isch worre.
Jules: Do bin i halt widder gegohgelt.
Tante; (zu Jules) Un wo vun sim Eietimer Herr Jules Senft
morje angetrete kann were, zur Strohf für sin bös Muhl.
Jules : Awer Tante, was e nowli un angenehmi revanche.
Tom: Un do e G'schäftsprinzip vun den alti Strossburger
Handelslitt, wenn De diss befolisch, wurd Din Lade alle-
wiel guet gehn.
Jules: (liest ein von der Tante ihm überreichtes Papier.)
Ehrli währt am Längschte! Na, der Tante ze Lieb will i
diss au emol browiere.
Tante: (zu den Kindern) Un mit was soll ich denn Ejch
Plessier mache, Ihr Kinder?
Wiesel: Ich hält am liebste e Paar Ohreringle mit so falsche
Diamändle, wie mer so viel sieht.
Tante: Diss sollsch Du han, un mit falsche, denn 's isch
besser d'Stein sin nix nutz un's Maidel isch recht, als um-
gekehrt, wie mer's leider oft sieht, (zu Jängel) Un Du,
kleiner Hosseloddel?
Jängel : Kaufsch mir e Fischgert, wo mer vier Mol üsen-
ander mache kann.
Lüiele: Tante kaufsch mir e so e nejmodisch's Littvertränkerle,
no fahr i Di als drin spaziere.
Tante: Merci! er solle s^Ues han, un wenn er an de nächste
Vakanze guete Schuelzeignis han, grijen er noch viel meh,
drum ufgepasst. (zu Lina und Georg) EJjch, liewi Kinder,
hawi nix ze gewe, im Gejeteil hawi an Ejch e Bitt ze
richte, nämlich, dass wenn au unseri Verhältnisse sich
anderschg'schtallt han, mir doch bienand wohne bliewe un
ein Famili bilde.
Lina: (zu Georg) Gelt, wie guet, dass i diss Schtiwel gelehn
hab.
— 208 —
Georges: Was Du do verlangsch, liewi Tante, diss geht nil.
Als armi Litt sin Ihr mir herzli willkomme g'sinn, Du
sowohl als der Unkel, awer für Millionär ze loschieri hawi
ken Platz im für sie ze bediene, hetl mini Frau . . . keo
Zitt.
Tom: Ihr han uns als armi Verwandi in ejerm Hüs uiTge-
numme un ejer Ehrgfiehl soll nit verletzt sin, wenn Ihr
uns au jetzt b'halte. Iwrigens isch unser Richtum nit se
wit her, denn üsser e Paar wohlthätige Vermächtnisse isch
unser Kapital ulT ejeri Kinder gestellt, mir han nur d'Zinse
dervon, un mit dene wäre mer es in unserm neje Hüs,
wo mer mitnand bewohne wäre, schun ehrli durchschlaue.
Also angenumme?
Lina: Vis-ä-vis vun ere so en edle Handlung war e refus
en AfTrunt. Schorsch, denk wie sie so schön an Dine
Kinder g'handelt han. Ich nemm's an un in Herzensan-
gelegenheite soll immer der Mann der Frau folje. ((5eorg
reicht Onkel und Tante die Hand.)
Vorhang fallt.
XV.
Eine elsässische Mäklerzunft.
Yon
Dr. A. Hertzog.
I.
Im elsassischen Weinhandel unserer Ta^e hat sich eine
Einrichtung erhalten, welche man bis in die ältesten Zeiten
hinauf an der Hand zahlreicher und ausfuhrlicher Urkunden
verfolgen kann^ wir meinen die Weinmäkler, welche unterm
Namen «Weinsticher» im Elsass überall bekannt sind.
Wiewohl es früher auch anderswo Weinsticher gegeben hat,
so ist dieser Ausdruck für Weinmäkler, Weinunterkäufer nur
noch hier zu Lande im Volksmunde lebendig.
Nach den spärlichen Urkunden über Weinsticher, die uns
aus anderen Gegenden begegnet sind, scheint der Ausdruck
Weinsticher nur dem Oberrhein und dem Mittelrhein anzuge-
hören. In kölnischen Urkunden heisst der Wein Unterkäufer nie
Weinsticher ; dort hatten zwar die Weinschröter einige der
Pflichten der oberrheinischen Weinsticher, sie waren aber keine
Weinunterkäufer. Wie die Weinsticher, so liessen auch zu
Köln die Weinschröter den Bürgern ihre Weine in die Keller
und besorgten das Ablassen der Weine, sowie das Verladen auf
den Wagen oder aufs Schiff. Als Unterkäufer dagegen und
Weinschätzer fanden wir die Ansticher, wie sie dort heissen,
in einer badischen Ordnung des Weinschanks zu Schliengen,
Steinenstatt, Altingen und Mauchen, wo die Wein-
wirte keinen Wein in ihre- Keller einlegen sollten, er sei denn
zuvor durch den Weinsticher angeschnitten, das heisst am
14
— 240 —
Kerbholz angeschnitten zum Zwecke der Verzollung oder Be-
steuerung. Eine Ordnung des Küferhandwerks von 1575 für das:
Markgrä flerland bestinrunt keine allzustrenge Trennung der Küfer
vom Gewerbe der Weinsticher, wie dies an vielen Orten der
Fall war, indem sie den Küfern das Ablassen des Weines in
den Kundenkellern gestattet ; nur das Verladen der Weine auf
die Wagen wurde den Weinstichern ausschliesslich vorbehalten.
Hier galt es einerseits eine sorgfaltigere Behandlung zu erzwingen
und andererseits gewiss nicht zum Wenigsten jede Zollunter-
schlagung unmöglich zu machen« Ordnungen von Sausenberg
und Freiburg, sowie eine Küferordnung der Graüschan
Hachberg in Baden erwähnen die Weinsticher ebenfalls,
hier gehört das Abziehen des Weines bei den Kunden den
Küfern nur da zu, wo Weinsticher nicht vorhanden sind.
Auch für Rheinhessen haben wir in einer Urkunde von
1477 den Ausdruck Weinsticher zur Bezeichnung desselben
Gewerbes angetroffen, dort wurde Peter Cmeich czu Altzei
ufTem Wormser Gaw zum Weinschetzer und Weinsticher an-
genommen». Ohne Zweifel kannte die nahegelegene Pfalz die
Weinsticher ebenfalls, Urkunden aus diesem Landgebiete haben
uns nicht vorgelegen. Im Mosellande kommt der Ausdruck nie
vor, wir glaul)en diesen Schluss mit Recht daraus ziehen zu
können, dass Lamprecht in seinem grossen Werke über dies
Gebiet desselben nie Erwähnung thut und die Weinsticher in
den von ihm verötTentlichten Urkunden sowie Urkundenzitaten
nie erscheinen. Weinsticherordnungen aus allen den Gegenden,
in welchen Weinsticher vorkamen^ haben wir nicht erlangen
und finden können, wie dies für Elsass möglich war. Nach
dem Vorgange in Baden zu schliessen, stecken die diesbe-
züglichen Bestimmungen in Zunftordnungen des Kuferhand-
werkes, selbständige Ordnungen dagegen scheinen dort nicht
zu existieren. Im Elsass aber sind die Weinsticherordnungen
sehr zahlreich : abgesehen von denselben aus dem Strassbuiiger
Archiv, von denjenigen aus dem Sulzmatterthal und von Otters-
weiler, die wir hier speziell besprechen werden, fanden vnr
solche in dem Stadtbuche von Kolmar ; auch die Stadtbücher
und Archive von Türckheim, Schlettstadt, Kaysersberg, Ammer-
schweier, Gebweiler, Bergheim, Barr, Oberehnheim, Kestenhob,
Rosheim und Molsheim enthalten alle solche Ordnungen, welche
fast überall dieselben Bestimmungen einschliessen.
Schon die Thatsache, dass ein solches handelsrechtliches In-
stitut durch eine mehrhundertjährige Vergangenheit hindurch
l)einahe in ursprünglicher Gestalt sich bis auf unsere Tage er-
halten hat, dürfte hinreichen, unseren Versuch zu rechtfertigen,
dasselbe in den folgenden Ausführungen eingehend darzustellen;
— 211 —
noch mehr aber muntert uns der Umstand dazu auf, dass wir
durch diese kleine und bescheidene Untersuchung gegenüber
der herrschenden Theorie den Beweis zu erbringen glauben,
dass es früher auch Mäklerzünfle gegeben hat.
Geben wir zunächst eine kurze Darstellung des Weinsticher-
gewerbes, wie es heute geübt wird, um den Lesern dadurch
sofort die Aufgaben auch des mittelalterlichen Weinstichers
vorzuführen. Die Weineinkaufe im Reblande werden durch
Verkaufsagenten vermittelt, welche seit Jahrhunderten unter dem
Namen Wein st icher bekannt sind. Der Weinsticher prüft
die Weine auf ihre Qualität beim Verkaufsangebot; wenn ein
Fremder, um Weine anzukaufen, in ein Dorf kommt, wendet
er sich an den Weinsticher, der ihn in den verschiedenen
Kellern herumführt, bis der Käufer einen ihm gefallenden Wein
findet. Der Handel wird geschlossen zwischen dem Käufer und
dem Verkäufer in Gegenwart des Weinstichers, der Zeuge des
Rechtsgeschäftes ist, der auch das eingegangene Geschäft in sein
Buch einschreibt, sowie alle Bedingungen, welche der Vollzieh-
ung des Vertrages zu Grunde gelegt worden sind. Der Käufer
wird stets vermutet bar in die Hände des Weinstichers zu be-
zahlen, was jedoch heute nur mehr in den seltensten Fällen
geschieht. Der Verkauf durch den Weinsticher ist dessen un-
geachtet ein Bargeschäft, so dass der Weinsticher sofort Zahlung
bietet, wenn es der Verkäufer begehrt. Er hat nicht das Recht,
das Geld längere Zeit zu behalten. Dies geschieht aber doch,
der Ortsgebrauch und mannigfaltige Rücksichten erheischen es,
dass man das Greld nicht sofort verlange; man lässt es beim
Weinsticher liegen und zwar, ohne Zinsen zu fordern. Der
Weinsticher erhält einen Weinsticherlohn, das Stichgeld, ver-
schieden nach Orten und Gegenden. Im Unterelsass zahlen
Käufer und Verkäufer das Stichgeld je zur Hälfte, im Ober-
elsass entrichtet es der Verkäufer allein. Der Weinsticher macht
Geschäftsreisen auf seine Kosten, er empfangt und bewirtet die
Käufer, besorgt auch die Verladung und Versendung der ange-
kauften Weine, dies letztere alles auf Kosten der Käufer.
Als Handelsmäkler waren die Weinsticher, und zwar noch
in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, beeidigt.
Aus der nun folgenden Darstellung des Weinsticherwesens
der alten Zeit werden die Leser ersehen, welch ein Unterschied
zwischen Einst und Jetzt besteht, aber auch, wie zäh in unserem
Lande alte Handelsrechtsinstitute sich erhalten konnten. Wie
allbekannt durften bestimmte Waren nur unter strenger Auf-
sicht von Markt- und Handelsgeschvs'orenen verkauft werden;
schon in der karolinischen Gesetzgebung, sowie auch in allen
späteren Marktordnungen des Mittelalters, begegnen wir den
1
Marktgeschworenen. Diese mussten alle Ware abschätzen und
den Preis festsetzen. Der Steuer wegen mussten diese Beamten
genau verzeichnen, wie viel des Weines z. B. verkauft wurde,
sei's zu Markte, sei's durch einen Wirt. Der festgestellte Wein-
preis hiess der Weinschlag. Da der eben erwähnte Anschlag
der Weine immer durch Kosten derselben stattfand, so geschah
dies gewöhnlich beim Anstich eines neuen Fasses, und da
zum Anstechen wohl immer besondere Beamten verwendet
wurden — gewöhnlich waren sie Küfer — so erhielten die»
Beamteten — der Gemeinden — in allen Weingegenden, so
auch in Strassburg, den Namen «Weinstiche r». Sie gehörten
somit zu den Geschworenen des Marktes ; nichts lag dann näher,
als dass eben darum die Weinsticher auch die Verkäufe zwischen
Käufer und Eigentümer vermittelten. Sie gestalteten sich somit
recht bald zu einer ganz eigentümlichen Mäklerschaft, die zu-
gleich auch die untergeordneten Zollbeamten zur Ueberwa<^ung
der Marktabschlüsse stellte. Als Gemeindebeamte waren sie
beeidigt und ihre Mitwirkung war bei den Verkaufen too
Bechtswegen gefordert, durch sie erhielt der Käufer die Sicher-
heit für Echtheit und Güte des Weines, der Verkäufer einen
zuverlässigen Zeugen, dessen Aussage oder schriftliche Aufzeich-
nungen — früher in Bezug auf Quantität des verladenen Weines
immer auf Kerbholz gemacht — vor Gericht allein Gültigkeit
hatten und in Streitsachen den Ausschlag gaben. So wardeo
die Jurati des alten Bechls die Weinsticher des Mittelalters
und aus diesen entstanden die Weinverkaufsvermittler der
Jetztzeit, welche immer noch die alte Bezeichnung Weinsticher
führen.
IL
In einer alten Dorfordnung von Ottersweiler bei Maars-
münster sehen wir, dass das Weinsticheramt zu Gunsten der
Gemeindekasse auf ein Jahr an den Meistbietenden versteigert
wurde. Jährlich am Montag nach Martini wurde das Amt an-
geboten; die an der Steigerung Teilnehmenden durften nicht
mit mehr als einem Schilling draufbieten und derjenige^ welchem
das Amt verblieb, musste der Gemeinde Burgschaft stellen und
drei Hilfs weinst icher zu sich heranziehen. Kam ein Fremder
in's Dorf, um Wein zu kaufen, so musste ihn der erste Wein-
sticher, zu dem er gelangte, in den Kellern herumführen, sollte
aber nicht mit ihm in seine eigenen Kellereien gehen, bevor
er in drei anderen gewesen war. Der Weinsticher sollte sich
nicht ohne Erlaubnis des Schultheissen aus dem Banne ent-
fernen, nicht weiter gehen als des Glöckleins Buf hinschallle,
— 213 —
der die Weinsticher und die Weinläder, die im Felde waren,
benachrichtigte^ dass ein Weinwagen angekommen sei. Beim
Weinsticher mussten auch die Wirthe der Mark Maursmunster
sowie ihres Dorfes kaufen ; so lange noch Wein im Dorfe zu
haben war, sollte nicht auswärts gekauft werden.
Um grössere Gewährschaft zu leisten hinsichtlich des Masses,
durften die Weinwagen nur auf einem besonders dazu bestimm-
ten Platze, auf der «Sinne», durch geschworene Läder (von
«laden») verladen werden. Kam der Wein in einer Stadt auf
dem Markte zuni Verkauf, so bildete das Zeugnis des Wein-
stichers oder der dabei beteiligt gewesenen Läder die Urkunde
einer amtlichen Aichung.
Die Weinsticherordnung des «Sultzmatter Thal-
buches» enthält ebenfalls recht bemerkenswerthe Vorschriften
über das Weinsticheramt und das der Weinläder. Hier tritt
der gleichzeitige Charakter der Weinsticher als Mäkler und als
Zollbeamte recht deutlich hervor.
Der Weinsticher hatte bei seinem leiblichen Eide die Ver-
pflichtung, einem Jeden im Thal «weyb und man, arm und reich»
in Treue zum Verkaufe des Weines zu verhelfen, «Ihm daz
Best zu rodtende», die Verkäufer des Besten zu berathen, sie
der geschehenen Verkäufe und der Preise der Weine richtig
zu unterweisen, «niemandt seinen weyn zu lutzlen (schlecht
machen) oder verachten >. Wo aber ein Mangel, ein Fehler
an einem Weine wahrzunehmen ist, «sol der Weinsticher dem
heimlichen sagen dem der Wein gehört»; nicht aber dem Gaste,
dem Käufer, soll er es mittheilen, es sei denn dass dieser spe-
ziell ihn darüber befrage, den Fehler somit auch bemerkt habe.
Jeden Käufer soll der Weinsticher so lange im Dorfe her-
umfähren, «bis er zu kauff kumpt,» er soll auch darauf Acht
haben, ob niemand mit dem Weine Betrügereien begehe oder
begangen habe, nachdem der Gast gekauft hat; wo dies geschähe,
soll er's beim Schultheissen vorbringen und rügen. Keinen
Keller soll er «scheuen», unbesucht lassen, hierin soll er keinem
zu Liebe noch zu Feindschaft handeln. Er soll auch seine Kerb-
hölzer, woran der Fassinhalt durch die Läder oder den Wein-
sticher eingeschnitten war, gut aufbewahren, «daz man den zoll
mit den Ledern meinem Herren (dem Bischöfe von Strassburg)
gerechen kund.» Das Stichgeld betrug hier vom Fuder Wein
(24 Ohmen = 42 Hektoliter) 2 Schilling; der dritte Theil des
Stichgeldes gehörte dem Schultheissen.
Auch sollte der Weinsticher die Weinläder gut überwachen,
damit diese keine Betrügereien begingen; er sollte ungeheissen
in keinen Keller kommen, auch durfte er vom geladenen Wein
nicht mehr als ein Mass zu Stichwein für sich nehmen; über
— 214 —
drei Tage sollte er das Weingeld des Käufers nicht in seiner
Behausung behalten, altem die Weinsticher sollen sich auchauff
die Strassen fuegen um nach irem vermögen Gast harin zu
pringen» ; sie sollen auch ihren Gästen nicht zu grosse Rech-
nungen für die Mahlzeiten aufstellen. Sonstige Bewirthschaf-
tung oder Ausschenken von Wein war ihnen strenge verboten.
Soviel über Weinsticher auf den Dörfern. Besonders wollen wir
noch hervorheben, dass die Dorfweinsticher nicht zünftig waren.
Sie bildeten nicht eine Körperschaft, wie vielfach angenommen
worden ist, sondern sie waren direct der Gemeindebehörde
unterworfen, ebenso wie die Weinläder.
III.
Anders war dies aber in Strassburg der Fall. Diese Stad
war im ganzen Mittelalter ein wichtiges Emporium für den ober-
rheinischen Weinhandel, der die Weine des Elsasses und des
Breisgaues auf Schiffen weithin den Rhein hinunter spedierte.
Diese Weine wurden ehemals bis nach Holland und England
exportiert. In Strassburg waren zwei grosse Weinmärkte, zahl-
reich kamen die Weinladungen zu Land und zu Wasser dort-
hin, viele Weinsticher waren da von nöthen, um die Märkte
zu überwachen und die Verkäufe zu vermitteln oder zu beur-
kunden. Hier waren diese Weinmäkler ZUENFTIG —
denn Weinmäkler waren sie trotz ihres Charakters von Ge-
meindebeamten und sogar von Polizeiorganen, denen die Ueber-
wachung der Märkte zufiel, um die Zollunterschlagungen zu ver-
hindern und die etwa vorkommenden Betrugereien im Handels-
geschäfte zu rügen. Die Strassburger Weinsticher
bildeten eine eigene Zunft, mit den cWein messe rn»
und den «Weinrufern» sind sie seit 1455 vereint. (Stadt-
Archiv zu Strassburg. Grewölb unter der Pfalz, 12 Nr. 22.
Ferner Ratsprotokolle von 1463, Band 28, Fol. 165.)
Die ältesten Vorschriften über den Weinhandel ünden wir
bereits im zweiten Strassburger Stadtrecht, das etwa um das Jahr
1214 kodifiziert ward. (Siehe Urkuodeabuch der Stadt Strassburg
I. Band.) Da lesen wir : «Es ist verholten, das man den veiIeD
win in den schiffen uf der Brusch noch uf den wagenen vor
deme müastere nicht verköffen noch stechen sol vor primen.»
Dieser Text entstammt der deutschen Fassung des Art. 37 aus
dem zweiten lateinisch verfassten Stadtrecht in dem IV^ Stadt-
recht, das gegen 1270 verfasst wurde. Hier wiixi zwar voo
den Weinstichern nicht, sondern nur vom Weinanstechen ge-
sprochen. Dies geschah aber durch und in Gegenwart von Le-
— 245 —
sonderen Marktbeamten, die eben wegen ihrer Arbeit die Wein«
sticher genannt wurden. Dieselbe Vorschrift Gnden wir in
spateren Aufzeichnungen und zwar mit besonderer Erwähnung
der «Weinstiche r.ji Aus dieser ältesten Vorschrift ersieht
man auch, dass noch um 1270 der Weinmarkt für die auf
dem Wagen hereingebrachten Weine auf dem Münslerplatze
sich befand. Im Stadtrecht V, vor 1311, (Urkundenbuch der
Stadt Strassburg, IV. Band, zweite Hälfte,) sind die Bestim-
mungen über den Weinhandel schon zahlreicher, und hier
zum ersten Male in den Stadtrechtsammlungen tritt die Bezeich-
nung «Weinsticher» auf.
Es seien hier dieselben auszüglich mitgeteilt : Kein
Weineigentumer sollte vor seiner Hausthür Wein verkaufen,
ohne einen Weinrufer herbeizuziehen. Zum erslenmale er-
scheinen hier die Weinrufer, auch diese gehörten später zur
Weinsticherzunft, wie wir bereits erwähnten. Art. 41 : «Kein
Weinsticher sollte für eigene Rechnung Wein kaufen, sei's im
Schiff an der Breusch, sei's auf dem Wagen am Weinmarkte«.
War doch der Markt dazu bestimmt, zu allererst die Bedürf-
nisse der Bürgerschaft zu decken ; wenn die Weinsticher und
.sonstigen Weinleute Wein nach Belieben kaufen durften, so
konnten sie leicht in Versuchung geraten, davon bei günstiger
Befahrung des Marktes grosse Mengen aufzukaufen, um dann
nach dem Markte die Weinpreise nach Gutdünken zu steigern.
Spekulationskäufe waren dazumal kurzweg verboten, und zwar
nicht nur für die Weinsticher, sondern auch für alle Leute,
welche Weine auf cMehrschatz», also zum Wiederverkaufe an-
legten. Die Landleute, die nicht Stadtbörger waren, durften
keine Weine stechen. Diese Vorschrift müssen wir dahin ver-
stehen, dass nur Bürger der Stadt Weine zum Verkauf an-
stechen durften, also Weinsticher sein konnten. Auf der Breusch
im Schiffe und auf dem Wagen, bevor die Weine ausgeladen
waren, durfte niemand «gaste wyn>, das heisst von den Fremden
(die früher vielfach als Gäste bezeichnet wurden) eingeführten
Wein kaufen, «er si burgfr oder winsticher». Zuvor mussten
die Weine ausgeladen und an einem bestimmten Orte gelagert
worden sein, wo sie durch die Weinsticher angestochen und
mit Hilfe der «Wein kieser» gekostet und geschätzt wurden.
Die Stadtrechte von Strassburg enthalten dann noch eine Menge
von Bestimmungen über den Weinhandel, die wir hier jedoch
nicht eingehender mitteilen wollen, weil sie mit unserem Gegen-
stande direkt nichts zu thun haben ; die Weinsticher mussten
ihr Augenmerk darauf richten, dass diese Handelsvorschriften
genau eingehalten wurden.
Im VI. Sladtrecht von 1322 wird der Weinsticherzunft
— 216 —
immer noch nicht Erwähnung gethan, ebensowenig spricht von
ihr das Bui^grafenweistum (von 1332—1395). Das Gndet seine
Erklärung in dem Umstände, dass vor 1332 die Weinsticher
kein Handwerk bildeten; erst nach der Staatsumwälzung \t>n
1332 hat man eine Reihe neuer Handwerke zu Zünften ge-
macht, um auf diese Weise die Zahl der Handwerksleute im
Stadtrate auf die gewünschte Höhe zu bringen. Wir wollen hier
über die Verfassung der Weinsticherzunft keine Worte ver-
lieren, für alle Zünfte war ja dieselbe Verfassung in Krafl^ und
würde es uns zu weit führen, wenn wir uns dabei aufhalten
wollten. In Folgendem werden wir nur noch die Zunflvor-
Schriften über die Ausübung des Handwerkes darzustellen ver-
suchen.
In früheren Zeiten war die Weinsticherzunft die Unter-
käuferzunft genannt; Unterkäufer bedeutet soviel wie Mäkler,
Zwischenhändler ; somit haben wir hier in Strassburg das Bei-
spiel einer zünfllerisch organisierten Zwischenhändler- oder
Mäklerkörperschaft. Diese Strassburger Weinsticher sind wohl
das einzige Beispiel einer Mäklerzunft. Die Zunftsiube der
Weinsticher war in früheren Zeiten in der Barbaragasse Nr. 10,
wurde aber nach Heitz, zu Anfang des 18. Jahrhunderts, in
die Blauwolkengasse Nr. 22 (das ehemalige Wiiishaus zur
Weinsticherstube) verlegt. Viel später, nach der Gründung der
eigentlichen Zunft, erst im 17. Jahrhundert, wurden derselben
auch die Perrücken macher und Fnseure beigesellt, wahrschein-
lich weil bei abnehmendem Weinhandel in Strassburg ihre Zahl
stark abgenommen hatte, ja in den letzten Zeiten dienten nur
die zwei letztgenannten Handwerke in der Weinsticherzunft,
darunter befanden sich nur noch zwei geschworene W^ein-
sticher und zwei Weinkieser oder Weinschröter. Wir glauben
darin einen Beweis dafür zu finden, dass der Strassburger
Weinhandel mit der Zeit sehr an Bedeutung verloren hatle;
noch im 16. Jahrhundert ßnden wir urkundlich mehr Wein-
sticher erwähnt, so dass wir diesen Niedergang fuglich mit den
Folgen des Dreissigjährigen Krieges in Verbindung zu bringen
berechtigt sind. Mehr noch aber muss eingewirkt haben die
französische Annexion, durch welche natürlich die alten Handels-
beziehungen mit dem übrigen Deutschland und mit Holland,
sowie auch mit England sehr fühlbare Einbusse erlitten. Nach
dem Dreissigjährigen Kriege hatte man übrigens so viel zu
thun, um das entvölkerte und ausgehungerte Land wieder
emporzurichten, dass an einen Exporthandel nicht zu denken
war, wie ihn die früheren, glücklicheren Jahrhunderte gesehen
halten. Als später das Land wieder reicher geworden war,
waren die Handelsbeziehungen mit dem Niederrhein dank der
— 217 —
politischen Aenderungen in Vergessenheit geraten ; nur die
Schweiz war dann noch die Hauptabnehmerin unserer elsas-
sischen Weine.
Von dem AugenbHcke an, wo die Weinslicher eine Zunft
geworden (1333), fliessen die Urkundenquellen über Zünfte und
Zunftwesen viel reichlicher als vorher. Von Zeit zu Zeit er-
scheinen die einzelnen Ratsbeschl risse und Zunftordnungen er-
neuert, verbessert, wohl auch vermehrt, je nach den erfordernden
Umständen. Die oft wiederholten Handwerkerordnungen be-
weisen, dass, ungeachtet derselben, sich immer neue Miss-
brauche einzuschleichen wussten, Missbräuche^ die sich von
Geschlecht zu Geschlecht zu vererben schienen, Missbräuche,
die man eben heute noch so gut wie damals in der Hand-
werkerwelt entdecken kann. So sind gerade die Weinmarkts-
und Weinhandelsordnungen im Laufe der Jahrhunderte ausser-
ordentlich zahlreich.
Die ältesten Ordnungen und Artikel der Weinsticher sind
von 1355, seither sind sie mit unwesentlichen Umänderungen
wiederholt worden. Eine eingehendere Darstellung derselben
wird hier am Platze sein.
IV.
Es gab zu Strassburg zweierlei Weinslicher : die Wein-
markts weinslicher und die Keller- oder ßürgerweinsticher.
Wir ihr Name andeutet, fanden die ersteren ihre ausschliess-
liche Beschäftigung auf den zwei Weinmärkten, am Krahn für
die Weine, welche zu Schiü' in die Stadt, und auf dem Markt-
platz, wohin vom Lande die Weinfuhren kamen. Die Keller-
weinsticher dagegen hatten allein das Recht cDie frembden
Fuohrleuth und WeinkeüfTer Inn die Keller zu füehren, wo-
gegen die Spanner (Leute, welche die Fässer auf den Wagen
befestigten) sich dessen enthalten sollen» ferner das Recht, Jass
sie als Lohn, «cwie bisher vom Enger zween Schilling Pfenning
empfahen mögen.»
Die Marktweinsticher standen unter der Ueberwachung
der Sammler, das heisst von eigens durch die Zunft bestell-
ten Beamten, welche an den Markttagen — Freitags war Wein-
markt in Strassburg — alles durch die Weinsticher verdiente
Stichgeld sammelten, denn der einzelne Weinsticher behielt
das Geld, dass er auf dem Markte erhielt, nicht sogleich für
sich, sonlern das Stichgeld wurde zu bestimmter Zeit gleich-
massig unter alle Weinsticher verteilt. Jedes Jahr am nächsten
Sonntag nach Michseli wurden durch die Herren Schöffen und
Gericht der Zunft^ «vier erbare Mann zue Sambiern]) erwählt,
— 248 —
deren jeder eine Büchse haben sollle. Diese Sammler mussten
dann an den Markttagen jedem Weinsticher, der auf den Markt
kam, ein Wortzeichen geben, wir würden heute sagen: eine
Legitimationskarte ausstellen. Von diesen vier Sammlern sollte
einer mit den dazu nötigen Unterkäufem und Weinstichem
sich auf den Rossmarkt (jetzigen Broglieplatz) einer an den
Krahn am Wasser und die übrigen zwei mit den übrigen
Markt weinstichem auf den grossen Weinmarkt begeben. Das
Geld, das den Sammlern durch die Weinsticher oder Unter-
käufer überantwortet wurde, csollten diese all straekhs inn
angesicht der Persohnen» 1n ihre Büchse stossen« cUnd auch
der Märckht getrewlich wartten, und ahm nechsten Sonntag,
nach dem Merckhtage, Jeder sein böchse mit dem geltt, uff die
Stube tragen, und also uff der vier buchten das verdiente Gelt,
den Jenigen so ufT dem Märckht gewesen seyndt, und Ihr
Wortzeichen genommen hent. Jeglichen sein Geltt, so Ihme
zugehört erbarlichen geben und gleich theylenn, einer habe für
sein Persohn vil oder wenig verdienet u igefohrlich.i Dagegen
mussten alle die auf den Markt gingen «Weinstechen n»
oder «cUnderkauff» treiben « uiT dem Rossmarckh, • schwören
und geloben, cder Märckht Stich und UnderkheuflT» ehrlich zu
warten. Ohne Erlaubnis eines Sammlers durften sich die
Weinsticher vom Wein markte und die Unterkäufer vom Ross-
markte nicht entfernen.
Auf den Weinmärkten hatte jedes Weinland einen Platz
angewiesen, an keinem andern Platze durften die Weine an-
gestochen und ausgeboten werden ; Weinsticher und Unter-
käufer waren streng angewiesen, dass dies Gebot nicht über-
schritten wurde. Unserer Meinung nach waren dies recht weise
Massregeln, die von vornherein verhüteten, dass ein Wein aus
einer minder guten Gegend für einen solchen aus berühmterem
Weinlande feilgeboten und gehalten werden konnte. Durch den
blosen Ueberblick der Weinmärkte sollte der Kauflustige sofort
Auskunft haben über die verschiedenen Qualitäten, soweit diese
durch das Ursprungsland des feilgebotenen Gewächses dargelhan
und bedingt wurden.
Alle Weine, die diesseits des Rheines auf Wagen hergeführt
wurden, sollten nur auf den Weinmarkt gefahren werden, und
zwar sollten die, welche Eigengewächs zu Markte brachten, am
Alten Weinmarkt vor der Elend enherberge, «in der gassen
gegen dem Alten Sanct Peter hinauffi» sich aufstellen ; die
Weineigenlümer aus dem Zornthale standen auf dem Platze
am Speierthor. Furkäufer, Leute welche nicht Eigengewächs
einführten, aber gemeine Land weine brachten, sollten hinter
der Elendenherberg, dem Rossgarten zu, ihre Weine feilbieten;
— 219 —
die Fürkäufer ab der Zorn sollten die Weine in derselben
Gasse von vorgemeldelem Platze an, auf welche die Zorneigen-
tümer zu Markt stehen, bis an den Brunnen gegen den Ross-
garten feilhalten.
Die Breisgauer und Oberländer Weine, so man zu Wasser
an den Krahn brachte, sollten nicht in den Schiffen angestochen
oder verkauft werden. Auch diese hatten bestimmte Lagerplätze
angewiesen. Oberländer mit eigenem Gewächse : zwischen dem
alten Krahn und dem Kaufhause, «uff den dreyen Ligerlingen
(Lägeringen, Lagerhölzer zur Aufnahme der Fässer) den nechsien
am Wasser:», die Breisgauer Eigen Verkäufer : auf demselben
Platze «rbey den Oberländischen Weynen, uff dem vierten
Ligerling».
Die Fürkäufer «Wein Keuffer» — die Grossweinhändler —
mit oberelsässischen und breisgauer Weinen, sollten cufT dem
Platz zwischen dem newen Krahn und Sankt Claus Bruckhen
feil halten». Ob der Wein Eigen wein sei, musste jeder Ver-
frachter bei seinen Treuen und Ehren angeben, damit ihm von
den Weinstichern oder sonstigen Marktknechten der gebührende
Platz angewiesen ward. Zuwiderhandelnde zahlten von jedem
Fass Wein dreissig Schilling Busse. «Und sollen es auch des
Krans verwantten Weinsticher, und andere Knecht, so des
Markts hielten, bey Ihrenn Eydten, den Ungeltern rüegen und
angeben.}»
Kein Weinsticher soIUe einem Verkäufer seinen Wein an-
stechen, er hielte denn am vorgeschriebenen Orte. Auch durften
die Weinsticher und anderen Krahnbeamtete «keines fürkeüflers
— also keines, der nicht Eigengewächs verkaufte — nachbott
sein]», sie sollten sich nicht damit abgeben, demselben seinen
Wein zu verkaufen, noch auf einen Wein bieten, auf welchen
die Furkäufer schon ein Gebot gemacht hatten. Zuwider-
handelnde bussten mit fünf Pfund Pfennig. Wenn einer am
Freitag seinen Wein am Weinmarkt nicht verkaufen konnte, so
konnte er denselben nach zwölf Uhr Mittags, altem Gebrauch
nach, an den Krahn führen und daselbst verkaufen.
Hier begegnet uns wieder die altbekannte Vorschrift, dass
vor dem Morgenläuten kein Wein angestochen und verkauft
werden durfte, «und sollen sich die Weinsticher mit dem an-
stechen fürdern, und uff den Markhten darafTler theylen, auch
den leutten, mit Ihrem Khauffen und Verkhauffen zum besten
beholfTen und berahtten sein, damit Ihrenthalben nicht zit ver-
saumbt werde». An jedem Fuder Weines, das einer gekauft
hatte, sollte immer für die Hefe ein Ohmen in Abzug gebracht
werden ; «darunder und darüber» sollte dieser Abzug nach
Margzahl berechnet werden, cdamit Jedermann recht bestehe».
— 220 —
Der Weinverkauf sollte in der Stadt nur nach Fudermass ge-
schehen ; nur kleinere Fässlein durften auf den Ohmen be-
rechnet werden und sollen wiederum «alle Weinsticher, ünder-
kheüffer und Knechtt^ die der Marckht hietten, bey Ihren Eydeni
Zuwiderhandelnde bei den Beamten des Ungeltes rügen.
Kein Weinhändler, Fürkäufer, keiner der Weine auf
Mehrschatz einlegen wollte, durfte ferner auf dem Weinmarkte
Wein oder Trinkwein — Tresterwein, wie er im Elsass überall
noch bereitet wird — von Donnerstags mittags an bis Samstags
nachmittags einkaufen, auf dass «kein gefehrlicher Uffschlag
oder Theurung dardurch gemacht werde». Strafe darauf war
fünf Pfund Pfennige. Die Weinsticher und Marktbeamteten
sollten auch hier wiederum darauf sorgsam bedacht sein, Zu-
widerhandlungen zu entdecken und zu rügen.
Wenn durch Vermittelung eines Küfers in einem Burger-
keller ein Wein verkauft wurde, so durfte dieser nicht gefasst.
vermessen werden ohne Beisein eines der geschworenen Kelier-
weinsticher, «der solchen verkhaufften Wein anschnitte», das
heisst am Kerbholz Einschnitte mache zum Zählen der gefassten
Ohmen. Dieser Kellerweinsticher sollte dann mit dem Käufer
des Weines ans Ungelt gehen, um den Kauf anzuzeigen und
den Wein auf Grund des Kerbholzzeugnisses zu verungelten,
zu versteuern. Nichtsdestoweniger sollten die Kellerweinsticher
von diesem ohne sie verkauften Wein ihr Stichgeld doch er-
halten, «als ob sie den Kauf selber betten machen helifen».
Auch kam es damals schon vor, dass die Kellerweinsiicfaer
gewisser Leute Keiler vernachlässigten, dass sie «unvleissig»
aufwarteten, «etwan kaum oder gar langsamb zu fünden» waren,
dass sie hie und da von Bürgern angesprochen wurden, ihren
Wein zu verkaufen, «deren Sie aber gar nicht gedenckhen»,
und dass, wofern diesen die Küfer nicht dazu verhülfen, ihret-
halben die Weine liegen blieben. Darum sollten die Küfer auch
das Recht haben, Verkäufe zu vermitteln. Verboten war allen
Weinstichern, sowohl Keller- als Marktweinstichern, Geschenke
anzunehmen ! «schenckh und müett (Miete) zu nemmen» sollten
sie sich «vermög der Ordnung» enthalten. Nach einer der ver-
schiedenen Kellerweinsticherordnungen sollten nur sechs Keller-
weinsticher in Strassburg fungieren, die je zwei und zwei zu
Keller gingen ; in ihrem Eide versprachen sie, ihren Geschäften
mit Fleiss und Ernst nachzukommen. Von diesen sechs hatten
immer vier die Woche, während die anderen zwei sie wenn
nötig vertreten sollten, und so einer dieser Weinsticher einen
Monat oder noch längere Zeit krank war, so erhielt er seinen
Lohn doch, als wäre er beschäftigt gewesen. Alle Vierteljahr
sollte einer derselben abgehen und vom Zunflgericht durch
einen andern ersetzt werden, damit es doch immer sechse ge-
wesen seien. Alle Fronfasten sollte das in ihrer Buchse hefind-
liehe Geld durch den Zunftmeister unier sie geteilt werden,
nach Ahzug des zehnten Pfennigs, der in die gemeinschaftliche
Zunftkasse floss. Eine spätere Ordnung derselben, aus dem
Jahre 1506, änderte diese Bestimmung ab, so dass von da an
ein jeder des gemeinen Handwerks zu Keller gehen möge, dem
es beliebt, doch wird ihnen wiederum eingeschärft, besonders
keine «schenckhe noch müetei» zu nehmen, und dass «Ihrer
nie mehr dann zwei miteinander gemein haben sollten», dass
sie ferner keinen «fremden Wein im Lande kauffen sollend! >.
Sie sollten keinen Gast, keinen Käufer ausserhalb der Stadt
aufs Land begleiten, um dort ihm Wein kaufen zu helfen ; sie
sollten nur für die Bürger der Stadt Weinsticher sein, darum
hiessen sie ja auch «Bürgerweinsticher>. Femer sollten sie mit
niemandem, der Wein zum Verkauf ausbot, theil und gemein
halten. Kein Küfer^ der seines Handwerkes fleissig ging, durfte
Kellerweinsticher sein.
Auf den Märkten sollten die Weinsticher auch noch Ach-
tung geben, dass keiner einem anderen in den Kauf trete, da
oft dadurch viel «Unrahtl» entstehe, wie dies die Urkunde
ausdruckt. Man hielt also daran, dass wenn ein Käufer in Unter-
handlung war wegen eines Weines, ein Zweiter nicht, während
diese noch währte, durch Annahme des Angebots die Unter-
handlung unterbreche und so den ersten Liebhaber des betreffen-
den Gewächses merklich schädigte, indem dieser dann schon
wieder mehr bieten musste, wenn er daran hielt den Wein zu
haben; der Markt sollte mit nichten den Charakter einer Ver-
steigerung erhalten. Aus ruhiger Erwägung des begehrten
Preises und der Qualität zwischen dem Eigner des Weines und
dem Käufer sollte der Kauf hervorgehen, und nicht aus einem
fieberhaften Haschen, wo einer dem andern die Ware gleich-
sam abzulaufen trachtete.
Den Sammlern war befohlen — durch Zunftbeschluss des
Jahres 1575 — dass sie fernerhin keine Kellerweinsticher mehr
mit sich auf die Weinmärkte nehmen sollten, wie dies früher
geschehen zu sein scheint; doch hatten die Kellerweinsticher
das Recht, auch Zeichen zu nehmen, um des Marktes zu war-
ten, dann mussten sie aber in allem dem Sammler am Krahn
gehorsam sein, und «auch wie Andere helffen stechen, und des
Marckhts vleissig wartten, und ohne des Samlers erlaubnus
nicht hinweg gehen, that einer dies dessen ungeachtet, so be-
kam er am Sonntag keinen Lohn, er sollte seinen Antheyl ver-
loren und verwurckht haben.» Auch die cSinner» — Weinge-
fassaichungsbeamte — konnten als Marktweinsticher ihr Wort-
— 222 -
zeichen begehren, und wofern sie dies gethan hatten, konnte
man sie des Freitags, als am Markttage, nicht zum tSinnen»
heranziehen, sie sollten dessen, cunverbunden sein>, ohne Er-
laubnis des Sammlers sollten auch sie sich nicht entfernen,
wenn sie nicht ihren Lohnantheil verwirken wollten.
Auch die Weinmesser — städtische Beamte welche bei
den Wirthen beim Weinzapfen das Mass führten — falls sie
ohne ihr Verschulden ausser Dienstes gekommen waren und
keine Beschäftigung hatten, konnten als Weinsticher ihr Wort-
zeichen begehren und erhalten. Nur wenn diese böswillig ihren
Meister verlassen und ihre Zeit nicht ausgehalten hatten, konnte
ihnen die Erlaubnis zur Ausübung der Weinsticherei verweigeii
werden, so lange als ihr Vertrag mit ihrem früheren Dienst-
herren noch zu dauern gehabt hätte; dieser Dienstvertrag konnte
übrigens nur auf ein halbes Jahr abgeschlossen werden. Was
den Kellerweinstichern nach geschehenem Kaufe geschenkt
ward, mussten diese ebenfalls in die Büchse einschliessen : cumb
fridt und einigkeit willen.» Vor dem Kaufe durften die Keller-
weinsticher kein Geschenk annehmen; nach einer diesbezüg-
lichen Ermahnung an die Weinsticher hielten sie aber oft eine
Extrabüchse, um Schenk und Miethe zu bergen, auf dass .sie diese
nicht mit der gemeinen Zunft zu theilen brauchten. Interessant
ist noch folgende Vorschrift aus dem Zunftartikel buch, die wir
wörtlich mittheilen : «Wegen der Verordtneten (Weinsticher)
in der Mess, wardt von den Messherren angezeigt worden, es
giengen etliche dem Allmusen nach, etliche giengen an steckhen,
man sollte dasselb verbessern oder unsere herren wurden ver-
ursacht dasselbige abzuschaffen». «Item füehren ettliche mit
Kärchen und wartten des Marckhs nicht abe : Wardt berichtet
daz nicht Jeder alle tage zugegen seyn müeste, sondern es werde
von tage zu tage abgeteilt, allso das einer einen tag den Un-
derkaulT ufTheben, und den andern tage lahren könnte; was
die Akten beienget so an steckhen gehen, werden dieselben nicht
uff den Rossmarckht, da es bissweilen gefahr gibtt, sondern uff
den Weinmarckht gebraucht. Das betteln belanget, soll billig
abgeschafft werden, bey denen so Zeichen nemmen wollen».
«Und wenn die Altten abgeschafft soltten werdenn, so soltte
man denselben nicht 2 flf Pfennig für das handwerckh abnem-
men, sonsten würden dieselbigen beschwert.»
Diese Vorschrift gibt uns eine genaue Vorstellung von dem
sozialen Range, den die Weinsticher, Weinrufer, Weinmesser
und Unterkäufer eingenommen haben. Ihr Gewerbe war ein Ge-
werbe, das sich in Bezug auf Erträgnisse in sehr kleinlichen und
bescheidenen Massen und Grenzen bewegte. Ausserdem war in
der Zunflverfassung schon dafür gesorgt, dass keiner der Ange-
-^ 223 -
hörigen des Handwerkerstandes zur kapitalistischen Ausbeutung
des Gewerbes übergehen konnte. Zweck derselben war gerade,
diesen kleingewerblichen Chankter der Handwerker zu erhal-
ten, über das Handwerk hinaus sollte es keiner bringen. Zu-
dem bezweckte die Stadt durch solche Ordnungen und Waren-
taxen die Verkaufspreise zu Gunsten der Konsumenten kaum
merklich über die Erzeugungskosten der Waren steigen zu-
lassen. Dies konnte aber nur wirksam erreicht werden, indem
man den Zwischenhandel, der so schnell zur kapitalistischen
Ausbeutung der Konsumenten ausarten kann, einfach unter-
drückte, dafür ein anderes Organ, das Institut der Unterkäufer
und Warenmäkler einsetzte. Der Konsument ist sehr oft
nicht im Stande — und damals wie heute war dies der Fall —
die Waren deren er bedarf, gut einzukaufen, weil er sich selbst
über deren Werth nicht aufklären, sich vor Uebervortheilung
nicht schützen kann, darum ist ein Zwischenhändler sehr oft
nothwendig, um den Produzent und den Konsument zusammen-
zuführen. Dazu eignete sich aber während des ganzen Mittel-
alters niemand besser als der «Gesch worene», darnach
damaliger Rechtsüberzeugung die Güte der angebotenen Ware
prüfen musste, so sich eine Kenntnis der Waren aneignete, wie
sie kein Käufer, am allerwenigsten der städtische Bürger und
Handwerksmann haben konnte. So wurde denn der frühere ein-
fache Marktbeamtete zum Mäkler, zum Unterkäufer und zum
Weinsticher ; nicht aber durfte er Fürkäufer sein und werden.
Hat die Stadt Strassburg dies Ziel in Bezug auf die Wein-
sticher erreicht? Vorderhand können wir diese Frage nicht
ganz bestimmt beantworten ; aber wir möchten glauben, dass
wenn trotz jener Vorschriften die Weinsticher im 17. Jahr-
hundert bis auf die oben angegebene geringe Zahl herunter
sanken, eben das Aufblühen eines kapitalitischen Weingross-
handels im 16. Jahrhundert mehr noch Schuld daran war, als
die Nachwehen verheerender Kriegsläufte.
V.
Es bleibt uns noch übrig, das Verfahren kennen zu lernen,
welches bei Vermutung oder zur Entdeckung einer etwaigen
Weinfalschung eingehalten ward, um die gesamte Thätigkeit
der Weinsticher zu überblicken. Wenn jemand an einem Weine,
den er versuchte, einen Fehl oder Makel vermutete, so sollte
er dies dem anwesenden Sammler melden, dieser sollte alsdann
noch zwei Weinsticher heranziehen, um den Wein mit ihnen
zu.sammen zu probieren, auch in dem Falle, dass der Wein
bereits unterdessen verkauft worden wäre. Wenn sie durch ein
— 224 —
Geständnis des Verkäufers oder durch ihr eigenes Verkosten
zur Ansicht gelangten , dass der Wein nicht Kaufmannsgut sei,
csolien sie das Vass, durch den Visierer, so zug^en, mit der
Statt Schutt am fordern Boden zeichen, und dessen Nahmen,
dem der Wein zu verschenckhen (verkaufen) stehet, darzu-
schreihen lossen.» Bis Mittag zwölf Uhr sollte dieser Wein
alsdann auf dem Markte unberührt stehen bleiben oder am
Krahne liegen bleiben, und von da auf einen eigens hierzu be-
stimmten Platz gefuhrt werden, cdamit menniglichen s^ien
und wissen möge, daz solcher Wein nicht gut und gerecht seye».
Nachmittags sollte der Verkäufer mit den Weinkiesem —
Sammler und zwei Weinsticher — am Ungeltamte erscheinen,
hier sollten die|Weinkieser c beneben den Ungelttem und Visie^
rern den Verkeuffer, jenach gestalt der Sachen, und nach be-
fundenem Betrüge, entweder mit Konfiszirung der Ware, oder
sonsten mit Ernst und zum geringsten umb Dreyssig Schil-
ling straffen lassen, und die besserung nicht fahren lassen».
In ihrem Urteile sollten die erwähnten Personen, «niemandt
zu lieb noch zu leide, aus Gunst oder Ungunst, sondern wie
Sie den Wein an Ihme selbst befunden, urteilen und darüber
erkennen, auch desswegen weder schenkh noch müefhwohn von
einichem Verkäufer oder von seinetwegen nicht nemmen, bey
den Eydten ohn alle gefehrde».
So wurde durch den Stadtrat den Handwerkern und be-
sondei*s den im Amtscharakter stehenden Personen Ehrlichkeit
und Gewissenhaftigkeit aufs dringlichste zur Pflicht gemacht
und empfohlen, zugleich wurde die Nichtbefolgung dieser Vor-
schriften mit wirksamer Strafe geahndet. Dass dies notwendig
war und nötig erschien, zeigt aber auch, dass es mit der alt-
gerühmten Ehrlichkeit nicht so weit her ist, als manche oft
dafür halten. Damals gab es, ebenso wie heute, vielleicht noch
mehr eine oft recht ungemütliche Brutalität im Kampfe um
den Gewinn, dies beweisen die erwähnten Urkunden recht
drastisch.
Wir übergehen hier Mitteilungen über inneres Zunftleben,
da dies für alle Zünfte dasselbe war und schon zur Genüge
dargestellt worden ist. Unser Zweck ist erreicht. Wir hoffeD
gezeigt zu haben, wie in Sirassburg eine Beamtenkategorie zu
Mäklern sich umgebildet hat, und wie diese Mäkler zur Zunft
sich zusammengeschlossen haben. Dass sie dies thun konnten, und
zwar Anfangs ohne Zuziehung eines anderen Handwerks, bew«st
ihre Wichtigkeit, ihre Bedeutung sowohl in handelsrechtlicher,
als auch in rein stadi politischer Hinsicht; denn die ZunAe
waren doch nur die Rahmen, innerhalb welcher das politische
und militärische Bild einer mittelalterlichen Stadt sich zeigte.
— 225 —
Diese Darstellung konnte die gesamte Gestaltung eines der
wichtigsten Nahrungsmittelgewerbe des Mittelalters, des Wein-
handels im Elsass auf dem Lande und in der Stadt ^bstver-
siändlich nicht ins Auge fassen, nur einen geringen Bruchteil
davon, soweit er die Weinsticherzunft allein betraf; nicht be-
rührten wir die Ordnung der Weinwirte und anderer Grewerb-
treibenden« welche sich mit dem Weinverkaufe abgaben. Wenn
aus dem über die Weinsticher mitgeteilten Materiale der Regali-
tätscharakler des Wein handeis in sehr früher Zeit hervorzugehen
scheint, so wird dies noch deutlicher der Fall sein für die
Weinwirte. Wir gedenken dies in einer einschlagigen spätem
Untersuchung über die Weinwirte im Elsass und in der Stadt
Strassburg ganz besonders an der Hand von Angaben über den
Weinbann der Grundherren und des Bischofs von Strassburg
darzuthun. In Anbetracht der hohen wirtschaftlichen Wichtigkeit
des Weinbaues und des Weinhandels für unser Land glauben
wir, dass solche Untersuchungen, wie die angedeuteten, keine
massigen sind, sondern als besch,eidene Beiträge zur Wirtschafts-
geschichte des Elsasses einigen Wert haben dürften.
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XVI.
Das Hildebrandslied.
In freier Nachbildung.
Von
Adolf Stöbor.
Vorerinnerung.
^tjLiildebrandslied», so bezeichnet die deutsche Litemtur-
l^eschichte die älteste ostgothische, also urdeutsche Heidensage,
die von Vater Hildebrand und dessen Sohne Hadubrand. Den
handschriftlichen, leider nur noch lückenhaft und ohne Ab$chlus>
vorhandenen Urtext brachten zum Abdruck die Germanisten
Wilh. Grimm, Wilh. Wackerna^el (Altdeutsches Lesebuch,
2. Aufl. S. (>3— 67) und neuestens Wilh. Jordan (Episteln und
Vorträge, 1891, S. 471—474). Letzterer gibt auf S. 363-^«
eine möglichst genaue Uebersetzung in*8 Hochdeutsche. Mit
Recht nahm Kaspar v. der Ron im 15. Jahrhundert die Hikle-
brandsage unter dem Titel «Der Vater mit dem Sohne» in sein
Heldenbuch auf, nur schade, dass er sie in wesentlich ver-
änderter, nicht aber verbesserter Fassung gab.
Das Hildebrandslied ist um seines inneren Wertes willea
so hoch zu schätzen, dass es nicht allein den Gelehrten, sondera
auch unserm gesammten Volke bekannt zu werden verdient, ab
kräftiger Antrieb zu patriotischer Regeisterung und Nacheifenmg.
Weht doch mächtig in diesem Licde der Geist todesmutiger
Vaterlandsliebe und treuen Familiensinnes. £cht dranaatisdi
ergreifend und spannend ist der Dialog zwischen beiden, die
anfangs einander nicht kennen, zwischen Vater und Sobn.
— !227 —
Des Letztern Ausfälle erinnern sehr an die Weise homerischer
Helden, welche vor ihrem Schwerterzweikampf erst einen heraus-
fordernden Zungenzweikampf inszenieren. In hetrefT der Form
bewegt sich das Hildebrandslied in freien Rhythmen ohne
Strophen noch Reime, jedoch mit hin und wieder eingestreuten
Alliterationen. Da nun aber der heutige poetische Geschmack
ein längeres Lied kaum anders als in Strophen nebst Reimen
sich denken mag^ so iolg^e hier der Versuch einer in diese
Formen gefassten und mit versöhnendem Abschluss versehenen
freien Nachbildung.
Hildebrand und Hadubrand.
Aas nideutsch gothischer Vorzeit Tagen
Hört ich von hohen Helden sagen,
Von Hildebrand und Hadnbrand,
Von Vater nnd Sohne, die zornentbrannt
Die Schwerter schwangen, des Stamms vergassen
Und sich in blutigem Zweikampf massen.
Gefolgt von ihrer Mannen Trosse,
Spornen sie beide die feurigen Rosse^
Sie rüsten rührig ihr WafFengerät, '
Panzer und Degen zu tapferer Fehd.
Doch eh* die gekreuzten Klingen entbrennen,
Will näher ein Kämpe den andern erkennen.
Der ältere Hildebrand hebt an zu fragen:
Wie heisst denn dein Vater ? Das wolle mir sagen ;
Sobald ich nur einen Namen webs
Aus dieses Königreichs heimischem Kreis,
Erkenn ich sofort, was für Feinde mir wehren,
In*s alte Vaterland heimzukehren.
Und Hadubrand, Hildebrands Heldensprosse,
Nicht kennend den Greis auf streitbarem Rosse,
Erwiedert ihm: «Bin eines Recken Sohn,
Das bezeugten dem Kind unsre Leute schon.
Mein Vater hat Hildebrand geheissen.
Ich, Hadubrand, darf seinen Sohn mich preisen.
Vor vielen Jahren zog er von dannen,
Den Feind zu bekämpfen, mit Dietrichs Mannen.
Gen Osten zog er und liess im Saal
In Trauer sitzen sein junges Gemahl,
Sammt einem Söhnchen, das kaum geboren
Schon seinen Beschützer und Vater verloren.
— 228 -
Aach König Dietrich masste mit Traaem
Den frohen Tod meines Vaten bedauecn,
Der auf Odoakeri Beeiegong sann,
Bis der Tod hinraffte den kühnsten Mann.
Dmm hielt ihn auch Dietrich hoch Tor allen,
Als tapfersten seiner tapfem Vasallen.
Stets fahrt* er des Volkes Torderste Reihen,
Dem heissesten Kampfe sein Schwert zn weihen.
Hoch klang sein Name Ton Mund zu Mnnd,
War weithin den wackersten M&nnem kund.
So hat er, wie sichere Znngen melden.
Sich selbst geopfert im Tod der Helden.»
Nnn Hildebrand, Heribrands Sohn, entgegnet:
<Dn irrst: bei Qott, der Yom Himmel dich segnet,
Dein Vater bin ich, den du forderst heraus,
Und siegreich komm* ich vom Schlachtfeld nach Hans,»
Nun zieht er Tom Arm eine goldene Spange,
Dass der Sohn ein Trenpfand von ihm empCsnge.
«Nimm hin diese Spende, mir ward sie Terliehen
Vom König der Hannen, mit dem wir ziehen.
Für todesmutige Kampfbegier
Zum Preise gab er mir diese Zier;
Nun geh* ich sie wieder zum Ehrenlohne
Dir, wie ich seh, meinem würdigen Sohno
cNein, donnert Hadubrand, Hildebrands Sprosse,
Erkämpfen will ich als Zweikampfsgenosse
Die goldene Beute ritterlich mir;
Zu trauen ist nicht, alter Hunne, dir;
Versuch ich's, dass dein Geschenk ich empfange,
So wirfst du die Lanze mir zu, statt der Spange.
Nein, nein, eure Worte so glatt wie Schlangen,
Sie Sielen mich nimmer mit Arglist fangen.
Euch Hunnen kennen wir hier zu Land,
Ihr treibet Fabchheit wie leichten Tand;
Auch dir, dem Greise, dess Haare grauen.
Sei Widerstand nur und kein Vertrauen.»
Drauf spricht der Vater, im Herzen verwundet :
«Nun, wenn dir Beute vom Zweikampf mxmdet,
So fordere doch fremde K&mpen heraus,
Nicht aber das Haupt ?on deinem Haus.
Noch einmal beschwör ich^s beim höchsten Namen:
Dein Vater Hildebrand bin ich, Amenl»
— 229 -.
«Das hast da, alter Hanne, gelogen,
Bricht Hadabrand aas, von Wat überwogen.
Da fürchtest dich bloss Tor meinem Speer,
Dram greifst da zar Aasflacht statt zur Wehr.
Nein, alter Feigling, dein Leben za fristen,
Lässt Hadabrand nimmer sich überlisten.
Wie? Du mein Vater? längst ist er verschollen.
Langst schläft er anter des Schlachtfelds Schollen.
So haben von frühester Kindheit an
Mir sicherste Zeugen kundgethan,
So aach meine Matter im Witwenschleier,
Die traaemd verschmäht hat jeglichen Freier.
Nein, Hadabrand lässt sich nimmer berücken,
Anf, auf, die Lanze, das Schwert za zücken!»
«Weh, wehe ! seufzt noch einmal Hildebrand,
So wird das Schwerste nicht abgewandt :
Mein einziges Kind soll den Vater tödten,
Oder ich meinen Stahl in des Sohns Blut röten!
Und muss es denn sein, dein frevelndes Wagen,
Mit dem Vater auf Leben und Tod dich zu schlagen,
Wohlan denn! Hildebrand, Heribrands Sohn,»
Erträgt nicht des Feiglings bittersten Hohn.
«Qenug der Worte, zur That geschritten!»
So rufend kommt Hadabrand näher geritten.
Sie schwingen die Lanzen, sie kreuzen die Degen,
Der ältere Kämpe bleibt überlegen;
Nur leicht verwundet der Vater den Sohn,
Fährt säuberlich fein mit dem Absalon,
Bis diesem die Lanzenspitze zerbrochen
Und des Heldengreises Ehre gerochen.
Er führt den Besiegten, der nun sich bekehret.
Sich beugt und das Gottesgericht an sich ehret,
Den wiedergewonnenen Sohn nach Haus.
Da bricht bei der Mutter der Jubel aus:
Sie ist nicht mehr Witwe, der Sohn nicht mehr Waise,
Der Himmel kehrt ein im Familienkreise!
0 Hildebrandslied, o herrliche Sage
Der Gothen, der Deutschen frühester Tage!
Seht, welch ein Spiegel von Tugendsinn!
Den stellt unserm Volke vor's Auge hin,
Dass Vaterlandslieb und Familientreue
Noch heute, wie ureinst, erblüh aufs neue!
— 230 —
Meisenlockerstreich geg^en den Franzosenkönig
Anno 1551.
Strassburger Mandart
Wer sinn die Meiselocker denn? ihr fröne, liewi Lit?
D'Strossbnrjer nennt mer spasshaft so. Ton Alters her bis hit
Worum? for^s hiesi Barjerskind isch's halt e Hanptpläsir,
Im Winter in der Stubb ze henn e Meis, diss losti Tier.
Drum stelle sie znem Meisefang im Herbst nff d^Banm e Fall
Mit gspaltne frische Nasse gepickt, die locke d^Vöjel ball;
Unn wenn do eins de Nnsskem pickt, se fallt der Deckel zne,
Unn uwer^s gfange Meisel jnchst vor Frenden unser Bne.
De Winter durch TersoTJt er aa*s Kostgängerle getreu
Unn reicht em in de Käfi nin sin tägli Brod uff s neu.
Unn horch, wie frisch unn fröhli singt^s Blöumeisel wie znem Dank:
Yergelt's der Gott, du gnetes Kind, für Wohnung, Spis' an Trank!
Und wenn au's Landvolk rings um d'Stat d^Strossbuijer desshalb
neckt
Als Meiselocker, 's isch nur Spass, in dem kein Stachel steckt:
Drum fahren unsri Kinder fürt getrost unn froh noch hit
Mit Meisefang unn Meisezucht, wie in der alte Zit —
Vor Alters awer, passen ufF ihr Buijer, hdre still»
Was unsrer Stadt zue Ehr unn Rnehm ich jetz erzahle will :
Vor Alters het sie Johrelang im Züghüs ufFbewahrt
E grossi Meis von Erz unn Stahl, von ganz aparter Art.
E Feldschlang, e Kanon^ isch's gsinn, mer saat: sechs Meter lang.
Die het gepfiffe geje dTind mit furchtbar hellem Klang.
Zuer Wehr het Strossbuij sie gebracht, als dütschi Reichsstadt frei,
Unn het sie drum au gefüettert guet mit Pulver unn mit Blei.
Vor dreimol hundert Johre het an eim Oktowertaa
E Kinni zue sim Schrecke ghört de MeisepfifF unn -Schlaa:
's isch der Franzosekinni gsinn, der zweit FiLrst Heinerich,
Der mdcht's schön Elsass risse los vom alte dtitsche Rieh.
Er kommt mit grossem Riterheer de Zawrer Stej erab,
Voll Raublust unn voll Uewermut, im allersch&rfste Trabb.
Jetz isch er ze Hüsbeije schunn unn sieht im Sunneschien
D'Stadt Strossburj unn de Münsterthurm unn denkt: 0 wars schunn
min!
— 234 —
Er kämmt mit wälscher Hinterlist, als kam er nar zuem Schatz,
Der freie Stadt znr Bnndeshilf, dem Kaiser Karl zam Trutz.
Er meint: D^Strossbnrjer merke's nit. im Spootjohrsnewel just
Sinn sie jo ganz Tor Ifer blind in Meiselockerslast.
Doch unsri Bnrjer, allzit wach, henn Knndschaft schnnn vom Find,
Unn schicke heim de schlöoe Fachs, der sich verstellt als Frind.
En andrer V6jel thaet jetz not, • Meis mit Dannerschall :
Sie hole's Oschatz vom Züghas gschwind unn pflanze's uff de Wall.
Grad uff Hüsberje richte sie's ann ziele uff e Zelt,
In dem der Kinni ann sin Stab zam Kriejsrot sich henn gstellt.
Die Herre sinn gar wohlgemaet am Tisch in gneter Raeh,
ünn trinke manch Champagnerglas enander frindli zae.
Uff einmol awer — bamm! o weh — was isch diss fürr e Knall?
's isch d'Meis*, wo pfift ann d'Köjel wirft von Strossbarj her, Yom
Wall.
Erschossen isch kein Mann zaem Qluck, doch d'üniform voll Glanz
Isch waest vom affgeworfne Sand, die maess mer bürste ganz.
Die Herre sinn vor Schrecke blass : vor solchem If eisegsang.
Vor solchem Meisalockerstreich iseh ihne doch jetz bang.
D' Trampeter blose Retirad ann Alli sattle gschwind,
Uff unn dervon mit Sack unn Pack geht's heim wie mit em Wind.
Sie rite, wie sie kämme sinn, de Zawrer Stej erab.
Vom Elsass in ihr Frankrich nin im allerschärfste Trabb.
Sie denke wohl wie zeller Fachs, dem d' TrÜwel stehn ze hoch:
Was kümmerts mich? sie sinn jo doch noch sür, anziti noch.»^
1 Merkwürdig ist folgende, kaum ein paar Jahrzehnte früher
gesprochene Aeasserang Melanchthons : «Es ist eine sehr alte
Prophezey, dass der König von Frankreich für (vor) Strassbarg soll
geschlagen werden and ist der Wahrheit ähnlich (wahrscheinlich) :
denn diese Statt liegt an der Gräntz.> Siehe: Lathers Tischreden.
Eisleben 1566. Kap. 77. fol. 602a.
XVII.
Chronik für 1891.
8. März: ,Die Rose von Strassbiii^S Oper von Nessler,
wird in Strassburg zum ersten Male aufgeführt.
15. April : stirbt Eduard Reuss, Professor an der Univer-
sität Strassburg (geb. 18. Juli 1804).
25. A.pril : EnifTnung des Ersteiner Hochwasserkanals.
17. — 18. Mai : I. Elsass-Lothriugisches Sängerbundesfest
zu Strassburg.
21. Mai: stirbt Gustav Bergmann, Staatsrat (von ihm die
Fischartbüste an dem Züricherbrunnen modelliert).
7. Juni : Generalversammlung des Vogesenclubs in Höh-
wald und Einweihung des Chlodwigsteines.
15. Juni : stirbt Professor Anton Birlinger in Bonn, Heraus-
geber der , Alemannia ^
15. Juni : Der deutsche Verein von Gas- und Wasferfach-
männern hält seine XXXI. Versammlung in Strassburg.
24. Juni : stirbt Graf Ferdinand Eckbrecht von Dürckbeiin
im Schloss Edla in Oesterreich (irrtümlich schon in der Chro-
nik zum 29. Januar 1888 tot gesagt).
11. Okt.: Einweihung des Aussichtsturmes auf dem Faud^
bei Schnierlach durch die Sectiun Kaysersberg des V,-C
11. Nov. : Vierhunderijähriger Geburtstag Martin Butlers
(geb. zu Schlettstadt, gest. zu Cambridge 28. Febr. 1551) am
1. Nov. in den beiden protestantischen Landeskirchen gefeiert.
— 233 —
21. Nov. : Die Eisenbahn Walburg- Wörth wird eröffnet.
9. Dez. : Grosser Brand in Schlettstadt.
17. Dez. : Die Eisenbahn Saarburg-Lörchingen-Albersch-
weiler wird eröffnet.
22. Dez. : Die Eisenbahn Allkirch-Pfirt wird eröffnet.
27. Dez. : Generalvikar Joseph Alexander Straub, Vor-
sitzender der Gesellschaft für die Erhaltung der historischen
Denkmäler des Elsasses, stirbt in Strassburg.
xvin.
Sitzuiigsprotokolle.
Yorstaudssitzuiig.
15. November 1891 im germanistischen Seminar der Universität.
Anweseod : die Herren Barack, Deecke, Harbordt, Hering,
Martin, Mündel, Schricker und Wiegand. Ihr Ausbleiben haben
entschuldigt die Herren Erichson, Franke und Schlumberger.
Der Vorsitzende, Prof. Martin, teilt mit, dass S. Durch-
laucht der Kaiserliche Herr Statthalter eine einmalige Unter-
stützung von 300 Mark für das Jahrbuch bewilligt habe, her
sich anschliessende Antrag des Mitglieiis Schricker, beim K.
Ministerium um eine teste jährliche Subvention voi'stellig zu
werden, wird angenommen.
Von dem Protokoll des Gesammt- Vereins der deutschen
Altertums- und Geschichtsvereine über die Generalversammluog
zu Sigmaringen sollen 8 Exemplare bestellt werden.
Nach der Mitteilung von Prof. ßarack sind weitere 4 Ge-
sellschatlen und Vereine in Schrittenaustausch mit dem Zwei»,'-
verein getreten, so dass die Zahl der Tauschexemplare jetzt auf
104 gestiegen ist.
Mitglied Mündel berichtet über den Personall)eätand und
die Kassenlage. Die Mitgliederzahl des Zweigvereins ist auf
1012 gestiegen, die Kassenrechnung schloss ab mit einem Uelwr-
schusse von Jf 47,81.
Einzelne für das Jahrbuch 1892 bereits eingelaufene Arbeiten
werden Ijesprochen und zur IJ<rirhter stattung verteilt.
— 235 —
Es l'olj^t die
Allgemeine Sitzung.
Prof. Martin eröifnet die Sitzung mit dem Rechenschafts-
bericht über die Entwickelung des Zweigvereins im abgelaufenen
Jahre.
Der Kassenbericht des Herrn Mündel wird durch zwei
Mitglieder der Versammlung, die Herren ßechstein und Lien-
hart, geprüft und richtig befunden.
Der bisherige Vorstand wird dui*ch Acclamation wiedei-ge-
wählt.
Zum Schluss hält Prof. Martin einen Vortrag über Arnolds
Pfingstmontag und die Elsassische Dialektpoesie.
Vorstandssitzung.
23. März 1892 im Bezirks- Archiv.
Anwesend : Die Herren Barack, Franke^ Harbordt^ Martin,
Mündel und Wiegand; ihr Ausbleiben haben entschuldigt die
HeiTen Deecke, Erichson, Rathgeber und Schricker.
Der Vorsitzende, Prof. Martin, teilt mit, dass auf die ge-
mäss dem Beschlüsse der letzten Vorstandssitzung gefertigte
Eingabe vom 30. November v. J. Seine Excellenz der Herr
Staatssekretär unterm 30. Dezember seine Vermittlung für die
Bewilligung eines jährlichen Zuschusses an den Zweigverein
gütigst in Aussicht gestellt habe. Prof. Martin wünscht, dass
künflighin alle Anträge von Vorstandsmitgliedern, wenn sie nicht
in der (Geschäftsordnung bereits vorgesehen sind, einige Zeit
vor der Sitzung dem Vorsitzenden bekannt gegeben werden
mögen.
Die für das Jahrbuch 1892 eingegangenen Beiträge werden
vorgelegt, besprochen und zur Berichterstattung verteilt.
[Die wissenschaftliche Verantwortung für die Einzelheiten
der Aufsätze fallt den Verfassern zu. E. M.]
OCT 3 1 1940