Skip to main content

Full text of "Hyperämie als Heilmittel"

See other formats


,-i  j 


Söt'?»? 


■0)  ^o 


va- 


■^'  ■■■■  T- 


1»    >  W        z*^ 


ö  o 


Ö     0      •; 


cbc^:^- 


?d3 ''  :S 


w^  r\ 


;ji:X.^.rd7. 


Boston 

Medical  Library 

8  The  Fenway. 


HYPERAMIE 

ALS 

HEILMITTEL 

Von 

Professor  Dr.  August  Bier 

in  Bonn 


Fünfte  umgearbeitete  Auflage 

Mit  39  Abbildungen 


Leipzig 
Verlag  von  F.  C.  W.  Vogel 

1907 


3HÖ 


'       DEC  14 1916 


< 


/  3  13  f 


Published  the  ist  of  March,  1907  Privilege  of  Copyright  in  the  United  States 
reserved  mider  the  Act  approved  March  3,  1905  by  F.  C.  W.  Vogel,  Leipzig. 

ä 


J-J-^ß.  137. 


Seinem  hochverehrten  Lehrer 


Exzellenz  Friedrich  von  Esmarch 


in  Dankbarkeit  gewidmet 
vom  Verfasser. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2011  with  funding  from 

Open  Knowledge  Commons  and  Harvard  Medical  School 


http://www.archive.org/details/hypermiealsheilmOObier 


Vorwort  zur  5.  Auflage. 


Veränderungen  und  Erweiterungen  hat  besonders  der  Ab- 
schnitt dieses  Buches  erfahren,  der  über  die  Behandlung  akuter 
Entzündungen  und  Eiterungen  mit  Stauungshyperämie  handelt. 
Auf  diesem  Gebiete  ist  in  der  letzten  Zeit  eine  sehr  reichliche 
Literatur  erschienen.  Meine  Beobachtungen  sind  mit  ganz  ge- 
ringen Ausnahmen  im  großen  und  ganzen  bestätigt,  und  der 
hohe  Wert  der  Stauungshyperämie  zur  Behandlung  dieser  Krank- 
heiten ist  fast  allgemein  anerkannt.  Nur  ganz  vereinzelte  Gegner 
halten  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzündungen  für 
überflüssig  oder  gar  für  gefährlich  und  schädlich.  Alle  diese 
fremden  Beobachtungen  mußten  berücksichtigt  und  besonders 
die  Einwände  der  Gegner  ausführlich  erörtert  werden. 

Neu  hinzugekommen  sind  die  Kapitel  über  Behandlung  der 
Keloide,  der  Tendovaginitis  crepitans,  der  Hautkrankheiten. 
Ich  habe  diese  Kapitel  möglichst  kurz  gehalten,  um  nicht  den 
Umfang  des  Buches  noch  weiter  zu  vermehren.  Neu  hinzu- 
gekommen ist  schließlich  ein  Inhaltsverzeichnis. 


Inhaltsverzeichnis. 


S  eite 

Einleitung 1 

Allgemeiner  Teil      13 

Bei  allen  wichtigen  Lebenserscheinungen  ist  Hyperämie  vorhanden     .  l'S 

Künstliche  Erzeugung  von  Hyperämie 15 

Erzeugung  aktiver  Hyperämie IG 

Apparate  für  die  Heissl uftbehandlung 32 

Örtlicher  und  allgemeiner  Einfluss  der  Heissluftbäder  auf  den  Körper  49 

Erzeugung  passiver  Hyperämie       55 

Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Stauungsbinde 60 

Hyperämie  durch  trockene  Schröpf  köpfe 81 

Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate 89 

Andere  Hyperämiemittel,  insbesondere  chemische  „Derivantien"  ...  111 

Beeinflussung  des   Lymphstromes  durch  hyperämisierende  Mittel      .    .  128 

Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie 134 

Schmerzstillende  Wirkung  der  Hyperämie 134 

Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie    .    .    .  139 

Resorbierende  Wirkung  der  Hyperämie 164 

Auflösende  Wirkung  der  Hyperämie 179 

Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie 188 

Anhang.     Die  Beeinflussung  des  Gesamtblutes  zu  Heilzwecken     .    .    .  238 

Spezieller  Teil 248 

Behandlung  verschiedener  Ivrankheiten  mit  Hyperämie.  Vorbemerkungen  248 

Behandlung  lokaler  Infektionskrankheiten  mit  Hyperämie 250 

Behandlung  der  Tuberkulose 251 

Behandlung    akuter    Entzündungen    und    akuter    Eiterungen-  an    den 

Gliedern  mit  der  Stauungsbinde 293 

Technik  der  Bindenstauung  bei  akuten  Entzündungen  und  Eiterungen  294 

Unterdrückung  beginnender  Eiterungen  durch  Stauungshyperämie  301 

Verwandlvmg  heisser  Abscesse  in  kalte 305 

Verschwinden  von  Abscessen  unter  Stauungshyperämie 306 

Verhalten  der  akuten  Eiterung  unter  Stauungshyperämie  ....  309 
Chirurgische    Behandlung    der    akuten    Eiterung    unter    Stauungs- 
hyperämie      310 

Beeinflussung  der  Temperatursteigerung  dvu-ch  Stauungshyperämie  312 
Behandlung    akut    und    subakut    entzündeter    Gelenke    mit    der 

Stauungsbinde 315 

Behandlung  vereiterter  grosser  Gelenke  mit  der  Stauimgsbinde    .  320 

Behandlung  der  Sehnenscheidenphlegmonen  mit  Stauungshyperämie  330 

Akute  Osteomyelitis 341 

Rezidivierende  Osteomyelitis 349 

Behandlung  anderer  akuter  Entzündungen  und  Eiterungen  an  den 

Gliedern 351 

Behandlung  des  Erysipels 353 

Prophylaktische    Behandlung    frischer    infektionsverdächtiger    Wunden 

mit  hyperämisierenden  Mitteln 354 


VIII  Inlialtsverzeichnis. 

Seite 

Behandlung   akuter    Entzündungen   und  akuter    Eiterungen    am  Kopfe 

mit  einer  um  den  Hals  gelegten  Stauungsbinde 358 

Akute  Eiterungen  des  Mittelohres  und  ihre  Komplikationen      .    .  361 

Augenkrankheiten       378 

Akute  Cerebrospinal-Meningitis 382 

Akute   Parotitis       " 383 

Akute  Lymphadenitis 384 

Parulis 385 

Behandlung   von    Schleimhauterkrankungen   des   Mundes   und   der 

oberen  Liiftwege 387 

Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzündungen  und  Eiterungen 

gefährlich  werden?    Kontraindikationen 389 

Streptokokkeninfektionen 396 

Diabetes 400 

Blutungen 400 

Abscesse  und  Decubitus  an  der  Stelle,   wo  die  Binde  gelegen    .    .  400 

Venenthrombose 401 

Todesfälle,    die    wir   bei   I&anken    erlebten,    bei    denen    Stauungs- 
hyperämie angewandt  wurde 402 

Behandlung  akuter  Entzündungen  imd  Eiterungen  mit  Schröpfköpfen 

und  ähnlichen  Saugapparaten 408 

Kurzer   Rückblick   nach   meinen   und   anderer   Ärzte    Erfahrungen   bei 

akuten  Eiterungen 419 

Behandlung  nicht  infektiöser  Krankheiten  mit  Hyperämie 425 

Behandlung   der    chronischen  Versteifungen,   insbesondere   der    Gelenk- 
versteifungen    427 

Chronischer  Gelenkrheumatismus 427 

Arthritis  deformans 432 

Traumatisch  versteifte  Gelenke       433 

Gonorrhoische  Gelenkversteifungen 436 

Behandlung  der  Skoliose 436 

Behandlung  frischer  subkutaner  Verletzungen 437 

Hyperämie  als  resorbierendes  Mittel 440 

Behandlung  der  Ödeme 440 

Behandlung  von  Gelenkergüssen 441 

Behandhmg  der  Elephantiasis 442 

Behandlung  der  Keloide 443 

Behandlung  der  Tendovaginitis  crepitans 444 

Behandlung  von  Hautkrankheiten 445 

Behandlung  von  Neuralgien  und  sonstigen  Schmerzen  durch  Hyperämie  445 
Hyperämisierende    Behandlung    von    Krankheiten    des  Zentralnerven- 
systems, insbesondere  des  Gehirns 447 

Anwendung  heisser  Luft  bei  Gefässkrankheiten 454 

Behandlung  der  Varicen  und  ihrer  Folgezustände 454 

Beliandlung  drohender  seniler  und  diabetischer  Gangrän    ....  455 

Behandlung  der  Erfrierungen 458 

Schluss 460 

Register 462 


Einleitung. 


Die  Zeit  liegt  nicht  so  sehr  fern,  wo  nicht  nur  die  Theologen 
und  ein  grosser  Teil  der  Philosophen  und  Naturforscher,  sondern 
auch  viele  Ärzte  teleologisch  dachten:  bei  allen  Vorgängen,  die  sie 
beim  Menschen  in  gesunden  und  kranken  Tagen  beobachteten, 
fragten  sie  sich,  warum  treten  dieselben  ein  und  zu  welchem  Zwecke 
dienen  sie  dem  Organismus?  Diese  teleologische  Auffassung  sogar 
der  Krankheitserscheinungen  hat  auch  zu  allen  Zeiten  tief  im  Volks - 
bewusstsein  gesteckt.  Die  uralte  Vorstellung,  dass  die  Krankheit 
ein  Kampf  des  Körpers  mit  einem  eingedrungenen  Feinde  ist,  der, 
jenachdem  der  eine  oder  der  andere  siegt,  mit  Genesung  oder  Tod 
endet,  die  auch  heute  noch  unter  den  Laien  weitverbreitete  Ansicht, 
dass  Fieber,  Entzündung,  Eiterung,  Schwitzen,  Auswurf  und  Durch- 
fall dazu  dienen,  ,,schädhche  und  unreine  Stoffe"  aus  dem  Körper 
zu  entfernen,  beweisen  dies. 

Ich  werde  gleich  zu  entwickeln  versuchen,  dass  ein  teleologischer 
Standpunkt  nicht  nur  gesund  und  berechtigt,  sondern  notwendig  bei 
der  Betrachtung  der  Dinge  in  der  lebendigen  Natur  ist.  Aber  jene 
Teleologen  schössen  weit  über  das  Ziel  hinaus.  Einmal  begingen  sie 
den  Fehler,  dass  sie  die  sogenannte  anthropocentrische  Teleologie 
verfochten.  Der  Mensch  stellte  sich  in  den  Mittelpunkt  der  Welt; 
nur  für  sein  persönhches  Wohl  war  alles  geschaffen;  nur  für  ihn 
schien  die  Sonne  und  fiel  der  Regen,  nur  um  ihn  zu  ernähren,  waren 
Tiere  und  Pflanzen  vorhanden,  und  nur  um  ihn  zu  ergötzen,  die 
Natur  so  schön  und  so  herrlich  gebildet.  Mit  Recht  verfiel  diese  Art 
der  Teleologie,  die  soweit  ging,  das  Reifen  der  Kirschen  im  Sommer 
dadurch  zu  erklären:  ,, damit  der  Mensch  in  der  heissen  Jahreszeit 
seine  Erfrischung  habe",  der  Lächerhchkeit.  Schon  die  ältere  Philo- 
sophie hat  sie  heftig  bekämpft.  Vor  allem  aber  war  es  die  Dar- 
win'sehe  Lehre,  welche  ihr  den  Todesstoss  gab.  Denn  diese  hob  den 
Menschen  nicht  aus  der  übrigen  Natur  heraus  und  setzte  ihn  über 
dieselbe,  sondern  liess  ihn  mitten  darin,  liess  ihn  selbst  nur  eine 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  1 


2  Einleitung. 

der  unzähligen  Naturerscheinungen  sein,  von  dem  man  nicht  ein- 
mal wisse,  ob  er  nicht  im  Laufe  gewaltiger  Zeiträume  durch  etwas 
Besseres  und  Vollkommeneres  ersetzt  werde. 

Den  zweiten  Fehler  begingen  diese  älteren  Teleologen  damit, 
dass  sie  die  Zweckmässigkeit  in  der  Natur  nicht  als  eine  einfache 
Erfahrungsthatsache,  sondern  geradezu  als  Erklärung  für  alle  mög- 
lichen Erscheinungen  hinstellten.  Man  gab  sich  gar  keine  Mühe, 
den  tieferen  Ursachen  der  Dinge  nachzuforschen,  sondern  man  sagte 
einfach:  das  ist  so  und  nicht  anders,  das  wird  so  und  nicht  anders, 
weil  es  so  zweckmässig  ist.  Natürlich  ist  dies  Verfahren  höchst 
fehlerhaft  und  geeignet,  jeden  wissenschafthchen  Fortschritt  zu 
verhindern.  Es  ist  deshalb  auch  nicht  zu  verwundern,  dass  mit  der 
Übertragung  exakter  naturwissenschaftlicher  Forschung  auf  das  Ge- 
biet der  Medizin  diese  Lehren  sehr  in  Verruf  kamen.  Und  nun 
ging  es,  wie  es  immer  zu  gehen  pflegt,  wenn  der  Rückschlag  auf 
zusammenbrechende  grundsätzhche  Anschauungen  erfolgt :  mit  den 
Schwächen  der  Lehre  hess  man  auch  ihren  guten  Kern  fallen,  und 
noch  heutigen  Tages  ist  der  auf  praktischen  Gebieten  arbeitende 
Arzt,  welcher  sich  zu  teleologischen  Anschauungen  in  dem  gleich 
zu  entwickelnden  Sinne  bekennt,  in  Gefahr,  gerade  von  solchen 
Fachgenossen,  welche  sich  für  exakte  und  wissenschaf thche  Forscher 
halten,  mindestens  stark  rückständig  genannt  zu  werden. 

Würden  sich  diese  Leute  allerdings  einmal  auf  dem  Gebiete 
der  Biologie  genauer  umsehen,  in  der  die  praktische  Medizin,  wenn 
anders  sie  den  Anspruch  erhebt,  ihrerseits  eine  Wissenschaft  zu  sein, 
wurzeln  muss,  so  würden  sie  finden,  dass  sie  selbst  die  in  der  That 
Rückständigen  sind.  Zwar  lässt  diese  vollständig  die  grosse  Grund- 
frage, die,  solange  es  denkende  Menschen  giebt,  die  Geister  be- 
wegt und  bewegen  wird,  ob  die  Welt  und  ob  der  Mensch  einen  Zweck 
habe,  aus  dem  Spiel,  und  überlässt  diese  Frage,  die  wohl  nie  gelöst 
werden  wird,  den  Philosophen  und  Theologen.  Zwar  war  es  gerade 
die  heute  die  Biologie  beherrschende  Darwin'sche  Lehre,  welche 
am  wirksamsten  die  naive  anthropocentrische  Teleologie  beseitigte, 
und  gerade  eine  grosse  Anzahl  von  Darwinisten^)  haben  anfangs 


1)  Sachs  (Vorlesungen  über  Pflanzenphysiologie.  Leipzig  1882.  S.  14)  sagt 
diesen  folgende  auch  für  lonsere  medizinischen  Antiteleologen  sehr  beher- 
zigenswerten Worte:  „Noch  über  einen  Punkt  möchte  ich  mich  vorläufig  aus- 
sprechen: er  betrifft  den  Gebrauch  des  Wortes  Zweckmässigkeit,  eines  Wortes, 
welches  manche  Fanatiker  der  Descendenztheorie  womöglich  ganz  aus  der  Sprache 
verbannen  möchten.      Allein,  dass  man  früher  die  Zweckmässigkeit  in  der  Ein- 


Einleitung.  o 

jede  teleologische  Auffassung  abgelehnt,  aber  sie  haben  sich  sehr 
schnell  bekehrt  und  das  Unlogische  dieser  Ablehnung  eingesehen, 
weil  es  eigentlich  im  Wesen  ihrer  Lehre  hegt,  dass  ihre  Anhänger, 
was  den  einzelnen  Organismus  und  die  einzelne  Art  anlangt,  über- 
zeugte Teleologen  sein  müssen,  selbst  diejenigen  unter  ihnen,  die 
sonst  Zwecke  in  der  Natur  leugnen,  und  alle  Naturerscheinungen, 
den  Menschen  mit  eingeschlossen,  Folge  ganz  bestimmter  Natur- 
kräfte sein  lassen.  Denn  nur  ein  nach  allen  Richtungen  hin  zweck- 
mässiger, den  äusseren  Bedingungen  angepasster  Organismus  kann 
im  Kampfe  ums  Dasein  bestehen,  während  alles  Unzweckmässige 
die  Natur  selbst  beseitigt. 

Eine  ganze  Reihe  der  strengsten  Anhänger  Darwin's  hat  sich 
in  diesem  Sinne  geäussert  und  sich  als  überzeugte  Teleologen  bekannt. 
Einige  haben  sogar  über  das  Ziel  schiessend  behauptet i),  dass  erst 
Darwin's  Lehre  diese  Beschränkung  der  Zweckmässigkeit  auf  die 
lebendigen  Naturerscheinungen  ans  Licht  gezogen  und  verständHch 
gemacht  habe.  Und  doch  haben  lange  vorher  Naturforscher  und 
Philosophen  völlig  anderer  Richtung  ganz  ähnlich  gedacht.  So  betont 
Kant  in  seiner  Kritik  der  teleologischen  Urteilskraft  unter  scharfer 
Bekämpfung  der  anthropocentrischen  und  der ,, äusseren" Teleologie 


richtung  der  Organismen  auf  andere  Ursachen  zurückführte,  als  jetzt,  ist  kein 
Grund,  unsere  Sprache  eines  prägnanten  Ausdruckes  zu  berauben.  Im  Grunde 
versteht  man  unter  dem  Ausdruck,  es  sei  diese  oder  jene  Einrichtung  an  einem 
Organismus  zweckmässig,  weiter  nichts,  als  dass  dieselbe  mit  zur  Existenzfähigkeit 
desselben  beiträgt.  Nun  leuchtet  aber  ohne  weiteres  ein,  dass  notwendig  alle 
Eigenschaften  eines  Organismus  so  geartet  sein  müssen,  dass  sie  die  Existenz 
desselben  wenigstens  unter  den  ihm  natürlichen  Lebensbedingungen  nicht  in  Frage 
stellen.  Zweckmässig  heisst  also  im  allgemeinen  soviel  als  existenzfähig,  imd 
es  wäre  eine  Thorheit,  auch  nur  ein  Wort  darüber  zu  verlieren,  ob  man  das  Wort 
in  diesem  Sinne  anwenden  dürfe  oder  nicht.  Zugleich  ist  damit  aber  auch  gesagt, 
dass  dixrchaus  kein  wissenschaftliches  Verdienst  darin  liegt,  von  irgend  einer 
organischen  Einrichtung  zu  behaupten,  sie  sei  überhaupt  zweckmässig  oder  trage 
zur  Existenzfähigkeit  das  ihrige  bei;  denn  das  versteht  sich  von  selbst.  Da- 
gegen ist  es  unter  Umständen  sehr  wichtig  und  verdienstlich  nachzuweisen,  in- 
wiefern und  unter  welchen  Modalitäten  irgend  eine  Einrichtung  am  Organismus 
zweckmässig  ist;  in  welcher  Weise  dieselbe  in  Verbindung  mit  anderen  Einrich- 
tungen zur  Existenzfähigkeit  eines  bestimmten  Organismus  beiträgt ;  und  im  Grunde 
hat  es  die  gesamte  Physiologie  wesentlich  mit  solchen  Nachweisen  zu  thun." 

In  der  zweiten  Auflage  fehlen  diese  Worte  wohl  deshalb,  weil  sie  inzwischen 
für  jeden  Botaniker  selbstverständlich  und  deshalb  überflüssig  geworden  waren. 

1)  Vergleiche  Sprengel,  Zweckmässigkeit  Lind  Anpassung.  Akad.  Rede. 
Giessen  1898,  und  Ziegler,  Über  den  derzeitigen  Stand  der  Darwin' sehen  Lehre. 
Jena  1902. 

1* 


^  Einleitung. 

die  „innere"  Zweckmässigkeit  der  Organismen  und  sagt,  dass  es 
„mit  den  empirischen  Gesetzen  der  Naturzwecke  von  organisierten 
Wesen  nicht  allein  erlaubt,  sondern  auch  unvermeidlich  ist,  die  teleo- 
logische Beurteilungsart  zum  Prinzip  der  Naturlehre  in  Anschauung 
einer  eigenen  Klasse  ihrer  Gegenstände  zu  gebrauchen".  Seine 
Teleologie  ist,  wie  die  Darwin' sehe,  frei  von  jedem  Übersinnhchen, 
denn  ,,die  mechanische  Erklärungsart  wird  nicht  durch  die  teleolo- 
gische, als  ob  sie  einander  widersprächen,  ausgeschlossen". 

Auch  unter  den  Medizinern  erkennen  die  reinen  Naturforscher, 
Anatomen  und  Physiologen,  die  ,, innere  Zweckmässigkeit"  Kant's 
und  der  Darwinisten  beim  Menschen  bewusst  oder  unbewusst  un- 
beschränkt an.  Jeder  Anatom  fragt  sich,  wenn  er  irgend  einen 
neuen  Bestandteil,  jeder  Physiologe,  wenn  er  eine  neue  Thätigkeit 
im  Körper  entdeckt :  warum  ist  es  da  und  zu  welchem  Zwecke  dient 
es  dem  Organismus?  Und  mit  Recht  würde  man  denjenigen,  welcher 
anders  dächte,  für  einen  wunderhchen  Kauz  halten.  Die  wenigen 
entwicklungsgeschichthchen  Überbleibsel  des  normalen  Menschen, 
welche  sich  nicht  in  diesen  Rahmen  der  Zweckmässigkeit  fügen, 
besagen  nichts  gegen  die  allgemeine  Giltigkeit  der  Regel. 

Scheinbar  ganz  anders  und  viel  verwickelter  hegen  die  Dinge 
in  der  praktischen  Medizin,  welche  sich  mit  dem  kranken  Körper 
und  seiner  Heilung  beschäftigt.  Eigenthch  hätte  allerdings  schon 
die  eine  Thatsache,  dass  der  Körper  zwar  sehr  häufig  erkrankt, 
dass  er  aber  die  übergrosse  Mehrzahl  der  Krankheiten  ohne  Arzt 
und  ohne  künsthche  Mittel  ganz  allein  und  aus  eigener  Kraft  mehr 
oder  weniger  vollkommen  auszuheilen  vermag,  immer  den  Arzt 
vom  Vorhandensein  zweckmässiger  natürhcher  Heilungsvorgänge 
überzeugen  müssen.  Denn  offenbar  kann  dieses  Vermögen,  da  es 
eben  zur  Heilung  der  Krankheit  führt  und  dem  Menschen  zum 
Wohle  dient,  nur  den  Charakter  der  inneren  Zweckmässigkeit  tragen. 

Dass  bei  vielen  schädhchen  Einflüssen  der  Körper  sofort  die 
zweckmässigsten  Mittel  ergreift,  um  sie  zu  beseitigen,  ist  für  jeden 
Menschen  klar.  Niemand  wird  daran  zweifeln,  dass  der  heftige 
Hustenanfall,  der  einen  in  den  Kehlkopf  eingedrungenen  Fremd- 
körper herauswirft,  das  stürmische  Erbrechen,  welches  aus  Versehen 
verschluckte  ätzende  Säuren  und  Laugen  entleert,  der  heftige 
Thränenstrom  und  der  lebhafte  Lidschlag,  durch  den  in  das  Auge 
gelangte  reizende  Dinge  entfernt  werden,  höchst  zweckmässige 
Einrichtungen  darstellen.  Und  doch  sind  solche  Rettungsmittel, 
wie  sie  ein  heftiger  Hustenanfall  und  fürchterhches  Erbrechen  dar- 


Einleitung.  5 

stellen,  für  den  geschädigten  Menschen  so  unangenehm  und  sehen 
so  bedrohlich  aus,  dass  der  naive  Beobachter  zweifellos,  bUebe  ihm 
der  eingedrungene  Schädling  verborgen,  sie  für  das  Übel  selbst 
ansehen  würde,  während  sie  doch  in  Wirkhchkeit  die  Abwehr  des 
Übels  bedeuten. 

Während  die  grosse  und  leicht  sinnlich  wahrzunehmende  Grob- 
heit der  Schädigung  bei  jenen  Fällen  vor  diesem  verhängnisvollen 
Fehlschluss  schützt,  so  ist  das  nicht  der  Fall  gewesen,  wenn  der 
Schädling  so  klein  und  verborgen  war,  dass  er  gar  nicht  oder  nur 
durch  das  Mikroskop  wahrgenommen  werden  konnte,  wie  das  vor 
allen  Dingen  bei  den  Infektionskrankheiten  der  Fall  ist.  Noch  heute 
sieht  die  Mehrzahl  der  praktischen  Ärzte  das  Fieber  und  die  Ent- 
zündung, die  nach  gewissen  Infektionen  mit  derselben  Gesetz- 
mässigkeit auftreten,  wie  der  Hustenanfall  dem  Eindringen  des 
Fremdkörpers  in  den  Kehlkopf  folgt,  als  etwas  Schädliches  und 
etwas  zu  Bekämpfendes  an,  und  die  Zeit  liegt  noch  nicht  fern,  wo 
sie  bis  auf  einzelne  Ausnahmen  alle  so  dachten. 

Es  ist  in  der  That  eine  sonderbare  Erscheinung,  dass  gerade 
unsere  Zeit,  die  soviel  Scharfsinn  und  Mühe  darauf  verwandt  hat, 
die  Krankheit  aufzulösen  in  die  eigentliche  Schädigung  und  in 
Lebens  Vorgänge,  mit  denen  der  Körper  auf  die  Schädigung  ant- 
wortet, so  spät  anfängt,  die  logische  Folgerung  aus  dem  Erkannten 
zu  ziehen.  Die  moderne  Forschung  hat  mit  grossem  Erfolge  die 
Pathologie  unter  die  biologischen  Wissenschaften  eingereiht,  sie 
hat  gelehrt,  dass  ein  bedeutender  Teil  der  sogenannten  Krankheits- 
symptome  Lebenserscheinungen  sind,  die  in  jedem  einzelnen  Falle 
mit  der  Regelmässigkeit  eines  Naturgesetzes  sich  einstellen,  mit 
andern  Worten,  dass  Kranksein  ein  den  veränderten  Umständen 
angepasstes  Leben  ist.  Lag  da  nicht  die  Frage  nahe,  sollte  der 
Körper,  in  dessen  Lebenserscheinungen  wir  bei  gesunden  Zeiten 
die  erstaunlichste  Zweckmässigkeit  zu  beobachten  gewohnt  sind, 
in  der  Krankheit  unzweckmässig  arbeiten?  Wir  müssen  gestehen, 
dass  wir  hier  trotz  aller  neugewonnenen  Kenntnisse  Rückschritte 
gemacht  haben,  denn  ein  natürlicher  Instinkt  führte  hier  ältere 
Ärzte,  ohne  dass  sie  im  Besitze  der  grossen  naturwissenschaftlichen 
Erfahrungen  und  Hilfsmittel  waren,  die  wir  jetzt  unser  eigen 
nennen,  auf  den  Weg,  den  wir  heute  wieder  als  im  allgemeinen 
richtig  anerkennen  müssen.  Wer  wüsste  nicht,  dass  man  seit 
uralten  Zeiten  das  Fieber  als  ein  natürliches,  den  Körper  reini- 
gendes Heilmittel  angesehen  hätte?  Und  was  für  Mühe  hat  es  ge- 


ß  Einleitung. 

kostet,  dieser  Anschauung  in  einer  unseren  heutigen  Begriffen 
angepassten  Form  wieder  Anhänger  zu  erwerben!  Wer  sich  davon 
überzeugen  will,  der  lese  die  gewaltig  angeschwollene  Literatur 
über  das  Fieber,  mit  welcher  uns  das  letzte  halbe  Jahrhundert 
beschenkt  hat. 

Ein  ganz  ähnliches  Schicksal  wie  das  Fieber  hat  die  Entzündung 
gehabt.  Nachdem  schon  ältere  Ärzte  die  Entzündung  als  einen 
nützlichen  Vorgang  aufgefasst,  war  ein  sehr  eifriger  Verfechter 
dieser  Ansicht  in  J.  Hunteri),  einem  überhaupt  sehr  überzeugten 
Teleologen,  erstanden.  Ausser  an  andern  Stellen  betont  er  dies 
in  einem  Kapitel,  welches  ,,von  dem  Nutzen  und  dem  Zweck  der 
adhäsiven  Entzündung"  handelt:  ,,es  liegen  hier  weise  Absichten 
zugrunde  und  man  sieht,  wie  die  Natur  auch  hier  den  Körper  mit 
zweckmässigen  Mitteln  zu  seiner  Selbstverteidigung  versehen  hat." 

Nach  Neumann^)  hat  S.  W.  Sachs  im  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts die  damalige  Ansicht  von  der  Entzündung  mit  den  Wor- 
ten zusammengefasst,  dass  sie  ,,eine  Reaktion  des  Organismus  zur 
Wiederherstellung  und  Behauptung  seiner  Integrität  mitvermehrter 
Kraftanstrengung  aller  Systeme"  darsteUe. 

Dass  die  Lehre  von  der  Zweckmässigkeit  der  Entzündung  ge- 
rade in  den  letzten  Jahrzehnten  vollständig  verlassen  worden  ist, 
bedarf  wohl  keiner  näheren  Ausführung,  denn  fast  alle  Praktiker, 
die  jetzt  in  ihrem  Fache  das  Wort  führen,  sind  noch  als  ,,Anti- 
phlogisten",  die  den  schädlichen  Entzündungsvorgang  bekämpfen 
sollen,  erzogen  worden,  und  die  übergrosse  Mehrzahl  lebt  noch  in 
diesen  Begriffen. 

In  neuerer  Zeit  aber  macht  sich  hier  ein  sehr  grosser 
Umschwung  in  den  Anschauungen  bemerkbar.  Von  vielen  Seiten 
wird  von  neuem  die  Nützlichkeit  des  Entzündungsvorganges 
betont.  Ein  besonderes  Verdienst,  diese  Lehre  wieder  zur 
Anerkennung  gebracht  und  mit  wissenschaftlichen  Gründen  ge- 
stützt zu  haben,  gebührt  Leber  3),  Neu  mann*),  Marchand^), 


1)  Hunt  er,  Versuche  über  das  Blut,  die  Entzündung  und  die  Schuss- 
wunden. Deutsch  von  Hebenstreit.    Leipzig  1797.  II.  Band.    1.  Abteilung,  Kap.  14. 

2)  Neumann,  Über  den  Entzündungsbegriff.  Zieglers  Beiträge  zur  patho- 
logischen Anatomie  und  zur  allgemeinen  Pathologie.     5.  Band.     S.  348. 

3)  Leber,  Die  Entstehung  der  Entzündung.     Leipzig  1891. 

4)  Neunaann,  1.  c. 

5)  Marchand,  XiTber  den  Wechsel  der  Anschauungen  in  der  Pathologie. 
Antrittsrede  in  Giessen.  Stuttgart  1882.  —  Über  die  natürlichen  Schutzmittel 
des  Organismus.     Leipzig  1900. 


Einleitung.  7 

Buchneri),  Metschnikoff 2),  Schrakamp^)  und  Ribbert*), 
und  man  dürfte  wohl  kein  falscher  Prophet  sein,  wenn  man  voraus- 
sagt, dass  sie,  wenigstens  in  der  theoretischen  Medizin,  bald  die  Herr- 
schaft erlangen  wird,  obwohl  jetzt  noch  die  Mehrzahl  der  Pathologen 
sich  nach  Marchand  ,,von  der  Auffassung  der  Entzündung  als 
einer  an  sich  deletären  Erscheinung  noch  nicht  freigemacht  hat". 

Viel  rascher  und  allgemeiner  als  die  oben  abgehandelten  Lebens- 
erscheinungen des  kranken  Körpers,  Fieber  und  Entzündung,  hat 
sich  eine  dritte,  die  angeborene  und  die  erworbene  Immunität  gegen 
Infektionskrankheiten,  als  eine  hervorragend  nützhche  Schutz- 
einrichtung des  Körpers  die  fast  uneingeschränkte  Anerkennung 
erworben.  Es  würde  thöricht  sein,  in  einer  knappen  Einleitung 
sich  über  diese  Dinge  näher  zu  verbreiten,  die  ebenso  wie  ihre 
Entdecker  jedem  Arzt  bekannt  sind  und  jetzt  weit  über  die  Kreise 
der  Ärzte  hinaus  allgemeines  Interesse  erregen.  Mögen  auch  die 
Theorien  über  Antikörper,  Alexine  u.  s.  w.  noch  anfechtbar  und 
unbefriedigend  sein,  mag  man  mit  Recht  sagen  können,  dass  wir  von 
einem  wirklichen  Verständnis  dieser  natürlichen  Heilungsvorgänge 
noch  himmelweit  entfernt  sind,  die  Thatsachen  stehen  fest.  Und 
was  jedem  einleuchtet,  das  ist  ihre  wirklich  erstaunhche  Zweck- 
mässigkeit: dieselben  Infektionserreger,  welche  den  Körper  ver- 
giften und  zersetzen,  machen  andererseits  die  Kampfmittel  des 
Körpers  mobil,  durch  welche  ihre  Gifte  unschädlich  gemacht  und 
sie  selbst  getötet  werden. 

So  sehen  wir  auch  bei  all  den  Reaktionsvorgängen,  welche  der 
Körper  bei  Infektionskrankheiten  zeigt,  das  Wort  Pflüger's^)  zur 
Wahrheit  werden:  ,,Die  Schädigung  ist  die  Ursache  der  Entfernung 
der  Schädigung",  welches  dieser  geistvolle  Mann  in  anderer  Fassung 
seines  ,, teleologischen  Kausalgesetzes" :  ,,Die  Ursache  jeden  Bedürf- 
nisses eines  lebendigen  Wesens  ist  zugleich  die  Ursache  der  Be- 
friedigung des  Bedürfnisses,"  ausgesprochen  hat. 


1)  Buchner,  Eine  neue  Theorie  über  Erzielung  von  Immunität.  Fort- 
schritte der  Medizin.  1883.  Nr.  6.  —  Natürliche  Schutzeinrichtungen  des  Organis- 
mus.   Münchner  med.  Wochenschrift  1899.    Nr.  39  u.  40. 

2)  Metschnikoff,  Legons  sur  la  pathologie  comparee  de  l'inflammation. 
Paris  1892. 

3)  Schrakamp,  Über  die  Entzündiong,  Leipziger  Inauguraldissertation. 
1892.  —  Einige  Fragen  an  Physiologen  und  Pathologen.  Schönberg  1903.  — 
Ein  Gutachten  über  die   Entzündung,    Fortschritte   der  Medizin.     1904.     Nr.  30. 

4)  Ribbert,  Die  Bedeutung  der  Entzündiing.    Bonn  1905. 

5)  Pflüger,  Die  teleologische  Mechanik  der  lebendigen  Natur.    Bonn  1877. 


g  Einleitung. 

Verwandte  Anschauungen  kehren  inEhrlich's  viel  anerkannter 
und  viel  befeindeter  „Seitenkettentheorie"  über  die  Entstehung  der 
Antikörper  wieder.  Mag  man  auch  über  diese  Theorie  denken  wie 
man  will,  so  wird  man  doch  ihren  Grundgedanken,  dass  Giftwirkung 
und  Schutzwirkung  grundsätzlich  dasselbe  sind,  als  geistreich  und 
fruchtbar  anerkennen  müssen. 

So  sind  es  gerade  die  Infektionskrankheiten  gewesen,  die  uns 
wieder  das  Bewusstsein  erweckt  haben,  dass  der  Körper  selbst  die 
zweckmässigsten Heilmittel  besitzt,  und  dies  wird  auch  am  häufigsten 
zugegeben.  Aber  das  nur  für  eine  Gruppe  von  Erkrankungen  zu- 
zugestehen, ist  eine  grosse  Einseitigkeit,  denn  ein  offenbar  all- 
gemeiner Grundsatz  in  der  Natur  gilt  nicht  nur  für  eine  Art  von 
Übeln.  Die  Infektionskrankheiten  stehen  jetzt  überhaupt  so  im 
Vordergrunde  des  Interesses,  dass  jemand,  der  die  neuere  Lite- 
ratur über  allgemeine  Pathologie  verfolgt,  auf  den  Gedanken  kommen 
könnte,  dass  die  übrigen  Krankheiten  und  Gebrechen  gegen  jene 
ganz  zurücktreten,  während  sie  doch  in  Wahrheit  nur  einen  — 
allerdings  sehr  grossen  —  Teil  der  Krankheiten  darstellen. 

Und  so  sehen  wir  denn  auch  bei  den  anderen  Krankheiten,  wie 
der  Körper  erhttene  Schädigungen  auf  das  vollkommenste  ausmerzt, 
ersetzt  oder  wenigstens  ausbessert.  Ich  brauche  nur  daran  zu  erinnern, 
was  wir  Chirurgen  hier  von  der  Natur  verlangen.  Denn  selbstverständ- 
hch  ist  die  Chirurgie  nach  vielen  Richtungen  hin  eine  verstümmelnde 
Kunst.  Wir  zerstören  durch  die  sogenannte  Resection  den  schönen 
und  kunstreichen  Bau  eines  Gelenkes  und  erwarten,  dass  sich  aus 
den  zurückbleibenden  Knochenstümpfen  und  der  Weichteilhöhle  ein, 
wenn  auch  unvollkommenes,  neues  und  leistungsfähiges  Gelenk  bil- 
det ;  wir  unterbinden  die  Hauptader  eines  Gliedes  in  der  Voraussicht, 
dass  das  findige  Blut  sich  solange  die  verschlungensten  Nebenwege 
in  das  notleidende  Gebiet  sucht,  bis  in  überraschend  kurzer  Zeit 
ein  unbedeutender  Nebenast  zur  neuen  Hauptader  heranwächst. 

Diese  Beispiele  Hessen  sich  ins  Ungemessene  häufen,  und  ich 
glaube  kaum,  dass  es  irgend  ein  Gebiet  giebt,  auf  dem  man  den  in 
die  Darwin' sehe  Lehre  übernommenen  La  mar ck' sehen  Grund- 
satz der  Anpassung  am  Menschen  besser  studieren  könnte,  als 
gerade  die  Chirurgie.  Denn  bei  den  meisten  unserer  Operationen 
müssen  wir  diese  Anpassung  erwarten,  und  zwar  eine  Anpassung  im 
zweckmässigen  Sinne,  sonst  stände  es  sehr  schlecht  um  unsere  Kunst. 

Natürlich  hat,  wie  alles,  auch  die  zweckmässige  Art,  auf  die 
der  Körper  seine  Gebrechen  heilt,  ihre  Grenzen.     Einerseits  sind 


Einleitung.  f) 

diese  gegeben  in  der  hohen  und  verwickelten  Organisation  des 
menschhchen  Körpers.  Niemand  wird  erwarten,  dass  uns  ab- 
geschnittene Beine  wieder  wachsen,  wie  den  tiefstehenden  Molchen 
und  Salamandern,  und  daraus  der  Natur  den  Vorwurf  der  Unzweck- 
mässigkeit  und  des  Rückschrittes  bei  der  Entwicklung  höher  orga- 
nisierter Wesen  machen. 

Andrerseits  aber  wissen  wir,  dass  die  Einzelwesen  einer  Art 
variieren  nach  der  guten  wie  der  schlechten  Seite  hin,  und  ein 
grosser  Teil  der  Menschen,  welche  krank  werden  und,  sich  selbst 
überlassen,  der  Krankheit  erliegen,  gehören  zu  der  letzteren  Art 
von  Variationen.  Denn  gerade  die  Krankheit  ist  häufig  nur  mög- 
hch  durch  ein  Versagen  oder  eine  mangelhafte  Entwicklung  der 
natürlichen  Schutzeinrichtungen,  und  der  Tod  an  der  Krankheit 
beweist,  dass  die  Abwehrmittel,  über  welche  der  Körper  verfügen 
sollte,  nicht  genügen  oder  gar  nicht  vorhanden  sind.  Gerade  hier 
hat  dann  die  Thätigkeit  des  kundigen  Arztes  einzusetzen,  denn  er 
hat  es  häufig  in  der  Hand,  die  mangelhaften  natürlichen  Schutz- 
einrichtungen zu  verstärken  und  zu  verbessern,  und  von  altersher 
hat  man  den  als  den  wahren  Arzt  gepriesen,  der  der  Natur  ihre 
Geheimnisse  in  der  Heilung  der  Krankheit,  ablauscht,  sie  unter- 
stützt, wo  sie  durch  eigene  Kraft  nicht  zum  Ziele  gelangt,  sie  er- 
setzt, wo  sie  gänzlich  versagt,  und  sie  einschränkt,  wo  ihre  Mass- 
regeln zu  überwuchern  drohen. 

So  liegen  die  Dinge  theoretisch.  Aber  Theorie  und  Praxis 
decken  sich  nicht  immer,  und  nirgends  ist  das  leichter  zu  beweisen, 
als  auf  unserm  Gebiete.  Gewiss  ist  der  Husten  in  dem  Sinne,  wie 
ich  das  oben  dargelegt  habe,  eine  nützliche  Abwehrvorrichtung.  Und 
doch  kann  er  so  über  das  Ziel  schiessen  und  am  unrichtigen  Orte 
auftreten,  dass  er  in  Wirklichkeit  das  eigentliche  Übel  darstellt,  das 
den  Menschen  aufs  tiefste  schädigt.  Ebenso  kamen  wir,  wie  oben 
auseinandergesetzt  wurde,  zu  der  Überzeugung,  dass  die  Entzündung 
an  sich  ein  nützlicher  Vorgang  ist,  und  dennoch  sind  wir  häufig  ge- 
zwungen, sämtliche  oder  einzelne  der  Erscheinungen,  welche  wir  mit 
dem  Sammelnamen  der  Entzündung  belegen,  zu  bekämpfen,  und  die 
Erfahrung  beweist,  dass  dies  häufig  vom  grössten  Nutzen  ist. 

Genau  so  verhält  es  sich  beim  Fieber. 

Es  ist  demnach  nichts  thörichter,  als  unter  allen  Umständen 
bei  der  Behandlung  der  Krankheiten  Naturvorgänge  sklavisch  und 
kritiklos  nachahmen  zu  wollen,  umsomehr,  als  wir  nie  aus  dem  Auge 
verheren  dürfen,  dass  häufig  die  Natur  des  bestorganisierten  Wesens 


^  Q  Einleitung. 

unvollkommen  ist  und  die  Kunst  oft  viel  mehr  leistet,  als  die  Natur. 
Einen  treffKchen  Beweis  hierfür  hefert  die  Wundheilung.  Der  Arzt 
heilt  durch  die  Naht  eine  fusslange  tiefe  Wunde  in  8- — 10  Tagen 
ohne  wesentliche  Gefahr  für  den  Verletzten  und  stellt  die  Leistungs- 
fähigkeit der  getrennten  Gewebe  in  der  Regel  in  der  vollkommensten 
Weise  wieder  her.  Das  kann  die  Natur  nie,  sie  braucht  dazu  min- 
destens Monate,  führt  häufig  zu  sehr  mangelhafter  Wiederherstellung 
der  verletzten  Gewebe,  und  während  der  ganzen  Zeit  der  Heilung 
ist  der  Verletzte  grossen  Gefahren  und  Unbequemlichkeiten  aus- 
gesetzt. Die  Natur  kennt  also  bei  grösseren  Wunden  das  Ideal 
der  Wundheilung  nicht,  schon  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  die 
durchtrennten  elastischen  Gewebe  sich  auseinanderziehen  und  die 
Hauptbedingung  für  die  gute  Wundheilung  der  prima  intentio,  das 
Aneinanderliegen  der  Wundränder,  fehlt. 

Gewiss  hatten  unsere  Altvordern  recht,  wenn  sie  die  Eiterung 
der  Wunden  für  etwas  Nützliches  hielten,  und  deshalb  von  Pus 
bonum  et  laudabile  sprachen.  Die  Kunst  hatte  sie  eben  noch  nicht 
gelehrt,  von  ihren  Wunden  die  Infektion  fernzuhalten ;  für  ihre  ver- 
unreinigten Wunden  war  die  Eiterung  die  natürüche  und  nützUche 
Reaktion,  für  unsere  jetzigen  ist  sie  eine  üble  Beigabe. 

Beschränkte  Köpfe  könnten  also  sicherlich  in  der  Nachahmung 
von  Natur  vorgängen  bei  der  Behandlung  der  Krankheiten  dasgrösste 
Unheil  anrichten,  aber  wo  thäten  sie  das  nicht  auch  auf  anderm 
Gebiete?  Wer  gegen  alle  Krankheiten  nichts  als  ein  Arzneimittel- 
chen zur  Hand  hat,  wer  als  Chirurg  nur  das  Messer  als  Heilmittel 
kennt,  ist  ebenso  gefährhch,  und  ich  wiU  es  dahingestellt  sein  lassen, 
wer  der  grösste  Pfuscher  ist,  der  Natursimpel,  der  Arznei  verschreiber 
oder  der  Messerheld. 

Indessen  beweist  das  aUes  nichts  gegen  den  grossen  durch- 
gehenden Grundsatz  der  Zweckmässigkeit  der  natürlichen  Heilungs- 
vorgänge  und  gegen  unsere  Verpfhchtung,  dieselben  im  grossen  und 
ganzen  wenigstens  da  nachzuahmen,  wo  sie  mit  der  Sicherheit  und 
Regelmässigkeit  eines  Naturgesetzes  immer  und  immer  wieder  bei 
Schädigung  des  Körpers  in  die  Erscheinung  treten.  Ich  glaube,  in 
diesem  Sinne  ist  es  nicht  nur  berechtigt,  sondern  notwendig  für  den 
Arzt,  sich  als  Teleologen  zu  bekennen.  Wir  vertreten  dabei  keinen 
übersinnlichen  Standpunkt,  sondern  rechnen  mit  einer  einfachen 
Erfahrungsthatsache.  Die  Erfahrung  hat  uns  gelehrt,  dass  die 
Lebenserscheinungen  im  ganzen  höchst  zweckmässiger  Art  sind. 
Wir  wissen,  dass  viele  der  sogenannten  Krankheitssymptome  Lebens- 


Einleitung.  j^]^ 

erscheinungen  des  Körpers  sind,  wir  wissen  ferner,  dass  einzelne 
der  Symptome,  welche  wir  zu  der  Schädlichkeit  selbst  gezählt  haben, 
in  Wirklichkeit  Abwehrmittel  gegen  diese  Schädlichkeit  sind.  Da 
ist  es  nur  logisch,  wenn  wir  alle  sogenannten  Reaktionen  des  Körpers 
—  ich  will  beileibe  nicht  sagen  ohne  weiteres  —  zu  den  nütz- 
lichen Einrichtungen  zählen,  aber  sie  wenigstens  auch  einmal  unter 
diesem  Gesichtspunkte  betrachten,  und  da,  wo  wir  sie  als  nützliche 
Abwehrmittel  erkannt  haben,  praktischen  Gebrauch  davonmachen. 

Und  warum  sollte  dieser  teleologische  Standpunkt  unwissen- 
schaftlich sein?  Etwa  deshalb,  weil  wir  ihn  nicht  genau  erklären 
könnten?  Aber  wo  kommen  wir  denn  hin,  wenn  wir  in  unserem 
Fache  für  Erfahrungsthatsachen  Erklärungen  verlangen!  Füssen 
doch  die  exaktesten  unter  unseren  Biologen  auf  genau  -gleichen 
Erfahrungsthatsachen:  wir  alle  gebrauchen  die  so  ausserordenthch 
populär  gewordenen,  jedem  gebildeten  Laien  bekannten  Begriffe  des 
Darwinismus,  Variation, Vererbung,  Anpassung.  Niemand  bezweifelt, 
dass  diese  Dinge  in  der  Natur  wirksam  sind,  aber  keiner  hat  sie 
erklärt,  es  sind  reine  Erfahrungsthatsachen. 

Manchem  mag  diese  Einleitung  zu  den  folgenden  Erörterungen 
etwas  weit  hergeholt  erscheinen.  Aber  ich  halte  sie  für  sehr  nützlich. 
Denn  ich  werde  im  weiteren  Verlaufe  der  Arbeit  häufig  auf  die  hier 
entwickelten  Gedanken  zurückkommen,  und  ältere  Erfahrungen 
haben  mich  belehrt,  dass  man  in  der  Äusserung  teleologischer  An- 
sichten sehr  vorsichtig  sein  muss,  wenn  man  nicht  Anstoss  erregen 
will.  Bin  ich  doch  wegen  solcher  Anschauungen,  die  ich  in  früheren 
Jahren  in  einer  Arbeit  über  den  CoUateralkreislauf  geäussert  habe, 
in  einem  Teile  der  Literatur  als  Mystiker  und  Vitalist  behandelt! 
Viele  Ärzte  werden  eben  nervös  i),  wenn  man  überhaupt  von  Lebens- 
erscheinungen und  ihrer  Zweckmässigkeit  spricht,  selbst  wenn  man 
vorher  erklärt,  dass  man  unter  solchen  Lebenserscheinungen  bisher 
noch  gänzlich  unverstandene  physikalische  und  chemische  Vorgänge 
versteht,  während  ihnen  die  plumpste  und  unwahrscheinlichste  grob- 
mechanische Erklärung  gut  genug  ist.     Es  ist  eben  so  ungemein 

1)  Vergleiche  Liebermeister,  Handbuch  der  Pathologie  und  Therapie  des 
Fiebers.     Leipzig  1875.    S.  400. 

„Man  muss  sich  vergegenwärtigen,  wie  verbreitet  unter  den  Ärzten  die 
schwächliche  Furcht  ist  vor  allen  Ansichten,  bei  denen  man  irgend  etwas  von 
Teleologie  zu  wittern  glaubt,  luad  wie  systematisch  wir  von  der  vorhergegangenen 
Generation,  die  freilich  Veranlassung  genug  hatte,  gegen  eine  unberechtigte 
und  unwissenschaftliche  Teleologie  anzukämpfen,  in  dieser  Furcht  erzogen  wor- 
den sind." 


^  2  Einleitung. 

leicht,  sich  beispielsweise  den  Blutkreislauf  wie  eine  Wasserleitung 
vorzustellen,  und  man  gewinnt  so  ungeheuer  bequem  ein  faden- 
scheiniges wissenschafthches  Mäntelchen  für  alle  möglichen  Dinge, 
es  ist  aber  leider  falsch.  Und  so  scheuen  sich  sehr  viele  Ärzte, 
wenn  sie  die  Zweckmässigkeit  von  Reaktionserscheinungen  des 
Körpers  betonen  müssen,  dies  offen  und  ungeschminkt  einzugestehen. 
Sprechen  sie  von  Zweckmässigkeit  dabei,  so  wird  das  Wort  in  An- 
führungsstriche gesetzt,  oder  sie  glauben  sich  für  das  Zugeständnis, 
um  ihre  Wissenschaftlichkeit  zu  retten,  entschuldigen  zu  müssen. 
Andere  lassen  sie  gelten,  sprechen  ihr  aber  nur  den  Wert  einer 
,, heuristischen  Hypothese"  zu. 

Ich  sagte  schon  oben,  dass  dies  eine  Rückständigkeit  ist.  Denn 
in  der  wissenschafthchen  Biologie  erörtert  man  die  Frage,  ob  die 
Organismen  und  ihre  Lebenserscheinungen  in  ihrer  Art  zweck- 
mässig sind  oder  nicht,  gar  nicht  mehr,  man  rechnet  mit  ihrer 
Zweckmässigkeit  als  einer  selbstverständlichen  Thatsache.  Der  Streit 
dreht  sich  ledighch  darum,  wie  die  erfahrungsmässig  festgestellte 
Zweckmässigkeit  der  Lebewesen  zu  erklären  sei.  Die  Darwinisten 
lassen  sie  durch  Auslese  entstehen  im  Sinne  des  oft  von  ihnen  aus- 
gesprochenen Satzes:  ,, Zweckmässigkeit  ist  gleich  Existenzfähig- 
keit." Die  Vitahsten  haben  bestritten,  dass  diese  Erklärung  genüge, 
und  führen  die  zweckmässigen  Formen  und  Einrichtungen  der  Or- 
ganismen auf  eine  noch  unbekannte  geheimnisvolle  Kraft  zurück, 
mögen  sie  diese  nun,  wie  die  alten  Vitalisten,  Lebenskraft  nennen, 
oder  Umschreibungen  dafür  wählen,  wie  sie  von  unseren  Neovita- 
hsten  gebraucht  werden. 

Ich  glaube,  dass  für  die  Entstehung,  die  Vermeidung  und  die 
•Heilung  der  Krankheiten,  die  uns  hier  ledighch  interessieren,  immer 
noch  die  Darwin'sche  Lehre  zur  Zeit  das  beste  Verständnis  ge- 
währt: alle  mit  guten  Schutz-  und  Abwehrvorrichtungen  versehenen 
Menschen  vermeiden  oder  überstehen  die  Krankheiten,  welchen  die 
in  dieser  Beziehung  Minderbegabten  erliegen.  Jede  Variation  in 
der  Richtung  einer  Verbesserung  jener  Schutzmassregeln  schliesst 
eine  grosse  Bevorzugung  der  betreffenden  Einzelwesen  in  sich,  denn 
sie  haben  die  Aussicht,  länger  zu  leben  und  ihre  Art  fortzupflanzen. 
Jede  Variation  in  der  Richtung  der  Verschlechterung  dagegen  führt 
bei  der  gewaltigen  Verbreitung  der  Krankheitsgelegenheiten  zu  einer 
schnellen  Ausmerzung  der  weniger  Widerstandsfähigen.  Die  fort- 
gesetzte Auslese  lässt  dann  schliessKch  die  zweckmässigen  Eigen- 
schaften durch  Vererbung  zu  einem  sichern  Besitz  der  Art  werden. 


Allgemeiner  Teil. 

Bei  allen   wichtigen  Lebenserscheinungen 
ist  Hyperämie  vorhanden. 

Jedes  Organ,  welches  arbeitet,  ist  während  seiner  Thätigkeit 
hjrperämisch. 

Bei  jedem  Wachstum  und  jeder  Regeneration  ist  örthche  Hy- 
perämie vorhanden,  und  zwar  umsomehr,  je  schneller  und  ener- 
gischer das  Wachstum  ist.  Die  Geweihbildung  der  Hirsche  und 
die  Mauser  der  Vögel  bieten  die  besten  Beispiele  dafür. 

Jede  Zeugung  und  Fortpflanzung  geht  mit  der  stärksten  Hyper- 
ämie, der  Brunft-  und  weiterhin  der  Schwangerschaftshyperämie 
einher. 

Bei  keinen  Reaktionen  auf  fremdartige  Stoffe  im  allerweitesten 
Sinne  fehlt  die  Hjrperämie,  möge  jener  Stoff  nun  ein  grober  Fremd- 
körper oder  winzige,  mit  unseren  stärksten  Vergrösserungen  nicht 
mehr  nachweisbare  Bakterien,  die  schärfsten  chemischen  Gifte  oder 
abgestorbene  Teile  des  eignen  Leibes  (z.  B.  in  die  Gewebe  er- 
gossenes Blut)  sein. 

Ich  glaube  deshalb  behaupten  zu  können:  es  giebt  keinen  ein- 
zigen Krankheitsherd,  welchen  der  Körper  selbst  zu  beseitigen  oder 
unschädHch  zu  machen  sucht  und  vermag,  der  Anämie  erzeugt,  er 
ist  stets  von  Hyperämie  durchsetzt  oder  umgeben. 

Fassen  wir  deshalb  die  Reaktionen  des  Körpers  als  nützliche 
Heilbestrebungen  der  Natur  auf,  so  müssen  wir  sagen,  dass  Hyper- 
ämie das  verbreitetste  Selbstheilmittel  von  allen  ist. 

Die  Anschauung,  dass  das  Blut  und  die  ,, Säfte"  die  Krank- 
heiten heilen,  und  dass  ,, schlechtes  Blut  und  schlechte  Säfte"  der 
Entstehung  und  Weiterverbreitung  von  Krankheiten  förderhch  sind, 
lebt  tief  im  Volksbewusstsein.  Auch  die  wissenschafthche  Medizin 
hat  sich  die  Auffassung  gebildet,  dass  der  Blutgehalt  eines  Körper- 
teiles  von  der  grössten  Wichtigkeit  für  sein  Wohlbefinden  ist. 


■[4  Allgemeiner  Teil. 

Aber  ich  gedenke  im  weiteren  Verlaufe  dieser  Arbeit  zu  zeigen,  dass 
sie  sehr  einseitig  vorgegangen  ist.  Sie  spricht  nur  von  Verbesserung 
der  Cirkulation,  Beseitigung  von  schädlichen  Blutstockungen,  Ver- 
besserung der  Ernährung  durch  vermehrtes  Durchströmtwerden  der 
Teile  mit  Blut,  und  handelt  danach.  Sehen  wir  uns  aber  an,  wie  die 
Natur  arbeitet,  so  bemerken  wir,  dass  sie  wohl  bei  allen  wichtigen 
Vorgängen  im  Körper  in  den  betreffenden  Teilen  örtliche  Hyperämie 
schafft,  dass  dieselbe  aber  wohl  ebenso  häufig  mit  einer  Verlang- 
samung, wie  mit  einer  Beschleunigung  des  Blutstroms  verbunden  ist. 

Wir  werden  noch  auseinandersetzen,  dass  das  letztere  haupt- 
sächlich der  Fall  ist  bei  der  die  Thätigkeit  der  Organe  begleiten- 
den funktionellen  Hyperämie,  das  erstere  aber  überall,  wo  es  sich 
um  Beseitigungen  von  Schädhchkeiten  und  schnellen  Aufbau  von 
neuem  Gewebe  handelt. 

Wollen  wir  deshalb  die  heilende  Thätigkeit  des  Körpers  durch 
Verstärkung  der  nützlichen  H3rperämie  unterstützen,  so  müssen 
wir,  wenn  wir  in  der  That  Naturvorgänge  nachahmen  wollen,  in 
den  einen  Fällen  den  Blutstrom  beschleunigen,  in  den  andern  ihn 
verlangsamen.  Handeln  wir  anders,  so  laufen  wir  Gefahr,  nicht 
zu  nützen,  sondern  im  Gegenteil  zweckmässige  Heilvorgänge  zu 
stören  und  dadurch  zu  schaden.  Wir  werden  deshalb  das  Ver- 
fahren des  Körpers  bei  den  einzelnen  Krankheiten  studieren  und 
es  uns  zum  Vorbild  unserer  Handlungen  nehmen  müssen.  Denn 
wohl  haben  in  vielen  Fällen  die  verschiedenen  Formen  der  Hyper- 
ämie dieselbe  Wirkung,  in  andern  aber  sind  Hyperämie  und  Hyper- 
ämie ganz  verschiedene  Dinge.  Zwischen  dem  schnellf liessenden 
Strome  arteriellen  und  dem  trägen,  mehr  venösen  Blutes  bestehen 
nicht  nur  die  tiefgreifendsten  physikahschen,  sondern  auch  chemi- 
schen Unterschiede.  Obwohl  unsere  Kenntnisse  über  das  Blut  noch 
höchst  mangelhaft  sind,  so  wissen  wir  doch,  dass  jenes  reich  an 
Sauerstoff,  arm  an  Kohlensäure  und  freiem  Alkali  ist,  dieses  die 
umgekehrten  Verhältnisse  zeigt,  jenes  eine  verhältnismässig  leicht 
bewegliche,  dieses  eine  zähe  klebrige  Flüssigkeit  darstellt.  Wir 
wissen,  dass  der  schnellfliessende  Blutstrom  seine  Flüssigkeit  und 
seine  geformten  Teile  behält  und  mit  sich  fortführt,  der  langsam 
dahinschleichende  sie  in  die  Gewebe  hinausschickt,  wo  sie  ihre 
Thätigkeit  entfalten  können.  Und  gewiss  giebt  es  noch  sehr  zahl- 
reiche Unterschiede,  die  wir  nicht  wissen. 

Wir  müssen  deshalb  im  Auge  behalten,  dass  die  Erzeugung 
von    Hjrperämieen    verschiedener    Art    einen    Sammelbegriff    für 


Künstliche  Erzeugung  von   Hyperämie.  ]^5 

alle    möglichen    physikalischen    und    chemischen    Veränderungen 
darstellt. 

Es  kommt  hinzu,  dass  man  die  verschiedenen  Arten  der  Hyper- 
ämie gar  nicht  streng  auseinander  halten  kann,  da  sie  unmerkhch 
ineinander  übergehen,  zumal  wir  noch  sehen  werden,  dass  der  Kör- 
per es  versteht,  den  ursprünglich  schnellfliessenden  Blutstrom  durch 
in  ihrem  Wesen  unbekannte  Reize,  vor  allen  Dingen  den  Entzün- 
dungsreiz, in  einen  langsamen  zu  verwandeln.  Aber  trotzdem  ziehe 
ich  es  vor,  den  Begriff  Hyperämie  festzuhalten  als,  auf  im  Grunde 
genommen  unbewiesenen  Theorien  fussend,  ganz  bestimmten  ein- 
zelnen Bestandteilen  des  Blutes  die  nützlichen  und  heilenden 
Eigenschaften  zuzusprechen. 


Künstliche  Erzeugung  von  Hyperämie. 

Ich  habe  vor  sechszehn  Jahren  angefangen,  bewusst  Krankheits- 
herde zu  hyperämisieren,  um  sie  dadurch  zu  heilen,  und  habe  meine 
anfangs  auf  die  Tuberkulose  beschränkten  Versuche  bald  mehr  und 
mehr  ausgedehnt,  so  dass  ich  im  Laufe  dieser  Zeit  eine  sehr  reich- 
liche Erfahrung  über  die  Wirkung  der  Hyperämie  auf  physiologische 
und  pathologische  Vorgänge  bekommen  habe,  welche  ich  im  folgen- 
den schildern  will. 

Bei  allen  unseren  folgenden  Darlegungen  ist  nur  von  örthchen 
Hyperämieen  die  Rede.  Um  Missverständnisse  zu  vermeiden,  erwähne 
ich,  dass  ich,  dem  üblichen  Sprachgebrauche  folgend,  einen  Körper- 
teil aktiv  hyperämisch  nenne,  wenn  in  sein  Gefässnetz  mehr  Blut 
einströmt  und  er  von  einer  grösseren  Menge  Blut  durchflutet  wird; 
passiv  hyperämisch,  wenn  sein  Gefässnetz  durch  Verminderung  des 
venösen  Abflusses  stärker  gefüllt  wird  (Stauungshyperämie).  Im 
grossen  und  ganzen  deckt  sich  aktive  mit  arterieller  und  passive 
mit  venöser  Hyperämie.  Doch  giebt  es  hier  Ausnahmen.  Bei  Herz- 
fehlern besteht  passive  Hyperämie  der  Lungen,  und  doch  ist  diese 
arteriell  (mit  Rücksicht  auf  die  Blutart :  arteriell  =  Sauerstoff  reich 
und  kohlensäurearm).  Denn  dem  in  den  Lungenkapillaren  gestauten 
Blute  wird  durch  die  Atmung  Sauerstoff  zugeführt  und  Kohlen- 
säure entzogen.  Eine  venöse  Hyperämie  ist  hier  nur  denkbar,  wenn 
die  Kompensationsstörungen  so  hochgradig  sind,  dass  das  Leben 
in  höchster  Gefahr  schwebt.  Diese  meine  Erklärung  der  arteriellen 
H3^erämie  der  Stauungslunge  ist  von  Köster^)  bestätigt,  sonst 

1 )  Vortrag  in  der  Niederrheinischen  Gesellschaft  für  Natur  und  Heilkvmde  1 904. 


2  g  Allgemeiner  Teil. 

aber  von  verschiedenen  Seiten  bestritten  worden.  Ich  bedauere, 
diese  Einwände  nicht  anerkennen  zu  können.  Die  allgemeine  Auf- 
fassung von  einer  venösen  Hyperämie  der  Stauungslunge  war  meiner 
Ansicht  nach  nur  durch  einen  Mangel  an  Überlegung  möghch.  Auf 
alle  Fälle  ist  selbst  bei  hochgradigen  Kompensationsstörungen  das 
Blut  in  den  Lungenkapillaren  arterieller,  als  an  irgend  einer  Stelle 
in  den  Kapillaren  des  grossen  Kreislaufes. 

Immerhin  sind  dies  Erwägungen,  die  nur  in  Betracht  kommen, 
wo  wir  von  der  Erklärung  der  Wirkung  der  einen  oder  der  andern 
Blutart  sprechen.  Wo  wir  praktische  Zwecke  verfolgen,  können 
wir  im  allgemeinen  aktive  =  arterielle  und  passive  =  venöse 
Hyperämie  setzen,  eine  Freiheit,  von  der  wir  im  Verlaufe  dieser 
Arbeit  auch  verschiedentlich  Gebrauch  machen  werden. 


Erzeugung  aktiver  Hyperämie. 

Aktive  Hyperämie  kann  man  auf  sehr  verschiedene  Weise  her- 
vorrufen. Bekanntlich  bedienen  sich  die  Physiologen  dazu  in  aus- 
gedehntem Masse  der  Durchschneidung  gefässerweiternder  Nerven 
(besonders  der  Sympathicusdurchschneidung).  Eigentlich  sind  diese 
Versuche  nicht  rein.  Denn  neben  der  Hyperämie  setzt  die  Nerven- 
durchschneidung eine  ganze  Menge  von  Schädlichkeiten,  wahr- 
scheinlich noch  zahlreichere,  als  wir  wahrnehmen,  da  vieles  dabei 
sich  unserer  Beurteilung  entziehen  dürfte.  Ganz  abgesehen  davon 
kann  aber  diese  Art  von  Hyperämie  zu  Heilzwecken  natürhch  nie- 
mals in  Betracht  kommen. 

Eine  sehr  starke  aktive  Hyperämie  entsteht  nach  Anwendung 
der  V.  E  s  m  ar  c  h' sehen  künstlichen  Blutleere  als  sogenannte  reaktive 
Hjrperämie,  wie  überhaupt  nach  jeder  beliebigen  vorübergehenden 
Aufhebung  oder  auch  nur  hochgradigen  Verlangsamung  des  Blut- 
stromesi).  Sie  ist  auch  für  unsern  Zweck  nicht  zu  gebrauchen.  Denn 
einmal  ist  das  Verfahren  zu  schmerzhaft,  und  dann  dauert  die  so 
erzeugte  Hyperämie  nur  kurze  Zeit,  die  für  die  Behandlung  der 
meisten  durch  H3^erämie  zu  beeinflussenden  Krankheiten  nicht 
in  Betracht  kommt. 

Starke  aktive  Hj^erämie  macht  die  gesteigerte  Thätigkeit  von 
Körperteilen,  insbesondere  der  Muskeln,  jede  Art  von  Reibung,  die 

i)  B i e r ,  Entstehiong  des  Collateralkreislaiaf es.  Virchow's  Archiv.  147.  Band. 
S.  256. 


Erzeugung  aktiver  Hyperämie.  27 

Anwendung  der  Massage  und  der  Elektrizität.  Wahrscheinlich  be- 
ruht ein  guter  Teil  dieser  sehr  wirksamen  Heilmittel  eben  auf  der 
Erzeugung  dieser  Hyperämie. 

Eine  grosse  Zahl  chemischer  Mittel  —  all'  die  hautrötenden  — 
stehen  uns  zur  Verfügung,  Hyperämie  hervorzurufen.  Beim  ersten 
Anblick  dieser  Rötungen  scheint  kein  Zweifel  obzuwalten,  dass 
es  sich  hier  um  arterielle  H3rperämien  handelt,  im  Einklang  mit 
der  alten  ärzthchen  Regel:  ,,Ubi  Stimulus,  ibi  affluxus",  und 
doch  scheint  mir  dies  keineswegs  bewiesen  zu  sein.  Denn  alle 
diese  Mittel  erregen  lebhafte  Entzündungen,  und  wir  wissen,  dass 
bei  diesen  nach  vorübergehender  Beschleunigung  eine  Verlang- 
samung des  Blutstroms  eintritt.  Ich  werde  auf  diesen  Punkt  später 
noch  ausführhch  zurückkommen. 

Das  praktisch  brauchbarste  Mittel,  um  eine  örtUche  aktive 
Hyperämie  hervorzurufen,  ist  die  Wärme.  Sie  wird  seit  Jahr- 
tausenden in  der  Heilkunde  angewandt,  ohne  dass  man  sich  indessen 
bewusst  wurde,  dass  die  dadurch  hervorgerufene  aktive  Hyperämie 
die  vornehmste  und  häufig  wohl  die  einzige  heilende  Eigenschaft 
dieses  Mittels  darstellte.  Der  Körper  schützt  sich  vor  übermässig 
hohen  Wärmegraden  durch  zwei  Mittel,  dürchlebhafte  Schweissver- 
dunstung  und  durch  eine  massenhafte  Durchflutung  des  erwärmten 
Körperteiles  mit  einem  schnellf liessenden  arteriellen  Blut.  Das 
letztere  wirkt  also  wie  ein  Kühlstrom.  Diesen  lebhaften  Blutstrom 
wünschen  wir  in  erster  Linie,  denn  er  ist  nach  meiner  Ansicht  bei 
den  meisten  Krankheiten,  auf  welche  die  Wärme  günstig  einwirkt, 
das  eigenthche  Heilmittel.  Indessen  liegt  es  mir  fern,  die  Wichtig- 
keit des  Schwitzens  als  Heilmittel  zu  unterschätzen.  Nur  glaube 
ich,  dass  es  für  die  in  diesem  Buche  behandelten  Krankheiten  nicht 
wesentlich  in  Betracht  kommt. 

Man  kann  die  Wärme  in  der  verschiedensten  Weise  auf  den 
kranken  Körperteil  anwenden,  z.  B.  als  heisse  Umschläge  von  Brei, 
Moor,  Schlamm,  als  strahlende  Wärme,  als  heissen  Sand,  in  Form 
besonders  hergestellter  Thermophore,  oder  schliesshch  als  heisse 
Luft.  Die  weitaus  höchsten  Hitzegrade  werden  bei  Anwendung  der 
letzteren  vertragen i),  aus  dem  einfachen  und  natürlichen  Grunde, 


1)  Die  Höhe  der  Temperatur  der  heissen  Luft,  welche  von  der  Haut  des 
Körpers  noch  vertragen  wird,  ist  in  der  Literatur  sehr  verschieden  angegeben. 
Ich  benutzte  ursprünglich  Luft  von  höchstens  100°  und  fand,  dass  diese  von 
einzelnen  Leuten  kaum  noch  vertragen  wurde.  Ich  verwandte  damals  grosse 
Kästen,  welche  einen  sehr  weiten  Luftraum  einschlössen,  und  das  Thermometer 
Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  2 


2  g  Allgemeiner  Teil. 

weil  die  Luft  ein  sehr  schlechter  Wärmeleiter  ist,  eine  sehr  ge- 
ringe Wärmekapazität  besitzt  und.  die  starke  Schweissverdunstung 
die  betreffenden  Körperteile  vor  der  Verbrennung  schützt.  Soweit 
ist  die  Sache  vollständig  klar,  und  es  ist  laienhaft,  darüber  zu 
staunen,  dass  so  hohe  Hitzegrade,  wie  wir  sie  mit  erhitzter  Luft 
ohne  Schaden  für  den  Körper  anwenden  können,  vertragen  werden. 
Dagegen  ist  weniger  verständlich,  dass  die  heisse  Luft,  wie  die 
Betrachtung  des  stark  und  gleichmässig  hell  geröteten  Gliedes  und 
die  bedeutendere  Heilwirkung  beweist,  entschieden  grössere  arterielle 
Hyperämien  macht,  als  die  anderen  genannten  Mittel.  Ist  die 
arterielle  Hyperämie  wirklich,  wie  ich  das  annehme,  der  natürhche 
Schutz-  und  Reaktions Vorgang  gegen  die  schädliche  Einwirkung 
hoher  Hitzegrade,  so  sollte  man  glauben,  dass  bei  jeder  Form 
der  Hitzeanwendung,  vorausgesetzt,  dass  dieselbe  bis  zur  Grenze 
des  Erträghchen  getrieben  wird,  auch  gleichstarke  Hyperämie  ein- 
treten sollte. 

Dabei  aber  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass  der  menschliche 
Körper  mit  seinen  sogenannten  Reaktionsvorgängen  in  erster  Linie 
auf  die  natürlichen  Verhältnisse,  die  ihn  umgeben,  eingestellt  und 
eingeübt  ist.  Nun  muss  unser  Körper  sich  den  ausgedehntesten 
Temperaturschwankungen  der  Luft  fortwährend  anpassen,  während 
er  verhältnismässig  sehr  selten  den  Wärmeschwankungen  anderer 
mit  ihm  in  Berührung  kommender  Gegenstände  ausgesetzt  ist.  Bei 
allen  Packungen  mit  schwereren  heissen  Massen  (Schlamm,  Brei, 

war  in  einer  Ecke  angebracht.  Später  wurden  bei  Verwendung  kleinerer  Kästen 
mit  dem  Thermometer  oben  im  Deckel  über  der  Heizcjuelle  anscheinend  viel 
grössere  Temperaturgrade  vertragen.  Es  liegt  dies  offenbar  daran,  dass  das  Ther- 
mometer die  auf  die  Haut  einwirkende  Temperatvir  nicht  richtig  angiebt.  Die 
Luft  ist  in  den  verschiedenen  Teilen  des  Apparates  sehr  verschieden  heiss.  Darauf 
hat  besonders  Schreiber,  auf  dessen  Arbeit  ich  noch  zurückkommen  werde, 
hingewiesen.  Nicht  nur  verschiedene  Menschen,  sondern  auch  verschiedene 
Körperteile  desselben  Menschen  sind  gegen  die  Hitze  verschieden  empfindlich. 
Ich  vertrage  an  Hand  und  Vorderarm  für  längere  Zeit  höchstens  100°  (gemessen 
mit  Thermometern  zu  beiden  Seiten  und  in  gleicher  Höhe  wie  das  Glied  an- 
gebracht). Rautenberg  (Zeitschrift  für  physik.  u.  diät.  Therapie  8.  Band  S.  335) 
stellte  als  Maximiim  der  erträglichen  Temperatur   100°,   110°,   115°  fest. 

Am  empfindlichsten  gegen  die  Hitze  sind  die  dünnen  Finger  xmd  Zehen. 
Man  muss  sie  deshalb,  wenn  man  auf  Hand  und  Fuss  einwirken  will,  und  sie 
nicht  selbst  mit  erkrankt  sind,  mit  Watte  einwickeln,  um  sie  vor  Verbrennung 
zu  schützen. 

(Über  die  Fähigkeit  des  Körpers,  höhere  Lufttemperatur  zu  ertragen, 
s.  Liebermeister,  Handbuch  derPathologie  u. Therapie  des  Fiebers.  Leipzig  1875. 
V.  Kapitel.) 


Erzeugung  aktiver  Hyperämie.  |9 

Thermophoren)  dürfte  der  Druck  derselben  auf  die  kleineren  Ge- 
fässe  der  Geschwindigkeit  des  Blutstroms  Einhalt  thun.  Das  heisse 
Wasser  habe  ich  im  Verdacht,  dass  es  nicht  rein  aktiv  hjrperämi- 
sierend  wird,  sondern  dass  es  zu  den  ganz  schwach  entzündungs- 
erregenden Mitteln  gehört,  die  die  kleinen  Gefässe  und  ihren 
Inhalt  in  einen  uns  noch  gänzlich  unbekannten  Zustand  versetzen, 
welcher  trotz  Erweiterung  der  kleinen  Gefässe  keine  oder  keine  so 
hohe  Beschleunigung  des  Blutstroms  hervorbringt,  als  wir  nach  den 
uns  bekannten  physikalischen  Gesetzen  erwarten  sollten.  Deshalb 
kann  ich  es  auch  nicht  anerkennen,  wenn  man  gewöhnliche  körper- 
warme Bäder  als  indifferent  bezeichnet. 

Dass  wirklich  die  starken  Hyperämien,  die  sowohl  heisses  Wässer 
wie  heisse  Luft  hervorbringen,  sehr  verschieden  sind,  zeigt  folgender 
einfache  Versuch:  Ich  bringe  meinen  rechten  Vorderarm  in  mög- 
hchst  heisse  Luft  (105°),  meinen  linken  in  möglichst  heisses  Wasser 
(443/4°),  lasse  sie  gleichlange  darin  und  halte  beide  Glieder,  nach- 
dem ich  sie  herausgezogen,  nebeneinander.  Der  rote  linke  Vorder- 
arm zeigt  einen  deutlichen  Stich  ins  Bläuliche,  der  rechte  ist  viel 
heller  rot  und  hat  einen  Stich  ins  Gelbliche.  Der  Unterschied  ist 
so  klar,  dass  ihn  jeder  Beobachter  sofort  angeben  kann.  Im  übrigen 
erscheint  die  an  der  Haut  sichtbare  Hyperämie  des  heissen  Wassers 
eher  stärker,  als  die  der  heissen  Luft.  Die  letztere  ruft  also  augen- 
scheinlich eine  viel  grössere  Beschleunigung  des  Blutstroms  hervor 
und  verleiht  deshalb  dem  Gliede  die  höhere  arterielle  Röte.  Es 
ist  wahrscheinhch,  dass  die  Quellung  der  Haut  durch  das  Wasser 
eine  chemische  Änderung  des  Gewebes  und  somit  einen  schwachen 
Entzündungsring  darstellt,  deshalb  habe  ich  häufiger  statt  des 
Wassers  heisse  physiologische  Kochsalzlösung  verwandt,  ohne  dass 
dies  im  Erfolge  etwas  geändert  hätte. 

Immerhin  sind  das  theoretische  Betrachtungen,  und  wir  sind 
schliesshch  hier  wie  überall  auf  die  praktische  Erfahrung  ange- 
wiesen. Und  diese  scheint  mir  zu  beweisen,  dass  von  aUen 
Wärmemitteln  die  heisse  Luft  das  weitaus  brauchbarste  ist, 
um  eine  starke  arterielle  Hyperämie  hervorzurufen.  Ihr  am 
nächsten  in  der  Wirkung  dürfte  das  heisse  Sandbad  kommen. 
Da  sich  meine  Erfahrungen  über  aktive  Hyperämie  fast  ledig- 
lich auf  die  durch  heisse  Luft  erzeugte  beziehen  und  diese  An- 
wendung der  Wärme  auch  im  allgemeinen  die  praktischste  und 
wirksamste  sein  dürfte,  so  will  ich  mich  auf  sie  im  wesentlichen 
beschränken. 

2* 


20  Allgemeiner  Teil. 

In  letzter  Zeit  hat  die  heisse  Luft  denn  auch  eine  sehr  aus- 
gedehnte Verwendung  zu  Heilzwecken  gefunden.  Freilich,  dass  die 
durch  sie  erzeugte  Hyperämie  das  Wesentliche  sei,  das  hat  man 
bis  in  die  neueste  Zeit  gänzlich  vernachlässigt  oder  meist  gar  das 
Gegenteil  behauptet.  So  ist  in  den  ausgedehnten  Erörterungen 
über  die  Behandlung  des  chronischen  Gelenkrheumatismus  auf  dem 
15.  Kongresse  für  innere  Medizin  im  Jahre  1897  mit  keinem  Wort 
die  Rede  davon,  dass  die  dort  zur  Behandlung  empfohlene  Wärme 
durch  Hyperämie  wirke,  obwohl  ich  das  schon  lange  vorher  be- 
hauptet hatte.  Ebensowenig  wird  auf  demselben  Kongresse  im 
folgenden  Jahre,  wo  der  Taller  man' sehe  Heissluftapparat  gezeigt 
wurde,  und  Mendelsohn  sich  ausführlich  über  ihn  verbreitete, 
meine  Erklärung  von  der  Wirkung  der  Heissluftbehandlung  vom 
Vortragenden  erwähnt  (er  bezeichnet  sie  im  Gegenteil  als  ,,dekon- 
gestionierendes"  Mittel),  und  doch  hatte  ich^)  im  Jahre  vorher  noch- 
mals in  einer  Arbeit  darauf  hingewiesen.  Nur  Bäum  1er  führt  auf 
diesem  Kongresse  in  der  Diskussion  kurz  meine  Erklärung  an. 

Von  altersher  wird  die  äussere  Wärmeanwendung  in  der  Heil- 
kunde zu  den  Mitteln  gerechnet,  welche  das  Blut  von  der  Tiefe 
zur  Oberfläche  leiten.  Man  beobachtete  die  danach  auftretende 
lebhafte  Rötung  der  Haut  und  schloss  daraus,  dass  die  Erweiterung 
der  oberflächlich  gelegenen  Gefässe  die  tiefen  mit  Blut  überfüllten 
Teile,  wie  man  sagte,  ,,decongestioniere".  Frangois  Franck^) 
hat  in  einer  vielgenannten  Arbeit  über  die  ,,Revulsion"  dieser  Mei- 
nung eine  wissenschaftliche  Unterlage  zu  geben  versucht,  und  die 
Wasserheilkunde  —  im  weitesten  Sinne  gebraucht  — ,  die  sich  ja 
in  hervorragender  Weise  mit  der  Anwendung  von  Kälte-  und 
Wärmereizen  befasst,  hat  sich  seine  Ansicht  uneingeschränkt  zu 
eigen  gemacht  und  seine  Ansichten  auf  die  Temperaturreize  über- 
tragen, wenn  auch  Franck  nur  von  ,, stimulierenden  Einreibungen, 
Sinapismen,  Schröpfköpfen,  Ignipunktur  und  Vesikantien"  spricht. 

Franck  wies  nach ,  dass  nach  Hautreizen  eine  Zusammenziehung 
der  Gefässe  der  Eingeweide  und  eine  Erweiterung  derer  der  ober- 
flächlichen Teile  einträte,  und  zwar  auf  reflektorischem  Wege.   Der 


1)  Bier,  Heilwirkung  der  Hyperämie.  Münchner  med.  Wochenschrift 
1897  Nr.  32. 

2)  Über  die  wichtigsten  örtlichen  und  Allgemeinwirkixngen  der  kutanen 
Revulsion  auf  die  Zirkulation  von  Fran^ois  Franck.  Aus  der  Gazette  hebdoma- 
daire  ins  Deutsche  übertragen  von  T.  Fodor,  Blätter  für  klinische  Hydro- 
therapie II.  Jahrgang.     Nr.  11.     1892. 


Erzeugung  aktiver  Hyperämie.  21 

Hautreiz  soll  eine  Reizung  der  gefässverengernden  Nerven  der 
ersteren  und  gleichzeitig  der  gef  ässerweiternden  der  letzteren  hervor- 
rufen. Auf  diese  Weise  erklären  sich  nach  Franck  die  Wirkungen 
der  Revulsion,  sie  haben  „dekongestionierenden"  Einfluss  und  ziehen 
das  Blut,  welches  in  kranken  Eingeweiden  stockt,  nach  der  Ober- 
fläche. Er  gab  somit  anscheinend  die  unbestreitbare  wissenschaft- 
liche Erklärung  nicht  nur  für  die  Wirkung  zahlreicher  chemischer 
Hautreizmittel,  welche  seit  uralter  Zeit  in  Gebrauch  sind,  sondern 
auch  für  viele  Formen  der  thermischen  Einflüsse  auf  die  Haut, 
welche  in  tiefen  Teilen  wirken  sollen. 

Diese  Erklärung  interessiert  uns  hier  weniger,  da  wir  mit  solchen 
ausgedehnten  Fernwirkungen  —  von  der  Haut  bis  in  die  Tiefe 
der  Eingeweide  —  weniger  zu  thun  haben.  Sie  erscheint  auf  den 
ersten  Blick  sehr  einleuchtend,  denn,  wie  wir  aus  der  Physiologie 
lange  wissen,  ist  eine  ausgedehnte  Hyperämie  der  äusseren  Teile 
nur  möglich,  wenn  die  Eingeweide  das  Blut  dazu  hergeben,  und 
umgekehrt.  Aber  beweisend  sind  Franck 's  Versuche  keineswegs. 
Zum  Messen  der  Schwankungen  der  Blutmenge  hat  er  die  Niere 
in  einen  volumetrischen  Apparat  gebracht.  Legt  man  aber  Bauch- 
eingeweide frei,  so  verhalten  sich  ihre  Gefässe,  wie  ich  aus  reich- 
licher eigener  Erfahrung  versichern  kann,  und  auch  aus  anderen 
Untersuchungen^)  hervorgeht,  ganz  anders  als  normal  und  man 
kommt  zu  ganz  verkehrten  Schlüssen.  Um  wieviel  mehr  wird  dies 
der  Fall  sein,  wenn  man  eine  ganze  Niere  in  Verbindung  mit  ihren 
Gefässen  in  einen  Apparat  hineinbringt.  Es  scheint  mir  deshalb 
sehr  gewagt,  aus  solchen  groben,  den  natürlichen  Verhältnissen 
nicht  Rechnung  tragenden  Versuchen  so  weitgehende  Schlüsse  zu 
ziehen. 

Immerhin  wollen  wir  einmal  die  Richtigkeit  dieser  Wechsel- 
wirkung zwischen  Haut  und  Eingeweiden,  welche  auch  schon  ältere 
physiologische  Arbeiten  darthun,  annehmen.  Bedenklich  und  gänz- 
lich falsch  aber  ist  es,  diese  Anschauungen  auch  auf  nahe  beiein- 
ander liegende  Teile  zu  übertragen.  So  hat  man  denn  Franck 's 
Versuche  auch  zum  Beweise  für  die  alte  Ansicht  angeführt,  dass 
eine  Rötung  der  Haut  eines  Gliedes  die  tieferen  Teile,  z.  B.  Mus- 
keln und  Gelenke,  von  einer  schädhchen  Hyperämie  befreie.  Dies 
ist  ein  fundamentaler  Irrtum,  der  zu  den  verkehrtesten  Anschau- 
ungen Veranlassung  gegeben  hat.    Die  hautrötenden  Mittel  wirken 


1)  Vergl.  Braam  Houckgeest.     Pflüger 's  Archiv  Bd.  6. 


22  Allgemeiner  Teil. 

bis  in  grosse  Tiefen  hinein  hyperämisierend,  das  werden  wir  in 
einem  späteren  Kapitel  noch  ausführhch  auseinandersetzen.  Ich 
habe  deshalb  stets  angenommen,  dass  die  Hyperämie,  welche  die 
Hitze  erzeugt,  sich  nicht  auf  die  Haut  beschränkt  und  die  tieferen 
Teile  entlastet,  sondern  im  Gegenteil  die  sämtlichen  Gewebe  durch 
die  ganze  Dicke  eines  Gliedes,  welches  ihr  ausgesetzt  ist,  hyper- 
ämisiert,  vorausgesetzt,  dass  sie  nur  stark  genug  angewandt  wird. 

Mein  Assistent  Prof .  Klapp  i)  hat  sogar  bewiesen,  dass  sich  die  Hyper- 
ämie auch  von  der  Oberfläche  auf  die  Eingeweide  fortpflanzt :  brachte  er  den 
Bauch  eines  Kaninchens  in  einen  Heissluftapparat,  setzte  ihn  längere  Zeit 
einer  sehr  starken  Hitze  aus  und  eröffnete  dann  sehr  schnell  dem  leben- 
den aus  dem  Kasten  entnommenen  Tiere  die  Bauchhöhle,  so  fand  er 
regelmässig  eine  Hyperämie  der  ganzen  Bauchwand,  der  Serosa  des  Darms 
und  des  Centrum  tendineum  des  Zwerchfelles. 

Plethysmographische  Untersuchungen  beweisen,  dass  Wärme 
den  Inhalt  der  in  den  Apparat  eingeschlossenen  Glieder  vergrössert, 
Kälte  ihn  verkleinert  2).  Offenbar  ist  an  diesen  Unterschieden  nur 
der  wechselnde  Blutgehalt  schuld.  Leider  aber  geben  diese  Ver- 
suche gar  keinen  Aufschluss  darüber,  ob  die  Hyperämie,  welche  die 
erwärmten  Gheder  anschwellen  lässt,  sich  nur  auf  die  oberfläch- 
lichen Teile  erstreckt  oder  auch  in  die  Tiefe  geht.  So  hält  Sarah 
A  mit  in  trotz  der  durch  Wärme  erzeugten  Volum  Vermehrung  eine 
entlastende  Entleerung  tiefer  Gefässe  durch  dieses  Mittel  für  möglich. 

Der  wichtigste  und  entscheidende  Beweis  dafür,  dass  die  Hitze 
durch  Hyperämie  und  nicht  durch  die  sogenannte  ,,Dekongestion" 
auf  die  kranken  tiefen  Teile  günstig  einwirkt,  ist  die  von  mir  ge- 
fundene Thatsache,  die  ich  in  dieser  Arbeit  noch  genauer  ent- 
wickeln werde,  dass  im  Gegenteil  eine  Stauungshyperämie,  deren 
Beseitigung  man  gerade  für  wesentlich  hielt,  vielfach  dieselben 
Wirkungen  zeigt,  wie  die  für  ein  Derivans  oder  Revulsivum  ge- 
haltene Hitze.  Hier  hat  man  sich  also  grundfalsche  Vorstellungen 
gemacht. 

Die  Wasserärzte  lassen  thermische  Reize  einen  sehr  grossen 
Einfluss  auf  die  reflektorische  Verteilung  des  Blutes  ausüben.  Ich 
erwähnte  schon  die  Versuche  Frangois  Franck's.  Ausserdem 
aber  berufen  sie  sich  auf  gewiss  sehr  interessante  Beobachtungen 


1)  Klapp,   Über   die   Behandlung   von    Gelenkergüssen   mit   heisser    Liift. 
Münchner  med.  W.  1900.    Nr.  23. 

2)  Sarah  Amitin,  Über  den  Tonus  der  Blutgefässe   bei  EinwirkLuig  der 
Wärme  und  Kälte.   Zeitschrift  für  Biologie.    35.  Bd.   Neue  Folge.    17.  Band.    S.  13. 


Erzeugung  aktiver  Hyperämie.  23 

von  Brown-Sequard,  Schüller,  Samuel,  Winternitz  und 
anderen.  Sie  haben  sogar  behauptet,  von  bestimmten  Hautstellen 
aus  auf  den  Blutkreislauf  in  ganz  bestimmten  inneren  Körperteilen 
einwirken  zu  können.  Leichtenstern  in  seiner  Balneotherapie 
und  Matthes  in  seinem  Lehrbuch  der  klinischen  Hydrotherapie 
haben  teils  der  Richtigkeit  dieser  Versuche,  teils  der  Berechtigung, 
sie  auf  praktische  Zwecke  anzuwenden,  scharf  widersprochen.  Und 
in  der  That,  jeder,  welcher  ähnliche  physiologische  Versuche,  wie 
sie  hier  in  Betracht  kommen,  ausgeführt  hat,  wird  Matthes  recht 
geben,  wenn  er  der  grossen  Mehrzahl  derselben  jede  Beweiskraft 
abspricht.  Es  herrscht  auf  diesem  Gebiete  eine  grosse  Willkür 
in  der  Anstellung  und  Deutung  physiologischer  Versuche.  Wir 
wollen  uns  aber  damit  nur  so  weit  befassen,  als  sie  uns  hier  inter- 
essieren, nämlich,  als  man  auch  die  Erscheinungen,  welche  die 
heisse  Luft  örtlich  an  den  Körperteilen,  die  man  ihr  aussetzt, 
hervorbringt,  unter  jene  Gesichtspunkte  gebracht  hat.  Ob  wirk- 
lich bei  der  dadurch  erzeugten  örthchen  Hyperämie  reflektorische 
Einflüsse  im  Spiele  sind,  weiss  niemand.  Sicher  aber  ist,  dass  man 
die  Hyperämie  in  ihrem  ganzen  Umfange  erzeugen  kann  ohne  jede 
Vermittelung  des  Nervensystems.    Das  beweist  folgender  Versuch : 

Einem  weissen  Ferkel  i),  welches  sich  in  tiefer  Äthernarkose  befindet, 
präpariere  ich  Arteria  und  Vena  fenioralis  des  einen  Hinterbeines  rein  aus 
ilirer  Scheide.  Darauf  durchschneide  ich  sämtliche  übrigen  Weichteile  bis 
auf  den  I^ochen,  indem  ich  alle  blutenden  Gefässe  unterbinde.  Das  Glied 
ist  also  nur  noch  durch  den  Knochen  mid  die  beiden  Hauptadern  mit  dem 
übrigen  Körper  in  Verbindung,  und  insbesondere  sind  alle  Nerven  durch- 
schnitten. Jetzt  bringe  ich  das  Glied  in  einen  Heissluftkasten  tmd  sehe,  dass 
die  Hyperämie  in  genati  derselben  Form  auftritt,  wie  an  dem  nicht  abge- 
schnittenen Beine.  Gerade  so  schnell  verschwindet  die  Hyperämie  auch 
wieder,  vorausgesetzt,  dass  man  eine  Verbrennung  vermieden  hat. 

Auch  alle  drei  Grade  der  Verbrennung  lassen  sich  an  diesem  Gliede  her- 
vorrufen. 

Lewaschew^)  durchströmte  abgeschnittene  Glieder  mit  defi- 
briniertem  Blut  und  stellte  fest,  dass  Wärme  Erweiterung,  Kälte 
Verengerung  der  Gefässe  machte,  und  demgemäss  die  Ausfluss- 


1)  Das  Seh  wein  ist  für  alle  Untersuchungen  über  die  Blutverteilung  das 
beste  Versuchstier.  An  der  rein  weissen  Haut  des  Ferkels  erkennt  man  jede 
Änderung  der  Blutfülle  und  Blutart  mit  Leichtigkeit. 

2)   Lewaschew,    Über  das  Verhalten  der  peripherischen  vasomotorischen 
Centren  zur  Temperatur.     Pflüger's  Archiv.    26.  Bd.     S.  60. 


24  Allgemeiner  Teil. 

geschwindigkeit  beeinflusst  wurde.  Ich  kann  leider  diese  Versuche 
nicht  als  beweiskräftig  anerkennen.  Ich  habe  schon  in  einer  früheren 
Arbeit  auseinandergesetzt!),  dass  die  Durchströmung  abgeschnit- 
tener Körperteile  unter  konstantem  Druck  und  mit  faserstofffreiem 
Blute  zu  ganz  verkehrten  Ergebnissen  führt,  und  dass  diese  Ver- 
suche deshalb  nicht  zu  verwerten  sind. 

Pietrowski^)  fand  bei  plethysmographischen  Untersuchungen , 
dass  auch  an  entnervten  Körperteilen  die  Reizbarkeit  der  Gefässe 
noch  erhalten  geblieben  war.  Dasselbe  wurde  von  verschiedenen 
anderen  Seiten  festgestellt. 

Ich  selbst  habe  nachgewiesen,  dass  die  sogenannte  reaktive 
Hyperämie,  die  nach  künstlicher  Blutleere  auftritt,  gänzlich  unab- 
hängig vom  Centralnervensystem  ist.  3) 

Am  grossartigsten  zeigten  Goltz  und  Ewald'*)  tue  Unab- 
hängigkeit der  Gefässinnervation  vom  Centralnervensystem.  Die 
Gefässe  des  Hundes,  welchem  stückweise  der  grösste  Teil  des 
Rückenmarkes  entfernt  wurde,  behalten  die  Fähigkeit,  sich  auf 
äussere  Reize  je  nach  deren  Natur  zu  verengern  oder  zu  er- 
weitern. 

Es  steht  also  fest,  dass  eine  Hyperämie  durch  Hitze  eintreten 
kann  allein  durch  örtliche  Einwirkung  auf  die  Gefässe  ohne  alle 
Vermittelungen  des  Centralnervensystems  und  der  Nervenstämme. 
Ob  es  sich  dabei  um  unvermittelte  Reizung  der  Gefässwand  han- 
delt, oder  ob  man  mit  Goltz  Gefässganglien  annehmen  will  (die 
bisher  noch  nicht  entdeckt  sind),  wollen  wir  dahingestellt  sein 
lassen. 

Schliesslich  ist  es  nicht  einmal  unbestritten,  dass  die  Hitze 
eine  aktive  Hyperämie  hervorruft,  betrachten  doch  Winternitz^) 


1)  Bier,  Virchow's  Archiv.     147.  Band.     S.  270. 

2)  Pietrowski,  Studien  über  den  peripheren  Gefässmechanismus.  Pflüger's 
Archiv.     55.  Bd.     S.  240. 

3)  Bier,  Über  die  während  und  nach  der  künstlichen  Blutleere  auftre- 
tenden Gefässveränderxongen  und  ilire  physiologische  Erkläriuig.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1899.    Nr.  31. 

4)  Goltz  u.  Ewald,  Der  Hund  mit  verkürztem  Rückenmark.  Pflüger's 
Archiv.     63.  Bd.    S.  362. 

5)  Vergl.  für  diese  Frage  die  Arbeiten  von  Matthes:  Lehrbuch  der  klini- 
schen Hydrotherapie.  IL  Auflage.  Jena  1903;  und:  Über  den  heutigen  Stand  der 
Lehre  von  der  Reaktion  im  hydriatischen  Sinne.  Zentralblatt  für  physikalische 
Therapie  und  Unfallheilkunde  1904. 


Erzeugung  aktiver  Hyperämie.  25 

und  seine  Schüler  dieselbe  als  passive  Hyperämie!  Nun  scheint 
mir,  dass  ein  Blick  auf  die  Haut  eines  Gliedes  von  irgend  einem 
weissen  Geschöpfe  (Mensch  oder  Schwein),  welches  man  z.  B.  einige 
Zeit  einer  sehr  heissen  Luft  ausgesetzt  hat,  gar  keinen  Zweifel 
darüber  obwalten  lässt,  dass  es  sich  hier  um  nichts  anderes  als 
eine  hocharterielle  Hyperämie  handeln  kann;  denn  die  Röte,  die 
danach  entsteht,  ist  womöglich  noch  höher  und  lebhafter,  als  die, 
welche  nach  künstlicher  Blutleere  auftritt,  und  von  dieser  wissen 
wir,  dass  es  eine  arterielle  Hyperämie  mit  ausserordentlicher  Be- 
schleunigung des  Blutstroms  ist.  Indessen  habe  ich  diese  An- 
schauung noch  durch  einige  Versuche  zu  stützen  gesucht: 

Ich  bringe  ein  Bein  eines  Hundes,  welcher  sich  in  tiefer  Äthernarkose 
befindet,  1/2  Stunde  lang  in  einen  Heissltiftkasten  und  hyperäniisiere  das 
Glied  sehr  stark.  Bei  Eröffnung  der  vorher  präparierten  Vena  femoralis 
konnxit  Blut  unter  lebhaften  Pulsationen  aus  der  Vene.  Es  ist  dies  eine 
Wiederholung  eines  bekannten  physiologischen  Versuches,  um  die  starke 
Beschleunigung  des  arteriellen  Blutstroms  zu  beweisen.  Eigentlich  sollte 
das  Venenblut  noch  durch  seine  Hellröte  dem  des  andern  Beines  gegenüber 
auffallen.  Dies  konnte  ich  in  zwei  Versuchen  nicht  feststellen.  Trotz  der 
Äthernarkose  war  das  Blut  beider  Venen  hellrot.  Aber  in  dem  nichthyper- 
ämisierten  Beine  fehlte  vollständig  das  Ausfliessen  des  Blutes  unter  Pulsation. 

Folgende  Versuche  werden  sehr  deutlich  zeigen,  dass  in  der 
That  zum  Ertragen  hoher  Hitzegrade  ein  sehr  schneller  Blutstrom 
nötig  ist,  der  die  Rolle  eines  Kühlstroms  für  das  erwähnte  Glied 
spielt : 

Ich  bringe  meinen  Arm  in  einen  Heissluftkasten  und  wärme  ihn  lang- 
sam an.  Als  das  Thermometer  114°  C.i)  zeigt,  wird  die  Hitze  gerade  noch 
gut  ertragen,  bei  115°  tritt  ein  unangenehmes  Brennen  unter  den  Nägeln 
auf.  Die  Temperatur  von  114 — 115°  wird  dagegen  längere  Zeit  ohne  Be- 
schwerden ertragen.     Das  Glied  schwitzt  dabei  mäßig. 


Pick:  Über  den  Einfluss  mechanischer  u.  thermischer  Einwirkungen  auf 
Blutstrom  und  Gefässtonus.     Zeitschrift  für  Heilkunde  1903.    H.  IL 

Lommel,  Über  den  Tonus  der  grossen  Gefässe.  Deutsches  Archiv  f. 
klinische  Medizin.  Bd.  LXXVIII,  und:  Über  die  Viscosität  des  menschlichen 
Blutes  bei  Schwitzprozeduren.    Ebenda.    Bd.  LXXX. 

Martin:  Beiträge  zm-  Lehre  über  den  Einfluss  thermischer  Anwendungen 
auf  das  Blutgefässsystem.  Zeitschrift  für  diätetische  u.  physik.  Therapie. 
7.  Band.    8.  H. 

1)  Die  Temperatur,  welche  das  Thermometer  an  der  Decke  des  Apparates 
anzeigt,  braucht  nicht  derjenigen  gleich  zu  sein,  welche  auf  das  Glied  einwirkt. 
Bei  sonst  gleichen  Verhältnissen  liefert  aber  das  Thermometer  vollständig  ge- 
nügende relative  Masse. 


26  Allgemeiner  Teil. 

Nun  wird  dasselbe  Glied  mit  einer  Gummibinde  am  Oberarm,  welche 
eine  sehr  massige  Stauungshyperämie  hervorbringt,  in  genau  derselben  Lage 
in  denselben  Kasten  gebracht,  ■welcher  wiederum  langsam  angeheizt  wird. 
Bei  98°  tritt  ein  sehr  lebhaftes  Brennen  unter  den  Nägeln  auf.  Etwas  unter 
98  °  wird  die  Hitze  gerade  noch  dauernd  gut  ertragen.  Auch  hier  ist  der  Arm 
feucht  von  Schweiss. 

Erzeuge  ich  an  demselben  Gliede  eine  starke  Stauungshyperänaie, 
wobei  allerdings  der  Radialpuls  noch  deutlich  zu  fülilen  ist,  und  bringe  es 
unter  den  gleichen  Bedingungen  in  den  Heissluftkasten,  so  bin  ich  schon 
bei  78°  an  der  Grenze  des  Erträglichen  angelangt. 

Da  nun  ein  venös  hyperämisches  Glied,  wie  viele  Erfahrungen 
zeigen,  eher  vermehrte  als  verminderte  Schweissabsonderung  zeigt, 
so  kann  nur  die  verzögerte  Strömungsgeschwindigkeit  des  Blutes 
die  Ursache  der  grösseren  Empfindlichkeit  gegen  die  Hitze  sein; 
wir  haben  hier  eben  den  Kühlstrom,  welcher  neben  dem  Schwitzen 
das  Glied  vor  der  Verbrennung  schützt,  verlangsamt. 

Des  Überflusses  halber  habe  ich  auch  die  Gegenprobe  gemacht : 

Ich  mache  meinen  Arm  16  Minuten  lang  durch  Abschnürung  blutleer. 
Beim  Lösen  des  Gurtes  tritt  die  gewaltige  reaktive  Hyperämie,  die  wir 
Chirurgen  als  sehr  große  Beschleunigung  des  Blatstromes  zur  Genüge  kennen, 
ein.  Das  Glied  wird  jetzt  unter  denselben  Bedingimgen  in  denselben  Heiss- 
luftkasten wie  vorliin  gesteckt,  der  vorher  auf  eine  gleichmässige  Tem- 
peratur von  145°  gebracht  ist.  Das  Glied  verträgt  diese  Hitze  sehr  gut  und 
schwitzt  lebhaft.  Ich  entferne  den  Arm  aus  dem  Kasten,  warte  ab,  bis  er 
gänzlich  abgeblasst  ist,  imd  bringe  ihn  dann  wieder  liinein,  während  das 
Thermometer  immer  noch  145°  zeigt.  Die  Hitze  Avird  jetzt  nur  wenige 
SekTxnden  ertragen,  dann  muß  das  Glied  wegen  unerträglichen  Brennens 
zurückgezogen  werden. 

Hierher  gehören  auch  folgende  Beobachtungen: 

In  einen  Heissluftkasten  setzte  ich  mein  Becken  einer  Hitze  aus,  welche 
gerade  noch  gut  ertragen  wird.  Mache  ich  jetzt  diorch  Anhalten  des  Atems 
und  starkes  exspiratorisches  Pressen  bei  geschlossener  Nase  und  Mund  eine 
Rückstauung  des  Blutes  im  ganzen  Körper,  so  wird  die  Hitze  unerträglich, 
beim  Beginn  der  Atmung  dagegen  schwindet  das  brennende  Gefühl. 

Mache  ich  denselben  Versuch  mit  meinem  Arm,  so  fühle 
ich  folgendes: 

Bei  Beginn  des  Fressens  wird  die  Hitze  sehr  deutlich  weniger  empfunden, 
allmählich  macht  diese  Erleichterung  einem  stärkeren  Gefühl  des  Brennens 
Platz.  Unmittelbar  nach  dem  Wiederbeginn  der  Atmung  tritt  ein  sehr 
lebhaftes  verstärktes  Brenngefühl  atif,  welches  schnell  wieder  ver- 
schwindet. 


Erzeugmag  aktiver  Hyperämie.'  97 

Alle  diese  Versuche  sind  von  einem  meiner  Assistenten  an 
seinem  Arm  nachgeprüft  mit  genau  gleichem  Erfolge. 

Dass  der  schnelle  Blutstrom  ein  Schutzmittel  gegen  Ver- 
brennung ist,  zeigt  sehr  schön  folgender  Versuch: 

Ich  bringe  meinen  Arm,  an  welchem  dm^ch  eine  Gummibinde  eine  leichte 
Stauungshyperämie  hervorgerufen  ist,  1  Stunde  lang  in  lieisse  Luft,  welche 
gerade  noch  gut  vertragen  wird.  Nach  Abblassen  der  hyperämischen  Haut 
bleibt  ein  zierliches  Netz  roter  Streifen  zurück,  welches,  wie  man  ohne 
weiteres  erkennt,  dem  Geäder  der  kleinen  oberflächlichen  Hautvenen  ent- 
spricht. Die  größeren  subkutanen  Venen  haben  ihren  Verlatif  nicht  aufge- 
zeichnet.  Die  roten  Streifen  verschwinden  nach  etwa  12  Stunden  wieder. 

Hier  ist  es  also  zu  einer  leichten  Verbrennung  ganz  genau"  im 
Verlauf  der  kleinen  Hautvenen  gekommen,  in  denen  durch  die  un- 
bedeutende Stauung  der  Blutstrom  verlangsamt  wurde.  Einen 
besseren  Beweis  für  die  Richtigkeit  meiner  Ansicht,  dass  der 
Blutstrom  einen  Kühlstrom  darstellt,  kann  man  wohl  kaum  ver- 
langen. Ich  habe  deshalb  von  schwierigen  physiologischen  Unter- 
suchungsmethoden abgesehen,  deren  Ergebnisse  trotzdem  dann 
noch  meist  unsicher  und  nicht  eindeutig  sind.  Hierher  gehörige 
Versuche  hat  Balli^)  vermittels  des  v.  Kriess'schen  Flammen- 
tachygrammes  angestellt.  Er  mass  damit  die  Stromgeschwindigkeit 
des  Blutes  im  menschlichen  Arm,  welchen  er  in  einen  Plethys- 
mographen mit  verschieden  hoch  erwärmtem  Wasser  brachte.  Er 
fand,  dass  durch  Wärme  die  Strompulse  erheblich  vergrössert, 
durch  Kälte  verkleinert  wurden. 

Ich  bemerke  noch,  dass  Tiere,  welche  überhaupt  nicht  sichtbar 
schwitzen^),  sondern  nur  unbedeutend  durch  die  Haut  dünsten,  und 
ihre  Wärmeregulation  durch  die  mehr  oder  minder  beschleunigte 
Atmung  beziehungsweise  Fächelung  der  Zunge  und  der  Mundschleim- 
haut besorgen,  wie  der  Hund,  mindestens  dieselben  Hitzegrade 
vertragen,  wie  der  Mensch,  worüber  mich  Versuche  zweifellos  be- 


1)  Ettore  Balli,  Über  den  Einfluss  lokaler  und  allgemeiner  Erwärmung 
und  Abkühlung  der  Haut  auf  das  menschliche  Flammentachygramm.  Inaugural- 
Dissertation.    Bern  1896. 

2)  Die  allgemeine  Ansicht  geht  dahin,  dass  Hunde  unter  normalen  Verhält- 
nissen nicht  schwitzen.  Um  so  auffallender  war  mir  die  Angabe  von  Goltz  u. 
Ewald,  die  einzig  dasteht,  dass  Htmde,  denen  das  Halsmark  dm-chschnitten 
war,  an  der  Haut  des  ganzen  Körpers  mit  Ausnahme  des  Kopfteils  stark 
schwitzten.  Jedenfalls  fühlen  sich  die  Glieder  von  Hunden,  welche  man  sehr 
heisser  Luft  ausgesetzt  hat,  völlig  trocken  an. 


28  '  Allgemeiner  Teil. 

lehrt  haben.  Ich  brachte  GHeder  von  Hunden  in  den  Heissluft- 
apparat.  Sie  bheben  trocken,  wurden  aber  sehr  stark  hyperämisch. 
Ich  habe  bei  früheren  Versuchen  bemerkt,  dass  bei  Hunden  mit 
dunkler  Haut  die  starke  reaktive  Hyperämie  nach  künstlicher  Blut- 
leere nicht  zu  erkennen  ist.  Setzte  ich  aber  diese  dunkelgefärbten 
Gheder  einer  sehr  heissen  Luft  aus,  so  konnte  ich  über  die  ge- 
waltige Hyperämie  gar  nicht  im  Zweifel  sein.  Dieselbe  ist  wohl 
deshalb  bei  diesen  Tieren  so  grossartig,  weil  der  abkühlende  Blut- 
strom den  fehlenden  Schweiss  ersetzen  muss. 

Eine  grosse  Heilwirkung  hat  man  bei  der  Anwendung  auch 
von  lokaler  Hitze  dem  bedeutenden  Schweiss  Verluste  zugeschrieben. 
Hat  man  doch  bei  vielen  der  Krankheiten,  welche  meiner  Ansicht 
nach  durch  die  reaktive  Hyperämie  der  Hitze  gewaltig  beeinflusst 
werden,  allgemeine  Schwitzkuren  von  altersher  eingeleitet,  so  z.  B. 
bei  den  Gelenkversteifungen  des  chronischen  Rheumatismus  und 
der  Arthritis  deformans,  vor  allem  aber  bei  Wasserergüssen  in  die 
Gelenke.  Hier  ging  man  geradezu  von  dem  Gedanken  aus,  durch 
Wasserverarmung  des  ganzen  Körpers  den  Erguss  zur  Resorption 
zu  bringen. 

Ich  bin  nicht  so  einseitig,  leugnen  zu  wollen,  dass  Schweiss- 
verlust  für  Resorptionen  im  Körper  eine  grosse  Rolle  spielen  dürfte, 
ich  will  auch  nicht  einmal  behaupten,  dass  das  bei  den  erwähnten 
Krankheiten  nicht  nützlich  sein  könnte.  Aber  dem  Schweissverluste 
kommt  gerade  bei  den  Krankheiten,  welche  uns  hier  interessieren, 
und  welche  wir  mit  rein  örtlich  angewandter  Wärme  behandeln, 
sicherlich  nur  eine  ganz  untergeordnete  Bedeutung  zu.  Ich  habe 
das  dadurch  bewiesen,  dass  ich  einzelne  versteifte  Finger,  bei  deren 
Erwärmung  von  einem  wesentlichen  Schweissverluste  gar  keine 
Rede  sein  kann,  durch  Heissluftapparate  besserte.  Ferner  müsste 
alsdann  am  weitaus  wirksamsten  die  allgemeine  Anwendung  der 
Wärme  sein.  Beim  allgemeinen  heissen  Sandbade  hat  man  Ge- 
wichtsverluste bis  zu  3  kg  beschrieben,  während  Mendelsohni) 
bei  einem  heissen  Luftbade  von  120°,  welches  er  II/2  Stunden  lang 
auf  seinen  Arm  einwirken  liess,  nur  einen  Gewichtsverlust  von 
750  g,  Krause^)  bei  einer  Kranken,  bei  welcher  er  je  eine  Stunde 


1)  Mendelsohn,   Über   die   therapeutische   Verwendttng   sehr  hoher   Tem- 
peraturen.   Verh.  d.  16.  Kongresses  für  innere  Med.  1898. 

2)  Krause,  Erfahrungen  über  therapeutische  Verwendung  überhitzter  Luft. 
Verh.  d.  deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  1899,    18.  Kongress  IL   S.  230. 


Erzeugung  aktiver  Hyperämie.  29 

einen  Heissluftapparat  verwandte,  in  7  Tagen  voi.  270 — 500  g 
täglich  erzielte.  Die  Erfahrung  zeigt  aber,  dass  bei  den  oben- 
genannten Krankheiten  gerade  die  örtliche  Anwendung  der  Hitze 
das  weitaus  wirksamste  ist.  Nun  kann  man  doch  unmöglich  an- 
nehmen, dass  gerade  örtliche  Schweiss Verluste  resorbierbare  schäd- 
liche Stoffe  aus  ihrer  unmittelbaren  Nähe  herausbefördern  in  dem 
Sinne,  wie  sich  die  alten  Ärzte  die  Entfernung  der  Materia  peccans 
durch  das  Derivans  dachten. 

Von  Wichtigkeit  erscheinen  mir  hier  noch  folgende  Aus- 
führungen Schreiber'si):  Die  Schweisssekretion  wird  schon  bei 
geringeren  Hitzegraden  (45 — 50°)  angeregt,  bei  60 — 70°  vermehrt, 
darüber  hinaus  nimmt  sie  häufig  ab  und  verschwindet  zuweilen  bei 
80 — 90°  so  sehr,  dass  sich  die  Haut  glatt  und  trocken  anfühlt. 
Schreiber  ist  der  Ansicht,  dass  diese  Trockenheit  nicht  nur  eine 
Folge  der  reichlichen  Verdunstung  ist,  sondern  dass  infolge  von 
Überreizung  und  Ermüdung  der  Schweissdrüsennerven  wirkhch 
weniger  Schweiss  abgesondert  werde.  Dagegen  giebt  er  zu,  dass 
bei  zunehmender  Hitze  auch  stets  die  Hjrperämie  wächst,  um  bei 
den  höchsten  Hitzegraden  ihren  Höhepunkt  zu  erreichen .  Schreiber 
ist  der  Meinung,  dass  zum  reichlichen  Schweisserzeugen  geringere 
Temperaturgrade  genügen,  und  bezweifelt,  ob  es  überhaupt  nötig 
ist,  die  stärkste  Hyperämie  zu  erzielen. 

Zwei  Schüler  Schreiber's,  Rautenberg'^)  und  Hoffheinz^), 
konnten  dessen  Ansichten  experimentell  bestätigen.  Sie  kommen 
auf  Grund  von  Versuchen  zu  folgenden  Schlussfolgerungen: 

,,1)  Bei  Einwirkung  heisser  Luft  auf  die  Haut  haben  Schweiss- 
sekretion und  aktive  Hyperämie  ein  Temperaturoptimum. 

2)  Für  die  Schweisssekretion  liegt  dieses  Optimum  bei  50 — 60°. 
Bei  höherer  Temperatur  (80°  und  darüber)  ist  die  Schweisspro- 
duktion  geringer  und  nicht  höher  als  z.  B.  bei  40°.  Bei  längerer 
Einwirkung  heisser  Luft  nimmt  die  Schweisssekretion  stark  ab,  es 
tritt  eine  ,, Ermüdung"  ein. 


1)  Schreiber,  Über  Heissluftapparate  und  Heissl uftbehandJung.  Zeit- 
schrift für  diätetische  und  physikalische  Therapie.    V.  Band.     2.  Heft. 

2)  Rautenberg,  Experimentelle  Untersuchungen  über  aktive  Hyperämie 
und  Schweisssekretion.  Zeitschrift  für  diätetische  und  physikalische  Therapie. 
8  Bd.     1905.    S.  333. 

3)  Hoffheinz,  Über  das  Verhältnis  von  Hyperämie  und  Hyperhidrosis 
bei  lokaler  Applikation  überhitzter  trockner  Luft.  Inauguraldissertation  Königs- 
berg  1903. 


30  Allgemeiner  Teil. 

ffT  3)  Aktive  Hyperämie  tritt  bei  Temperaturen  von  80 — 120°  auf. 
Die  Toleranzgrenze  für  diese  Temperaturen  liegt  individuell  ver- 
schieden hoch." 

Wenn  ich  hiermit  meine  eigenen  Erfahrungen  in  Vergleich 
bringe,  so  muss  ich  bemerken,  dass  es  auch  mir  scheint,  dass  die 
grösste  Schweissabsonderung  nicht  bei  den  höchsten  Hitzegraden 
erfolgt;  indessen  ist  es  mir  nicht  erinnerlich,  die  von  Schreiber 
beschriebenen  trockenen  und  geröteten  Gheder  nach  Einwirkung 
hoher  Temperaturen  gesehen  zu  haben.  Nun  weist  die  überein- 
stimmende Erfahrung  dahin,  dass  man  zur  Erzielung  gewisser 
Wirkungen  gerade  hohe  Temperaturen  nötig  hat,  und  mit  ihnen 
noch  gute  Erfolge  erzielt,  wo  niedere  Grade  oder  Wärmewirkungen, 
die  in  gleicher  Weise  schweisstreibend,  aber  nicht  so  stark  hyper- 
ämisierend  wirken,  versagen.  Da  also  von  den  beiden  Reaktions- 
vorgängen, Schwitzen  und  erhöhter  Blutzufuhr,  nur  die  letztere 
mit  der  höheren  Temperatur  gewachsen  ist,  so  kann  auch  das 
nur  die  bessere  Wirkung  hervorgebracht  haben.  Ich  stimme 
deshalb  auch  nicht  mit  Schreiber  überein,  wenn  er  meint,  dass 
die  sehr  hochgradige  Hyperämisierung  nicht  notwendig  sei.  Aller- 
dings darf  man  die  Hitze  nicht  bis  zur  Verbrennung  steigern, 
denn  wahrscheinlich  wird  diese  der  aktiven  Hjrperämie  Ab- 
bruch thun.  Sie  führt  eben  zu  entzündlichen  Zuständen  in  der 
Haut,  welche  eine  Verlangsamung  des  Blutstroms  zur  Folge  haben 
dürften. 

Gegen  die  Ansicht,  dass  die  Hjrperämie  die  entscheidende  Heilwir- 
kung bei  den  meisten  der  Heissluftbehandlung  unterworfenen  Leiden 
ausübt,  scheint  nun  die  von  verschiedenen  Seiten  gemachte  Beobach- 
tung zu  sprechen,  dass  z.  B.  bei  chronischen  Gelenkversteifungen 
Gelenke,  welche  gar  nicht  der  Hitze  ausgesetzt  waren,  sich  mit  den 
behandelten  gleichzeitig  bessern.  Auf  den  ersten  Blick  scheint  das 
für  eine  Allgemeinwirkung  der  örtlich  angewandten  Hitze  auf  den 
ganzen  Körper  zu  sprechen.  Dieser  Schluss  ist  am  schärfsten  von 
Walshi)  (,,honorary  medical  officer  to  the  Tallerman  free  Insti- 
tute" in  London)  gezogen.  Derselbe  sah  ein  altes  chronisches  Ekzem 
beider  Hände,  welches  allen  möglichen  Behandlungsmethoden  ge- 
trotzt hatte,  sich  bessern,  obwohl  nur  die  rechte  im T  aller  man'schen 
Heissluftapparat  behandelt  wurde.     Er  glaubt  sogar,  man  könne 


1)  Walsh,  Hot-air  treatment  of  eczematous,  gouty  rheuniatic  and  other 
affections.    The  Lancet  1900.    S.  481. 


Erzeugung  aktiver  Hyperämie.  32 

einen  steifen  Ellbogen  bessern  oder  heilen  bei  örtlicher  Heissluft- 
behandlung  eines  Beines,  und  schreibt  das  der  Allgemeinwirkung 
des  örtlichen  Heissluftbades,  welches  sich  in  Schwitzen,  Erhöhung 
der  Pulszahl  und  der  Körpertemperatur  äussert,  zu.  Ich  bezweifle 
sehr,  dass  diese  Ansicht  richtig  ist,  und  wenn  ich  selbst,  wie  die 
meisten  andern,  welche  diese  Behandlungsmethode  verwenden,  schon 
gesehen  habe,  dass  einzelne  Gelenke,  die  gar  nicht  mitbehandelt 
wurden,  sich  auch  besserten,  so  war  doch  die  Wirkung  niemals  so 
hochgradig,  wie  bei  den  behandelten  Gelenken,  und  sehr  häufig 
fehlte  sie  ganz.  Immerhin  bleibt  die  Thatsache  bestehen,  aber  sie 
erklärt  sich  viel  ungezwungener  auf  andere  Weise:  Wir  wissen, 
dass  jede  starke  Hitzeeinwirkung  auf  äussere  Körperteile  das 
Blut  aus  den  Eingeweiden  in  diese  Teile  hineinzieht.  Es  nehmen 
also  bei  starker  Einwirkung  der  heissen  Luft  auf  einen  Körperteil 
alle  andern  Glieder  und  oberflächlich  liegenden  Teile  an  der  ver- 
mehrten Blutdurchströmung  teil.  Ferner  wissen  wir,  dass  bei  viel- 
fachen Krankheitsherden  sich  die  übrigen  bessern  können,  wenn 
man  einen  von  ihnen  aus  dem  Körper  fortschafft.  Wir  Chirurgen 
kennen  das  von  der  Tuberkulose,  und  ein  jeder  von  uns  hat  wohl 
einmal  einen  Menschen  mit  schwerer  Lungenschwindsucht  über 
Erwarten  aufblühen  sehen,  wenn  er  ihm  z.B.  ein  Bein,  welches  mit 
fortgeschrittener  Kniegelenkstuberkulose  behaftet  war,  fortschnitt. 
So  habe  ich  denn  auch  häufig  gesehen,  dass  bei  chronischen  Ge- 
lenkversteifungen gar  nicht  behandelte  Gelenke  sich  mitbesserten, 
wenn  ich  die  schlimmsten  unter  ihnen  mit  Stauungshj^erämie  be- 
handelte. Gerade  diese  Erfahrung  dürfte  am  besten  beweisen,  dass 
es  sich  dort  nicht  um  rätselhafte  Allgemeinwirkungen  einer  örtlich 
angewandten  Hitze  handelt,  sondern  dass  wir  es  in  dem  einen 
wie  in  dem  andern  Falle  mit  Hyperämiewirkungen  zu  thun 
haben. 

Auch  die  von  Walsh  angeführte  Beobachtung  Chretien's, 
welcher  bei  Gicht  nach  örthcher  Heissluftbehandlung  eines  gichti- 
schen Gelenkes  eine  stark  vermehrte  Ausscheidung  von  Harnsäure 
durch  die  Nieren  sah,  spricht  nicht,  wie  Walsh  annimmt,  für  eine 
Fernwirkung  auf  diese,  sondern  erst  recht  für  Hyperämie  Wirkung, 
Denn  ich  werde  bald  auseinandersetzen,  dass  die  aktive  Hj^per- 
ämie,  welche  die  Hitze  erzeugt,  im  hohen  Masse  resorbierend  wirkt. 
Wie  alle  möglichen  anderen  krankhaften  Stoffe  kann  dieselbe  auch 
die  in  den  Gelenken  abgelagerten  Harnsalze  wegschwemmen  und 
zur  Ausscheidung  durch  die  Nieren  bringen. 


32  Allgemeiner  Teil. 

Der  entscheidende  Beweis  dafür,  dass  wirklich  die  Hyperämie 
und  nicht  die  übrigen  Begleiterscheinungen,  welche  die  Anwendung 
der  Wärme  mit  sich  bringt,  das  Wirksame  ist,  geht  wieder  daraus 
hervor,  dass  auch  alle  möghchen  auf  andere  Weise  erzeugten 
Hyperämien,  die  gar  nicht  zu  Allgemeinwirkungen  führen,  ähnhch 
wirken. 

Ich  will  schon  hier  bemerken,  dass  es  mir  scheint,  als  habe 
man  die  Einwirkung  der  Wärme  auf  den  ganzen  Körper  und  auf 
einzelne  Teile  nicht  genügend  auseinandergehalten.  Es  ist  offen- 
bar etwas  anderes,  ob  ich  den  ganzen  Menschen  bis  an  den  Hals 
in  ein  Heissluft-  oder  Sandbad  stecke,  oder  nur  einen  Arm.  Im 
ersteren  Fall  wird  eine  ungeheure  Masse  Blut  in  die  Haut  gezogen, 
das  natürhch  tiefere  Teile  hergeben  müssen,  im  letzteren  ist  aber 
Blut  genug  vorhanden,  um  das  Glied  in  seiner  ganzen  Dicke  zu 
hyperämisieren. 


Apparate  für  die  Heissluftbehandlung. 

Meines  Wissens  bin  ich^)  der  erste  gewesen,  welcher  brauch- 
bare Heissluftapparate  zur  Behandlung  örthcher  Krankheiten  her- 
gestellt hat,  und  zwar  in  der  ausgesprochenen  Absicht,  damit  ar- 
terielle Hyperämie  zu  erzeugen.  Ich  benutze  diese  Apparate  seit 
dem  Jahre  1891.  Zwar  hat,  wie  ich  später  aus  der  Literatur 
ersah,  schon  kurz  vorher  Clado  einen  Heissluftapparat  hergestellt, 
derselbe  ist  aber  so  umständlich  und  unsicher  in  seiner  Wirkung, 
dass  er  keinen  Nachahmer  finden  dürfte.  Clado 2)  baute  einen 
Ofen  aus  heissen  Ziegelsteinen,  in  den  er  tuberkulös  erkrankte 
Gelenke  hineinbrachte,  in  der  Absicht,  die  Tuberkelbazillen  durch 
Hitze  abzutöten.  Die  Luft  in  dem  Ofen  mass  130°,  unter  der 
Watteschicht  110°. 


1)  Bier,  v.  Esmarch's  Festschrift  S.  63.  Kiel  land.  Leipzig  1893.  —  Münch- 
ner med.  Wochenschrift  1899  Nr.  48  und  49.  —  Therapie  der  Gegenwart. 
Februar  1902. 

2)  Clado,  Bericht  des  französischen  Chirurgenkongresses  vom  Jahre 
1891. 


Apparate  für  die  Heissluftbehandlung.  33 

Ich  hatte  von  diesen  Versuchen  Clado's  keine  Kenntnis,  als 
ich  meine  Heissluftapparate  herstellte,  denn  die  Veröffenthchungen 
jenes  Arztes  waren  zu  dieser  Zeit  noch  nicht  erschienen.  Meine 
Apparate!)  zeichnen  sich  durch  grosse  Einfachheit  aus.  Sie  sind 
im  Prinzip  dem  Quincke'schen  für  den  ganzen  Körper  hergestell- 
ten Schwitzbette  nachgebildet. 

Die  Heizquelle  für  meine  Apparate  ist  der  Quincke'sche 
Schornstein,  welchen  ich  so  modifiziert  habe,  dass  er  an  einem 
Gestell  mit  schwerem  Fusse,  ähnlich  wie  es  die  Chemiker  be- 
nutzen, verschiebbar  befestigt  ist  und  daran  in  jeder  beliebigen 
Höhe  durch  eine  Schraube  festgestellt  werden  kann.  Unten  hat 
der  Schornstein  einen  Teller  für  die  Lampe,  welcher  ebenfalls  ver- 
schiebüch  ist. 

Am  besten  heizt  man  den  Apparat  mit  Gas  an,  indem  man 
einen  einfachen,  mit  Regulierhahn  versehenen  Bunsenbrenner  unter 
den  Schornstein  stellt.  Man  kann  alsdann  durch  Stellung  des 
Hahnes  sehr  genau  die  Hitze  im  Apparate  je  nach  Bedarf  steigern 
oder  vermindern. 

Die  Gasflamme  muss  angezündet  werden,  bevor  der  Schorn- 
stein in  den  Kasten  eingefügt  wird.  Sonst  kann  es  vorkommen, 
dass  Gas  in  den  Kasten  einströmt,  beim  Anzünden  explodiert  und 
das  eingeschlossene  Glied  versengt. 

Im  Hausgebrauche  wird  man  häufig  kein  Gas  zur  Verfügung 
haben,  sondern  ist  auf  den  Spiritus  als  Heizquelle  angewiesen. 
Nach  verschiedenen  vergeblichen  Versuchen  mit  Spiritusgasflammen 
bin  ich  immer  wieder  auf  die  einfachste  Form  der  Spirituslampe, 
einen  grossen  Behälter  mit  sehr  breitem  Docht  zurückgekommen. 
Die  Hitze  wird  teils  durch  Vor-  und  Zurückschieben  des  Dochtes, 
teils  durch  Auf-  und  Abstellen  der  Lampe  geregelt.  Den  Docht 
lasse  ich  mit  einer  Pinzette  bedienen,  da  Schraubapparate  sich  als 
unpraktisch  erwiesen  haben. 

Von  den  Heissluftkästen  beschreibe  ich  zunächst  die  ein- 
fachste Form: 

Ein  Holzkasten  wird,  um  ihn  vor  dem  Zerspringen  durch  Hitze 
und  vor  Feuersgefahr  zu  schützen,  mit  Wasserglas  getränkt  und 
mit  Packleinen,  das  ebenfalls  in  Wasserglas  getränkt  ist,  bekleidet. 
Er  enthält  je  nach  dem  Sitz  der  Krankheit  einen  oder  zwei  Aus- 
schnitte, um  das  erkrankte  Glied  in  den  Kasten  eintreten,  bezw. 


1)  Sie  werden  von  der  Firma  Eschbaum  in  Bonn  geliefert. 
Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  3 


34  Allgemeiner  Teil. 

ein-  und  austreten  zu  lassen.  Sobald  das  Glied  hineingesteckt  ist, 
werden  der  resp.  die  Ausschnitte  mit  feuersicherer  Asbestwatte 
abgedichtet.  Oben  besitzt  der  Kasten  ein  oder  mehrere  Zuglöcher, 
welche  man  nach  Bedarf  grösser  oder  kleiner  herstellen  kann,  und 
trägt  ein  Thermometer. 

Besser  für  die  Handhabung  und  für  das  kranke  Glied  ist  es, 
den  Kasten  zum  Aufklappen  herzustellen  und  seine  Ausschnitte 
mit  Halbschalen  aus  Holz,  die  mit  Filz  bekleidet  sind,  zu  versehen, 
auf  denen  das  Ghed  sehr  bequem  ruht.  Das  ist  von  der  grössten  Be- 
deutung, da  eine  einstündige  unbequeme  Lagerung  eines  versteiften 
und  schmerzhaften  Ghedes  ganz  unerträghch  und  schädlich  ist.  Ich 
glaube,  dass  sich  in  dieser  Beziehung  meine  Apparate  vor  allen 
anderen  auszeichnen.  Man  kann  auch,  um  Watte  zu  sparen,  eine 
länger  gespaltene  Filzmanschette  an  den  Ausschnitten  anbringen, 
welche  auf  das  Ghed  festgebunden  wird.  Fig.  1  zeigt  einen  solchen 
Kasten  für  das  Kniegelenk  seithch  aufgeschnitten,  um  einen  Ein- 
blick in  das  Innere  zu  gestatten,  Fig.  2  einen  für  das  Fussgelenk. 
Für  bemittelte  Kranke  lasse  ich  jeden  einzelnen  Kasten  vom 
Tischler  anmessen,  damit  die  Ausschnitte  möglichst  genau  auf  das 
Ghed  passen.  Der  Abschluss  muss  dicht  sein,  weil  sonst  die  heisse 
Luft  aus  dem  Spalt  zwischen  Glied  und  Kasten  mit  grosser 
Schnelhgkeit  durchzieht  und  leicht  Verbrennungen  verursacht. 
Für  Krankenhäuser  muss  man  Ausschnitte  von  grösserer  Weite 
herstellen  lassen,  die  dann  nach  Bedarf  mit  Watte  abgedichtet 
werden. 

Um  die  Kästen  für  jedes  Glied  brauchbar  zu  machen,  kann 
man  auch  die  Abdichtung  durch  eine  zusammenschnürbare  Stoff- 
manschette bewerkstelhgen,  wie  sie  der  T aller man'sche  Apparat 
hat.  Ich  habe  dazu  nach  Krause's  Vorgang  Mosettigbattist  ver- 
wandt, welcher  sich,  abgesehen  von  seiner  geringen  Haltbarkeit,  gut 
bewährt  hat.  Will  man  wirklich  dauerhafte  Apparate  haben,  so 
bleibe  man  heber  bei  den  oben  beschriebenen. 

Zweckmässig  ist  die  Stoffmanschette  nur  bei  dem  Apparat  für 
die  Schulter,  welcher  in  Fig.  3  abgebildet  ist.  Er  wird  am  besten 
an  die  Wand  gehangen  und  trägt  an  seinem  Boden  ein  Loch,  wel- 
ches zum  Durchstecken  des  kranken  Armes  dient ;  über  die  Schulter 
wird  die  Stoffmanschette  gezogen,  die  an  einem  gut  gepolsterten 
biegsamen  Metallring  befestigt  ist.  Dieser  Ring  -v^ird  nach  Hinein- 
führen der  Schulter  dem  Körper  überaU  gut  angepasst  und  mit 
zwei    Bindezügehi,    die    in    der    gesunden    Achselhöhle    geknüpft 


Apparate  für  die  Heissluftbehandlung. 


35 


Fig.   1. 

werden,  oder  einem  festzuschnallenden  Gurte  daran  befestigt.  Aberun- 
entbehrlich  ist  die  Stoff manschette  auch  bei  diesem  Apparat  nicht ; 
man  kann  ihn  ebenfalls 
in  Form  eines  einfachen 
Kastens  herstellen,  der 
freiHch  einen  genau  pas- 
senden Ausschnitt  für  die 

Schultergelenksgegend 
tragen  muss. 

Es  ist  die  Frage,  ob 
man  den  im  Kasten  ein- 
geschlossenen Körperteil 
mit  Watte  oder  besser 
mit  leichten  Zeugstoffen 
einhüllen  soll  oder  nicht. 
Ich  sehe  von  der  Ein- 
hüllung ab,  andere  ma- 
chen sie  grundsätzlich. 
Es  ist  nicht  zu  leugnen, 
dass  sie  die  Gefahr  der 
Hautverbrennung  herab- 
setzt und  vielleicht  eine 
gleichmässigere  Vertei- 
lung der  Wärme  auf 
alle  GHedab  schnitte  ver- 
bürgt.      Aber    der    ein- 

3* 


Fig.  2. 


36 


Allgemeiner  Teil. 


hüllende  Stoff  tränkt  sich  andererseits  rasch  mit  Schweiss,  so  dass 
man   auf  diese   Weise   eine   feuchtere   Hitze   auf  das   Ghed   ein- 


Fis.  3. 


Fig.  4. 


wirken  lässt  und  der  erwünschten  starken  arteriellen  Hyperämie 
dadurch  Abbruch  getan  wird. 


Apparate  für   die  Heissluftbehandlung.  37 

-  Fig.  4  zeigt  den  Apparat  für  die  Hüfte  und  das  Becken.  Er 
ist  unten  offen,  hat  Ausschnitte  für  Rumpf  und  Beine  und  wird 
über  den  liegenden  Kranken  gestülpt.  Dieser  liegt  dabei  am 
besten  auf  dem  Bauche.  Er  wird  durch  untergeschobene  Kissen 
und  Rollen  so  unterstützt,  dass  er  sehr  bequem  liegt.  Ich  empfehle 
diesen  Apparat  auch  für  die  einseitige  Erkrankung  der  Hüfte. 
Ich  habe  ursprünglich  ganz  ähnliche  Apparate  für  eine  Hüfte, 
wie  sie  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  verfertigt  worden 
sind,  gebraucht,  wende  sie  aber  nur  noch  ausnahmsweise  an,  da 
der  abgebildete  Apparat  viel  kräftiger  und  gleichmässiger  die  Hitze 
einwirken  lässt.  Einer  näheren  Beschreibung  bedarf  der  Apparat 
wohl  nicht,  ich  verweise  auf  die  Abbildung.  Natürlich  kann  jeder 
Tischler  auch  Apparate  für  jeden  anderen  Körperteil  nach  Mass 
herstellen.  So  habe  ich  mehrmals  Apparate  für  die  ganze  rheu- 
matisch erkrankte  Wirbelsäule  herstellen  lassen 

Einen  viel  bequemeren  Heissluftapparat  für  das  Becken  (Hüft- 
gelenkserkrankung, Ischias,  Lumbago)  und  den  Rücken  als  den 
in  Fig.  4  abgebildeten  hat  mir  neulich  C.  Eschbaum  ange- 
fertigt. Der  Apparat  hat  die  Form  eines  Stuhles,  seine  Rücken- 
lehne wird  vom  Heizkasten  gebildet,  dem  man  die  verschie- 
denste Form  für  den  jeweilig  zu  behandelnden  Körperteil  geben 
kann.  Der  Kasten  hat  einen  passenden  Ausschnitt  mit  Filz- 
polsterung  zur  bequemen  Aufnahme  des  Rückens.  Am  oberen 
Ende  ist  eine  stellbare  Kopfstütze  angebracht.  Eine  Charnierver- 
bindung  des  Stuhlsitzes  gestattet  jede  beliebige  Lage  des  Rückens 
bis  zur  Horizontalen.  Eine  Zahnstange  steht  Kasten  und  Sitz 
gegeneinander  fest.  Ein  breiter  gepolsterter  Quergurt  verhindert, 
dass  der  Kranke  zu  tief  in  den  Kasten  hineinrutscht.  Der  Heiz- 
körper ist  in  einem  Gehänge  mit  Exzenter  beweglich  eingeschaltet, 
so  dass  er  jeder  veränderten  Lage  des  Kastens  folgt.  Dieser 
Apparat  hat  vor  meinen  alten  Becken-  und  Rückenkästen  den 
wesenthchen  Vorteil,  dass  auch  fettleibige  und  unbeholfene  Kranke 
sehr  bequem  darin  sitzen  und  dass  er  leichter  anzuheizen  ist. 

Auch  für  mehrere  Personen  kann  man  ein  und  denselben 
Kasten  benutzen,  wenn  man  ihn  mit  verschiedenen  verschliessbaren 
Ausschnitten  versieht.  Solche  Apparate  haben  wir  zeitweihg  in  der 
Polikhnik  im  Gebrauch  gehabt,  um  3 — 4  Leute  zu  gleicher  Zeit  in 
einem  Kasten  behandeln  zu  können. 

Alle  Kästen  sind  mit  einem  kurzen  eisernen  Rohr  versehen, 
welches  die  erwärmte  Luft  des  Schornsteins  eintreten  lässt.  Dasselbe 


38  Allgemeiner  Teil. 

muss  an  einer  tiefen  Stelle  des  Kastens  eintreten,  weil  sonst  der 
untere  Luftraum  nicht  genügend  erwärmt  wird.  Selbstverständlich 
wird  man  die  Rohre  aller  Kästen  von  gleichem  Kaliber  verfertigen, 
damit  man  ein  und  denselben  Schornstein  für  alle  verwenden  kann. 
Durch  mehr  oder  weniger  weite  Einführung  des  Schornsteins  in  das 
eiserne  Rohr  des  Kastens  lässt  sich  die  Hitze  regulieren.  Auch 
wenn  man  den  Schornstein  ein  beträchtliches  Stück  vom  Kasten- 
rohr abzieht,  geht  die  heisse  Luft  wegen  des  Zuges  im  Kasten 
noch  durch  diesen  hindurch.  Damit  sie  nicht  unvermittelt  den 
kranken  Körperteil  trifft  und  denselben  versengt,  ist  am  Eintritt 
des  Eisenrohrs  ein  ebenfalls  mit  Wasserglas  getränktes  Schutzbrett, 
um  welches  sie  erst  herumstreichen  muss,  im  Innern  des  Kastens 
angebracht  (siehe  Fig.   1). 

Eine  Zeitlang  haben  wir  die  Luft  auch  von  unten  in  den 
Apparat  eintreten  lassen.  In  diesem  Fall  wird  ein  sehr  breites 
gewölbtes  Schutzbrett,  dessen  Enden  von  den  Seitenwänden  des 
Kastens  nur  wenige  Zentimeter  entfernt  sind,  über  der  Öffnung 
des  weit  in  den  Apparat  eingeführten  Heizrohres,  welche  die  Form 
eines  seithchen  Schlitzes  hat,  angebracht.  In  letzter  Zeit  aber 
bin  ich  wieder  zur  alten  Anordnung  zurückgekehrt. 

Zur  Bedienung  der  Kästen  gehört  eine  zweite  Person.  Ich 
habe  früher  an  den  Apparaten  Reguliervorrichtungen  für  die  Hitze 
gehabt,  die  der  Kranke  selbst  bediente,  habe  dieselben  aber  als 
unzuverlässig  und  komphziert  aufgegeben. 

Meine  Heissluftkästen  haben  von  verschiedenen  Seiten  Nach- 
ahmungen und  Modifikationen,  aber  ich  glaube  nicht  immer  Ver- 
besserungen erfahren.  Am  bekanntesten  sind  die  K r au se' sehen i) 
Apparate  geworden.  Sie  bestehen  aus  einem  Drahtnetz,  welches 
mit  Asbestfilz  bekleidet  ist.  Von  der  Decke  herab  hängt  ein 
Gurt,  in  welchem  das  Ghed  gelagert  wird.  Zum  Abdichten  des 
Asbestzylinders  dient  eine  Stoffmanschette  aus  Mosettigbattist,  die 
auf  dem  eingeführten  Glied  festgebunden  wird.  Sonst  unter- 
scheiden sich  die  Apparate  in  nichts  Wesen thchem  von  meinen. 
Da  die  Krause'schen  Apparate  gefälliger  und  leichter  sind  als 
die  meinigen,  habe  ich  sie  eine  Zeitlang  in  ausgedehnter  Weise 
angewandt,  bin  aber  vollständig  davon  zurückgekommen,  weil  sie 

1)  Krause,  Die  örtliche  Anwendting  überhitzter  Lioft.  Münchner  med. 
Wochenschrift  1898.  Nr.  18  vmd  Erfahrungen  über  die  therapeutische  Verwen- 
d\ing  überhitzter  Luft.  Verh.  der  deutschen  Ges.  für  Chirurgie.  18.  Kongress. 
IL  Bd.    S.  225.     1899. 


Apparate  für  die  Heissluftbehandlung.  39 

nicht  nur  weniger  haltbar,  sondern  auch  weniger  brauchbar  als  die 
meinigen  sind.  Sie  leiden  vor  allen  Dingen  an  dem  Fehler,  dass 
der  Luftraum  zu  klein  ist,  und  dadurch  die  Hitze  das  nahe  an  der 
Eingangsöffnung  des  Heizrohres  gelegene  Glied  zu  unvermittelt 
trifft;  so  wird  ein  Teil  des  Ghedes  einer  übermässigen,  andere 
Teile  einer  viel  zu  geringen  Hitze  ausgesetzt.  Dies  macht  sich 
auch  besonders  in  der  häufig  ganz  einseitigen  Rötung  des  Ghedes 
bemerkbar.  Die  sehr  ungleiche  Temperatur  im  Innern  der  Krause'- 
schen  Apparate  wurde  auch,  wie  schon  erwähnt,  von  Schreiber 
durch  Messungen  festgestellt.  Dieser  Fehler  hesse  sich  wahr- 
scheinMch  durch  Vergrösserung  der  Asbestapparate  leicht  abstellen. 
Indessen  scheint  mir  die  Leichtigkeit  der  Verarbeitung  von  Holz, 
und  damit  die  Möglichkeit,  alle  Formen  der  Apparate  für  jeden 
Teil  des  Körpers  leicht  und  bilhg  herzustellen,  ein  nicht  zu  unter- 
schätzender Vorteil  zu  sein.  Um  unnötigen  Wärmeverlust  zu  ver- 
meiden, müssen  die  Wände  der  Holzkästen  recht  dick  sein,  so  wie 
das  an  dem  aufgeklappten  Apparate  in  Fig.  2  sichtbar  ist. 

Der  Schornstein  der  Kraus e'schen  Apparate  ist  unpraktisch, 
weil  er  drei  verstellbare  Füsse  hat. 

Wilson!)  beschreibt  meinen  und  den  Kr  ans  e'schen  Apparaten 
ganz  ähnliche  ,,Öfen".  Als  Neuerung  an  ihnen  ist  zu  erwähnen, 
dass  er  eine  Salzmasse  innen  in  dem  ,,Ofen"  anbringt,  welche  den 
abgesonderten  Schweiss  begierig  aufnimmt  und  so  den  Innenraum 
trocken  erhält. 

Die  gleiche  Vorrichtung  ist  in  den  Apparaten  Reitler's^)  ge- 
troffen. Derselbe  verwendet  eine  flache  Tasse  mit  pulverisiertem 
wasserfreien  Chlorcalcium  zum  Absorbieren  des  verdunsteten 
Schweisses  in  seinen  Apparaten,  welche  sich  sonst  von  den  Kr  aus  e'- 
schen kaum  unterscheiden. 

Roth 3)  hat  einen  Heissluftkasten  beschrieben,  welcher  mehrere 
Nachteile  der  angeführten  Apparate  vermeiden  soll.  Roth  schiebt 
in  einen  Krause' sehen  Apparat  noch  einen  Asbestzylinder  ein, 
so  dass  ein  Heizkanal  entsteht,  in  welchen  die  erwärmte  Luft 
eingeführt  wird.  Das  kranke  Glied  hegt  in  dem  inneren  Asbest- 
zylinder und  wird  von  der  zugeführten  heissen  Luft,  welche  nur 


1)  Wilson,  Hot  air  in  joint-diseases.     Annais  of  surgery  1899.      S.  155. 

2)  R eitler,    Die    Trocken-Heisshiftbehandlung.       Baden    bei    Wien  1900. 
Verlag  von  A.  Dittrich. 

3)  Roth,  Eine  neue  Heissluftapparat-Konstruktion.     Zeitschrift  für  diäte- 
tische und  physikalische  Therapie.     6.  Band.     3.  Heft.  1902. 


^Q  Allgemeiner  Teil. 

durch  den  Kanal  streicht,  überhaupt  nicht  getroffen.  Dieser  er- 
wärmt vielmehr  nur  die  Wände  des  Asbestzyhnders,  welcher  die 
Wärme  wieder  dem  Innenluf träume,  der  das  Glied  enthält,  mitteilt. 
Durch  ein  Ventil  lässt  sich  der  Luftstrom  im  Heizkanal  und  damit 
die  Wärme  der  Luft  im  Innern  Zylinder  regulieren.  Letzterer 
besitzt  eine  mit  einem  Ventil  versehene  Röhre,  welche  den  Heiz- 
kanal  durchsetzt  und  dem  verdunstenden  Schweisse  Abzug  nach 
aussen  gewährt,  und  enthält  ein  ebenfalls  durch  den  Heizkanal 
durchgeleitetes  Thermometer,  welches  die  Temperatur  des  Innen- 
raumes angibt. 

Roth  empfiehlt  besonders  einen  ,,Polytherm"  genannten 
Apparat  für  die  verschiedensten  Gliedabschnitte  geeignet,  welcher 
dem  früher  von  miri)  beschriebenen,  von  Klapp  hergestellten 
Universalkasten  sehr  ähnlich  ist. 

Der  Erfinder  schreibt  seinem  Apparate  vor  allem  folgende 
Vorzüge  zu:  die  Verbrennungsgefahr  ist  gänzhch  vermieden;  die 
den  Innenraum  überall  gleichmässig  umkreisende  Luft  bringt  eine 
gleichmässige  Erwärmung  desselben  und  des  eingelagerten  Güedes 
hervor ;  die  Hitze  steigt  langsam  im  Innenraum,  etwa  5  °  C  in  der 
Minute;  das  langsame  Steigen  der  Temperatur  und  das  Ventil  des 
Innenraumes  soll  es  ermöglichen,  dass  der  abgesonderte  Schweiss 
nicht  lästig  empfunden  wird;  die  Temperaturanzeigen  entsprechen 
den  wirklichen  Verhältnissen;  die  WärmereguUerung  ist  vöUig  zu- 
verlässig. 

In  neuerer  Zeit  sind  eine  ganze  Reihe  neuer  Heissluftapparate 
hergestellt  worden,  die  prinzipiell  nichts  Neues  bieten  und  im  grossen 
und  ganzen  nichts  als  Veränderungen  meiner  Modelle  darstellen. 
Ein  solcher  von  Frau  Kiefer -Kornfeld  in  den  Handel  gebrachter 
amerikanischer  Apparat  von  Betz  hat,  wie  es  scheint,  grössere 
Verbreitung  gefunden  und  ist  von  mehreren  Seiten  empfohlen 
worden.  Ich  habe  ihn  längere  Zeit  gebraucht  und  genau  geprüft, 
kann  ihm  aber  keine  Vorzüge  zuerkennen.  Insbesondere  war 
die  Temperaturverteilung  in  seinem  Innern  sehr  ungleichmässig. 
Der  Apparat  soll  für  aUe  möglichen  Körperteile  brauchbar  sein. 
Meines  Erachtens  können  derartige  Universalapparate  niemals 
überall  ihren  Zweck  erfüllen.  Mein  Assistent  Prof.  Klapp  hat  schon 
früher  solche  konstruiert,  aber  ich  bin  wieder  davon  zurückgekom- 
men.   Sicherhch  sind,  wenigstens  für  grössere  Betriebe,  besondere 

1)  Bier,  Über  praktische  Anwendung  künstlich  erzeugter  Hyperämie. 
Therapie  der  Gegenwart.    Februar  1902. 


Apparate  für  die  Heissluftbehandlung.  4.j[ 

den  einzelnen  Körperteilen  angepasste  Apparate  viel  zweckmässiger, 
weil  sie  die  Beschränkung  der  Behandlung  auf  umschriebene  Kör- 
perteile und  richtiges  Individualisieren  gestatten. 

Schreibe r's  schon  mehrfach  erwähnte  Beobachtung  von  der 
ungleichmässigen  Verteilung  der  Wärme  in  den  gebräuchUchsten 
Heissluftapparaten  hat  zu  vielfachen  Versuchen  geführt,  diesem 
Mangel  abzuhelfen. 

Schreiber!)  selbst  sucht  eine  gleichmässige  Temperatur  da- 
durch zu  erreichen,  dass  er  vermittelst  einer  einfachen  Vorrichtung 
die  Luft  aus  einer  untern  Öffnung  des  Schornsteines  ausströmen 
lässt.  Sie  bekommt  dadurch  zunächst  die  Richtung  nach  unten, 
um  später  im  Bogen  wieder  nach  oben  zu  steigen.  In  der  Tat 
dürfte  dadurch  eine  gleichmässige  Verteilung  der  Wärme  gewähr- 
leistet sein.  Die  Heissluftkästen  ersetzt  Schreiber  durch  einen 
einfachen  Bogen  aus  starker  Pappe  und  deckt  die  freien  Enden  mit 
Wolldecken  ab,  aus  deren  beliebig  anzubringenden  Spalten  die  heisse 
Luft  entweicht.  Er  bekommt  so  einen  ganz  ähnlichen  Apparat, 
wie  ich  ihn  schon  zeitweilig  benutzt 2),  aber  wieder  aufgegeben 
habe.  Ich  stülpte  eine  Reifenbahre  über  den  zu  behandelnden 
Körperabschnitt  und  deckte  alles  mit  Wolldecken  zu. 

In  einfacher  und  praktischer  Weise  leitet  Schreiber  die  heisse 
Luft  aus  dem  Schornstein  gegen  bestimmte  Rumpf  teile,  indem  er 
sie  mit  einem  schleppenartigen  Mantel  umgibt,  unter  diesem  Dach, 
das  über  dem  zu  behandelnden  Körperteil  ausgespannt  ist,  die 
heisse  Luft  fängt  und  so  damit  an  die  Stellen  lenkt,  wo  er  sie 
hinhaben  will. 

Marcuse^)  rühmt  dem  Hilzinger'schen  verstellbaren  Heiss- 
luftapparat,  der  Luftbäder  sowohl  für  den  ganzen  Körper  als  für 
einzelne  Teile  abgibt,  nach,  dass  er  eine  sehr  gleichmässige  Tem- 
peratur liefere. 

Ich  veranlasste  unter  dem  Eindruck  der  Untersuchungen 
Schreiber's  C.  Eschbaum,  meine  Heissluftkästen  im  Sinne  einer 
gleichmässigen  Wärme  Verteilung  umzuändern.   Eschbaum  führte 


1)  Rautenberg,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Heissluftbehandlung.  Zeit- 
schrift für  diätetische  land   physikalische  Therapie.      VI.  Band.      9.  u.   10.  Heft. 

2)  Bier,  Die  Behandlung  des  chronischen  Gelenkrhetmiatismus  etc.  Münch. 
med.  W.  1898.    Nr.  31. 

3)  Marcuse,  Beiträge  zur  Heisslufttherapie.  Zeitschrift  für  diät,  und 
phys.  Therapie.  VII.  Band.  S.  323  vmd  Heissluftapparate  iind  Heissluft- 
behandlung.    Urban  und  Schwarzenberg.    Berlin  u.  Wien  1905. 


4-2  Allgemeiner  Teil. 

mit  vieler  Mühe  die  heisse  Luft  so  verschlungene  Wege,  dass  an 
verschiedenen  Teilen  des  Kastens,  unter  anderem  auch  am  Boden 
eingelegte  Maximalthermometer  annähernd  die  gleiche  Temperatur 
zeigten,  wie  das  am  Deckel  angebrachte.  Der  höchste  Unterschied 
betrug  nur  wenige  Grad,  aber  wir  machten  mit  diesen  Apparaten 
eine  sonderbare  Erfahrung.  Mehrere  inteUigente  Privatkranke  er- 
klärten ganz  übereinstimmend,  dass  sie  bei  weitem  nicht  so  gut 
wirkten,  als  die  alten.  Ich  glaube,  dass  jenen  der  kräftige  Zug  und 
damit  der  schnelle  Luftstrom  fehlt,  der  diese  auszeichnet,  und  dass 
also  zwischen  diesen  beiden  Formen  ein  ähnhcher  Unterschied 
besteht,  wie,  um  einen  Vergleich  aus  der  Wasseranwendung  zu 
machen,  zwischen  einem  Bad  in  stehendem  Wasser  und  in  einem 
schnell  strömenden  Flusse.  Später  hat  Eschbaum  in  diesen 
Apparaten  mit  gleichmässiger  Temperatur  durch  Schornsteine  einen 
schnellen  Luftzug  herbeigeführt.  Aber  auch  so  haben  sie  sich 
nicht  bewährt.  Mir  scheint  auch  die  Herstellung  von  Appa- 
raten mit  gleichmässiger  Temperatur  gar  nicht  so  wichtig  zu 
sein.  Will  man  z.  B.  auf  ein  Fussgelenk  möglichst  stark  ein- 
wirken, so  soll  man  stets  die  Zehen  und  den  Vorderfuss  mit 
Watte  umhüllen  und  diese  mit  einer  Binde,  die  in  Wasserglas 
getaucht  ist  (Schutz  gegen  Feuersgefahr!),  einwickeln.  Das 
Wasserglas  trocknet  und  man  gewinnt  so  einen  festen  Halbschuh, 
welchen  man  den  Kranken  vor  jeder  Sitzung  überstülpt.  Statt 
dessen  kann  man  auch  einen  Überzug  aus  dickem  weichen  Filz  her- 
stellen. Genau  so  verfährt  man  mit  den  dünnen  und  deshalb  gegen 
Hitze  sehr  empfindlichen  Fingern,  wenn  sie  nicht  selbst  miterkrankt 
sind.  Dann  kann  man  möglichst  hohe  Hitzegrade  auf  das  Fuss- 
gelenk einwirken  lassen,  ohne  befürchten  zu  müssen,  dass  die  in 
dem  oberen,  heisseren  Teile  des  Kastens  steckenden  Zehen  ver- 
brennen. Dem  Kranken  selbst  schärft  man  ein,  dass  die  Temperatur 
möghchst  hoch,  aber  niemals  unangenehm  sein  darf,  und  richtet 
sich  nach  seinen  Angaben. 

Sehr  viele  der  im  Handel  befindlichen  Heissluftapparate  haben 
den  grossen  Nachteil,  dass  ihr  Luftraum  zu  klein  ist  und  die 
Hitze  einseitig  und  zu  unvermittelt  das  GUed  trifft.  Ich  beob- 
achtete dies  bei  einem  Kollegen,  welcher  sehr  ungehalten  war  über 
die  massigen  Erfolge,  welche  er  mit  der  Heissluftbehandlung  er- 
zielt hatte.  Als  ich  seine  Apparate  und  ein  darin  behandeltes, 
nur  ganz  einseitig  gerötetes  Ghed  sah,  verstand  ich  die  Miss- 
erfolge. 


Apparate  für  die  Heissluftbehandlung.  4;J 

Einen  Heissluftapparat  zur  Behandlung  fixierter  Skoliosen,  der 
in  der  hiesigen  Klinik  gebraucht  wird,  konstruierte  Klapp.  Der 
Apparat  besteht  aus  fünf  kreisförmig  angeordneten  Holzkästen, 
deren  Heizung  von  je  einer  Bunsenfiamme  besorgt  wird.  Jeder 
dieser  Kästen  besitzt  an  seiner  Aussenseite  eine  Öffnung  für  den 
Rücken  eines  skoliotischen  Menschen.  Die  Öffnungen  sind  ver- 
schieden gross,  um  den  Grössenverhältnissen  der  einzelnen  Kranken 
Rechnung  zu  tragen.  Die  Ränder  der  Öffnungen  haben  dicke 
bewegliche  Polster  von  einem  filzartigen  Tuch,  die  die  genaue 
Abdichtung  besorgen.  Jeder  Kasten  kann  für  sich  geheizt  werden. 
Vor  jeder  Öffnung  steht  ein  gepolstertes  Stühlchen,  auf  dem  der 
am  Oberkörper  entkleidete  Kranke  Platz  nimmt.  Er  schmiegt 
dann  den  blossen  Rücken  in  die  gepolsterte  Öffnung  und  bietet 
ihn  der  Einwirkung  der  heissen  Luft  dar. 

Die  Wirkung  des  Kastens  wird  in  einem  späteren  Kapitel 
über  die  Behandlung  der  Gelenksteifigkeiten  durch  Hyperämie 
beschrieben. 

Am  meisten  Aufsehen  von  allen  Heissluftapparaten  machte 
der  Taller  man' sehe,  und  die  Erfolge,  welche  mit  demselben  er- 
zielt wurden,  sind  es  zweifellos  gewesen,  welche  erst  die  Auf- 
merksamkeit weiterer  Kreise  auf  die  in  Rede  stehende  Behandlung 
gelenkt  haben i).  So  wurden  denn  auch  meine  Apparate  und  ihre 
Nachahmungen  zuerst  fast  durchweg,  wenn  sie  überhaupt  in  der 
Literatur  erwähnt  wurden,  als  Nachbildungen  oder  als  Verein- 
fachungen des  Taller  man' sehen  bezeichnet;  dies  ist  erst  langsam 
anders  geworden,  seitdem  ich  mich  zu  verschiedenen  Malen  dagegen 
gewehrt  habe.  In  Wirklichkeit  sind  meine  Heissluftkästen  viel 
älter.  Ich  benutze  sie  seit  dem  Jahre  1891  und  habe  sie  zum  ersten- 
mal in  der  am  9.  Januar  1893  erschienenen  Festschrift  für  Fr. 
V.  Esmarch^)  beschrieben,  also  zu  einer  Zeit,  wo  ein  Taller- 
man'scher  Apparat  überhaupt  noch  nicht  existierte,  und  bin  später 
noch  mehrmals  darauf  zurückgekommen  3). 


1)  Die  ersten  Erfolge  wurden  mitgeteilt  von  Sarjeant,  The  Lancet  1895. 
S.  112  und  Knoxley  Sibley,  The  Lancet  1896.  S.  593.  Vgl.  ausserdem  die 
Verhandlungen  der  deutschen  Kongresse  für  innere  Medizin  vom  Jahre  1897 
u.   1898. 

2)  V.  Esmarchs  Festschrift  S.  63.     Kiel  und   Leipzig  1893. 

3)  Bier,  Über  verschiedene  Methoden,  künstliche  Hyperämie  zu  Heil- 
zwecken hervorzurufen.  Münchn.  med.  W.  1899.  Nr.  48  und  49  und  „Therapie 
der  Gegenwart".    Februar  1902. 


4-4  Allgemeiner  Teil. 

Der  Taller man'sche  Apparat  besteht  aus  zwei  kupfernen  Be- 
hältern, von  denen  der  eine  für  die  Ghedmassen,  der  andere  für 
den  Rumpf  und  das  Becken  bestimmt  ist.  Die  Behälter  haben 
etwa  die  Form  von  Dampfkesseln,  welche  auf  einem  fahrbaren 
Eisengestelle  ruhen.  Der  Behälter  für  die  Ghedmassen  ist  an  dem 
einen  Ende  geschlossen,  während  sich  an  dem  andern  eine  wasser- 
und  luftdichte  Stoffvorrichtung  befindet,  welche  eine  Öffnung  in 
der  Mitte  besitzt  und  durch  eine  Schnürvorrichtung  auf  das  ein- 
geführte Ghed  festgebunden  werden  kann.  Damit  das  Glied  sich 
nicht  an  den  gut  leitenden  Metallwänden  des  Apparates  ver- 
brennt, liegt  auf  dem  Boden  desselben  eine  viereckige  Asbest- 
platte und  die  Seitenwände  sind  mit  Asbestfilz  überzogen. 
Lose  Asbestsäckchen  und  Kissen  kann  man  nach  Bedarf  ein- 
schieben, um  das  Glied  vor  der  Berührung  mit  den  Metallplatten 
zu  schützen. 

Eine  Reihe  von  Gasflammen,  welche  unter  dem  geschlossenen 
Kessel  angebracht  sind,  besorgen  die  Erhitzung  der  Luft.  Diese 
Heizvorrichtung  unterscheidet  sich  also  grundsätzlich  von  der  an 
meinen  und  ähnlichen  Apparaten  angebrachten  dadurch,  dass  die 
Verbrennungsgase  nicht  in  den  Apparat  strömen.  Um  einen  Luft- 
wechsel im  Apparat  zu  erhalten,  welcher  die  Verdunstung  des 
massenhaft  abgesonderten  Schweisses  besorgt,  sind  mehrere 
Öffnungen  angebracht,  eine  untere,  welche  die  Luft  eintreten,  und 
mehrere  obere,  welche  sie  ausströmen  lassen.  Die  letzteren  sind 
nach  Bedarf  durch  Hähne  zu  öffnen  oder  zu  schliessen;  dadurch 
wird  die  Temperatur  im  Innern  des  Apparates  reguhert. 

Tallerman  hat  besonders  Wert  darauf  gelegt,  dass  trockene 
Luft  in  seinem  Apparate  zur  Anwendung  kommt,  weil  aus  leicht 
begreifhchen  Gründen  feuchte  Luft  ähnhch  wie  Dampf  wirkt  und 
lange  nicht  in  so  hohem  Grade  vertragen  wird.  Er  hat  deshalb  die 
beschriebene  Ventilvorrichtung  an  seinem  Apparate  angebracht, 
die  einen  fortwährenden  Luftstrom  unterhält.  Das  gleiche  ist 
aber  auch  bei  meinen  und  ähnlichen  Apparaten  der  Fall,  wo  ein 
lebhafter  Luftstrom  fortwährend  durchzieht,  die  Verdunstung  unter- 
hält und  das  verdunstete  Wasser  mitnimmt.  Freiüch  ganz  trockene 
Luft  wird  man  natürlich  niemals  bekommen,  und  gar  nicht  selten 
sieht  man  den  Boden  eines  Heissluftapparates  gänzHch  feucht  von 
herabgetropftem  Schweiss.  Meine  und  die  ihnen  nachgebildeten 
Apparate,  bei  denen  die  Verbrennungsgase  direkt  die  behandelten 
Körperteile  treffen,  haben  ausserdem  den  Nachteil,  dass  das  bei 


Apparate  für  die  Heisslizftbehandlvmg.  45 

der  Verbrennung  gebildete  Wasser  mit  in  den  Apparat  einströmt, 
was  die  Luft  feucht  macht.  In  einer  lesenswerten  Abhandlung  hat 
Lambergeri)  ausgerechnet ,  dass  die  Menge  des  bei  der  Verbrennung 
erzeugten  Wassers  sehr  erheblich  ist.  Nach  ihm  hefern  200  g  Spiritus 
mehr  als  211  g  Wasser,  die  in  Gasform  in  den  Apparat  einströmen. 
Es  erscheint  mir  aber  zweifelhaft,  ob  eine  sehr  hochgradige  Trocken- 
heit der  Luft  überhaupt  nötig  ist  und  nicht  die  Reaktion,  welche 
man  in  den  Kästen  ohne  besondere  künstliche  Einrichtung  zur 
Trockenhaltung  der  Luft  erzielt,  vollständig  genügt. 

Was  meinen  Kästen  wohl  stets  ihren  Platz  in  der  Behand- 
lung mit  heisser  Luft  sichern  wird,  ist  ihre  grosse  Einfachheit. 
Jeder  Tischler  und  Schlosser  kann  dieselben  nach  einem 
Modell  leicht  herstellen.  Es  ist  dies  bei  Leiden,  welche  sehr 
chronisch  sind  und  deshalb  es  nötig  machen,  dass  der  Kranke 
selbst  einen  Apparat  in  die  Hand  bekommt,  nicht  zu  unterschätzen. 
Es  kommt  hinzu,  dass  Holz  so  ausserordentlich  leicht  zu  bearbeiten 
ist,  dass  man  den  Apparaten  jede  Form  geben  und  alle  Bequem- 
lichkeiten für  das  kranke  Glied  mit  Leichtigkeit  daran  anbringen 
kann,  was  für  schmerzhafte  und  verkrümmte  Gheder  sehr  nötig 
ist.  Denn  eine  durchaus  bequeme  Lagerung  ist  die  Vorbedingung 
für  eine  erfolgreiche  Behandlung  solcher  Gheder.  Auch  soU  man 
nie  die  Sitzung  beginnen,  ehe  nicht  der  Kranke  überhaupt  durchaus 
bequem  gesetzt  oder  gelagert  ist.  Genügen  die  geschilderten  Holz- 
schalen, auf  denen  das  Glied  gelagert  wird,  nicht,  so  kann  man 
mit  Leichtigkeit  durch  Bindenzügel,  die  durch  Bohrlöcher  am  Deckel 
des  Kastens  gezogen  werden,  das  Glied  noch  weiter  unterstützen. 

Es  ist  mir  deshalb  unwahrscheinlich,  dass  meine  einfachen 
Kästen  durch  den  Taller man'schen  Apparat  in  ihrer  Wirksam- 
keit übertroffen  oder  durch  irgend  eine  der  obengenannten  Modi- 
fikationen wesenthch  verbessert  sind. 

Scheinbar  sehr  bequem  und  zweckmässig  sind  die  von  mehreren 
Seiten  hergestellten  elektrischen  Heissluftapparate.  Freihch  haben 
sie  den  grossen  Nachteil,  dass  sie  sehr  teuer,  schwer  beweghch 
und  nicht  überall  zu  brauchen  sind,  wodurch  ihrer  Verwendung 
stets  enge  Grenzen  gezogen  sind. 

Lindemann^)  erfand  einen  elektrischen  Apparat,  welchen  er 

1)  Lamberger,  Über  lokale  Heissluftbehandlung,  Wiener  med.  Presse  1905. 
Nr.  1  u.  2. 

2)  Vorgeführt  aui  der  70.  Versammliing  deutscher  Naturforscher  u.  Ärzte 
in  Düsseldorf  1898  und  Münchner  med.  Wochenschr.  1898.    Nr.  46. 


46  Allgemeiner  Teil. 

,,Elektrotherm"  nannte.  Er  besteht  aus  einem  massiven  Kasten, 
an  dessen  Grunde  sich  ein  elektrischer  Erhitzer  befindet.  Durch 
einen  Rheostaten  lässt  sich  die  Temperatur  im  Innern  des  Kastens 
auf  das  Genaueste  reguheren.  Über  dem  Erhitzer  Hegt  das  zu 
behandekide  Ghed  in  einer  gepolsterten  Mulde.  Durch  ein  Fenster 
im  Deckel  des  Kastens,  welcher  sich  innen  elektrisch  erleuchten 
lässt,  kann  man  dasselbe  während  der  Behandlung  beobachten. 

Der  Apparat  hat  den  Nachteil,  dass  er  nur  für  die  Glied- 
massen und  auch  hier  nicht  einmal  für  Hüfte  und  Schulter  zu  ge- 
brauchen ist.  Für  die  letztere  Hesse  er  sich  ohne  Zweifel  leicht 
durch  die  bei  meinen  Schulterkästen  vorgesehene  Einrichtung  be- 
reichern, für  die  Hüfte  dürfte  dies  schon  schwieriger  sein. 

Kellogi)  hat  nach  Angabe  mehrerer  Schriftsteller  sein  be- 
kanntes elektrisches  Lichtbad  für  örtliche  Behandlung  einzelner 
Körperteile  so  hergerichtet,  dass  es  als  Heissluftapparat  dienen 
kann.  Diese  und  ähnliche  Vorrichtungen  haben  eine  grosse  Ver- 
breitung gefunden.  Ich  selbst  habe  nur  wenig  Erfahrung  darüber. 
Aber  intelHgente  Privatkranke,  die  anderweitig  mit  derartigen 
Apparaten  behandelt  waren,  haben  mir  mehrfach  sehr  bestimmt 
erklärt,  dass  sie  weit  weniger  wirksam  seien  als  meine  einfachen 
Kästen.  Das  ist  auch  leicht  verständlich,  denn  auch  in  diesen 
Apparaten  fehlt  der  Zug  und  es  bildet  sich  um  das  Glied  eine 
stagnierende  Luftschicht,  und  die  gleichzeitig  dabei  in  Betracht 
kommende  strahlende  Wärme  wirkt  möglicherweise  wenig  günstig. 

Immerhin  gebe  ich  Lamberger  Recht,  wenn  er  alle  unsere 
bisherigen  Apparate,  auch  die  elektrischen,  noch  für  unvollkommen 
und  ihre  elektrische  Heizung  für  die  der  Zukunft  erklärt.  Er 
glaubt  die  Schwierigkeiten,  die  ihrer  zweckmässigen  Konstruktion 
bisher  im  Wege  standen,  beseitigt  zu  haben  und  verspricht,  in  der 
Folgezeit  darüber  zu  berichten.  Allerdings  werden  sie  die  alten 
Apparate  aus  leicht  begreifHchen  Gründen  aus  der  allgemeinen 
ärztlichen  Praxis  wohl  niemals  dauernd  verdrängen. 

Ein  zweckmässiger  Apparat  ist  die  von  Frey 2)  hergestellte 


1)  Nach  Angaben  von  Pi'ibram,  Chronischer  Gelenkrheumatismus  usw. 
in  Nothnagels  spezieller  Pathologie  u.  Therapie.    Wien  1902. 

2)  Mehrere  Abhandlungen  über  denselben  Gegenstand:  Frey,  Vortrag 
auf  der  21.  Versammlung  der  Balneol.  Ges.  zu  FranMurt.  März  1900.  — 
Deutsche  Medizinalzeitung  1900.  Nr.  35.  —  Über  Behandliing  mit  der  Luft- 
dusche. Therapeutische  Monatshefte.  Juni  1900.  —  Über  die  Behandlung  von 
Neuralgien  mit  der  Heissluftdusche.      Archiv  für   Psychiatrie.     33.  Bd.     2.  Heft. 


Apparate  für  die  Heissluftbehandlung.  4.7 

Luftdusche.  Ein  Elektromotor,  welcher  ein  Turbinengebläse  treibt, 
führt  einen  starken  Luftstrom  in  zwei  Rohrleitungen.  Die  eine 
von  diesen  geht  durch  einen  elektrischen  Heizkörper,  in  welchem 
die  durchgetriebene  Luft  bis  auf  +  200°  C.  erwärmt,  die  andere 
durch  einen  mit  Eis  und  Kochsalz  gefüllten  Kühlapparat,  in 
welchem  die  Luft  auf  —  10°  abgekühlt  werden  kann.  Durch  eine 
einfache  Vorrichtung  kann  man  die  Temperatur  beider  Luftstrahlen 
regulieren  und  gleichmässig  erhalten.  Frey  braucht  den  heissen 
Luftstrahl  besonders  bei  Neuralgien,  spastischen  Zuständen  und 
chronischen  Gelenkerkrankungen  mit  Versteifungen,  also  bei  Zu- 
ständen, wo  die  heisse  Luft  schon  seit  längerer  Zeit  angewandt 
wird.  Der  Apparat  bietet  demnach  insofern  nichts  grundsätzlich 
Neues,  nur  dürfte  er  vor  anderen  den  Vorzug  haben,  dass  die  heisse 
Luft  sich  sehr  bequem  und  leicht  an  jedem  Körperteil  mit  dem 
beweglichen  Schlauche  anwenden  lässt,  und  man  überall  mit  diesem 
einen  Apparat  auskommt.  Neu  an  dem  Apparat  ist  die  Kaltluft- 
dusche, welche  sowohl  für  sich  als  abwechselnd  mit  dem  Heiss- 
luftstrahl  angewandt  werden  kann,  nach  Art  der  aus  der  Wasser- 
heilkunde bekannten  schottischen  Wechseldusche,  und  vielleicht 
dürfte  der  Apparat  in  dieser  Form  bei  mannigfachen  Krankheits- 
zuständen  gute  Dienste  leisten. 

Frey  hat  auch  mit  seiner  Heissluftdusche  gleichzeitig  Massage 
verbunden,  nach  dem  Vorbild  der  in  Aix-les-Bains  unter  der 
warmen  Thermaldusche  ausgeübten  Massage.  Ich  kann  bestätigen, 
dass  die  Verbindung  dieser  beiden  Mittel  für  viele  Fälle  sehr 
zweckmässig  ist. 

Als  blosse  Heissluftdusche  ist  wesentlich  bequemer  und  bilKger 
ein  Motor  von  Ingenieur  Conrad  Hahn  in  Braunschweig,  den  ich 
seit  etwa  zwei  Jahren  in  Gebrauch  habe.  Er  ist  noch  kürz- 
lich beschrieben  und  abgebildet  von  Beringt).  Der  Apparat  hat 
den  Vorteil,  dass  er  schon  nach  sehr  kurzer  Zeit  (2 — 3  Minuten) 
hinreichend  warme  Luft  liefert  und  klein  und  handhch  ist.  Ich 
kann  den  Apparat  für  Krankenhäuser  als  praktisch  und  wirksam 
sehr  empfehlen. 

Einen  der  Frey'schen  Luftdusche  ähnlichen,  aber  offenbar 
sehr  komplizierten  Apparat   (Elektrothermogen  genannt)   erfand 

—  Die  Massage  unter  der  heissen  Luftdusche.  Deutsche  med.  Wochen- 
schrift 1900.  Nr.  5.  —  Archiv  für  physikahsch-diätetische  Therapie  in  der  ärzt- 
lichen Praxis  1904.    H.  10. 

1)  Bering,  Ein  neuer  Heissluftmotor.    Medizinische  Klinik.     1905.    Nr.  18. 


48 


Allgemeiner  Teil. 


Taylor!)  2um  Zwecke  der  Heilung  von  Neuralgien.  Ein  durch 
ein  Uhrwerk  getriebener  Fächer  treibt  die  Luft  durch  ein  Glas- 
rohr, in  welchem  sich  eine  Drahtspirale  befindet.  Diese  wird  durch 
einen  leicht  zu  regulierenden  elektrischen  Strom  erhitzt  und  er- 
wärmt den  vorbeistreichenden  Luftstrom,  welcher  aus  einer  ver- 
schieden weit  stellbaren  Öffnung  gegen  den  kranken  Körperteil  ge- 
leitet wird. 

Übrigens  benutze  ich  schon  seit  langer  Zeit  gegen  Trigeminus- 
neuralgien   als   Heissluftdusche   einfach   den    Schornstein   meiner 


Fig.  5. 


Fig.  6. 


Apparate.  Damit  man  das  Mundstück  des  Rohres  fassen  und 
lenken  konnte,  versah  ich  es  vorn  mit  einem  Trichter  aus  Filz  oder 
Holz,  der  natürhch  nur  eine  geringe  BewegHchkeit  gestattete.  Der 
Kranke  war  gezwungen,  sein  Gesicht  vor  dem  Trichter  hin  und 
her  zu  bewegen.  Diesen  Apparat  hat  C.  Eschbaum  in  folgender 
Weise  verbessert:  Der  Schornstein  endet  in  einem  Hohlkugel- 
gelenk. In  dieses  ist  ein  Metallrohr  gelenkig  eingeführt,  das  vorn 
ein  Mundstück  aus  Holz  trägt,  um  dem  Kranken  das  Angreifen 
zu  ermögHchen.  Das  bewegliche  Rohr,  dem  die  heisse  Luft  ent- 
strömt, führt  man  vor  der  kranken  Stelle  hin  und  her  und  kann 


1)  Taylor,   On  the  treatment  of  neuralgia  and  rheumatism  by  currents  o 
hot  air,  with  some  account  of  the  apparatvis  employed.    The  Laneet.  Nov.  1898. 


örtlicher  und  allgemeiner  Einfluss  der  Heissluftbäder  auf  den  Körper.         49 

nach  Frey's  Vorgang  auch  gleichzeitig  Massage  anwenden.  Die 
ausströmende  Luft  lässt  sich  durch  eine  Gas-  oder  Spiritusflamme 
bequem  und  schnell  auf  200°  erhitzen.  Der  einfache  Apparat 
bietet  dasselbe  wie  die  elektrischen  Heissluftduschen.  Eine  Un- 
bequemlichkeit besteht  darin,  dass  bei  Anwendung  am  Gesichte 
der  Kranke  Verbrennungsgase  einatmet.  (Fig.  5  zeigt  das  alte, 
Fig.  6  das  neue  Modell  des  Apparates.) 


Örtlicher  und  allgemeiner  Einfluss  der  Heissluftbäder 
auf  den  Körper. 

Ich  will  hier  nicht  von  den  eigentlichen  Heilwirkungen  des 
Heissluftbades  sprechen,  sondern  diese  später  im  Zusammenhange 
mit  anderen  hjrperämisierenden  Methoden,  die  teils  gänzhch  gleich- 
artig, teils,  weil  sie  andere  Formen  von  Hyperämie  darstellen,  auch 
hier  und  da  gerade  entgegengesetzt  wirken,  schildern.  Hier  kommt 
es  mir  nur  darauf  an,  die  Veränderungen,  welche  der  behandelte 
Körperteil  und  der  ganze  Körper  während  der  Einwirkung  der 
heissen  Luft  durchmachen,  auseinanderzusetzen. 

Das  in  einen  der  oben  beschriebenen  Apparate  hineingebrachte 
Glied  1)  fängt  in  der  Regel  bei  einer  Temperatur  von  etwa  50°  an 
sich  feucht  anzufühlen.  Bei  60 — 70°  beginnt  dasselbe  lebhafter  zu, 
schwitzen.  Setzt  man  das  Glied  längere  Zeit  einer  Temperatur 
von  100°  aus,  so  erfolgt  ein  sehr  lebhafter  Schweissausbruch,  so 
dass  das  Wasser  in  Tropfen  von  dem  Ghede  trieft.  Bei  noch 
höherer  Hitzeeinwirkung,  die  man  bis  zur  Grenze  des  Erträghchen 
steigert  (114°),  scheint  die  Schweissabsonderung  in  Übereinstimmung 
mit  den  Untersuchungen  Schreiber's^)  etwas  geringer  zu  sein. 


1)  Ich  beschreibe  hier  die  Erscheinungen  an  meinem  eigenen  Vorderarm. 
Die  Angaben  passen  also  nur  für  mich,  da  verschiedene  Menschen  natürlich 
etwas  verschieden  auf  die  Hitze  reagieren. 

Die  im  folgenden  angeführten  Temperaturen  sind  als  relative  zu  betrachten. 
Es  handelt  sich  hier  um  einen  Apparat,  in  dem  die  Hitze  in  tieferen  und 
höheren  Teilen  nicht  ganz  gleichmässig  verteilt  war.  Da  das  Thermometer 
an  der  Decke  des  Kastens  nicht  weit  vom  Zugloch  angebracht  war,  so  sind  die 
auf  das  Glied  wirkenden  Temperaturen  in  Wirklichkeit  etwas  niedriger,  als  die 
Zahlen  angeben. 

2)  1.  c. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  4 


50 


Allgemeiner  Teil. 


Mein  Arm  rötet  sich  bei  längerer  Einwirkung  mit  Luft  von 
etwa  70  °  nur  in  geringem  Grade  und  nicht  gleichmässig,  bei  längerem 
Verweilen  in  Luft  von  80 — 100°  schon  sehr  erheblich,  und,  wenn 
ich  die  Luft  bis  zur  Grenze  des  ErträgHchen  erhitze,  ganz  gewaltig 
und  völlig  gleichmässig.  Man  kann  wohl  als  Regel  aufstellen,  dass 
jedenfalls  die  Hyperämie  mit  der  Höhe  der  Temperatur  und  der 
Länge  der  Anwendung  (vorausgesetzt,  dass  eine  Stunde  nicht  über- 
schritten wird)  stetig  wächst. 

Vermeidet  man  Verbrennungen,  so  ist  der  ganze  Vorgang 
durchaus  nicht  unangenehm,  im  Gegenteil,  die  Wärme  wirkt  wohl- 
tuend auf  das  Glied  ein. 

Entfernt  man  das  hochrote  schwitzende  Glied  aus  dem  Kasten, 
trocknet  es  ab  und  bekleidet  es,  so  bleibt  das  wohltuende  Gefühl 
noch  eine  Zeitlang  bestehen  und  unter  Umständen  hat  man  das 
Gefühl  einer  höheren  Wärme  noch  stundenlang  in  dem  behandelten 
Ghede.  Die  Messung  mit  dem  Hautthermometer  ergibt  denn 
auch  objektiv  eine  sehr  erhebliche  Nachwirkung. 

Man  kann  regelmässig  nachweisen,  dass  der  Körperteil,  welcher 
der  heissen  Luft  ausgesetzt  gewesen  ist,  noch  1  Stunde  und  länger 
nach  Entfernung  aus  dem  Apparat  höhere  Hauttemperatur  zeigt 
als  vorher.  Selbstverständlich  muss  man  an  genau  gleichen  Stellen 
und  unter  ganz  gleichen  Bedingungen  die  Messungen  vornehmen. 
Ich  führe  folgende  Fälle  als  Beispiele  an: 


Körperteil  und  Krankheit 


Temperat. 
vor  d.  Be- 
iiandlung 


Unmittel- 
bar nach 
d.  Behand- 
lung 


^2  Stunde 
später 


1  Stunde       IM2  Stun- 
später         den  später 


Becken  u.  Lendengegend 
(Lumbago) 

Zweite  Messung 

Knie  (Hydrops  genu)     .    . 

Zweite  Messung 

Unterschenkel  (Ödem)     .    . 

Becken  u.  Lendengegend 
(Ischias  scoliotica)  .    .    . 

Zweite  Messung 

Dritte  Messung 

Vierte  Messung    .    .    .    .    . 


34,8° 

36,2° 

34,9° 

36,0° 

34,6° 

35,8° 

34,5° 

35,6° 

34,2° 

35,9° 

34,9° 

36,1° 

34,6° 

— 

34,8° 

— 

34,8° 

36,2° 

35,9° 
35,8° 
35,5° 
35,5° 
35,0° 

35,6° 
35,5° 
35,6° 
35,8° 


35,2° 
35,4° 
35,1° 
35,0° 

34,8° 

35,4° 
35,4° 
35,4° 
35,6° 


34,8° 
34,8° 
34,9° 
34,4° 
34,1° 

34,8° 
34,7° 


örtlicher  und  allgemeiner  Einfluss  der  Heissluftbäder  auf  den  Körper.         5^ 

In  allen  diesen  Fällen  war  der  kranke  Körperteil  je  eine 
Stunde  lang  einer  Luft  ausgesetzt  gewesen,  die  so  heiss  war,  wie 
sie  ohne  Beschwerden  ertragen  wurde. 

Neben  diesen  örtlichen  treten  offenbar  allgemeine  Wirkungen 
auf  den  Körper  des  Behandelten  ein.  Sie  sind  bei  den  Krank- 
heiten, die  mit  örtlicher  Hyperämie  behandelt  werden,  und  die  wir 
hier  ausschliesslich  im  Auge  haben,  natürlich  nicht  wünschenswert, 
lassen  sich  aber  leider  nicht  ganz  vermeiden.  Im  allgemeinen 
pflegt  der  Mensch  im  Heissluftbade,  selbst  wenn  beispielsweise  nur 
ein  Vorderarm  der  Hitze  ausgesetzt  war,  zu  schwitzen,  der  eine 
mehr,  der  andere  weniger.  Bei  mir  selbst  schwitzt  bei  Erwärmung 
eines  Vorderarmes  der  übrige  Körper  nur  höchst  unbedeutend, 
während  das  bei  anderen,  besonders  bei  fettleibigen  oder  schwäch- 
lichen Personen  in  sehr  hohem  Masse  der  Fall  ist.  Im  übrigen 
sind  bei  sonst  gesunden  Menschen  die  Allgemeinerscheinungen  ver- 
hältnismässig gering,  geringer  als  bei  anderen  hochgradigen  Wärme- 
einwirkungen, was  die  einstimmige  Beobachtung  ergeben  hat.  So 
fand  Krause  die  Körpertemperatur  um  ^,  höchstens  um  1°,  den 
Puls  um  8—15  Schläge,  Reitler  die  Atemzüge  um  3 — 5,  den  Puls 
um  10 — 20,  Mendelsohn  trotz  2  Stunden  lang  auf  den  Vorderarm 
einwirkender  Luft  von  140°  (?)  die  Körpertemperatur  durchschnitt- 
lich um  0,4 — 0,6°,  den  Puls  um  höchstens  4 — 8  Schläge  gesteigert. 
Von  anderen  Beobachtern  wird  ähnliches  berichtet.  Meine  eigenen 
Untersuchungen,  welche  ich,  was  das  Verhalten  der  Körpertempe- 
ratur anlangt,  schon  im  Jahre  1891  bei  einer  Temperatur  von  105° 
angestellt  habe,  stimmen  damit  im  wesentlichen  überein.  In- 
dessen habe  ich  bei  Erwärmung  grösserer  Körperteile  (Becken) 
häufig  eine  sehr  starke  Beschleunigung  des  Pulses  nachweisen 
können. 

Dass  aber  bei  einzelnen  Menschen  der  Eingriff  für  den  Körper 
nicht  so  ganz  harmlos  ist,  das  werden  wir  gleich  sehen,  wenn  wir 
zur  Erörterung  der  schädlichen  und  unangenehmen  Folgen,  welche 
das  Verfahren  haben  kann,  übergehen. 

Nicht  selten  kommen  leichte  Verbrennungen  1.  und  2.  Grades 
vor,  ohne  dass  der  Behandelte  es  merkt.  Es  rührt  dies  wohl  daher, 
dass  die  starke  Hyperämie,  wie  ich  später  noch  ausführen  werde, 
die  Empfindung  so  bedeutend  herabsetzt,  dass  der  Wärmeschmerz 
nicht  bemerkt  wird.  Diese  Verbrennungen  sind  meist  unbedeutend 
und  heilen  schnell  wieder.  Verbrennungen  sollen  nach  Krause 
auch  entstehen,  wenn  der  Kranke  mit  seiner  Haut  das  Thermo - 

4* 


52  Allgemeiner  Teil. 

meter  berührt.  Ich  habe  in  einigen  Fällen  unangenehme  Verbren- 
nungen erlebt,  als  ich  noch  Kästen  aus  harzhaltigem  Holze  be- 
nutzte, denn  das  Harz  wird  infolge  der  Wärme  flüssig,  tropft  herab 
und  versengt  natürhch,  wenn  es  das  Ghed  trifft.  Deshalb  sollen 
die  Heissluftkästen  aus  harzfreien  Holzarten,  Erle,  Pappel  oder 
Weide,  hergestellt  sein. 

Nur  ganz  ausnahmsweise  habe  ich  stärkere  Verbrennungen  ge- 
sehen, die  längere  Zeit  zur  Heilung  brauchten.  Es  handelte  sich 
um  Leute,  die  ihren  Ehrgeiz  darin  suchten,  mögHchst  hohe  Tem- 
peraturen zu  vertragen.  Deshalb  ermahne  ich  immer  die  Kranken, 
dass  die  Hitze  niemals  ein  schmerzhaftes  oder  unangenehm 
brennendes  Gefühl  hervorrufen,  sondern  dass  sie  nur  gerade  so 
hoch  steigen  soll,  wie  sie  ohne  besondere  Unannehmhchkeiten  ver- 
tragen wird. 

Ganz  regelmässig  sieht  man  nach  längerer  Anwendung  der 
heissen  Luft  schmutzig-braune  Verfärbungen  der  Haut  in  Form  von 
Flecken  und  Netzwerk  auftreten.  Offenbar  ist  dies  zersetzter  Blut- 
farbstoff, welcher  von  unbedeutenden  Verbrennungen  herrührt.  Be- 
kanntlich führen  ja  letztere,  wie  wir  aus  den  Untersuchungen  von 
Lesser'si)  und  anderer  wissen,  zu  Zerfall  von  roten  Blutkörper- 
chen. Häufig  folgen  die  Verfärbungen  völhg  dem  Verlauf  der 
kleinen  Hautvenen,  in  denen  das  Blut  wegen  der  langsameren 
Strömung  vor  allem  dem  Einfluss  der  Wärme  ausgesetzt  ist.  Offen- 
bar sind  die  roten  Blutscheiben  bei  einzelnen  Leuten  hinfälHger; 
denn  während  die  einen  die  Flecke  überhaupt  nicht  bekommen, 
treten  sie  bei  anderen,  ohne  dass  Verbrennungen  in  unserem  klini- 
schen Sinne  zustande  kommen,  in  einer  ungeheuren  Ausdehnung 
auf,  so  dass  die  Haut  des  behandelten  GHedes  vollständig  marmoriert 
wird.  Dies  sieht  sehr  hässlich  aus,  man  kann  aber  dem  betreffen- 
den Menschen  die  trösthche  Versicherung  geben,  dass  die  Ver- 
färbungen zwar  langsam,  aber  sicher  mit  der  Zeit  von  selbst  wieder 
verschwinden. 

WirkUch  schädliche  Folgen  von  einer  grösseren  Blutzersetzung 
durch  Hitze,  welche  ja  theoretisch  denkbar  wäre,  habe  ich  nie 
gesehen. 

Ein  Nachteil,  von  welchem  man  die  Heissluftbehandlung  nicht 
freisprechen  kann,  ist,  dass  sie  an  den  Kräftezustand  der  Kranken 


1)  von  Lesser,  Über  die  Todesursachen  nach  Verbrennungen.     Virchows 
Archiv.    79.  Bd.    S.  248. 


örtlicher  und  allgemeiner  Einfluss  der    Heissluftbäder  auf  den  Körper.         53 

grosse  Anforderungen  stellt,  besonders  wenn  ausgedehnte  Flächen 
der  heissen  Luft  ausgesetzt  werden.  Vor  allem  bei  blutarmen 
Personen  stellen  sich  danach  Kopfschmerzen,  Müdigkeit  und  Ab- 
gespanntheit  ein.  Nicht  selten  beobachtete  ich  Herzklopfen.  Von 
verschiedenen  Seiten  sind  sogar  Ohnmächten  darnach  beschrieben. 
Ich  selbst  beobachtete  das  einmal  bei  einer  Frau,  die  wegen 
Trigeminusneuralgie  mit  der  Heissluftdusche  behandelt  wurde. 
Mehrmals  traten  nach  längerer  Dauer  des  Verfahrens  ausge- 
sprochene Schwächezustände  ein,  die  zum  Aufgeben  der  Behandlung 
zwangen.  Immerhin  sind  diese  unangenehmen  Nebenwirkungen 
nicht  gerade  häufig.  Man  vermindert  oder  vermeidet  sie,  wenn 
man  solchen  Leuten,  wie  das  bei  Dampfkasten-  und  Sandbädern 
üblich  ist,  während  der  Behandlung  eine  kalte  Kompresse  vor  den 
Kopf  legt,  die  Erhitzung  übermässig  grosser  Flächen  vermeidet, 
mit  kurzer  Sitzungsdauer  beginnt  und  sie  allmählich  steigert,  und 
vor  und  nach  der  Behandlung  die  Leute  ruhen  lässt.  Auch  die 
Wahl  der  Tageszeit  ist  nicht  ohne  Einfluss,  was  man  in  jedem 
einzelnen  Falle  ausprobieren  muss. 

Dauern  trotz  dieser  Vorsichtsmassregeln  die  üblen  Erschei- 
nungen fort,  so  empfiehlt  es  sich,  die  Höissluftbehandlung  aufzu- 
geben und  sie  mit  einem  der  später  zu  beschreibenden  ähnlich 
wirkenden,  aber  weniger  eingreifenden  hyperämisierenden  Verfahren 
zu  vertauschen.  Jedenfalls  zeigen  diese  üblen  Erfahrungen,  dass 
man  wirklich  die  Hitze  möglichst  lokal  anwenden  soll,  um  solche 
unangenehmen  Allgemeinerscheinungen  zu  verhüten,  ein  Grund 
mehr  gegen  die  Universalapparate,  die  oft  unnötig  grosse  Körper- 
abschnitte der  Hitze  aussetzen. 

Vor  kurzem  hat  Lamberger  darauf  hingewiesen,  dass  ein 
Teil  der  Beschwerden,  über  welche  die  Kranken  klagen,  offenbar  so- 
wohl durch  die  Zunahme  der  Zimmertemperaturen  als  besonders 
durch  die  Einatmung  der  Kohlensäure,  mehr  aber  noch  von  giftigen 
Verbrennungsprodukten  des  denaturierten  Spiritus  (Pyridinbasen) 
und  des  Leuchtgases  hervorgerufen  werden.  Dieser  Hinweis  ist 
sehr  beachtenswert.  Man  soll  deshalb  die  Heissluftbehandlung 
möghchst  in  grossen  Zimmern  und  bei  guter  Lüftung  ausüben.  Ich 
lasse  dabei  möglichst  die  Fenster  offen  stehen. 

NatürHch  soll  man  auch  Erkältungen  verhüten.  Wie  schon 
erwähnt,  schwitzen  manche  Menschen  sehr  statk  am  ganzen  Kör- 
per, auch  wenn  nur  ein  kleiner  GHedabschnitt  der  heissen  Luft 
ausgesetzt  wird.  Diese  Leute  lässt  man  trocken  reiben  und  während 


54  Allgemeiner  Teil. 

der  kalten  Jahreszeit  noch  ^^ — 1  Stunde  in  einem  gut  gewärmten 
Zimmer  sich  aufhalten,  am  besten  ausruhen.  Sind  sie  gezwungen, 
schneller  ins  Freie  zu  gehen,  so  sollen  sie  sich  wenigstens  aus- 
giebige Körperbewegung  machen.  Das  sind  übrigens  allgemein  be- 
kannte Regeln  von  der  Wasserheilkunde  her.  Vor  allem  sollen  die 
Kranken  während  der  Heissluftbehandlung  sehr  leicht  gekleidet 
sein  und  sich  nach  der  Sitzung  nach  Möglichkeit  umziehen. 

Man  soll  die  heisse  Luft  nicht  zu  lange  Zeit  am  Tage  an- 
wenden. In  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  beschränken  wir  uns 
auf  1  Stunde,  andere  Ärzte  sogar  auf  I/2  Stunde  täglich.  Nur  in 
Ausnahmefällen,  bei  hartnäckigen  Gelenkergüssen,  lassen  wir  unter 
Umständen  zweimal  täglich  1  Stunde  das  Mittel  anwenden.  In 
der  ersten  Zeit  habe  ich  die  heisse  Luft  in  übertriebener  Weise 
viele  Stunden  täglich  bei  tuberkulösen  Gliedern  angewandt.  Sie 
führt  dann  schüesslich  zur  Hyperämie,  welche  auch  in  den  Pausen 
nicht  verschwindet,  und  sogar  zu  Ödemen.  Granulationen  vertrock- 
nen oberflächlich,  werden  aber  unter  der  trockenen  Decke  so  stark 
hyperämisch,  dass  starke  Blutungen  daraus  eintreten  können.  So 
behandelte  ich  im  Jahre  1891  ein  grosses  tuberkulöses  Geschwür 
8 — 10  Stunden  lang  täglich  mit  Luft  von  100°.  Es  kam  dabei 
zweimal  aus  den  stark  hjrperämisch  gewordenen  Granulationen  zu 
so  mächtiger  Blutung,  dass  ich  sie  nur  mit  Mühe  durch  Druckver- 
band und  Hochlagerung  stillen  konnte. 

Überhaupt  wirkt  das  Verfahren  auch  bei  lokaler  Anwendung 
mächtig  auf  den  ganzen  Blutkreislauf,  wie  mich  folgende  Beob- 
achtungen lehrten:  Mehrere  Frauen  berichteten  mir,  dass  sie 
während  ihrer  Menses  darnach  ausserordentlich  starken  Blutverlust 
bekämen,  andere,  dass  die  Menses  zu  früh  und  zu  oft  einträten. 
Ein  11  jähriges  Mädchen  bekam  sie  zu  ihrem  Schrecken  zum  ersten 
Male,  als  ihr  Knie  in  einem  Universalkasten  behandelt  wurde.  Sie 
traten  später,  als  die  Behandlung  ausgesetzt  wurde,  nicht  wieder 
auf.  Eine  Frau,  die  sich  bereits  in  der  Menopause  befand,  be- 
kam noch  einmal  Menses.  Zwei  andere  Frauen  bekamen  nach 
jeder  Sitzung  Nasenbluten,  Ich  mache  deshalb  bei  Frauen  in  der 
Regel  während  der  Menses  eine  Pause  in  der  Behandlung. 

Schüesslich  will  ich  noch  erwähnen,  dass  die  Heissluftbäder, 
wie  das  bei  einem  so  eingreifenden  Verfahren  ja  verständhch 
ist,  häufig  auf  Appetit  und  Nahrungsaufnahme  einwirken.  Viele 
Menschen  werden  überhaupt  nicht  beeinflusst.  Andere  klagen  über 
Appetitmangel;  bei  diesen  soll  man  das  Verfahren  niemals  dicht 


Erzeugung  jjassiver  Hyperämie.  55 

vor  oder  nach  einer  Mahlzeit  einleiten.  Wieder  andere  bekommen 
einen  grossen  Appetit  und  starkes  Nahrungsbedürfnis.  So  be- 
handelte ich  einen  Herrn  mit  dem  beschriebenen  Beckenheissluft- 
kasten,  welcher  eine  gewaltige  Hyperämie  und  starken  Schweiss- 
verlust  bekam.  Dieser  war  höchst  erstaunt  über  den  starken 
Appetit,  welcher  sich  nach  der  Behandlung  einstellte.  Dagegen 
ist  das  Flüssigkeitsbedürfnis  geringer,  als  man  erwarten  sollte,  eine 
Erscheinung,  welche  wir  übrigens  auch  von  anderen  Wärme- 
anwendungen, die  zum  Schwitzen  führen,  kennen. 


Erzeugung  passiver  Hyperämie. 

Ich  hatte  eine  lange  Erörterung  nötig,  um  darzutun,  dass  die 
Anwendung  der  Wärme  in  der  beschriebenen  Form  das  beste 
Mittel  ist,  um  aktive  Hyperämie  hervorzurufen,  und  es  bedurfte 
einer  eingehenden  Beweisführung,  dass  bei  den  uns  hier  interes- 
sierenden Krankheiten  wirklich  die  Hyperämie  das  Wirksame  dar- 
stellt, weil  man  sich  vor  meinen  Untersuchungen  von  jeher  den 
Einfluss  dieses  uralten  Mittels  ganz  anders  gedacht  hatte.  Bei 
den  gleich  zu  beschreibenden  Massnahmen  wird  dagegen  wohl 
niemand  im  Zweifel  sein,  dass  sie  in  der  Tat  ledigHch  durch 
Hyperämie  wirken,  und  dass  es  im  allgemeinen  eine  passive 
Hyperämie  ist,  welche  wir  hervorrufen.  Dagegen  kann  es  aller- 
dings bei  einigen  dieser  Mittel  (Schröpfköpfen  und  Saugapparaten) 
ungewiss  sein,  ob  sie  venöse  oder  arterielle  Hyperämie  erzeugen. 
Überhaupt  ist  es  manchmal  Ansichtssache,  ob  man  eine  Hyperämie 
arteriell  oder  venös  nennen  will,  da  beide  Formen  ja  unmerklich 
ineinander  übergehen.  In  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  kann 
man  allerdings  in  dieser  Beziehung  über  die  Art  der  Hjrperämie 
nicht  im  Zweifel  sein. 

Auch  die  passive  Hyperämie  ist,  genau  wie  die  aktive,  schon 
in  der  alten  Ärzte-  und  Laienmedizin  verwandt  worden.  Schröpf - 
köpfe  und  Saugapparate  gehören  ja  zum  alten,  jetzt  sehr  in  den 
Hintergrund  getretenen  und  fast  vergessenen  Rüstzeug  des  Arztes, 
welches  er  allerdings  in  ganz  anderem  Sinne  anwandte,  als  ich  es 
tue.     Die  Stauungshyperämie  an  den  Gliedern  durch  eine  Binde 


5  g  Allgemeiner  Teil. 

ist  ebenfalls  ein  uraltes  für  den  Aderlass  und  gegen  Lungen- 
blutungen (sogenanntes  Binden  der  Glieder  i))  als  Blutstillungsmittel 
angewandtes  Verfahren  2).  Auch  in  neuerer  Zeit  ist  die  passive 
Hyperämie  schon  von  mir  angewandt  zu  Ernährungsversuchen  und 
zur  Heilung  von  Knochenbrüchen,  die  sich  nicht  festigen  wollten, 
und  wenn  man  unter  dem.  sehr  verbreiteten  Ausdruck:  ,,Bier'sche 
Stauung"  versteht,  dass  ich  die  Technik  der  Stauungshyperämie 
eingeführt  habe,  und  sogar  bei  der  Behandlung  von  Knochen- 
brüchen diesen  Namen  gebraucht,  wie  dies  häufig  geschieht,  so  muss 
ich  das  ablehnen.  Viel  eher  kann  ich  die  Heissluftapparate  für 
mich  in  Anspruch  nehmen,  die  meist  nach  Tallerman  genannt 
werden,  weil  die  meinigen  lange  vor  dessen  Apparat  vorhanden 
waren,  ausserdem  für  die  allgemeine  Anwendung  viel  brauchbarer 
und  wichtiger  sind  und  deshalb  auch  in  ihrer  ursprünglichen  Form 
oder  in  einer  ihrer  zahlreichen  Modifikationen  allgemeine  Ver- 
breitung gefunden  haben. 

Aber  ausser  bei  Knochenbrüchen  und  zu  Ernährungsversuchen 
hat  niemand  vor  mir  die  Stauungshyperämie  verwandt,  ja  man  hat 
sogar  dringend  davor  gewarnt,  bei  den  Krankheiten,  bei  welchen 
ich  sie  hauptsächhch  empfohlen  habe,  überhaupt  Blutstauungen 
eintreten  zu  lassen,  und  hat  die  Hauptaufgabe  des  Arztes  darin 
gesehen,  durch  die  sogenannte  Antiphlogose  die  entzündliche 
Stauungshyperämie  zu  bekämpfen  und  zu  beseitigen.  Diese  An- 
schauung ist  in  dem  Bewusstsein  der  heutigen  Ärzte  so  tief  ein- 
gewurzelt, dass  sehr  viele  auch  heute  noch  ein  grosses  Widerstreben 
gegen  die  Anwendung  dieses  Mittels  haben.  Aber  ich  bin  überzeugt, 
dass  es  eine  grosse  Zukunft  hat,  und  dass  die  Zeit  nicht  fern  hegt, 
wo  man  einsehen  wird,  dass  die  Anwendung  auch  dieser  Form 
der  Hyperämie  bei  sehr  zahlreichen  Krankheiten  nicht  nur  er- 
fahrungsgemäss  nützlich,  sondern  auch  logisch  und  wissenschaftlich 
sehr  gut  begründet  ist.  Und  das  muss  ich  allerdings  für  mich  in 
Anspruch  nehmen,  hier  der  Heilkunde  eine  gänzKch  neue  Bahn 
gewiesen  und  überhaupt  die  Lehre  von  der  zielbewussten  An- 
wendung der  Hjrperämie,  von  der  früher  nicht  die  Rede  war,  ob- 


1)  Vergl.  Plaskuda,  Untersuchiingen  über  das  „Binden  der  Glieder"  etc. 
Deutsches  Archiv  für  klinische  Medizin,  Band  80. 

2)  Es  ist  höchst  interessant,  dass  die  Erfahrung  zu  diesem  durchaus 
logischen  Mittel  führte,  lange  bevor  man  den  Blutkreislauf  kannte.  Über  die 
physiologische  Wirkung  der  Stauungsbinde  konnte  man  sich  also  unmöglich 
eine  klare  Vorstellung  machen. 


Erzeugung  passiver  Hyperämie.  57 

wohl  man  sie  vielfach  unbewusst  brauchte,  erst  geschaffen  zu 
haben. 

Der  erste,  welcher  den  Gedanken  fasste,  künstliche  Stauungs- 
hyperämie bei  ungenügender  Kallusbildung  zu  verwerten,  scheint 
Ambroise  Pare^)  gewesen  zu  sein.  Im  30. Kapitel  des  13.  Buches 
seiner  Werke  bespricht  er  zunächst  die  Mittel,  welche  es  gibt, 
um  einen  zu  grossen  Kallus  zu  verkleinern.  Dieselben  bestehen  in 
verringernden,  zerteilenden  und  adstringierenden  Stoffen.  ,,Ist  aber 
der  Kallus  zu  klein  und  unausgebildet  infolge  von  zu  fester  Ein- 
wickelung  mit  der  Binde,  oder  weil  das  Glied  zu  lange  in  Ruhe  und 
ohne  Übung  war,  oder  die  Ernährung  des  Kranken  ungenügend 
war,  so  muss  man  die  Binde  abwickeln  und  ganz  vom  Knochen- 
bruch herunternehmen.  Statt  dessen  legt  man  eine  andere  Art  von 
Verband  an,  welcher  an  der  Wurzel  der  Gefässe  beginnen  soll,  am 
Bein  dicht  an  der  Leistengegend  und  Arm  nahe  der  Schulter,  und 
bis  nahe  an  die  Bruchstelle  heranreicht.  Denn  durch  dieses  Mittel 
drückt  man  das  Blut  heraus  und  zwingt  es,  zur  verletzten  Stelle 
hinzufliessen."  Natürlich  konnte  sich  auch  Pare,  ebenso  wie  die 
alten  Ärzte,  die  das  Binden  der  Glieder  anwandten,  nur  eine  un- 
klare Vorstellung  von  der  physiologischen  Wirkung  der  Stauungs- 
binde machen,  da  er  vor  Harvey  lebte.  Dies  drückt  sich  auch  in 
der  Beschreibung  des  Verfahrens  deutlich  aus. 

Es  ist  mir  nicht  bekannt,  ob  Pare's  Gedanke,  durch  eine 
künsthche  Stauungshjrperämie  kallusbildend  und  ernährend  zu  wir- 
ken, Nachfolger  gefunden  hat.  Wahrscheinlich  ist  er,  was  bei  der 
Kürze  und  Unklarheit  der  Mitteilung  verständhch  ist,  vollständig 
in  Vergessenheit  geraten  ,bisNicoladoni2)im  Jahre  1875v.Dum- 
reicher's  Verfahren  beschrieb,  welches  er,  ohne  Pare's  Versuche 
zu  kennen,  gegen  drohende  Pseudarthrosen  empfahl,  v.  Dum- 
reicher's  Gedankengang  war,  um  die  Worte  Nicoladoni's  zu  ge- 
brauchen: Vielleicht  wird  es  gelingen,  zum  Ziele  zu  gelangen,  ,,wenn 
wir  imstande  sind,  eine  grössere  Menge  von  Ernährungsmaterial 
auf  die  gefährdete  Stelle  hinzuleiten.  Vermögen  wir  die  Gefässe 
reichlicher  zu  füllen,  sind  die  Gewebe  in  einem  Zustande,  in  wel- 
chem sie  zur  Aufnahme  des  im  Überfluss  gebotenen  Materials 
taugücher  sind,  so  wird  eine  künstlich  erzeugte  und  in  Permanenz 


1)  Oeuvres  completes  d' Ambroise  Pare.     Ausgabe  von  Malgaigne.     II.  Bd. 
LXIII.    Ch.  XXX. 

2)  Nicoladoni,    v.   Dmxireicher's    Methode     zur    Behandlung     drohender 
Pseudarthrosen.    Wiener  med.  Wochenschr.  1875.    Nr.  5,  6  u.  7. 


58  Allgemeiner  Teil. 

erhaltene  Hyperämie  an  und  für  sich  einen  mächtigen  Reiz  ausüben 
auf  die  bei  der  Kallusbildung  beteiligten  Gewebe  und  Gewebs- 
elemente  nach  dem  einem  jeden  von  uns  geläufigen  Zusammenhange 
zwischen  Nahrungszufuhr  und  Funktion.  Eine  Methode  aber,  die 
solches  zum  erreichbaren  Ziele  hat,  erfüllt  noch  eine  weitere  In- 
dikation, nämlich  die,  dass  die  einmal  angeregte  Produktion  ein 
fortwährend  reichhch  zufhessendes  Material  finde,  um  den  Bau  des 
Kallus  bis  zu  seinem  Ende  hin  fest  auszuführen." 

Die  Hyperämie  erzeugte  Nicoladoni  im  Prinzip  genau  so,  wie 
wir  sie  heute  noch  ausüben,  nämhch  nach  dem  Muster  der  Ader- 
lassbinde  in  Form  eines  locker  oberhalb  der  Bruchstelle  angelegten 
Gummischlauches,  während  der  abwärts  von  dem  Knochenbruche 
gelegene  Ghedabschnitt  mit  einer  Flanellbinde  eingewickelt  wurde. 
Er  hält  aber  die  ursprünghche Methode  v.  Dumreicher's  für  wirk- 
samer, welche  in  folgender  Weise  ausgeführt  wird:  Der  unterhalb 
des  Knochenbruches  gelegene  Gliedabschnitt  wird  mit  einer  Flanell- 
binde fest  eingewickelt,  in  der  Absicht,  dem  arteriellen  Blutstrom 
einen  Damm  entgegenzusetzen,  ihn  von  dem  eingewickelten  Glied- 
abschnitt ab  -  und  der  Bruchstelle  zuzulenken.  Die  Stauungshyperämie 
an  dieser  selbst  erzeugen  oberhalb  und  unterhalb  aufgelegte  keil- 
förmige Kompressen  (Nicoladoni  spricht  nur  von  Brüchen  des 
Schienbeines),  welche  ihre  breiten  Enden  dem  Knochenbruch  zu- 
kehren. Durch  eine  überbrückende  Holzschiene  werden  diese  Keile 
fest  gegen  den  Knochen  gedrückt  und  durch  eine  fest  angezogene 
Rollbinde  angedrückt  erhalten.  Sie  rufen  eine  sehr  starke  Hyper- 
ämie an  der  vom  Druck  freigelassenen  zwischenliegenden  Bruch- 
stelle hervor,  die,  wie  Nicoladoni  nachwies,  sich  durch  den  ganzen 
Knochen  hindurch  bis  auf  das  Mark  erstreckt. 

Ausser  bei  drohenden  Pseudarthrosen  wurde  dieses  Verfahren 
auch  mit  gutem  Erfolge  angewandt,  um  Knochenhöhlen  zur 
schnelleren  Ausfüllung  zu  bringen. 

An  verschiedenen  Stellen  weist  Nicoladoni  auf  die  Ähnhch- 
keit  der  durch  dieses  Verfahren  hervorgerufenen  Erscheinungen 
mit  einer  akuten  Entzündung  hin,  welche  sich  nicht  auf  das  Ent- 
stehen eines  blossen  Ödems  beschränkt,  sondern  auch  durch  die 
Härte  der  Anschwellung  an  weitere  Gewebsveränderungen,  welche 
die  Entzündung  mit  sich  bringt,  erinnert. 

Obwohl  so  Nicoladoni  ausführlich  die  Wirkung  der  Stauungs- 
hyperämie auf  die  Kallusentwickelung  und  Knochenneubildung  bei 
Knochenhöhlen  dargetan  hatte,  so  scheint  man  doch  die  Nützhch- 


Erzeugung  passiver  Hy^Derämie.  59 

keit  des  Verfahrens  nicht  anerkannt  und  es  ziemHch  vernachlässigt 
zu  haben.  Denn  Brunsi)  zählt  in  seiner  Lehre  von  den  Knochen- 
brüchen im  Jahre  1886  nur  5  Fälle  auf,  wo  die  v.  Dumreicher'sche 
Methode  zur  Anwendung  gekommen  war. 

Noch  in  demselben  Jahre  aber  erschien  eine  ausführliche  Mit- 
teilung über  die  Wirkung  der  Stauungshyperämie  auf  Knochen- 
brüche mit  verzögerter  Kallusbildung  von  Thomas 2).  Er  teilt 
14  Fälle  mit,  in  denen  er  das  Verfahren  angewandt  hatte.  In  den 
ersten  Fällen  legte  er  einfach  ein  Turniket  oberhalb  der  Bruch- 
stelle an  und  liess  es  nur  14  Stunde  täghch  hegen.  Später  aber 
benutzte  er  die  Hyperämie  dauernd  und  suchte  dieselbe  dadurch 
besonders  auf  die  Bruchstelle  zu  beschränken,  dass  er  ein  Gummi- 
band ober-  und  unterhalb  der  Bruchstelle  so  fest  anlegte,  dass 
eine  Stauung  im  Gebiete  derselben  entstand.  Er  macht  das  Ver- 
fahren, welches  er  für  weit  wirksamer  hält,  durch  eine  beigefügte 
Abbildung  verständlich.  Um  die  Hyperämie  zu  verstärken,  liess 
Thomas  das  behandelte  Glied  herabhängen. 

Von  den  1 4  Fällen  behandelte  Thomas  nur  4  rein  mit  Stauungs- 
hjrperämie.  Bei  den  übrigen  10  Fällen  verwandte  er  ausserdem 
sein  älteres  Verfahren  der  Perkussion,  d.  h.  er  beklopfte  die  Bruch - 
enden  in  Zwischenräumen  von  einigen  Tagen  bis  Monaten  kräftig 
mit  einem  Hammer,  welcher  mit  Gummi  überzogen  war,  während 
er  die  Haut  mit  einer  Filzlage  vor  Verwundung  schützte.  Durch 
dieses  Beklopfen  beabsichtigte  er  eine  entzündliche  Reizung  der 
Bruchenden  herbeizuführen,  und  aus  den  Krankengeschichten  geht 
hervor,  dass  ihm  dies  sehr  gut  gelang.  Er  erzeugte  dadurch 
Schwellung  und  häufig  blutige  Verfärbung  in  der  Gegend  der 
Bruchstelle,  und  dass  er  dabei  sehr  energisch  vorging,  erfährt  man 
daraus,  dass  er  zur  Vornahme  dieser  Operation  häufig  die  Äther- 
narkose einleitete.  Die  ausgezeichneten  Erfolge,  welche  Thomas 
in  mehreren  sehr  schweren  und  verzweifelten  Fällen  noch  erzielte, 
lassen  die  Verbindung  dieser  beiden  Mittel  als  sehr  nützlich  er- 
scheinen. 

Auch  in  zwei  Fällen  von  frischem  Kniescheibenbruch  und 
einem  Falle  von  Abriss  der  Quadricepssehne  verwandte  Thomas 


1)  Bruns,    Die    Lehre    von    den    Eöiochenbrüchen.      Deutsche    Chirurgie. 
Lieferung  27.     1886.    S.  597. 

2)  Thomas,   Contributions  to   siorgery  and  medicine   Part  VI.      The  prin- 
ciples  of  the  treatment  of  fractures  and  dislocations.    London  1886. 


ßQ  Allgemeiner  Teil. 

die  Stauungshyperämie,  welche  er  ,,Damming"  nennt,  mit  gutem 
Erfolge. 

Thomas  erwähnt  nichts  von  v.  Dumreicher  und  Nicola- 
doni  und  hält  sich,  wie  er  an  mehreren  Stellen  ausspricht,  mit 
Unrecht  für  den  ersten  Erfinder  der  Methode. 

Im  folgenden  Jahre  empfahl  Helferichi)  aufs  neue  die  Stau- 
ungshjrperämie  zur  Verstärkung  mangelhafter  Kallusbildung  und 
überhaupt  zur  Anregung  von  Knochenneubildung  und  Knochen- 
wachstum. Er  erzeugt  die  Hyperämie  in  der  von  Nicoladoni  als 
weniger  wirksam  empfohlenen  Art,  dass  er  oberhalb  der  kranken 
Stelle  des  Knochens  einen  Gummischlauch  locker,  doch  fest  genug 
anlegt,  um  abwärts  davon  eine  kräftige  venöse  Hyperämie  zu  er- 
zeugen. Um  die  Stauung  auf  den  kranken  Gliedabschnitt  zu  be- 
schränken, wird  bis  an  diesen  heran  eine  Binde  angelegt.  Damit 
eine  kräftige  Hj^erämie  auftritt,  lässt  auch  Helferich  das  Glied 
womöglich  herabhängen.  Mit  Recht  weist  Helferich  darauf  hin, 
dass  dieses  Verfahren  einfacher  ist,  als  das  gewiss  sehr  umständ- 
liche von  Dumreicher's,  und  dass  das  periphere  von  den  beiden 
Gummibändern,  welches  Thomas  anlegt,  mindestens  überflüssig  ist. 

Helferich  berichtet  über  8  Fälle  von  verzögerter  Kallusbildung, 
bei  denen  er  mit  Erfolg  Stauungshyperämie  allein  angewandt,  und 
über  3  weitere  Fälle,  bei  denen  er  die  Nagelung  der  Bruchenden 
vorausgeschickt  hatte.  Auf  seine  Versuche,  durch  dasselbe  Mittel 
das  Knochenwachstum  anzuregen,  werden  wir  später  ausführlich 
zurückkommen . 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine 
Stauungsbinde. 

Dies  ist  das  vor  der  Hand  praktisch  am  meisten  erprobte  und 
im  allgemeinen  auch  früher  schon  beim  Aderlass,  beim  ,, Binden 
der  Glieder"  und  zur  Heilung  von  Pseudarthrosen  gebrauchte  Ver- 
fahren. 

Man  legt  oberhalb  der  Stelle,  welche  man  hjrperämisieren  will, 
eine  Gummibinde  in  mehreren  sich  deckenden  Gängen  so  fest  an, 
dass  nur  die  schwachwandigen  Venen  zusammengedrückt  werden, 

1)  Helferich,  Über  künstliche  Vermehrung  der  Knochenbildung.  Ver- 
handl.  d.  deutschen  Ges.  für  Chirurgie.  1887.  II.  Bd.  S.  249  vmd  Archiv  für 
klinische  Chirurgie.     1887.     36.  Bd.     S.  873. 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Stauiongsbinde.  Ql 

während  die  starkwandigen  Arterien  gar  nicht  oder  nur  im  geringen 
Grade  verengt  werden.  Durch  mehr  oder  weniger  festes  Anziehen 
der  Binde  kann  man  alle  Grade  der  Stauungshyperämie,  von  der 
leichtesten  bis  zur  schwersten,  hervorrufen.  Die  Veränderungen, 
welche  dabei  an  den  der  Stauung  unterworfenen  Gliedern  sich  ab- 
spielen, glaube  ich  am  besten  an  einigen  Selbstversuchen  schildern 
zu  können. 

Ich  lege  mir  am  linken  Oberarm  eine  Stauungsbinde  so  an,  dass 
eine  leichte  passive  Hyperämie  entsteht.  Die  Binde  ist  nur  so  stark 
angezogen,  dass  sie  keinerlei  Unbequemhchkeiten  macht,  und  man 
sie,  wenn  man  seiner  gewohnten  Beschäftigung  nachgeht,  förmlich 
vergisst. 

Zuerst  schwellen  die  subkutanen  Venen  des  Handrückens  an, 
dann  die  grossen  subkutanen  Venen  an  der  Beugeseite  des  Vorder- 
armes. Die  Haut  des  Armes  färbt  sich  allmähUch  bläulich,  nur  der 
Handteller  und  die  Streckseite  des  Ellbogens  bekommen  eine  rosige 
Farbe.  Ebenso  sind  Handrücken  und  Finger  im  allgemeinen  hellrot. 
In  der  Haut  des  Handtellers  bemerkt  man  zahlreiche  umschriebene 
weisse  Flecke  von  Hirsekorn-  bis  Linsengrösse.  In  spärhcher  An- 
zahl finden  sich  dieselben  auch  auf  dem  Handrücken.  Beim  ge- 
nauen Zusehen  bemerkt  man  das  zierhche,  sonst  unsichtbare  Venen- 
netz der  Cutis  sehr  deutlich  hervortreten. 

Nach  drei  Stunden  ist  die  Haut  des  Vorderarmes  gleichmässig 
blaurot.  Finger,  Gegend  des  Ellbogens  und  Handrücken  sind  heUrot, 
letzterer  um  die  grösseren  Venenstämme  herum  blaurot  gefärbt. 
Die  weissen  Flecke  an  der  Haut  des  Handtellers  sind  verwaschen 
und  kaum  noch  zu  sehen.  Die  grossen  subkutanen  Venen  treten 
weit  weniger  deutlich  vor,  ebenso  fängt  das  oberflächhche  kutane 
Venennetz  an  zu  verschwinden.  Länger  dauernder  starker  Finger- 
druck auf  den  Handrücken  weist  beginnendes  Ödem  nach.  Der 
Puls  ist  voll  und  kräftig,  eher  stärker  als  schwächer  wie  am  andern 
Arm.  In  der  Kälte  friert  das  gestaute  Ghed  mehr  als  das  andere. 
Auf  Fingerdruck  erblasst  die  Haut  überall,  um  sich  sofort  wieder 
mit  venösem  Blute  zu  füllen.  Auch  an  den  blau  verfärbten  Stehen 
kann  man  durch  Reiben  überall  die  lebhafteste  arterielle  Hellrote 
an  der  Haut  hervorrufen,  die  geraume  Zeit  bestehen  bleibt. 

Nachdem  die  Binde  10  Stunden  unverändert  gelegen,  fällt  be- 
sonders das  zunehmende  Ödem  auf.  Der  grösste  Umfang  des  linken 
Vorderarmes  beträgt  2  cm  mehr,  als  er  vor  der  Einleitung_der 
Stauung  betrug.     Der  Fingerdruck  bleibt  überall  stehen. 


g2  Allgemeiner  Teil. 

Nach  20  Stunden  sind  Arm  und  Handrücken  gleichmässig  öde- 
matös  geschwollen,  der  grösste  Umfang  des  Vorderarmes  misst  jetzt 
2y^  cm  mehr  als  vor  der  Stauung.  Die  Haut  der  Finger  des  Hand- 
tellers, der  Rückseite  des  Ellbogens-  und  des  Handgelenkes  sind 
immer  noch  hellrot,  die  übrige  Haut  blaurot.  Die  subkutanen  Venen 
sind  nur  noch  in  geringem  Grade  sichtbar,  nicht  mehr  als  am  nicht 
gestauten  anderen  Arm.  Und  zwar  sind  sie  nicht  bloss  durch  das 
ödem  verdeckt,  sondern  sind  objektiv  klein  und  nicht  mehr  als 
prall  gespannte  Stränge  durchzufühlen,  wie  im  Anfange.  Kräftiges 
Reiben  einer  blaugefärbten  Hautstelle  bringt  auch  jetzt  noch  eine 
sehr  lebhafte  helle  arterielle  Röte  hervor. 

Dass  kein  gröberes  Hindernis  für  den  venösen  Rückstrom  vor- 
liegt, geht  daraus  hervor,  dass,  wenn  ich  mich  ,, recke  und  strecke" 
(der  bekannte  Versuch  für  das  Fortbewegen  des  Venenblutes  nach 
dem  Brustkorb  hin),  der  Arm  sofort  fast  vollständig  abblasst. 

Unmittelbar  nach  dem  Entkleiden  fühlen  sich  beide  Glieder 
gleich  warm  an.  Nach  längerem  Nacktsein  erscheint  das  gestaute 
etwas  kälter.  Bei  längerem  Aufenthalte  in  der  Kälte  (  +  2°  C  mit 
Wind)  treten  am  unbekleideten  Handrücken  des  gestauten  Gliedes 
zinnoberrote  Flecken  auf,  welche  bei  Fingerdruck  verschwinden,  um 
sofort  wiederzukehren. 

Bei  diesem  Grade  der  Stauung  wird  an  einem  gesunden  Arm 
die  Hauttemperatur  nicht  oder  nur  unbedeutend  herabgesetzt.  So 
betrug  sie  in  einem  Versuche  an  meinem  Arme 

vor  der  Stauung 31,8° 

10  Minuten  nach  Einleitung  der  Stauung 31,0° 

nach  einer  Stunde       31,9° 

nach  etwa  l^/g.  Stunden 32,5° 

unmittelbar  nach  der  Abnahme  der  Binde  nach  1  y^  Stunden  32,2° 

Wird  die  Gummibinde  ebenso  fest  an  einem  entzündeten  Ghede 
angelegt,  so  treten  je  nach  der  Heftigkeit  der  Entzündung  im  all- 
gemeinen viel  stärkere  Folgezustände  ein.  Alle  entzündeten  GUeder 
sind  bekanntlich  an  der  kranken  Stelle  wärmer.  Selbst  bei  chro- 
nischen tuberkulösen  Entzündungen  ist  diese  Temperaturerhöhung 
sehr  beträchthch.  Die  Unterschiede  betragen  hier  der  gleichen 
Stelle  des  gesunden  Ghedes  gegenüber  1^ — 3°  C  und  mehr  zu- 
gunsten des  kranken  Teiles.  Ich  bemerke,  dass  man  die  ver- 
gleichenden Messungen  an  genau  symmetrischen  Stellen  und  unter 
genau  gleichen  Verhältnissen  vornehmen  muss.     Das  letztere  ist 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Stauungsbinde.  (J3 

selbstverständlich.  Man  darf  nicht  etwa  beide  Glieder  unbekleidet 
nebeneinander  legen  und  zuerst  die  Hauttemperatur  des  einen  und 
dann  die  des  anderen  messen,  weil  das  letztere  sich  natürHch  in- 
zwischen abgekühlt  hätte.  Aber  auch  das  erstere  ist  sehr  wichtig, 
weil  die  verschiedenen  Stellen  des  gleichen  Ghedabschnittes  nor- 
malerweise verschiedene  Temperaturen  haben.  So  ist  aus  leicht 
begreiflichen  Gründen  die  Haut  der  Hohlhand  stets  wärmer  als  die 
des  Handrückens. 

Zum  Unterschiede  von  dieser  massigen,  praktisch  am  meisten 
verwandten  Stauungshyperämie  schildere  ich  j  etz  t  die  Erscheinungen , 
welche  eine  sehr  straff  angelegte  Binde  hervorbringt.  Dieselben 
sind  schon  im  Jahre  1874  sehr  genau  und  vortrefflich  von  Auspitz^) 
geschildert  worden.  Meine  an  meinem  eigenen  und  eines  meiner 
Assistenten  Arme  gemachten  Beobachtungen  decken  sich  fast  voll- 
ständig mit  denen  Au  spitz'.  Nur  in  der  Erklärung  der  Erschei- 
nungen weiche  ich  in  vielen  Punkten  von  ihm  ab. 

Ich  lege  an  meinem  linken  Oberarm  eine  Gummibinde  so  fest 
an,  dass  eine  möglichst  starke  venöse  Stauung  entsteht.  Unter 
der  Binde  fühle  ich  das  pulsatorische  Klopfen  der  Arterie.  Schon 
nach  2  Minuten  schwellen  die  subkutanen  Venen  sehr  stark  an  und 
die  Haut  verfärbt  sich;  ihr  Grundton  ist  blau-  bis  graurot.  In  der 
Hohlliand  sieht  man  einige  hellrote  Flecken,  an  der  Rückseite  des 
Ellbogengelenks,  auf  dem  Handrücken  und  an  der  radialen  Seite 
des  Vorderarmes  unterhalb  der  Stauungsbinde  treten  zinnoberrote 
und  gelbe  Flecken  auf.  Die  zinnoberroten  Flecke  vermehren  und 
vergrössern  sich  und  fliessen  ineinander  über,  so  dass  nach  7  Minuten 
der  grösste  Teil  der  Haut  zinnoberrot  ist.  Die  Blauröte  hält  sich 
am  längsten  in  der  Mitte  der  Beugeseite  des  Vorderarmes  und  auf 
dem  Handrücken.  Bei  Druck  auf  die  zinnoberrote  Haut  entsteht 
ein  weisser  Fleck,  welcher  sich  sofort  nach  Aufhören  des  Druckes 
wieder  verfärbt.  Auf  der  Beugeseite  bilden  sich  unterhalb  der 
Stauungsbinde  zahlreiche  karminrote  Punkte  (kleine  Blutungen). 
Im  Arme  stellen  sich  ein  Gefühl  von  Schwere,  Müdigkeit,  Prickeln 
und  abwechselnd  Kälte-  und  Wärmegefühl  ein.  Die  Finger  fühlen 
sich  kalt  an. 

Nach  20  Minuten  ist  die  Haut  fast  des  ganzen  abgeschnürten 
Gliedabschnittes  zinnoberrot,  die  blaugefärbten  Stellen  sind  noch 


1)  Auspitz,   Über   venöse   Stauung   in   der   Haut.      Vierteljahrsschrift   für 
Dermatologie  u.  Syphihs.     1874.    I.   S.  275. 


64  Allgemeiner  Teil. 

mehr  zurückgetreten.  Durch  Reibung  kann  man  auf  dem  Hand- 
rücken eine  lebhafte  hellere  Hyperämie  hervorrufen,  doch  wird  die 
Haut  dabei  nicht  einfach  rosarot,  sondern  hat  einen  deuthchen 
Stich  teils  ins  Gelbhche,  teils  in  Kupferfarbene.  Die  punktförmigen 
Blutungen  nehmen  zu.  Die  früher  prall  gespannten  subkutanen 
Venen  sind  weniger  sieht-  und  fühlbar.  An  den  Fingerspitzen  und 
in  der  Hohlhand  bilden  sich  weissgelbe  Flecken.  Das  Glied  schläft 
und  fühlt  sich  kalt  an,  doch  hat  man  subjektiv  das  Gefühl  der 
Wärme  im  Arme. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Stauung  wird  die  Haut  der  Hohl- 
hand aschgrau  mit  zinnoberroten  und  ganz  weissen  Flecken  da- 
zwischen. Die  zinnoberroten  Stellen  werden  auf  Fingerdruck  weiss, 
man  sieht  dann  an  der  Stelle  zahlreiche  punktförmige  Blutungen. 
Nach  Aufhören  des  Druckes  stellt  sich  schnell  die  zinnoberrote 
Farbe  wieder  her. 

Nach  40  Minuten  verursacht  die  starke  Stauung  ein  unerträg- 
hches  Schmerzgefühl,  so  dass  die  Binde  gelöst  werden  muss.  Sofort 
verspüre  ich  ein  lebhaftes  Kältegefühl  im  Arme  und  habe  die  Emp- 
findung, als  ob  derselbe  faradisiert  würde.  Am  stärksten  sind 
diese  Gefühle  in  den  Fingerspitzen.  Die  Haut  des  abgeschnürt 
gewesenen  Ghedabschnittes  fängt  an,  sich  rosarot  zu  färben,  etwa 
in  dem  Grade,  wie  man  es  nach  einer  künsthchen  Blutleere  beob- 
achtet, welche  3 — 4  Minuten  angelegt  gewesen  ist.  Nur  die  Finger 
bleiben  noch  eine  Weile  totenblass,  ähnhch,  wie  man  es  bei  ein- 
zelnen Personen  nach  kalten  Bädern  eintreten  sieht.  1%  Minuten 
später  werden  sie  lebhaft  hellrot,  und  im  ganzen  Gliede  stellt  sich 
ein  Gefühl  von  Wärme  ein.  Noch  %  Stunden  lang  nach  Abnehmen 
der  Binde  habe  ich  das  Gefühl  von  Muskelsteifigkeit  und  Ermüdung 
im  Arme.  In  der  Haut  sieht  man  sehr  zahlreiche  karminrote 
punktförmige  Blutungen. 

Nach  24  Stunden  sind  diese  Blutpunkte  bereits  verwaschen  und 
sehen  hell-  bis  gelbrot  aus.  Die  Haut  des  abgeschnürt  gewesenen 
Ghedteiles  zeigt  eine  deutliche  gelbbraune  Färbung,  und  zwar  am 
stärksten  in  der  Ellenbeuge  und  unterhalb  derselben.  Sie  ist  da 
am  ausgesprochensten,  wo  auch  die  punktförmigen  Blutungen  am 
dichtesten  stehen.  Die  Verfärbung  schneidet  scharf  mit  der  Stelle 
ab,  wo  der  untere  Rand  der  Stauungsbinde  gesessen  hat.  Nach 
2  Tagen  ist  die  Gelbfärbung  des  Armes  bedeutend  zurückgegangen. 
Die  Blutpunkte  sind  nur  noch  bei  deutlichem  Zusehen  als  gelblich - 
braune  Flecke  zu  erkennen. 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Stauungsbinde.  ßfj 

Nach  4  Tagen  ist  alles  verschwunden,  die  Haut  sieht  wieder 
normal  aus. 

Während  des  Versuches  ist  die  Hauttemperatur  schnell  ge- 
fallen. Vorher  betrug  sie  in  der  Hohlhand  32,2°,  5  Minuten  nach 
Einleitung  der  Stauung  30,9°,  nach  15  Minuten  30,0°,  nach 
30  Minuten  29,0°. 

Das  Glied  schwillt  schnell  an;  schon  10  Minuten  nach  Ein- 
treten der  Stauung  ist  der  Umfang  des  Armes  um  2  cm  grösser. 
Odem  aber  ist  nach  30 — 40  Minuten  langer  Dauer  der  Stauung  nur 
in  geringem  Grade  vorhanden. 

In  der  Deutung  der  Erscheinungen  weiche  ich  in  wesentlichen 
Punkten  von  Auspitz  ab.  Zunächst  glaubt  dieser  Arzt,  dass  sich 
selbst  diese  starke  Stauung  wesentlich  auf  die  Haut  beschränke 
und  die  tieferen  Venen  gar  nicht  oder  nur  unbedeutend  zusammen- 
gedrückt werden.  Das  ist  ein  Irrtum.  Nicht  nur  diese  starke, 
sondern  auch  schon  die  oben  beschriebene  massige  Stauung  wirkt 
auf  die  tiefsten  Venen  (wahrscheinlich  hauptsächlich  durch  Ver- 
mittelung  des  gedrückten  Hauptstammes)  ein.  Davon  kann  man 
sich  leicht  überzeugen,  wenn  man  bei  tiefen  Operationswunden 
eine  leichtstauende  Binde  oberhalb  anlegt.  Noch  viel  mehr  sehen 
wir  häufig,  dass  eine  starke  Stauungshyperämie  sich  bis  in  die 
grösste  Tiefe  der  Glieder  fortpflanzt,  wenn  einmal  bei  Operationen 
eine  falsch  angelegte  künstliche  Blutleere  nachgibt,  und  wir  so 
dieselben  Erscheinungen  bekommen,  welche  ich  soeben  unter  der 
starken  Stauung  beschrieben  habe.  Sogar  bis  auf  den  Knochen 
erstreckt  sich  diese  Hyperämie,  denn  man  sieht  unter  diesen  Um- 
ständen einen  starken  Ausfluss  von  Venenblut  aus  der  Markhöhle 
des  durchsägten  oder  aufgemeisselten  Knochens. 

Ich  habe  schon  früher  beschrieben  i),  dass  bei  vollständiger 
Behinderung  des  Rückflusses  des  Venenblutes  ein  Teil  des  ge- 
stauten Blutes  sogar  durch  den  Knochen  zurückgeht,  dessen  Ge- 
fässe  natürHch,  soweit  sie  im  Knochen  selbst  verlaufen,  vom  Druck 
des  abschnürenden  Gegenstandes  nicht  betroffen  werden.  Es  ge- 
lingt also  auch,  den  Knochen  bis  in  das  Mark  hinein  durch  eine 
stauende  Binde  zu  hyperämisieren. 

Auspitz  nimmt  an,  dass  die  zinnoberroten  Flecke,  welche 
unter  der  starken  Stauung  auftreten,  durch  Blutfarbstoff  entstehen, 
welcher  in  das  Gewebe  austritt,  und  dass  dieser  eine  grosse  Rolle 


1)  Virchows  Archiv  153.  Bd.   S.  311  u.  312. 
Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel. 


QQ  Allgemeiner  Teil. 

dabei  spielt,  halte  ich  für  wahrscheinlich.  Wir  wissen  durch 
Stricker  und  Cohnheim,  dass  durch  so  hochgradige  Stauungen 
Blutungen  per  diapedesin  eintreten,  und  wir  sehen  punktförmige 
Blutungen  und,  was  wichtiger  ist,  gelbhche  Verfärbungen  der  ganzen 
von  der  Hyperämie  betroffenen  Haut  eintreten,  die  nur  durch  Blut- 
farbstoff entstehen  können.  Ob  dies  aber  der  einzige  Grund  für  das 
Auftreten  der  Zinnoberröte  ist,  bleibt  mir  zweifelhaft,  denn  wir 
sehen  dieselben  Flecke  auch  an  der  Haut  entstehen  durch  Kälte, 
welche  nur  kurze  Zeit  eingewirkt  hat  und  zwar  zu  erheblicher 
Stase  des  Blutes,  aber  nicht  zu  Verfärbungen  der  Haut  führt. 
Auch  konnte  ich  mich  nicht  von  der  Angabe  Au  spitz'  überzeugen, 
dass  Fingerdruck  die  Zinnoberröte  nicht  verschwinden  lässt;  bei 
mir  entstand  stets  bei  Druck  auf  eine  solche  Stelle  ein  weisser 
Fleck,  der  sich  schnell  wieder  rötete.  Ich  will  deshalb  die  Ursache 
der  Entstehung  dieser  zinnoberroten  Flecken  dahingestellt  sein 
lassen  und  nur  feststellen,  dass  sie,  wenn  sie  in  grösserer  Zahl 
und  Ausdehnung  auftreten,  der  sichtbare  Ausdruck  einer  sehr 
starken  und  übertriebenen  Stauung  sind. 

Zur  Erklärung  für  die  weissen  Flecke  führt  Auspitz  teils 
mechanische  Gründe,  teils  die  Samuel'sche  ,,Itio  in  partes"  an. 
Ich  erkläre  dieselben  anders.  Ich  habe  schon  früher  dargetan, 
dass  Arterien  und  besonders  Kapillaren  äusserer  Körperteile  sich 
gegen  venöses  Blut  wehren,  welches  sich  in  ihnen  staut,  und  das- 
selbe durch  Eigenbewegungen  in  der  Richtung  nach  den  Venen 
hin  weiterbefördern. 

Die  V.  Esmarch'sche  ,, Blutleere",  wie  sie  gewöhnlich  angelegt 
wird  —  Abschnüren  bei  erhobenem  Ghede  — ■,  ist  nämhch  gar  keine 
wirkliche  Blutleere,  denn  sie  lässt  das  Blut,  welches  sich  gerade  im 
Gliede  befand,  darin.  Trotzdem  sieht  das  Glied  nachher  leichenblass 
aus.  Schnürt  man  aber  einen  Arm  mit  dem  v.  Esmarch'schen 
Gurt  in  horizontaler  Lage  ohne  grosse  Eile  ab,  so  dürfte 
mindestens  der  normale  Blutgehalt  in  ihm  verbleiben,  weil  die 
ersten  Gänge  der  Binde  die  Venen  vor  den  Arterien  zusammen- 
drücken. Beobachtet  man  dieses  Ghed  alsdann,  so  bemerkt  man, 
dass  die  subkutanen  Venen,  die  vorher  klein  waren,  stark 
anschwellen,  und  die  übrige  Haut  blass  wird;  dies  geschieht 
selbst  dann,  wenn  man  das  Glied  herabhängen  lässt,  und  in 
Narkose,  wo  Muskelbewegungen  als  Triebkraft  für  das  Blut  aus- 
geschlossen sind.  Es  haben  also  die  Arterien  und  Kapillaren  das 
venös  gewordene  Blut  ausgequetscht  und  in  die  Venen  getrieben. 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Staüungsbinde.  57 

Dieselben  weissen  Flecke,  welche  wir  oben  bei  der  starken 
Stauung  beobachteten,  kann  man  in  viel  höherem  Masse  und  in 
grösserer  Anzahl  bei  folgendem  Versuche  hervorrufen:  bei  einem 
Menschen  mit  sehr  weisser  Haut  bringe  ich  durch  einige  Gänge 
einer  Gummibinde,  welche  ich  am  Oberarm  anlege,  eine  massige 
Stauungshyperämie  hervor,  bis  die  Farbe  der  Haut  gleichmässig 
bläulich  ist.  Durch  weiteres  Umwickeln  der  Binde  sperre  ich  mit 
den  folgenden  fest  angezogenen  Gängen  auch  den  arteriellen  Zu- 
fluss  vollständig  ab,  und  lasse  das  Glied  herabhängen.  Es  ist  ur- 
sprünglich blau,  dann  wird  es  scheckig.  In  den  blauen  Teilen 
treten  sehr  lebhafte  weisse  Flecke  auf.  Nach  15  Minuten  über- 
wiegen am  Oberarm  die  weissen,  am  Unterarm  die  blauen  Flecken. 
Aber  die  ersteren  fehlen  trotz  abhängiger  Lage  auch  in  den 
äussersten  Fingerspitzen  nicht.  Meines  Erachtens  genügt  es  nicht, 
hier  eine  blosse  Zusammenziehung  der  kleinsten  Arterien  durch 
den  Reiz  des  venösen  Blutes  anzunehmen,  bei  der  vollständigen 
Weisse  der  Flecken  müssen  sich  auch  die  Kapillaren  daran  be- 
teihgt  haben.  Wer  sich  für  weitere  Beweise  hierfür  interessiert, 
den  verweise  ich  auf  meine  mehrfach  erwähnte  Arbeit  über  die 
Entstehung  des  Kollateralkreislaufes.  Wir  sehen  aber  schon  aus 
dem  letzten  Versuche,  dass  Arterien  und  Kapillaren  durch  Eigen- 
bewegungen das  venöse  Blut  fortbefördern  können,  und  dies  um  so 
mehr  tun,  je  grösser  die  Venosität  des  Blutes  ist.  Ich  will  nur 
beiläufig  bemerken,  dass  diese  Eigenschaft  natürlich  eine  ausser- 
ordentliche Unterstützung  der  Blutbewegung  in  notleidenden 
Körperteilen  darstellt. 

Von  Interesse  ist  schhesslich  noch  die  Beobachtung,  auf  die 
mich  Ritter  aufmerksam  machte,  dass  man  an  Gliedern,  welche 
sich  unter  massiger  Stauungshyperämie  befinden  und  dabei  stark 
venös  hyperämisch  sind,  durch  Reibung  die  deutlichste  arterielle 
Hj^perämie  hervorrufen  kann,  und  dass  diese  selbst  bei  starker 
Stauung  nicht  ganz  ausbleibt.  Auch  diese  Beobachtungen  weisen 
wieder  auf  eine  selbständige  Tätigkeit  der  Gefässe  hin,  die  uns 
schon  mehrmals  in  dieser  Arbeit  begegnet  ist. 

Die  lebhafte  helle  Röte,  welche  nach  Lösung  der  Binde  bei 
der  starken  Stauungshyperämie  auftritt,  ist  genau  die  gleiche  Er- 
scheinung, die  wir  als  sogenannte  reaktive  Hyperämie  nach  künst- 
licher Blutleere  beobachten,  und  welch  letztere  lange  Zeit  als 
Drucklähmung  der  vasomotorischen  Nerven  gegolten  hat.  Ich  habe 
früher  ausführlich  und  überzeugend  bewiesen,  dass  sie  etwas  ganz 

5* 


68 


Allgeixieiner  Teil. 


anderes  bedeutet,  und  dass  sie  nach  jeder  beliebigen  Unterbrechung, 
und  sogar  nach  Beschränkung  des  arteriellen  Blutstroms  auftritt. 
Diese  lebhafte  arterielle  Hyperämie  ist  der  Ausdruck  des  Sauer- 
stoffhungers der  eine  Zeitlang  gar  nicht  oder  ungenügend  mit  arte- 
riellem Blut  gespeisten  Körperteile,  also  ein  nützlicher  Reaktions- 
vorgang.    Dass  sie  auch  nach  dieser  schweren  Stauungshyperämie 
auftritt,  ist  der  beste  Beweis  dafür,   dass  hier  eine  sehr  starke 
Sauerstoff  Verarmung  in  dem  abgeschnürten  Ghede  eingetreten  ist. 
Die  starke  Stauung  stellt  also  —  längere  Zeit  unterhalten  — 
einen  höchst  gefährlichen  und  schädHchen  Eingriff  für  das  be- 
treffende Glied  dar.  Weil  sie  zu  bedeutender  Herabsetzung  der  Tem- 
peratur desselben  führt,  habe 
ich  sie  auch  die  kalte  Stauung 
genannt.    Ich  habe  sie  deshalb 
praktisch  niemals  angewandt. 
Es   ist   ja   immerhin   möghch, 
dass  sie  sich,  ganz  kurze  Zeit 
angewandt,  zu  Heilzwecken  ge- 
brauchen liesse.   Dass  sie  aber, 
längere  Zeit  benutzt,  schädlich 
und  gefährlich  sein  würde,  be- 
darf wohl  keiner  Auseinander- 
setzung.    Wohl  aber  machen 
wir,  wie  ich  noch  beschreiben 
werde,    für    kürzere    Zeit    am 


Fig.  7. 


Tage   von  einer  Stauungshyperämie   Gebrauch,   welche   zwischen 
dieser  und  der  erstbeschriebenen  massigen  Stauung  steht. 

In  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  habe  ich  die  Stauungs- 
hyperämie  in  folgender  Weise  angewandt :  Oberhalb  der  erkrankten 
Stelle  eines  Ghedes  legt  man  eine  Martin' sehe  oder  gewebte 
Gummibinde  in  mehreren  Gängen  so  fest  an,  dass  die  anfangs 
dieses  Kapitels  unter  „massiger  Stauung"  beschriebene  Hyperämie 
eintritt.  Da  Gummibinden  nach  dem  Gewichte  verkauft  werden, 
ist  die  im  Handel  gangbare  dicke  Mar tin'sche  Gummibinde  zu 
teuer.  Ich  empfehle  für  Arme  und  dünne  Beine  eine  sehr  schmieg- 
same, dünne  und  billige  Binde  i)  von  6  cm  Breite.  Nur  für  dickere 
Oberschenkel  nimmt  man  besser  die  gewöhnliche  dicke  Mar  tin'sche 
Binde,  weil  dort  die  dünnen  Binden  sich  umroUen  und  dann 
strickartig  einschnüren.   Das  Ende  der  Binde  wird  mit  einer  Sicher- 

1)  Geliefert  von  Eschbaum,  Bonn. 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Stauungsbinde. 


69 


heitsnadel  festgesteckt.     Damit  die  Binde  nicht  drückt,  wird  sie 
mit  einer  Mullbinde  unterfüttert.    Aus  demselben  Grunde  wechselt 
man  den   Ort  der  Abschnürung   (Fig.  7).      Wenn  die  Binde  bei 
dauernder   Stauung   des  Morgens   bei   ah   gesessen   hat,   so   wird 
sie  des  Abends  nach  cd  gesetzt,  um  am  andern  Morgen  wieder 
nach  a  h  zurückverlegt  zu  werden.     Auch  wenn  man  nur  kürzere 
Zeit  täglich  die  Stauungshyperämie  anwendet,  tut  man  gut,  nicht 
immer  denselben  Ort  zur  Abschnürung  zu  wählen.    Will  man  die 
Blutstauung  ganz   auf  den 
kranken      Körperteil      be- 
schränken, so  wickelt  man 
den       peripher      gelegenen 
Gliedabschnitt  doppelt  oder 
dreifach   mit   einer  Leinen- 
oder Flanellbinde  ein. 

Diese  Form  der  Stauung 
habe  ich  in  den  ersten 
Jahren  in  der  grossen  Mehr- 
zahl der  Fälle,  welche  ich 
behandelt  habe,  dauernd 
mit  nur  kurzen  Unter- 
brechungen, oder  wenigstens  - 
im  Anfang  dauernd  und  -i-^"' 
später  mit  grösseren  Unter-  -*,-«— 
brechungen  angewandt.  Da- 
bei soll  man  sein  Augenmerk 
ängstlich  darauf  richten,  dass 
stets  die  oben  beschriebene 
heisse  Stauung  unterhalten  wird,  dass  sich  das  gestaute  Glied  nie- 
mals kalt  anfühlt,  oder  gar  die  geschilderten  zinnoberroten  Flecken 
aufweist.  Ferner  soll  diese  Form  der  Stauung  niemals  Unbequem- 
lichkeiten oder  gar  Schmerzen  oder  Parästhesien  in  dem  behandelten 
Gliede  hervorrufen.  Der  Mensch,  welcher  die  Binde  trägt,  soll  so 
wenig  Beschwerden  davon  haben,  dass  er  sie  bei  seiner  gewöhn- 
lichen Beschäftigung  völlig  vergisst.  Trotzdem  gelingt  es,  beson- 
ders an  entzündeten  Körperteilen,  damit  eine  sehr  kräftige  Hyper- 
ämie mit  Ödem  hervorzurufen. 

In  neuerer  Zeit  benutze  ich  diese  Form  der  Stauung  kaum 
noch.  Vielmehr  lege  ich  die  stauende  Binde,  wie  Fig.  8  zeigt,  so 
an,  dass  sich  die  Bindengänge  nicht  vollständig  decken,  sondern 


^^»'^' 


Fig;.  8. 


70  Allgemeiner  Teil. 

einen  grösseren  Teil  des  Gliedes  umfassen.  Nur  wenn  die  Er- 
krankung sehr  hoch  an  das  Schulter-  oder  Hüftgelenk  hinaufgeht, 
müssen  die  einzelnen  Bindengänge  sich  vollständig  decken.  Vor 
allem  wickele  ich  fast  nie  mehr  den  peripheren  Gliedabschnitt  ein, 
so  dass  das  ganze  Verfahren  möglichst  einfach  ist,  und  bloss  im 
Umlegen  einer  Gummibinde  (nach  Art  der  Aderlassbinde)  ober- 
halb des  Krankheitsherdes  besteht.  Fig.  8  stellt  also  das  Normal- 
verfahren für  die  Bindenstauung  dar. 

Die  langdauernde,  über  20 — 22  Stunden  täglich  sich  erstreckende 
Stauungshyperämie,  die  ich  bei  akuten  Entzündungen  und  auch 
bei  einzelnen  chronischen  Gelenkkrankheiten,  wie  im  weiteren  Ver- 
lauf der  Arbeit  noch  geschildert  wird,  gewöhnlich  anwende,  habe 
ich  jetzt  bei  der  Behandlung  der  Tuberkulose  gänzlich  verlassen. 
Denn  sie  bedarf  bei  dieser  Krankheit  der  fortwährenden  und 
ängstlichen  Beaufsichtigung,  damit  auch  wirklich  die  heisse  Stauung 
unterhalten  wird.  Ferner  führt  es,  wie  ich  später  noch  ausein- 
andersetzen werde,  zweifellos  zuweilen  zur  Verschhmmerung  der 
Tuberkulose,  wenn  sich  dabei  ein  chronisches  Ödem  einstellt, 
welches  längere  Zeit  künstlich  unterhalten  wird. 

Ich  will  hier  noch  eine  Beobachtung  mitteilen,  welche  ich 
nach  viele  Monate  lang  angewandter  dauernder  Stauung  nicht 
selten  gemacht  habe :  Setzt  man  schliesslich  das  Mittel  aus,  so  sind 
die  früher  hyperämischen  Glieder  auffallend  blass,  wenn  sie  nicht 
durch  kleine  Blutaustritte  einen  gelbhchen  Ton  erhalten  haben. 
Wir  sehen  hier  eine  ähnliche  Reaktion  auf  langdauernde  und 
häufige  venöse  H3rperämien  eintreten,  wie  wir  dies  von  der  arteriellen 
seit  langem  wissen.  Bekanntlich  sind  Leute,  deren  Haut  durch 
Hitzeeinwirkung  viel  und  häufig  hyperämisiert  wird,  Bäcker, 
Maschinenheizer,  Glasbläser,  ausserhalb  ihrer  Arbeit  sehr  blass. 
Ich  will  mich  des  Erklärungsversuches  dafür  enthalten  und  nur 
auf  die  Tatsache  hinweisen. 

In  letzter  Zeit  wende  ich  nur  1 — 2  Stunden  täglich  bei  tuber- 
kulösen Gelenken  eine  allerdings  kräftige  Hyperämie  an,  deren 
Verlauf  ich  kurz  schildern  will :  Die  Binde  wird  so  straff  angezogen, 
dass  eine  recht  erhebliche  Stauungshyperämie  entsteht.  Die  sub- 
kutanen Venen  schwellen  sehr  stark  an,  die  Haut  wird  gleich- 
massig  blaurot,  gegen  das  Ende  der  Stunde  tritt  zuweilen  leichtes 
Prickeln  im  Gliede  ein.  Wirkliche  erhebliche  Beschwerden  oder 
gar  Schmerzen  sollen  dagegen  nicht  vorkommen.  Der  periphere 
GUedabschnitt  wird  wie  beschrieben  nicht  eingewickelt.    Das  Ver- 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Stauungsbinde. 


71 


fahren  hat  den  Vorteil  der  grossen  Sicherheit  und  Einfachheit. 
Selbst  wenn  man  hier  einen  technischen  Fehler  macht,  kann  man 
niemals  Unheil  anrichten,  da  sogar  nach  sehr  starker  einstündiger 
Stauungshyperämie  dauernde  Schädigungen  nicht  eintreten  dürften. 

Man  treibt  diese  Form  der  Stauung  nicht  so  weit,  dass  die 
beschriebenen  zinnoberroten  Flecken  auftreten.  Auch  nachweis- 
bares Ödem  zeigt  sich  bei  der  kurzen 
Dauer  der  Anwendung  in  der  Regel 
nicht.  Entsteht  es  ausnahmsweise, 
so  wird  es  vor  der  neuen  Stauung 
durch  Hochlagerung  möghchst  besei- 
tigt. Es  ist  ziemlich  gleichgültig,  wo 
man  die  stauende  Binde  anlegt,  man 
soll  nur  nicht  zu  nahe  an  das  kranke 
Gelenk  mit  ihr  kommen.  So  kann  man 
z.  B.  die  Stauungsbinde  bei  einer  Er- 
krankung des  Handgelenkes  am  Ober- 
arm anlegen. 

Das  Hüftgelenk  mittels  elastischer 
Abschnürung  unter  Stauungshyperämie 
zu  setzen,  ist  mir  bis  jetzt  nicht  in  be- 
friedigender Weise  gelungen,  wohl  aber 
lässt  sich  das  Verfahren  sehr  gut  beim 
Schultergelenk  in  Anwendung  bringen, 
so  dass  man,  abgesehen  von  der  Hüft- 
gegend, jeden  beliebigen  Teil  der  GKed- 
massen  mit  dem  Mittel  behandeln  kann. 
Ich  beschreibe  die  Technik  der  Schulter- 
gelenkstauung (Fig.  9):  Um  den  Hals 
wird  lose  ein  kravattenförmig  zusam- 
mengelegtes Tuch  gebunden.  Von  der 
Achselhöhle  aus  legt  man  einen  dicken 

Gummischlauch  um  die  Schulter,  führt  das  eine  Ende  durch  die 
Schleife  des  Halstuches,  das  andere  aussen  davon  herum,  und  zieht 
ihn  so  fest  an,  dass  eine  starke  venöse  Stauung  im  Gliede  entsteht. 
Der  Schlauch  wird  oberhalb  des  Tuches  mit  einer  Klemme  ge- 
schlossen, welche  den  Schlauch  gleichzeitig  am  Abgleiten  hindert. 
Damit  er  nicht  drückt,  wird  er  mit  einem  Streifen  weichen  Filzes 
oder  mit  Watte  unterpolstert.  (Die  Unterpolsterung  fehlt  in  der 
Figur.)     Um  das  Schultergelenk  auch  wirklich  in  seinem  ganzen 


Fig.  9. 


72 


Allgemeiner  Teil. 


Umfange  unter  Hyperämie  zu  setzen,  erhält  der  Schlauch  nach 
vorn  und  hinten  je  einen  Bindenzügel.  Diese  werden  unter  Zug 
in  der  gesunden  Achselhöhle  geknüpft  und  ziehen  so  den  Schlauch 
bis  über  das  Schultergelenk  hinaus  (s.  Fig.  9).  Bei  Frauen  ist  es 
zweckmässig,  an  der  gesunden  Seite  einen  Ring  ans  Korsett  an- 
zubringen und  daran  die  Bindenzügel  zu  befestigen.    Die  letzteren 

sind  notwendig,  weil  ohne  sie  der 
Schlauch  nicht  genügend  über  das 
Schultergelenk  hinweggreift.  In  der 
Regel  verzichte  ich  auch  hier  auf 
die  Einwicklung  des  gesunden  Teiles 
des  Armes,  die  in  der  Fig.  noch  ab- 
gebildet ist.  Einfacher  und  bequemer 
erzeugt  man  die  Schulterstauung 
auf  folgende  Weise:  Man  fertigt 
aus  Stücken  fingerdicken,  weichen 
Gummischlauches  Ringe  von  ver- 
schiedener Weite,  indem  man  das 
eine  Ende  zuspitzt,  in  das  andere  es 
hineinschiebt  und  beide  Enden  fest 
vernäht.  Der  Schlauch  wird  bis  auf 
ein  etwa  2  cm  breites  Stück  mit 
weichem  Filz  benäht.  Das  freiblei- 
bende Stück  gestattet  dem  Gummi- 
schlauch, sich  beliebig  auszudehnen. 
Man  wählt  sich  einen  Ring  aus,  der 
sich  unter  erheblicher  Spannung  über 
das  Schultergelenk  schieben  lässt. 
Damit  er  weit  über  das  zu  hyper- 
ämisierende  Gelenk  hinübergreift,  er- 
hält er  an  der  Vorder-  und  Hinter - 
Seite  je  ein  breites  Gurtband,  die 
man  unter  Zug  über  der  Brust  zusammenschnallt.  Fig.  10  zeigt 
dieses  Verfahren. 

Länger  als  höchstens  12  Stunden  täglich  darf  in  keinem  Falle 
diese  Stauung  der  Schulter  angewandt  werden,  und  auch  dann 
noch  muss  man  mehrmals  täglich  Pausen  dazwischen  setzen,  weil 
sonst  der  Schlauch,  dessen  Platz  man  an  der  Schulter  natürlich 
nicht  wechseln  kann,  schädlichen  Druck  hervorrufen  würde. 

An  den   oberen   Gliedmassen  lässt   sich  im   allgemeinen  die 


Passive  Hyperäiiiiü  der  Gliodci'  ilnrcli   cim-  Stauungsbinde.  73 

Stauungshyperämie  viel  leichter  hervorrufen  als  an  den  unteren. 
Hier  sind  es  besonders  die  Beine  sehr  fetter  Frauen,  bei  welchen 
die  Hyperämisierung  zuweilen  auf  Schwierigkeiten  stösst.  Aber 
auch  sonst  trifft  man  dies,  allerdings  selten,  an.  Häufig  kann  man 
dadurch  eine  ungenügende  Stauungshyperämie  sehr  kräftig  machen, 
dass  man  erst  die  Gummibinde  so  stark  umwickelt,  dass  eine 
völlige  Blutleere  entsteht,  welche  man  4 — 5  Minuten  bestehen  lässt. 
Jetzt  lockert  man  die  Binde  so  weit,  dass  die  starke  reaktive 
Hyperämie  entsteht,  und  benutzt  nun  dieselbe  Binde  als  Stauungs- 
mittel, welche  das  reichliche  Blut  zurückhält.  Oder  besser,  man 
pinselt  die  kranke  Stelle  so  lange  mit  Jodtinktur,  bis  eine  heftige 
Entzündung  der  Haut  entsteht.  Die  Stauungsbinde  ruft  dann  im 
Bereiche  der  Entzündung  eine  sehr  starke  Hyperämie  hervor. 

Einer  besonderen  Beschreibung  bedarf  die  Kopf-  und  Hoden - 
Stauung.  Die  Kopfstauung  ist  sehr  leicht  hervorzurufen  durch 
ein  Baumwollgummiband,  das  in  jedem  Baumwolladen  für  billiges 
Geld  zu  kaufen  ist.  Bei  Erwachsenen  haben  wir  es  3,  bei  Kindern 
2  cm  breit  gebraucht.  Man  schneidet  ein  Stück  von  der  Länge 
ab,  dass  es  beinahe  an  den  Umfang  des  Halses  heranreicht.  Das 
Band  trägt  auf  der  einen  Seite  einen  Haken,  a'uf  der  anderen  eine 
Reihe  hintereinander  stehender  Ösen,  so  dass  es  verschieden  weit 
gestellt  werden  kann.  Man  merkt  sich,  in  welche  Ose  eingehakt 
werden  muss.  Da  die  Binden  sehr  schnell  ihre  Elastizität  ein- 
büssen,  werden  sie  etwa  alle  4 — 8  Tage  durch  neue  ersetzt.  Das 
Band  wird  hinten  am  Halse  geschlossen,  wo  die  Haut  widerstands- 
fähiger ist.  Damit  der  Verschlussapparat  dort  nicht  drückt,  wird 
ein  Stück  Filz  untergelegt.  Bei  zarter  Haut  wird  das  Band  mit 
einer  Lage  Mullbinde  unterfüttert.  In  aufrechter  Körperhaltung 
wird  es  aus  leicht  begreiflichen  Gründen  etwas  stärker  angezogen 
vertragen  als  im  Liegen.  Es  muss  leichte  Blaufärbung  des  Ge- 
sichts und  bei  akuten  Entzündungen  deutliches  Ödem  hervorrufen, 
darf  aber  niemals  ernstliche  Unannehmlichkeiten  machen. 

Die  Kopfstauung  macht  geringere  Beschwerden  als  man  denkt, 
selbst  wenn  man  sie  20 — 22  Stunden  täglich  unterhält.  Ehe  ich  sie 
bei  Kranken  anwandte,  habe  ich  sie  bei  mir  selbst  geprüft.  Ich  trug 
5  Nächte  hintereinander  die  Stauungsbinde  am  Halse  so  fest,  dass 
eine  deutliche  Schwellung  und  Blaufärbung  des  Gesichts  auftrat i). 

1)  Vergl.  Bier,  Über  d.  Einfluss  künstlich  erzeugter  Hyperämie  des  Ge- 
hirns u.  künstUch  erhöhten  Hirndrucks  auf  Epilepsie,  Chorea  u.  gewisse  Formen 
von  Kopfschmerzen.  Mitteil,  aus  den  Grenzgebieten.  1900.  VII.  Band.   2.  u.  3.  Heft. 


74  Allgemeiner  Teil. 

Die  erste  Nacht  machte  die  Binde  Unannehmhchkeiten  und  den 
folgenden  Tag  über  hatte  ich  Kopfschmerzen.  Diese  Beschwerden 
fielfen  nach  dem  ersten  Tage  fort.  Ich  schhef  gut,  tat  des  Tages 
über  meine  gewohnte  Arbeit  ohne  Beschwerden  und  hatte  keine 
Kopfschmerzen . 

Um  die  Folgen  sehr  hochgradiger  Stauung,  welche  ich  niemals 
in  dieser  Stärke  bei  einem  kranken  Menschen  hervorzurufen  wagen 
würde,  kennen  zu  lernen,  und  vor  Überraschungen  sicher  zu  sein, 
trug  ich  eine  Nacht  hindurch  eine  Stauungsbinde,  welche  ich  bis 
zur  Grenze  des  Erträghchen  anzog.  Sie  kostete  mich  eine  fast 
schlaflose  Nacht,  rief  Sausen  in  den  Ohren,  pulsatorisches  Klopfen 
im  Schädel  und  Stirnkopfschmerz  hervor.  Vorübergehend  musste 
ich  die  Binde  lockern.  Nach  Abnahme  der  Binde  am  anderen 
Morgen  waren  kurze  Zeit  nachher  auch  die  Augenlider  geschwollen, 
die  Bindehaut  der  Augen  gerötet,  und  bis  gegen  Mittag  hatte  ich 
Stirnkopfschmerz.  Sonstige  Unannehmlichkeiten  bemerkte  ich  nicht. 

NatürHch  wird  man  die  Kopfstauung  bei  arteriosklerotischen 
Leuten  nicht  oder  nur  mit  grosser  Vorsicht  anwenden.  Im  übrigen 
habe  ich  sie  in  den  letzten  Jahren  sehr  ausgiebig  bei  allen  mög- 
lichen akuten  Entzündungen  am  Kopfe,  besonders  bei  akuter 
Mittelohreiterung  mit  Mastoiditis,  schwerer  Parulis,  akuter  Dacryo- 
cystitis  etc.  gebraucht,  wovon  später  noch  ausführlich  die  Rede 
sein  soll.  Auch  bei  Chorea  und  bei  anämischen  Kopfschmerzen 
hat  sie  mir  gute  Dienste  getan. 

Um  Stauungshyperämie  am  Hoden  i)  hervorzurufen,  zieht  man 
den  oder  die  erkrankten  Hoden  stark  herab  und  legt  um  die  Wurzel 
des  Hodensackes  einen  gut  unterfütterten  Gummischlauch.  Seine 
Enden  werden  durch  einen  Schieber  geschlossen.  Häufig  ist  es 
gut,  bei  einseitiger  Erkrankung  auch  den  gesunden  Hoden  gleich- 
zeitig der  Hyperämie  zu  unterwerfen,  weil  so  der  Schlauch  besser 
sitzt.  Da  man  die  Schnürstelle  nicht  wechseln  kann,  darf  der 
Schlauch,  um  Druck  zu  vermeiden,  höchstens  12  Stunden  täglich 
getragen  werden.  Die  Hodenstauung  ist  sehr  leicht  auszuführen. 
Ich  habe  sie  vielfach  benutzt  gegen  Tuberkulose  und  gegen  Fisteln 
und  Verhärtungen,  die  nach  Epididymitis  gonorrhoica  zurückge- 
bheben waren.  Neuerdings  ist  sie  von  anderer  Seite  auch  mit  gutem 
Erfolge  gegen  die  frische  Epididymitis  gonorrhoica  angewandt. 

1)  Bier,  Behandlung  chirurgischer  Tuberkulose  etc.:  v.  Esmarchs  Fest- 
schrift, Kiel  und  Leipzig  1893.  S.  28,  und  Behandlung  der  Gelenktuberkulose 
mit  Hyperämie,  Berliner  Klinik.    Heft  89.     1895. 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Stauvmgsbinde.  75 

Der  Kranke  trägt,  wenn  er  aufsteht,  gleichzeitig  ein  weites, 
mit  Watte  gut  gepolstertes  Suspensorium. 

Mit  der  Blutstauung  ist  stets  auch  eine  Lymphstauung  ver- 
bunden. Selten  beobachtet  man  nun  eine  Form  der  Stauung,  welche 
ich  als  ,, weisse"  bezeichnet  habe.  Dabei  besteht  beträchthches 
Ödem,  während  die  Hyperämie  nur  unbedeutend  ist.  Das  GHed 
sieht  dann  ödematös,  glänzend  und  weiss  aus.  Ich  habe  das  als 
vorwiegende  Lymphstauung  erklärt.  Ich  kann  darüber  kurz  hin- 
weggehen, weil  diese  Erscheinung  sehr  selten  ist,  und  will  nur 
erwähnen,  dass  sie  nach  meinen  allerdings  sehr  spärlichen  Be- 
obachtungen unwirksam  ist. 

Man  hat  gegen  die  Anwendung  der  Stauungshyperämie  ein- 
geworfen: sie  sei  besonders  bei  Entzündungen  unbequem,  schmerz- 
haft und  gefährlich.  Soll  das  Verfahren  jemals  Eingang  in  die 
Praxis  finden,  so  muss  es  von  diesen  Vorwürfen  gereinigt  werden. 
Zunächst  betone  ich,  wie  schon  so  oft,  dass  jede  Stauungsbinde, 
welche  wirkhch  grössere  Unbequemlichkeiten  oder  gar  Schmerzen 
hervorruft,  falsch  angelegt  ist.  Im  Gegenteil,  wir  werden  noch 
hören,  dass  die  schmerzlindernde  Wirkung  dieses  Mittels  eine  ihrer 
hervorragendsten  Wirkungen  ist.  Ich  wiederhole  deshalb :  Wer  mit 
der  Stauungshyperämie  Schmerzen  erzeugt,  statt  sie  zu  lindern, 
weiss  noch  nicht  damit  umzugehen.  Ganz  ausnahmsweise  kommen 
Fälle  vor,  wo  man  erwarten  sollte,  dass  nach  Lage  der  Sache  das 
Mittel  günstig  wirken  würde,  wo  es  aber  in  Wirkhchkeit  vorhandene 
Schmerzen  und  Beschwerden  vermehrt.  Selbst  da  aber  kommt 
man  durch  geschicktes  Individualisieren  fast  immer  noch  zum  Ziel. 
Stösst  man  auf  dauernde  Schwierigkeiten,  so  soll  man  lieber  ein 
anderes  Mittel  wählen. 

Hauptsächlich  hat  man  gefürchtet,  dass  die  stauende  Gummi- 
binde zu  Dekubitus  an  der  Schnürstelle,  oder  gar  zu  Brand  des 
ganzen  abgeschnürten  Gliedabschnittes  führen  könne.  Das  erstere 
habe  ich  wohl  in  der  allerersten  Zeit  erlebt,  als  ich  noch  zur  Er- 
zeugung der  Hyperämie  mich  des  Gummischlauches  bediente.  Seit- 
dem ich  eine  weiche,  breite  Gummibinde  benutze  und  ängsthch 
darauf  sehe,  dass  sofort  bei  Reizung  der  Haut  an  der  SchnürsteUe 
eine  Pause  gemacht  wird,  bis  sie  wieder  ganz  gesund  ist,  habe  ich 
dies  nur  noch  einmal  bei  der  schwierig  durchzuführenden  Schulter- 
stauung gesehen. 

Wenn  man  nur  annähernd  die  Regeln  befolgt,  die  ich  für  die 
Anwendung  der  Stauungshjrperämie  angegeben  habe,  so  ist  Brand 


7g  Allgemeiner  Teil. 

von  gestauten  Gliedabschnitten  völlig  ausgeschlossen.  Ich  pflege 
hier  Assistenten,  Personal  und  Kranken  einzuschärfen,  dass  eine 
Stauungsbinde,  welche  länger  liegt,  niemals  Schmerzen  oder 
Parästhesien  in  dem  Gliede  hervorrufen  darf,  sonst  muss  sie  sofort 
gelockert  werden.  Den  Assistenten  gegenüber  betone  ich  auch 
immer,  dass  nur  der  Kranke  selbst  weiss,  ob  er  Schmerzen  hat,  und 
sie  sich  niemals  verleiten  lassen  sollen,  ihm  zu  entgegnen:  ,,Sie  sind 
weichlich,  das  müssen  Sie  aushalten,  die  Binde  liegt  nicht  zu  fest." 

Ich  kann  deshalb  behaupten,  dass  jene  Gefahren  eingebildet 
und  nur  bei  der  gröbsten  Unkenntnis  der  Technik  vorhanden  sind. 
Wenn  man  aber  Mittel  anwendet,  welche  man  nicht  kennt  und  nicht 
beherrscht,  so  sind  sie  fast  alle  gefährlich. 

Lässt  man  eine  stauende  Binde  sehr  lange  an  einer  Stelle  liegen 
und  benutzt  man  immer  dieselbe  Höhe  des  Gliedes  zum  Abschnüren, 
so  tritt  natürlich  Atrophie,  in  erster  Linie  der  Muskeln  auf.  Des- 
halb soll  man  häufig  die  Schnürstelle  wechseln.  Trotzdem  ist  bei 
jahrelanger  Anwendung  des  Mittels  die  Atrophie  nicht  ganz  zu  ver- 
meiden, bleibt  aber  bei  genügend  häufigem  Wechsel  der  Schnürstelle 
unbedeutend  und  verschwindet  nach  Aussetzen  des  Mittels  von  selbst . 

Ich  selbst  musste  früher  der  Stauungshyperämie  zum  Vorwurf 
machen,  dass  sie  zuweilen  bei  offenen  Tuberkulosen  zu  heissen 
Vereiterungen  und  zu  Erysipel  führe.  Ich  habe  früher  mehrere 
üble  Fälle  dieser  Art  mitgeteilt.  Ich  kann  jetzt  versichern,  dass 
sie  sämtlich  die  Folge  einer  damals  verkehrt  angewandten  Technik 
waren.  Ich  benutzte  damals  noch  eine  zu  starke  und  zu  langan- 
dauernde Stauungshyperämie,  welche  zu  chronischem  Odem  führte. 
Das  letztere  aber  begünstigt,  wie  wir  aus  vielfachen  Erfahrungen 
wissen,  den  Ausbruch  akuter  Entzündungen.  Inzwischen  haben  wir 
die  Technik  der  Stauungshjrperämie  so  ausgebildet,  dass  diese 
Gefahr  gänzlich  vermieden  wird.  Im  Gegenteil,  ich  werde  noch 
schildern,  dass  die  jetzt  von  uns  geübte  Form  der  Stauung  auf 
den  Verlauf  der  akuten  Entzündungen  sehr  günstig  einwirkt.  So 
habe  ich  denn  auch  seit  meiner  ausführlichen  Mitteilung  über  diese 
Gefahr  im  Jahre  1894i)  nur  ein  einziges  Mal  noch  das  Hinzutreten 
einer  schweren  akuten  Entzündung  zu  einer  aufgebrochenen  Tuber- 
kulose, die  auf  die  Behandlung  zurückgeführt  werden  musste,  erlebt, 
und  zwar  in  einer  Zeit,  wo  wir  wiederum  mit  der  Einführung  einer 

1)  Bier,  Weitere  Mitteilungen  über  die  Behandlung  chirurgischer  Tuber- 
kulose mit  Stauungshyperämie.  Verhandl.  d.  deutschen  Ges.  f.  ChirLtrgie.  1894. 
II.   S.  114. 


Passive  Hyperäinio  der  Glieder  durcli  eine   Stauungsbinde.  77 

neuen  Technik  (Saugapparate  zur  Erzeugung  von  Hyperämie  bei  Tu- 
berkulose) beschäftigt  waren  und  aus  Misserfolgen  erst  lernen  mussten . 
Ich  werde  den  betreffenden  Fall  in  dieser  Arbeit  noch  mitteilen. 

Ahnlich  steht  es  mit  der  anderen  von  mir  beschriebenen  un 
günstigen  Beobachtung,  dem  Auftreten  von  Stauungsgeschwüren 
unter  dem  Einfluss  der  Hjrperämie;  auch  diese  sind  lediglich  auf 
eine  verkehrte  Technik  zurückzuführen. 

Es  ist  mir  deshalb  erfreulich,  versichern  zu  können,  dass  die 
einzige  Gefahr  der  Stauungshyperämie,  welche  ich  früher  als  vor- 
handen anerkennen  musste,  und  ich  selbst  zuerst  beobachtet  und 
beschrieben  habe,  lediglich  ein  Fehler  der  Technik  war,  welcher 
sich  leicht  vermeiden  lässt. 

Ferner  habe  ich  trotz  monate-  und  jahrelang  angewandter 
Stauungshyperämie  niemals  gesehen,  dass  Varicen  peripher  von  der 
Schnürstelle  aufgetreten  sind.  Es  ist  dies  wohl  der  beste  Beweis 
für  die  auch  anderweitig  schon  mehrfach  geäusserte  Ansicht,  dass 
Varicen  nicht  einfach  durch  Stauung  entstehen,  sondern  dass  noch 
eine  Erkrankung  der  Venenwand  daneben  da  sein  muss. 

Hierher  gehört  auch  die  auf  Seite  62  und  64  beschriebene 
Beobachtung,  dass  die  durch  eine  Stauungsbinde  anfangs  sehr  stark 
gedehnten  subkutanen  Venen  nach  einigen  Stunden  anfangen,  sich 
zusammenzuziehen,  so  dass  sie  kaum  erweitert  erscheinen. 

Henlei)  weist  mit  Recht  darauf  hin,  dass  das  Anlegen  der 
Stauungsbinde  eine  sehr  genaue  und  sorgfältige  Technik  erfordere, 
weil  wir  bei  der  Bemessung  des  anzuwendenden  Zuges  nur  auf 
unser  eigenes  und  das  Gefühl  des  Kranken  angewiesen  sind.  Um 
diesen  Übelstand  zu  vermeiden,  hat  er  einen  Hohlschlauch  kon- 
struiert, der  um  das  zu  behandelnde  Glied  herumgelegt,  mit  einer 
Klemme  geschlossen  und  nach  dem  Vorbilde  des  Riva-Rocci'schen 
Blutdruckmessers  mit  Luft  aufgeblasen  wird.  Die  notwendige 
Druckhöhe  wird  für  jeden  einzelnen  Fall  durch  genaue  Versuche 
festgestellt  und  vermittels  eines  Quecksilbermanometers  gemessen. 
Man  braucht  dann  nur  einmal  den  richtigen  Grad  der  Stauung 
genau  auszuprobieren  und  kann  ihn  dann  jedesmal  mit  Hilfe  des 
Quecksilbermanometers  leicht  wiederherstellen. 

Ich  habe  den  He  nie' sehen  Apparat  in  schwierigen  Fällen  mit 
Nutzen  gebraucht. 

■  1)  Henle,  Ziir  Technik  der  Anwendung  venöser  Hyperämie.  Centralblatt 
für  Chirurgie  1904.  Nr.  13,  und  zur  Technik  der  venösen  Hyperämie.  Verhand- 
lungen der  deutschen  Gesellsch.  flir  Chirurgie  1904.    I.   S.  227. 


78  Allgemeiner  Teil. 

V.  Leyden  und  Lazarus^)  empfehlen  statt  der  Stauungsbinde 
auch  für  die  Gheder  ähnliche  Gummibinden,  wie  wir  sie  für  die 
Kopfstauung  gebrauchen,  die  durch  Ösen  oder  Knöpfe  verstellbar 
sind;  Guth^)  einfache  Heftpflasterstreifen,  die  er  fest  anzieht. 

Kozlowski^)  und  Tomaschewski*)  haben  Apparate  an- 
gegeben, um  den  Druck  der  Binde  zu  regeln.  Mir  fehlen  Er- 
fahrungen über  die  Wirkung  dieser  Hilfsmittel. 

Übrigens  bewirken  He  s  sing 'sehe  und  ähnliche  portative  Appa- 
rate, wie  ich  mich  oft  überzeugt  habe,  in  den  kranken  Gelenken, 
wegen  deren  sie  getragen  werden,  eine  manchmal  sehr  erhebliche 
Stauungshyperämie . 

Bei  theoretischer  Betrachtung  kommt  man  leicht  auf  den  Ge- 
danken, dass  bei  langer  Dauer  der  Stauungshyperämie,  welche  auf 
grössere  Gebiete  des  Körpers  sich  erstreckt,  eine  Blutzersetzung 
eintreten  und  diese  üble  Folgen  haben  könnte.  Denn  bei  Stauungs- 
hyperämie gehen  nicht  nur  zahlreiche  rote  Blutscheiben,  welche 
in  die  Gewebe  austreten,  sondern  vielleicht  auch  solche  in  den 
Gefässen  selbst  zugrunde,  und  es  finden  tiefgreifende  chemische 
Veränderungen  des  gestauten  Blutes  statt. 

Landois^)  sagt  in  seinem  Lehrbuche  der  Physiologie,  dass 
sich  am  leichtesten  die  roten  Blutscheiben  des  Kohlensäureblutes 
lösen,  bemerkt  aber  in  seiner  Transfusion  des  Blutes ß),  dass  Kohlen- 
säureblut sich  zwar  am  leichtesten  löse,  aber  entschieden  der  Ein- 
wand von  der  Hand  zu  weisen  sei,  als  wäre  vielleicht  das  kohlen - 
säurehaltige  Blut  zum  Teil  bereits  in  Auflösung  begriffen.  Denn 
arteriahsiert  man  Erstickungsblut  von  Versuchstieren,  so  wird  es 
wieder  schwerer  löslich. 

E.  Grawitz'^)  erwähnt,  dass  in  dem  hochkonzentrierten  Stau- 
ungsblut bei  Herzfehlern  im  Zustande  der  Kompensationsstörung 
das  Hämoglobin  abnorm  lose  an  das  Stroma  gebunden  sei,  und 
hält  es  für  wahrscheinlich,  dass  in  derartigen  Fällen  ein  stärkerer 
Zerfall  der  roten  Blutkörperchen  in  der  Leber  stattfinde. 

1)  V.  Leyden  u.  Lazarus,  Über  die  Behandlung  der  Gelenkentzündungen 
mit  der  Bier'schen  Stauungshyperämie,     v.  Leuthold-Gedenksclirift.     I.  Band. 

2)  Guth,  Die  Behandlung  entzündlicher  Erkrankungen  mit  Stauiongs- 
binden  und  Saugapparaten  in  der  Praxis.     Prager  med.  W.    31.  Bd.  Nr.  3.     1906. 

3)  Kozlowski,   Centralblatt   für  Chirurgie.    1906.    S.  83. 

4)  Tomasche wski,   Centralblatt  für  Chirurgie.     1906.    S.  756. 

5)  Landois,   Lehrbuch  der  Physiologie.     10.  Aufl.     1899.    S.  26  u.  27. 

6)  Landois,  Die  Transfusion  des  Blutes.     Leipzig  1875. 

7)  E.  Grawitz,  Klinische   Pathologie  des  Blutes.     S.  211. 


Passive  Hyperämie  der  Glieder  durch  eine  Stauungsbinde.  79 

Chvosteki)  fand  das  Serum  von  Stauungsblut,  das  er  nach 
der  Abschnürung  eines  Fingers  —  welche  allerdings  nur  10  Minuten 
dauerte  —  entnommen  hatte,  frei  von  Hämoglobin. 

Dass  es  bei  der  Stauungshyperämie,  welche  wir  zu  Heilzwecken 
benutzen,  häufig  zu  Blutzersetzungen  kommt,  beweist  die  ganz 
leichte  Gelbfärbung  der  Haut  nach  längerer  Anwendung  des  Mit- 
tels. Diese  fehlen  häufig  auch  dann  nicht,  wenn  die  Stauung  nur 
kurze  Zeit  täglich  und  in  massigem  Grade  angewendet  wurde,  und 
tritt  besonders  an  entzündeten  Körperteilen  auf.  Da  wir  nun  im 
allgemeinen  wohl  stärkere  und  länger  dauernde  Stauungen  unter- 
halten, als  die  oben  erwähnten  Untersucher  im  Auge  hatten,  so  ist 
es  doch  zweifelhaft,  ob  wir  nicht  zuweilen  grössere  Blutzersetzungen 
hervorrufen.  Wäre  dies  der  Fall  aber,  so  müssten  wir  sie  leicht 
nachweisen  können.  Denn  wir  wissen  aus  Erfahrungen,  welche  wir 
bei  Transfusion  von  fremdartigem  Blut  und  bei  einer  Reihe  von 
Krankheiten,  welche  mit  massenhaftem  Zerfall  roter  Blutkörper- 
chen einhergehen,  gemacht  haben,  dass  in  solchen  Fällen  Leber 
und  Milz  nicht  genügen,  um  das  zersetzte  Blut  zu  verarbeiten, 
sondern  dass  alsdann  Eiweiss  und  bei  .hochgradiger  Zersetzung 
sogar  Hämoglobin  im  Harne  auftritt.  Ferner  verlaufen  diese  Fälle 
mit  Fieber,  welches  meist  mit  einem  Schüttelfroste  einsetzt. 

Unter  der  sehr  grossen  Anzahl  von  Fällen,  welche  wir  mit 
Stauungshyperämie  behandelten,  haben  wir  aber  etwas  derartiges 
nur  ein  einziges  Mal  beobachtet.  Es  handelte  sich  um  einen 
schwächlichen  kleinen  Knaben,  welcher  im  Anschluss  an  Stauungs- 
hyperämie die  durch  eine  am  Oberschenkel  angelegte  Binde  hervor- 
gerufen war,  jedesmal  hohes  Fieber  und  leichte  Albuminurie  bei 
ungestörtem  Allgemeinbefinden  bekam.  Beides  trat  regelmässig 
bald  nach  Anlegung  der  Stauungsbinde  ein,  und  verschwand  schnell, 
sobald  sie  entfernt  wurde. 

Übrigens  haben  ihm  diese  Erscheinungen  nicht  das  Geringste 
geschadet. 

WahrscheinHch  handelte  es  sich  bei  diesem  Kranken  um  eine 
ähnliche  Hinfälligkeit  der  roten  Blutscheiben,  oder  vielleicht  auch 
anderer  Blutbestandteile,  wie  sie  bei  der  rätselhaften  Krankheit 
vorkommt,  welche  in  der  inneren  Medizin  unter  dem  Namen  der 
paroxysmalen  Hämoglobinurie  geht,  bei  der  durch  geringfügige 
äussere  Anlässe,  besonders  durch  Kälte,  eine  hochgradige  Blut- 

1)  Chvosteck,  Über  das  Wesen  der  paroxysmalen  Hämoglobinurie.  Ver- 
lag von  Deutieke  1894. 


gQ  Allgemeiner  Teil. 

Zersetzung  eintritt,  die  geradezu  unter  dem  Bilde  einer  Malaria 
verlaufen  kann.  Konnte  doch  Chvostek  nachweisen,  dass  in  sol- 
chen Fällen  durch  Stauungshyperämie  der  Anfall  hervorgerufen 
werden  kann. 

Bekanntlich  hat  man  auch  nach  kalten  Bädern  i)  Eiweiss  und 
Hämoglobin  vorübergehend  im  Harn  gefunden. 

Reineboth^)  und  Reineboth  und  Kohlhardt^)  fanden, 
dass  bei  Kaninchen  regelmässig  nach  Erkältung  (Eintauchen  in 
Eiswasser  für  5  Minuten)  Hämoglobin  an  das  Serum  abgegeben  wird, 
ohne  dass  dasselbe  in  den  Harn  übergeht.  Es  soll  vielmehr  in 
Leber  und  Milz  verarbeitet  werden.  Die  Richtigkeit  dieser  Ver- 
suche wird  allerdings  von  E.  Grawitz"*)  bestritten. 

Dass  im  allgemeinen  eine  ausgedehnte  Stauungshyperämie  keine 
so  hochgradige  Blutzersetzung  hervorrufen  dürfte,  dass  sie  von 
irgend  einer  Bedeutung  wäre,  und  sich  durch  Fieber  und  Hämo- 
globin- oder  Eiweissbefund  im  Harne  nachweisen  liesse,  dürfte  fol- 
gender Versuch  beweisen,  den  ich  mehrere  Tage  hintereinander 
mit  gleichem  Erfolg  an  mir  angestellt  habe:  Ich  legte  mir  hoch 
an  beiden  Oberschenkeln  je  eine  Stauungsbinde  so  fest  an,  dass 
die  oben  beschriebene  Stauungshyperämie  eintrat,  d.  h.  dass  die 
Hautvenen  stark  hervortraten,  das  ganze  Glied  blaurot  wurde  mit 
zahlreichen  zinnoberroten  Flecken,  und  anschwoll.  Es  gelingt  dies 
bei  mir  ausgezeichnet.  Nach  kurzer  Zeit  tritt  ein  Gefühl  von 
Kribbeln,  Einschlafen  und  Müdigkeit  in  den  Beinen  und  schliess- 
lich Schmerz  ein,  so  dass  es  der  Aufbietung  aller  Willenskraft  be- 
darf, um  diese  ausgedehnte  Stauung  länger  als  ^  Stunde  auszu- 
halten. Sehr  deutlich  macht  sich  dabei  die  Erscheinung  bemerkbar, 
dass  dem  übrigen  Körper  viel  Blut  entzogen  ist;  der  Puls  wird 
klein,  steigt  von  68  auf  88,  die  Atmung  wird  vertieft,  man  hat  das 
Gefühl  des  Blutmangels  im  Kopf  und  ist  unvermögend  zu  denken. 
Nach  45  Minuten  werden  die  Stauungsbinden  gelöst,  und  alle  diese 


1)  Johnson,  Temporary  albuminurie,  the  result  of  cold  bathing.  Brit. 
med.  Joiirn.  1875.  Winternitz,  Die  Hydrotherapie.  II.  Aufl.  Wien  u.  Leip- 
zig 1890.     S.  83. 

2)  Reineboth,  Experimentelle  Untersuchungen  über  den  Entstehungs- 
modus der  Sugillationen  der  Pleura  infolge  von  Abkühlung  usw.  Deutsches 
Archiv  f.  klin.  Med.  62.  Bd.  S.  63  und  Centralblatt  f.  innere  Medizin.  1900. 
Nr.  3. 

3)  Reineboth  und  Kohlhardt,  Blutveränderungen  infolge  von  Ab- 
kühlung.   Ebenda  65.  Bd.  S.  192. 

4)  Grawitz,  Centralbl.  f.  innere  Medizin.    1899.  Nr.  46  und   1900  Nr.  3. 


Hyperämie  durch  trockene  Schröpfköpfe.  gj 

Erscheinungen  verschwinden  sofort.  In  der  Haut  fanden  sich  die 
oben  beschriebenen  karminroten  Blutpunkte.  Ich  konnte  niemals 
nach  diesem  Versuche  Eiweiss  oder  Hämoglobin  in  meinem  Harn, 
ebensowenig  einen  regelmässigen  Einfluss  auf  die  Temperatur  nach- 
weisen. Auch  das  Allgemeinbefinden  wurde  durch  diese  so  gewal- 
tige Stauung,  wie  man  sie  ja  zu  Heilzwecken  niemals  herbeiführen 
wird,  nicht  im  geringsten  gestört,  obwohl  ich  den  Versuch  an  sechs 
aufeinander  folgenden  Tagen  wiederholte. 

Trotzdem  ist  vielleicht  ein  erheblicher  Untergang  von  roten 
Blutscheiben  damit  verbunden.  Aber  eine  nicht  allzu  grosse  Zer- 
setzung von  solchen  führt,  wie  ich  nach  meinen  Erfahrungen  mit 
Transfusion  fremdartigen  Blutes  Reineboth  und  Kohlhardt  zu- 
stimmen muss,  zum  Auftreten  weder  von  Blutrot  noch  von  Eiweiss 
im  Harn.  

Hyperämie  durch  trockene  Schröpfköpfe. 

Fast  ebensolange,  wie  ich  Hyperämie  überhaupt  gegen  Krank- 
heiten anwende,  habe  ich  mich  zu  ihrer  Erzeugung  auch  des  trockenen 
Schröpf  köpf  es  bedient  i).  Ich  habe  von  ihm  ausgedehnten  Gebrauch 
gemacht,  liess  ihn,  um  ihn  zum  Haften  zu  bringen,  der  Form  un- 
ebener Körperteile  anpassen,  und  liess  mir  für  grössere  Körper- 
stellen Riesenapparate  herstellen.  Eine  Zeitlang  habe  ich  den 
Schröpfkopf  dann  als  hyperämisierendes  Mittel  vernachlässigt,  bis 
mein  Assistent  und  erfolgreichster  Mitarbeiter  Klappt)  in  neuerer 
Zeit  ihn  wieder  in  ausgedehnter  Weise  verwendet,  und  die  Methodik 
für  die  verschiedensten  Krankheiten  in  vortreffhcher  Weise  aus- 
gebildet hat.  Seitdem  gehört  der  Schröpfkopf  bei  uns  zu  den  vor- 
nehmsten hyperämisierenden  Mitteln. 

Dass  der  Schröpfkopf  zu  den  allerältesten  Heilmitteln  ge- 
hört, ist  bekannt.  Aber,  als  ich  in  letzter  Zeit,  leider  viel 
zu  spät,  die  Literatur  über  ihn  nachsah,  war  ich  doch  nicht 
wenig  erstaunt  zu  erfahren,  in  welcher  Ausdehnung  und  Viel- 
seitigkeit dies  ehrwürdige  Instrument,  solange  es  eine  Geschichte 
gibt,  von  sämtlichen  Völkern  der  Welt,  den  niedrigsten  Natur- 

1)  Vergl.  Bier:  Weitere  Mitteilungen  über  die  Behandlung  cliirurgischer 
Tuberkulose  mit  Stauiingshyperämie.  Verhandl.  d.  deutschen  Gesellschaft  für 
Chirurgie  1894.  S.  94,  und  Bier:  Über  verschiedene  Methoden,  künstliche 
Hyperämie   zu  Heilzwecken  hervorzurufen.      Münch.   med.   W.    1899.   Nr.  48/49. 

2)  Klapp,  Über  die  Behandlixng  entzündlicher  Erkrankungen  mittels 
Saugapparaten.    Münchner  med.  W.  1905.  Nr.  16. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  6 


g2  Allgemeiner  Teil. 

und  den  höchsten  Kulturvölkern  bis  auf  unsere  Tage  gebraucht  ist. 
Hätte  ich  zur  rechten  Zeit  die  Literatur  studiert,  so  wäre  uns 
manche  Arbeit  erspart  geblieben,  denn  ich  erfuhr  daraus,  dass  zahl- 
reiche Schwierigkeiten,  deren  Beseitigung  uns  viele  Mühe  gemacht 
hat,  längst  gelöst  waren.  Ferner  erfuhr  ich  daraus,  dass  man  die 
sehr  wesentliche  Idee,  von  der  ich  glaubte,  dass  sie  von  mir  zuerst 
gefasst  sei,  mit  dem  Schröpfkopfe  Eiter  anzusaugen,  schon  in  den 
ältesten  Zeiten  zur  Ausführung  gebracht  und,  wenn  auch  vereinzelt, 
zu  den  verschiedenen  Zeiten  immer  wieder  praktisch  geübt  hat. 
Noch  heute  bedienen  sich  einzelne  Ohrenärzte  des  Verfahrens,  durch 
verdünnte  Luft  Eiter  anzusaugen.  Zuletzt  hat  Sondermanni)  es 
sehr  empfohlen;  er  folgt  gleichzeitig  meinem  Beispiel  und  benutzt 
sein  schröpfkopfähnliches  Instrument  neben  dem  Aussaugen  des 
Eiters  zum  Hyperämisieren.  Ebenso  verfährt  er  bei  eitrigen  Er- 
krankungen der  Nase  und  ihrer  Nebenhöhlen 2). 

Ihm  folgt  Spiess^),  der  seinen  schröpfkopf ähnlichen  Apparat 
zum  Ansaugen  der  Sekrete  und  zum  Hyperämisieren  der  Nase, 
ihrer  Nebenhöhlen  und  des  Rachens  durch  eine  Luftpumpe  be- 
dient, die  von  einem  Elektromotor  in  Betrieb  gesetzt  wird. 

Einen  einfachen  und,  wie  mir  scheint,  sehr  brauchbaren  der- 
artigen Apparat  für  die  Nase  und  ihre  Nebenhöhlen  hat  Dr. 
Muck*)  in  Essen  hergestellt.  Er  besteht  aus  einer  gläsernen 
Saugflasche  (Fig.  11  i).  Der  kurze  Schenkel  a  dient  zum  Ansätze 
des  Saugballes,  die  bauchige  Erweiterung  ß  zum  Auffangen  der  an- 
gesaugten Flüssigkeit,  der  Hals  der  Flasche  "(  wird  luftdicht  in 
ein  Nasenloch  eingeführt.  Am  Halse  der  Flasche  befindet  sich 
ein  kleines  Loch,  welches  beim  Saugen  mit  dem  Zeigefinger  ge- 
schlossen wird.  Es  hat  den  Zweck,  nötigenfalls,  z.  B.  beim  Auf- 
treten von  Schmerz,  sofort  Luft  eintreten  zu  lassen. 

Der  Apparat  wird  in  folgender  Weise  verwandt:  Man  drückt 
den  Saugball  zusammen,  führt  den  Hals  der  Flasche  tief  in  ein 


1)  Sondermann,  Saugtherapie  bei  Ohrerkrankungen.  Archiv  für  Ohren- 
heilkunde.    64.  Band.    1.  Heft.     1904. 

2)  Sondermann,  Eine  neue  Methode,  Diagnose  und  Therapie  der  Nasen- 
erkrankungen. Münchner  med.  W.  1905.  Nr.  1  luad:  Zur  Saugtherapie  bei  Nasen- 
erkrankungen.    Münchner  med.    W.    1906.   Nr.  45. 

3)  Spiess,  Die  therapeutische  Verwendung  des  negativen  Drucks  (Saug- 
wirkung) bei  der  Behandlung  der  trockenen  atrophischen  Katarrhe  der  Nase 
und  des  Rachens.    Archiv  für  Laryngologie  u.  Rhinologie.    17.  Band.  2.  Heft  1905. 

4)  Muck,  Über  eine  Vorrichtimg  zum  Ansaugen  von  Sekreten  usw. 
Münchner  med.  Wochenschr.  1905.  Nr.  42. 


Hyperämie  durch  trockene  Schröpf  köpfe.  g3 

Nasenloch  ein,  während  man  das  Loch  mit  dem  Zeigefinger  schhesst, 
lässt  den  Kranken  mit  einem  Finger  das  andere  Nasenloch  zu- 
drücken und  fordert  ihn  auf,  eine  Mundstellung  einzunehmen,  als 
ob  er  ein  K  anlauten  wollte,  und  den  Atem  anzuhalten.  Lässt  man 
den  Saugball  los,  so  entfaltet  er  sich  und  verdünnt  die  Luft  in  der 
Nase  und  ihren  Nebenhöhlen. 

Der  Apparat  scheint  mir,  soweit  ich  es  beurteilen  kann, 
zweckmässig  zu  sein.  Er  hat  auch  den  Vorteil,  dass  er  sich  nach 
jedem  Gebrauche  auskochen  lässt.  Einen  sehr  praktischen  und 
noch  wesentlich  einfacheren  Saugapparat  für  die  Nase  hat  neuer- 
dings Carl  Eschbaum  für  die  hiesige  Ohrenklinik  gearbeitet,  Er 
ist  von  Leu  wer  1)  beschrieben  worden. 

Perthes^)  hat  einen  sehr  bekannt  gewordenen  sinnreichen 
Apparat  hergestellt,  um  beim  Pleuraempyem  durch  verdünnte  Luft 
dauernd  den  Eiter  abzusaugen,  und  die  Lunge  zur  Entfaltung  zu 
bringen. 

In  ähnlicher  Weise  ist  der  Schröpfkopf  seit  den  ältesten 
Zeiten  ausgiebig  benutzt,  um  durch  den  Biss  giftiger  Tiere  und 
toller  Hunde  vergiftete  Wunden  auszusaugen,  ähnlich  wie  man 
das  ja  auch  von  jeher  mit  dem  Munde  getan  hat.  Wir  werden 
aber  in  einem  späteren  Kapitel  über  die  Beeinflussung  der  Resorp- 
tion durch  Hjrperämie  sehen,  dass  daneben  sicherlich  auch  die  durch 
die  kräftige  vom  Schröpfkopf  erzeugte  Stauungshyperämie  ver- 
ursachte Verlangsamung  oder  Aufhebung  der  Resorption  einen  sehr 
wohltätigen  Einfluss  übt. 

Freilich,  den  naheliegenden  Gedanken,  den  Schröpfkopf,  den 
man  doch  zu  allen  möglichen,  selbst  den  unwahrscheinlichsten 
Dingen  benutzte,  auch  einmal  als  h5rperämisierendes  Mittel  zu  ge- 
brauchen, scheint  niemand  gefasst  zu  haben.  Auch  er  wurde  ledig- 
lich als  Derivans  angewandt,  der  das  Blut  ,, ableiten"  sollte,  ebenso 
wie  die  Wärme  und  noch  andere  ausgesprochene  Hjrperämiemittel, 
von  denen  in  den  nächsten  Kapiteln  die  Rede  sein  soll.  Und  doch 
glaube  ich,  dass  gerade  die  Erzeugung  der  Hj^erämie  seine  wich- 
tigste und  erfolgreichste  Aufgabe  ist,  woneben  allerdings  auch  die 
Aussaugung  des  Eiters  aus  Abszessen  und  Fisteln  eine  sehr  wesent- 
liche Rolle  spielt.  Sicherlich  hat  man  aber  unbewusst  sehr  häufig 
mit  dem  Schröpfkopfe  in  Wirkhchkeit  hyperämisiert,  wo  man  im 

1)  Leuwer ,  Ein  neuer  Nasensauger.  Deutsche  med.  Wochensehr.  1906.  Nr.  10. 

2)  Perthes,  Erfahrungen  bei  der  Behandlimg  des  Empyems  der  Pleura. 
Mitteil,  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Chirurgie.  7.  Band.  4.  u.  5.  Heft.  1901. 

6* 


g^  Allgemeiner  Teil. 

Gegenteil  ableiten  wollte,  wenn  man  auch  die  Vorschrift  gab,  das 
Instrument  nicht  direkt  auf  entzündete  Körperteile  zu  setzen.  Diese 
Lehre  war  aber,  wie  wir  noch  sehen  werden,  sehr  unrichtig,  denn 
nirgends  wirkt  der  Schröpfkopf  heilkräftiger,  als  wenn  er  gerade 
auf  solche  Stellen  gesetzt  wird  und  die  dort  an  und  für  sich  schon 
vorhandene  Hjrperämie  noch  vermehrt. 

Die  Naturvölker,  ebenso  wie  die  älteren  Kulturvölker,  benutzten 
als  Schröpf  köpfe  in  erster  Linie  Tierhörner,  dann  ausgehöhlte 
Kürbisse  und  Bambusstäbe,  an  denen  jedesmal  der  Knoten  den 
oberen  Abschluss  besorgte,  und  ähnhche  Gegenstände.  Am  Ende 
des  Instruments  war  ein  feines  Loch  angebracht,  auf  das  der 
Schröpfer  seinen  Mund  aufsetzte,  um  durch  Saugen  die  Luft  zu  ver- 
dünnen. Nachdem  dies  geschehen,  schloss  er  es  auf  sehr  geschickte 
Weise  durch  ein  Stückchen  Wachs  oder  ein  anderes  Verstopf ungs- 
mittel,  das  er  meist  im  Munde  hatte  und  mit  der  Zunge  einpresste. 

Auch  schon  in  den  ältesten  Zeiten  besorgte  man  die  Luft- 
verdünnung  durch  Hitze.  Man  hielt  den  Schröpf  köpf  über  eine 
Flamme,  oder  zündete  irgend  einen  leicht  brennbaren  Stoff  in  ihm 
an,  und  setzte  ihn  mit  rascher  Handbewegung  auf.  Oder  man 
brachte  auf  die  durch  eine  kleine  Platte  oder  ein  Stück  Karten- 
blatt geschützte  Haut  des  Kranken  einen  brennenden  Gegenstand 
und  stülpte  den  Schröpfkopf  darüber.  Diese  Formen  des  Schröpfens 
sind  heute  noch  in  unserer  Volksmedizin  am  verbreitetsten. 

Viel  zweckmässiger  verdünnte  man  die  Luft  im  Schröpfkopfe 
durch  eine  Saugspritze,  die  man  durch  ein  Rohr  mit  ihm  in  Ver- 
bindung brachte.  Auch  dieses  Verfahren  ist  durchaus  nicht  etwa 
neu,  sondern  reicht  schon  sehr  weit  zurück.  In  Eulenburg's 
Realenzyklopädie  wird  die  Einführung  der  Saugspritze  Weiss  zu- 
geschrieben, der  sie  im  Anfang  des  1 9.  Jahrhunderts  eingeführt  haben 
soU.  InWirkhchkeit  ist  sie  viel  älter.  So  schreibt  Benjamin  Belli) 
im  Jahre  1804,  dass  das  Auspumpen  der  Schröpf  köpf  e  mit  dem  Munde 
bald  durch  die  Saugspritze  ersetzt,  dass  aber  auch  dieses  Verfahren 
durch  das  Erhitzen  der  Luft  verdrängt  sei,  weil  die  Spritze  schwer 
luftdicht  zu  halten  und  ihre  Handhabung  sehr  unbequem  sei. 

Die  Saugspritze  wird  an  Zweckmässigkeit  und  Handhchkeit  in 
vielen  Fällen  noch  übertroffen  durch  die  Luftverdünnung  mittels 
Kautschukballons,  die  Blatin^)  einführte.     Der  Ballon  befindet 

1)  Benjamin  Bell,  Lehrbegriff  der  Wundarzneikunst.  Deutsche  Über- 
setzung.    Leipzig  1804.    Bd.  1. 

2)  Eulenburgs  Realenzyklopädie.    Artikel:   Schröpfen. 


Hyperämie  durch  trockene  Schröpfköpfe.  35 

sich  am  oberen  Ende  des  Schröpf  köpf  es.  Dieser  wird  aufgesetzt, 
während  man  den  Ball  mit  dem  Daumen  zusammendrückt.  Lässt 
man  los,  so  wirkt  die  Elastizität  des  Kautschuks  als  saugende  Kraft. 

Ebenfalls  schon  im  Altertume  setzte  man  an  Stelle  der  oben 
beschriebenen  primitiven  Instrumente  Schröpfköpfe  aus  Metall  und 
Glas.  Ihre  Form  (Glocken-  oder  Birnform)  war  im  allgemeinen 
schon  dieselbe,  wie  wir  sie  heute  noch  benutzen.  Auch  hatte  man 
für  besondere  Zwecke  ganz  eigene  Konstruktionen,  die  sich  eben- 
falls im  Laufe  der  Jahrtausende  im  Prinizp  nicht  geändert  haben, 
z.  B.  seitliche  Ausbuchtungen  für  die  Aufnahme  von  angesogenen 
Flüssigkeiten,  wie  sie  heute  noch  üblich  sind  und  besonders  an 
unsern  Milchsaugern  sich  noch  erhalten  habend). 

Damit  der  Schröpfkopf  an  unebenen  Körperstellen  gut  haftet, 
bestreichen  wir  seinen  Rand  dick  mit  Fett.  Aus  demselben  Grunde 
kann  man  ihn  den  verschiedenen  Körperstellen  sich  anpassend 
arbeiten  lassen,  so  setzt  man  an  stark  gerundete  Ghedabschnitte 
(z.  B.  ulnaren  und  radialen  Rand  des  Vorderarmes  oberhalb  des 
Handgelenkes)  Schröpfköpfe  mit  der  Form  dieser  Teile  entsprechend 
ausgeschweiftem  Rande  (s.  Fig.  lle).  Aber  auch  noch  viel  unebeneren 
Stellen  kann  man  durch  entsprechendes  Ausschneiden  des  Randes 
für  jeden  einzelnen  Fall  das  Instrument  anpassen. 

Wir  benutzen  zur  Luftverdünnung  lediglich  die  Saugspritze  2) 
und  den  Gummiballon.  Die  Handhabung  dieser  Instrumente  be- 
darf keiner  näheren  Beschreibung.  Wohl  aber  muss  ich  einige 
Worte  über  das  Reinhalten  des  ganzen  Apparates  sagen.  Denn 
da  wir  ihn  sehr  häufig  bei  Eiterungen  brauchen,  so  müssen  wir  ge- 
bieterisch verlangen,  dass  er  auskochbar  ist  und  nach  jedem  Ge- 
brauche ausgekocht  wird.  Wir  benutzten  ursprünglich  Schröpfköpfe, 
bei  denen  der  Gummiballon  direkt  oben  auf  dem  Glase  sass.  Der 
ganze  Apparat  wurde  nach  jedesmaligem  Gebrauche  gekocht,  was 
natürlich  dem  Gummi  auf  die  Dauer  schadete. 

Deshalb  hat  Klapp  den  Schröpf  köpf  mit  einem  Gummischlauch 
versehen,  der  ständig  an  ihm  sitzen  bleibt,  während  der  Ballon, 
der  ein  Metallrohr  trägt,  das  in  den  Schlauch  passt,  nach  jedem 
Gebrauch  abgenommen  wird  (Fig.  11c).    Da  der  Ballon  nicht  mehr 


1)  über  die  Geschichte  des  Schröpf  köpf  es  vergl. :  Hube,  Studie  über  die 
Geschichte  u.  d.  Mechanik  der  Schröpfapparate.  Inauguraldissertation  Bonn. 
1905,  lind  Gurlt,   Geschichte  der  Chirurgie.      Berlin  1898.      III.  Band.      S.  561. 

2)  Eine  ausgezeichnete  und  sehr  empfehlenswerte  Saugspritze  hat  Carl  Esch- 
baum konstruiert.    Sie  ist  mit  einem  selbsttätig  wirkenden  Spiralfeder zug  versehen. 


Qß  Allgemeiner  Teil. 

durch  Eiter  und  Blut  verunreinigt  wird,  brauchen  nunmehr  nur 
noch  die  Gläser  gekocht  zu  werden.  Sie  werden  nach  dem  Kochen 
bis  zum  Gebrauch  in  Schalen  aufbewahrt,  die  mit  SubKmat  gefüllt 
sind.  Der  Ballon  wird  nur  ausgekocht,  wenn  er  ausnahmsweise 
einmal  beschmutzt  sein  sollte,  sonst  nur  mechanisch  mit  Wasser 
durch  Ansaugen  und  Ausspritzen  gereinigt. 

Um  den  Eiter  aufzufangen,  ist  ähnhch  wie  bei  dem  Milch- 
sauger seithch  eine  Ausbuchtung  am  Glase  angebracht.  Wir  be- 
nutzen als  die  praktischste  besonders  die  von  C  Eschbaum  her- 
gestellte Schuhform  (Fig.  lld)i). 

Damit  der  Schröpfkopf  nicht  die  Haut  drückt,  kann  man  seinen 
Rand  umlegen.  Doch  sitzen  solche  mit  scharfem  Rand  fester  auf 
der  Haut. 

Der  Unterdrück  in  den  mit  Gummiballon  versehenen  saugenden 
Schröpf  köpf  chen  ist  grösser  als  man  denkt.  Rübe  berechnete  ihn  bei 
stark  zusammengedrücktem  Gummiball  auf  200- 400  mm  Quecksilber. 

Die  Anwendung  des  Schröpfkopfes  bei  den  verschiedenen 
Krankheiten  wird  im  speziellen  Teile  dieses  Buches  auseinander- 
gesetzt werden. 

Ich  glaube,  dass  der  Schröpf  köpf,  ähnlich  wie  die  Wärme  und 
die  noch  zu  erörternden  chemischen  Derivantien,  weit  in  die  Tiefe 
hjrperämisierend  wirkt,  und  dass  die  Heilwirkungen,  die  man  ihm  als 
ableitendem  Mittel  zuschrieb,  zum  sehr  grossen  Teile  dem  Gegen- 
teil davon,  der  Hyperämisierung  zukommen.  Den  strengen  Beweis 
kann  ich  allerdings  nicht  hefern,  er  ist  hier  noch  viel  schwerer 
zu  erbringen  als  bei  den  anderen  Mitteln,  da  die  Blut-  und  Saft- 
strömung beim  lebenden  Organismus  ausserordentlich  schwer  zu 
verfolgen  ist,  und  die  Blut  Verteilung  an  der  Leiche,  wie  ich  im 
Kapitel  über  die  chemischen  Derivantien  auseinandersetzen  werde, 
gar  nichts  beweist.  Auch  hier  hat  man  den  Fehler  gemacht,  darauf  Ge- 
wicht zu  legen ;  so  glaubt  Unverricht,  den  Beweis  für  die  ableitende 
Wirkung  des  Schröpfkopfes  darin  zu  erbhcken,  dass  er  bei  Pleuritis 
nach  Anwendung  von  Schröpfköpfen  die  Pleura  blutarm  fand. 

Der  Schröpfkopf  macht  zweifellos  eine  Stauungshyperämie,  die 
bei  starker  Luftverdünnung  die  höchsten  Grade  bis  zum  vöUigen 
Stocken  des  Blutkreislaufes  erreicht.  Dies  beweisen  neben  der 
dunklen  blauen  Farbe  der  Hyperämie  besonders  die  noch  zu  er- 

1)  Damit  beim  Saugen  der  Eiter  nicht  in  den  Schlauch  fliegst,  liess  ich  für  die 
Fälle,  in  denen  ein  schuhförmiges  Glas  nicht  herzustellen  ist,  Sauggläser  mit  S-förmig 
gebogenen  gläsernen  Ansatzstücken  durch  Eschbaum  anfertigen. 


Hyperämie  durch  trockene  Schröpfköpfe. 
Fig.   11. 


87 


Fig.   IIa  Fig.   IIb 


Fig.   11c 


Fig.   11  e 


Fig.  11 d 


Fig.  11  f 


Fig.  11g 


'.^1 


Fig.    11h 


Fig.    11  i 


gg  Allgemeiner  Teil. 

wähnenden  Versuche,  die  die  Verhinderung  der  Resorption  aus  ver- 
gifteten Wunden,  denen  man  einen  Schröpfkopf  aufsetzte,  dartun. 
Nichtsdestoweniger  verursacht  er  bei  massiger  Luftverdünnung  auf 
gesunde  Haut  aufgesetzt,  der  hochroten  Farbe  nach  zu  urteilen, 
offenbar  eine  arterielle  Hyperämie.  Interessant  ist  es,  dass  bei  der- 
selben Luftverdünnung  an  einer  entzündeten,  z.  B.  einer  tuberku- 
lösen Hautstelle  diese  Hyperämie  viel  dunkler  ausfällt.  Die  Er- 
klärung dafür  werde  ich  später  geben. 

Aus  diesen  Gründen  habe  ich  den  Schröpfkopf  früher  zu  den 
Mitteln  gezählt,  die  eine  gemischte  Hyperämie  hervorrufen. 

In  Figur  11  sind  verschiedene  Formen  der  bei  uns  gebräuch- 
lichen Schröpf  köpfe  abgebildet  i): 

a  und  b  Schröpfköpfe  mit  fest  aufsitzenden,  c  Schröpfkopf  mit 
abnehmbarem  Ball,  d  schubförmiger  Schröpfkopf  zur  Aufnahme 
von  Eiter,  ebenfalls  mit  abnehmbarem  Ball,  e  Schröpfkopf  mit  aus- 
geschnittenem Rande  für  einen  runden  Körperteil,  f  Schröpfkopf 
für  kleine  Gesichtsfurunkel,  g  und  h  schröpfkopfartige  Saugglocken 
mit  Glasknie  und  Dreiwegehahn  für  Saugspritzen-Betrieb,  i  die 
Saugflasche  von  Muck  für  die  Nase  und  ihre  Nebenhöhlen. 

Neuerdings  habe  ich  alte  Versuche  von  mir  wieder  aufge- 
nommen, die  jahrelang  geruht  haben,  insbesondere  die  Behandlung 
der  schmerzhaften  Spondylitis,  der  Lungentuberkulose  und  der 
Coxitis  mit  grossen,  der  Form  der  in  Betracht  kommenden  Körper- 
teile angepassten  schröpfkopfähnhchen  Saugapparaten.  Der 
schmerzstillende  Einfluss  dieser  Apparate  auf  die  schmerzhafte 
Spondylitis  ist  sehr  in  die  Augen  springend,  er  beweist  meine 
schon  früher  vielfach  ausgesprochene  Überzeugung,  dass  der 
Schröpfkopf   bis  in  grosse  Tiefen  hyperämisierend  wirkt. 

Auch  von  anderer  Seite  sind  neuerdings  nach  unserem  Prinzip 
gearbeitete  schröpfkopfähnliche  Saugapparate  angegeben  worden,  so 
von  Prym^)  und  Raudnitz^)  für  die  Tonsillen,  von  Rudolph'*) 
und  von  Eversmann^)  für  die  Portio  usw.    Muck^)  verwendet 

1)  Die  Schröpf  köpfe  werden  von  der  Firma  Eschbaum  in  Bonn  geliefert. 

2)  Prym,  Über  die  Behandlung  der  entzündlichen  Erkrankungen  der  Ton- 
sillen mittels  Saugapparaten.     Münchner  med.  Wochenschr.   1905.    S.  2318. 

3)  Raudnitz,  Zwei  neue  Saugapparate.  Prager  med.  W.    1906.   Nr.  34. 

4)  Rudolph,  Die  Bier'sche  Stauung  in  der  gynäkologischen  Praxis. 
Centralblatt  für  Gynäkologie  1905.  S.  1185. 

5)  Eversmann,  Die  Bier'sche  Stauung  in  der  G^Tiäkologie.  Centralblatt 
für  Gynäkologie  1905.   S.  1467. 

6)  Muck,  Ein  einfacher  tmd  praktischer  Apparat  für  die  Bier'sche  Stauung. 
Münchner  med.  W.    1906.    Nr.  32. 


Hyperämie  durch  grosse  Saugappurato.  g9 

statt  der  Gummibälle  Glaskugeln,  die  er  vorher  mit  einer  Saug- 
spritze luftleer  gemacht  hat.  Kuhn  lässt  durch  die  Firma  Evens 
&  Pistor  Saugglocken  herstellen,  die  sich  durch  Drehung  eines 
leicht  abnehmbaren  und  auskochbaren  Verschlusskörpers  luftdicht 
abschliessen  lassen.  Der  Gummiball  kann  dann  abgenommen  und 
auf  einer  anderen  Glocke  angebracht  werden,  so  dass  man  mit 
einem  Ball  für  alle  Apparate  auskommt.  Über  beide  Sorten  von 
Apparaten  fehlt  mir  die  eigene  Erfahrung. 


Hyperämie   durch  grosse   Saugapparate. 

Die  grossartigste  und  ausgedehnteste  H5rperämie  lässt  sich  in 
den  Gliedmassen  mittels  des  Jun od' sehen  Stiefels  oder  diesem 
nachgebildeter  Apparate  erreichen.  Junod's  grosse  Ventousen  und 
Schröpfstiefel  haben  ihrer  Zeit  in  der  medizinischen  Welt  grosses 
Aufsehen  erregt,  sind  aber  jetzt  fast  vollkommen  in  Vergessenheit 
geraten,  so  dass  die  Mehrzahl  der  heutigen  Ärzte  von  ihrem  Vor- 
handensein wohl  überhaupt  keine  Kenntnis  .hat.  Es  dürfte  sich 
deshalb  empfehlen,  diese  höchst  eigenartigen  Apparate,  die  meiner 
Ansicht  nach  in  der  Medizin  bald  wieder  eine  Rolle  spielen  werden, 
wenn  auch  in  ganz  anderer  Weise,  als  ihr  Erfinder  und  seine  Nach- 
ahmer beabsichtigten,  etwas  genauer  zu  beschreiben.  Im  Jahre  1834 
legte  Junodi)  seine  Erfahrungen  und  Untersuchungen  über  die 
Anwendung  der  verdünnten  und  verdichteten  Luft  auf  den  ganzen 
Körper  und  einzelne  Teile  desselben  der  französischen  Akademie 
der  Wissenschaften  vor.  Im  Jahre  1838  beschrieb  er 2)  in  einer 
zweiten  Abhandlung  Verbesserungen  seiner  Apparate  und  machte 
im  Jahre  1841  der  Akademie  eine  neue  Mitteilung,  welche  haupt- 
sächlich in  der  Erzählung  einiger  mit  seinen  Apparaten  be- 
handelter Fälle  besteht^).  Von  anderer  Seite  wurden  Junod's 
Apparate   in   ausgiebiger   Weise   gebraucht,    und   es   folgen   bald 

1)  Jun  od,  Recherches  physiologiques  et  therapeutiques  sur  les  effets  de 
la  compression  et  de  la  rarefaction  de  l'air,  tant  sur  le  corps  que  sur  les  mem- 
bres  isoles.  Revue  med.  frang.  et  etrang.  1834.  Tome  III.  S.  350  und  Bericht  der 
Akademie  ebenda.    S.  460. 

2)  Junod,  Note  sur  un  nouvel  appareil  dit  gxande  ventouse  propre  ä 
faire  le  vide  sixr  la  moitie  inferieure  du  corps  etc.  Gaz.  medic.  de  Paris  1838. 
T.  VI.    Nr.  25.   S.  388. 

3)  Junod,  Nouvelles  observations  sur  l'emploi  des  appareils  hemospasiques 
et  des  bains  d'air  comprime,  lues  ä  l'aeademie  des  sciences.     Paris  1843. 


QQ  Allgemeiner  Teil. 

mehrere  Mitteilungen  über  die  Wirkung  derselben,  von  denen  das  Buch 
Ficinus'i)  „Die  Hämospasie"  die  vollständigste  und  eingehendste 
ist.  Ich  werde  mich  deshalb  in  den  nachfolgenden  Beschreibungen 
auch  hauptsächUch  an  die  Ausführungen  dieses  Arztes  halten. 

Da  uns  die  grossen  Apparate  Junod's,  welche  auf  den  ganzen 
Körper  wirken,  und  ebenso  die  für  die  Gliedmassen  bestimmten 
Einrichtungen,  welche  verdichtete  Luft  in  den  Stiefel  treiben,  we- 
niger interessieren,  so  will  ich  mich  auf  die  Beschreibung  des  Saug- 
apparates, des  früher  sehr  bekannten  ,,Junod'schen  Stiefels",  be- 
schränken. 

Junod  verfertigte  zuerst  vier  gläserne  und  kupferne  Büchsen 
für  die  vier  Ghedmassen.  Damit  diese  an  die  Glieder  von  ver- 
schiedener Dicke  sich  luftdicht  anpassten,  hatte  jede  Büchse  für 
ihr  offenes  Ende  vier  Ansatzstücke  von  verschiedener  Weite  und 
Form.  Ausserdem  diente  zum  Abschluss  der  Luft  ein  breiter  Ring 
von  Kautschuk,  welcher  an  dem  Schlussstück  befestigt  war,  und 
mit  einer  Binde  an  das  Glied  festgewickelt  wurde. 

Die  Büchsen  für  die  Beine  hatten  die  Form  eines  Stiefels, 
die  für  die  Arme  die  Form  eines  Zylinders.  Sie  trugen  ein  Mano- 
meter und  ein  Thermometer.  Das  letztere  diente  dazu,  um  die 
Temperatur  von  warmen  Dämpfen,  welche  Junod  zum  Hervor- 
rufen von  stärkerer  Hyperämie  zuweilen  in  seine  Apparate  einliess, 
zu  messen.  Die  Luft  im  Innern  der  Apparate  wurde  durch  eine 
kleine  Saugspritze  verdünnt. 

Junod  hat  die  Wirkung  seiner  Apparate  kurz  beschrieben: 
,, Vermindert  man  den  atmosphärischen  Druck  über  den  Extremi- 
täten, so  schwillt  die  Haut  und  rötet  sich,  das  Ghed  nimmt  bald 
an  Umfang  zu.  Das  zuströmende  Blut  verbreitet  eine  ungewöhn- 
liche Wärme  in  demselben,  die  Hauttätigkeit  wird  sehr  vermehrt, 
eine  reichliche  Transpiration  tritt  ein,  die  ausgeschiedenen  Feuchtig- 
keiten verdunsten  rasch  und  schlagen  sich  an  den  Wänden  der 
Büchse  nieder.  Die  Operation  lässt  für  kurze  Zeit  ein  Gefühl  von 
Steifheit  und  Taubheit  zurück,  was  sich  bald  verhert.  Wendet  man 
zugleich  warme  Dämpfe  an,  so  fallen  die  Wirkungen  der  Luft- 
verdünnung  noch  stärker  aus. 

Als  allgemeine  Erscheinungen  beobachtet  man  dabei  ein  Leich- 
terwerden des  Kopfes,  das  Gesicht  wird  blass,  der  Puls  der  Schläfen- 
arterie wird  langsamer,  klein  und  verliert  sich  wohl  auch  ganz.    Es 

1)  Ficinus,  Die  Hämospasie.  Geschichte,  Beschreibiing  und  Wirkungen 
der  grossen  Ventousen  Junod's  oder  des  Schröpfstiefels,   Leipzig  1848. 


Hyperämie  dixrch  grosse  Saugapparate.  9J 

tritt  Neigung  zur  Ohnmacht  ein.  Dabei  wird  die  Respiration 
leichter,  die  Tätigkeit  des  Darms  geringer,  es  entstehen  Übelkeiten. 
Endhch  wird  die  Transpiration  über  die  ganze  Haut  verbreitet." 

Die  Beschreibung  dieser  Allgemeinerscheinungen  zeigt,  dass 
Junod  seinen  Apparat  sehr  energisch  anwandte,  so  dass  dem  Kreis - 
laufe  ein  grosser  Teil  des  Blutes  entzogen  wurde. 

Später  beschrieb  Junod  einige  Verbesserungen  seiner  Apparate, 
die  sich  im  wesentlichen  auf  den  vollkommenen  und  bequemen 
luftdichten  Abschluss  beziehen.  Er  liess  die  vier  Ansatzstücke 
fallen  und  brachte  statt  dessen  am  Schlussstücke  der  Apparate 
Streifen  von  starkem  baumwollenen  Zeuge  an,  die,  in  wechselnder 
Anzahl  nach  innen  umgeschlagen,  die  Anpassung  des  Apparates  an 
das  Glied  ermöglichen ;  darüber  kam  eine  Manschette  aus  Kautschuk, 
welche  über  das  Glied  gezogen  wurde  und  bei  der  Luftverdünnung 
im  Innern  des  Apparates  sich  luftdicht  an  das  Glied  anschloss. 

Im  Jahre  1843  erscheint  wieder  eine  Abhandlung  Junod'si), 
welche  von  dem  Werte  der  Hämospasie  (der  Name  Hämospasie 
wurde  nach  ricinus  von  Bonnard  eingeführt  —  aiij-a  Blut  und 
ö-aoj  ich  sauge)  handelt.  Er  behauptet,  dass  die  ableitende  und 
revulsive  Heilmethode  durch  seine  Apparate  zu  einer  ungeahnten 
Wirksamkeit  gekommen  sei.  Es  gibt  kaum  eine  Krankheit,  gegen 
welche  er  die  Hämospasie  nicht  für  angezeigt  und  nützlich  er- 
achtet. Was  man  alles  mit  diesem  für  unübertreffhch  gehaltenen 
Revulsivum  behandelte,  geht  auch  aus  den  Schriften  von  Ficinus^) 
und  Jourdan^)  hervor. 

Schon  früher  hatte  Junod  auch  über  den  Wert  der  Ohnmacht, 
welche  man  mit  seinen  Apparaten  durch  Wegziehen  des  Blutes  in 
die  Gliedmassen  hervorrufen  kann,  gesprochen.  Er  gibt  an,  dass 
er  schon  von  Chirurgen  zu  Rate  gezogen  sei,  um  künstlich  Ohn- 
mächten hervorzurufen.  Während  derselben  soUten  Operationen 
schmerzlos  vorzunehmen  und  die  Einrichtung  verrenkter  Glieder 
infolge  der  Muskelerschlaffung  leicht  auszuführen  sein.  Auch 
glaubte  er,  dass  vielleicht  eine  künstliche  Ohnmacht  bei  gewissen 
Krankheiten  vorteilhaft  wirken  könne. 

Natürlich  lässt  bei  Luftverdünnung  im  Innern  des  Apparates 
der  äussere  Luftdruck  diesen  an  dem  Gliede  in  die  Höhe  wandern 


1)  Junod,  Methode  hemospasique.     Paris    G.  Bailliere.     1843. 

2)  Ficinus,  1.  c. 

3)  Jourdan,  Beiträge  zur  Wirkung  der  Hämospasie,  Inauguralabhandlimg 
der  med.  Fakultät  zu  Giessen.    Mainz  1848. 


02  Allgemeiner  Teil. 

oder  presst  das  Glied  stärker  hinein.  Um  dies  zu  vermeiden, 
brachte  Junod  im  Innern  seiner  Apparate  Querwände  und  Gurte 
an,  gegen  die  sich  der  Fuss  oder  die  Hand  stützen  konnten. 

Erwähnenswert  ist  noch,  dass  Junod  an  verschiedenen  Stellen 
die  völlige  UnschädHchkeit  seiner  Apparate  betont  und  ausdrück- 
lich angibt,  dass  sein  Stiefel  selbst  bei  Krampfadern  sich  verwenden 
lasse,  denn  der  Apparat  erweitere  nur  die  Kapillaren,  und  die 
Hautvenen  seien  nach  seiner  Fortnahme  nicht  erweitert,  sondern 
im  Gegenteil  verengt. 

Junod's  Apparate  wurden  bald  von  verschiedenen  Seiten  an- 
gewandt und  empfohlen.  Im  Jahre  1838  beschrieb  Erpenbecki) 
einen  dem  Junod'schen  Stiefel  fast  gleichen  Apparat.  Derselbe 
war  nur  aus  Weissblech  gefertigt,  der  Abschluss  am  GKede  wurde 
entweder  durch  eine  gefettete  Lederstulpe  oder  durch  verschieden 
grosse  Halsteile  hervorgebracht,  welche  sich  dem  Stiefel  aufsetzen 
Hessen.  Etwas  wesentlich  Neues  bietet  dieser  Apparat  nicht. 
Auch  Erpenbeck  denkt  sich  ihn  lediglich  als  Revulsions-  und 
Derivationsmittel.  Dass  Junod  schon  die  gleichen  Apparate  zu 
gleichen  Zwecken  angewandt  hatte,  verschweigt  er.  In  einer  zweiten 
Abhandlung  beschreibt  er  2)  die  Erfahrungen,  welche  er  mit  seinem 
Apparate  gemacht  hatte,  und  teilt  als  Verbesserung  mit,  dass  er 
den  luftdichten  Abschluss  am  Bein  durch  eine  Ochsenblase  hervor- 
bringt, welche  er  sowohl  um  das  Bein  als  um  das  Schlussstück 
-'es  Apparates  festbindet.  Ferner  gibt  er  eine  sehr  abenteuerliche 
Beschreibung  davon,  wie  er  sich  die  Einrichtung  eines  verrenkten 
Oberschenkels  mit  seinem  Apparate  denkt. 

Die  Luft  wird,  genau  wie  in  den  primitiven  Schröpfköpfen 
der  Naturvölker,  durch  Aussaugen  mit  dem  Munde  verdünnt. 
Erpenbeck  behauptet,  damit  alle  die  Erscheinungen,  wie  sie  oben 
in  Junod's  Beschreibung  angegeben  sind,  bis  zur  Blässe  des  Ge- 
sichts und  zur  Ohnmacht  hervorgerufen  zu  haben.  Diese  ,, Neuerung" 
dürfte  kaum  ein  Vorteil  sein. 

Weitere  Veränderungen  der  Junod'schen  Apparate  führte 
Ficinus  ein.      Er  verfertigte  sie,  ebenso  wie  Erpenbeck,  der 


1)  Erpenbeck,  Vorschlag  eines  neuen  Mittels  zur  Regulierung  des  Blut- 
laufs zur  Tilgung  und  Bewirkung  von  Kongestionen,  sowie  zur  Ergiebigkeit  des 
Aderlasses.      Caspars  Wochenschrift  für  die  gesamte  Heilkunde  1838.      S.  373. 

2)  Erpenbeck,  Die  künstliche  Luftverdünnung  als  Heil-  u.  Hilfsmittel 
bei  mancherlei  inneren  und  äusseren  Krankheiten.  Holscher's  Hannoversche 
Annalen.    4.  Bd.   3.  Heft. 


Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate.  93 

Billigkeit  halber  aus  Weissblech  und  verwandte  eine  lange  Gummi - 
Stulpe  zur  Abdichtung,  welche  er  mit  gewirkten  Kautschukbinden 
an  das  Glied  anwickelte.  Die  übrigen  Änderungen  betreffen  Saug- 
pumpe und  Manometer.  Da  wir  für  unsere  Apparate  ein  Mano- 
meter nicht  brauchen  und  eine  neue  und  viel  bessere  Pumpe  ver- 
wenden, können  wir  sie  übergehen.  Auch  von  Ficinus'  Apparaten 
kann  man  behaupten,  dass  sie  Verbesserungen  der  Junod'schen 
wohl  kaum  darstellen. 

Im  Sinne  der  damaligen  Vorstellungen  wurden  Junod's  Appa- 
rate und  ihre  Nachahmungen  ledighch  gebraucht  als  Revulsiva 
und  Derivantia,  d.  h.  man  beabsichtigte,  das  angeblich  im  Über- 
mass  an  den  kranken  Stellen  angehäufte  Blut  von  diesen  auf  ge- 
sunde Teile  abzuleiten.  Die  Apparate  waren  als  Ersatz  gedacht 
für  das  seit  Hippocrates'  Zeiten  vor  allem  gegen  innere  Blutungen 
(bes.  Lungenblutungen)  als  Revulsivum  gebrauchte  ,, Binden  der 
Glieder".  Dieses  Verfahren  bestand  in  einer  sehr  hochgradigen 
künstlichen  Stauungshyperämie  der  Gliedmassen,  die  durch  eine 
abschnürende  Binde  hervorgerufen  wurde.  Diese  Absicht  Junod's 
geht  klar  aus  den  Worten  Magendie's,,  des  Berichterstatters  der 
französischen  Akademie,  über  Junod's  Apparate  hervor,  der  sagt, 
dass  jeder  Arzt  diese  Erfindung  als  eine  grosse  Wohltat  schätzen 
müsse,  da  sie  uns  in  den  Stand  setze,  den  Andrang  des  Blutes 
nach  den  edlen  Teilen  oder  seinen  Austritt  in  das  Gewebe  zu  be- 
kämpfen und  nach  den  Gliedmassen  hin  abzuleiten,  ohne  dass  das 
Blut  deshalb  dauernd  dem  Körper  entzogen  werde.  Junod  selbst 
hatte  dies  als  den  Zweck  seiner  Apparate  angegeben,  und  alle, 
welche  sie  gebrauchten,  gingen  von  den  gleichen  Anschauungen  aus. 

Deshalb  war  man  denn  in  der  Benutzung  der  Apparate  auch 
durchaus  nicht  blöde,  und  wandte  sie,  wie  aus  den  Beschreibungen 
hervorgeht,  in  der  allerenergischsten  Weise  an.  Man  konnte  dies 
wagen,  weil  man  stets  das  Blut  nach  gesunden  Körperteilen  hinzog. 
Junod  selbst  spricht  nur  von  einer  Rötung  der  Haut  und  einer 
Anschwellung  des  Gliedes,  welches  in  seinem  Apparat  behandelt 
wird,  gibt  aber  dabei  zu,  dass  diese  Anschwellung,  welche  sich  fest 
und  derb  anfühlt,  bestehen  bleibt.  Die  Abbildungen,  welche  er 
und  Ficinus  von  so  behandelten  Gliedern  geben,  beweisen,  dass 
dieselben  in  der  Tat  recht  erhebHch  waren.  Die  gespannte  Schwel- 
lung bleibt  mehrere  Tage  bestehen  und  verschwindet  allmählich, 
währenddessen  sich  die  Haut  des  Gliedes  grünlichgelb  und  grün 
färbt,  d.  h.  also,  man  wandte  den  Apparat  so  kräftig  an,  dass  er  zu 


Q;^  Allgemeiner  Teil. 

ausgedehnten  Blutungen  führte.  Ferner  wird  beschrieben,  dass 
zahlreiche  punktförmige  Blutungen  besonders  an  den  Haarbälgen 
und  rote,  blaue,  grüne  und  gelbe  Striemen  in  der  Haut  eintraten. 

Auch  aus  folgenden  Mitteilungen  geht  hervor,  wie  weit  man  die 
Hämospasie  trieb:  Ficinus  sagt,  dass  in  seinen  Apparaten  der 
Fuss  ,,mit  Gewalt  gegen  den  Boden  gedrückt  wird,  auf  welchen  er 
wie  angeleimt  steht.  Manche  fürchten,  der  Unterschenkel  möchte 
unter  der  Last  der  Atmosphäre  brechen".  Als  fernere  Folgen  führt 
er  an :  Gefühl  des  Einschlafens,  Stechen  und  Prickeln  wie  von  Floh- 
stichen, starke  Spannung  der  Haut  besonders  in  der  oberen  Hälfte 
des  im  Stiefel  steckenden  Gliedes.  Ist  das  letztere  ein  Arm  ge- 
wesen, so  bleibt  in  der  Hand  ein  Gefühl  von  Schwäche  und  Ab- 
spannung der  Muskeln  am  folgenden  Tage  noch  zurück.  Einmal  sah 
er,  dass  eine  grosse  Zehe  14  Tage  lang  ein  Gefühl  wie  von  einer 
erlittenen  Quetschung  behielt.  Die  Luftverdünnung,  die  zur  Er- 
reichung dieser  Wirkung  nötig  war,  betrug  V?— %  einer  Atmosphäre. 

Ich  habe  die  Junod'schen  Apparate  nachgeahmt  und  abge- 
ändert, um  mit  ihnen  in  kranken  Teilen  Hjrperämie  hervorzurufen. 
Mit  dieser  Absicht  ist  es  selbstverständlich  untrennbar  verbunden, 
dass  wir  die  oben  beschriebene  mächtige  Wirkung  niemals  er- 
reichen dürfen.  Wir  wollen  nur  hjrperämisieren,  aber  keine  Blutungen 
hervorrufen,  wir  wollen  eine  Anschwellung  der  behandelten  Teile 
haben,  welche  nach  Absetzen  des  Apparates  sehr  schnell  wieder 
verschwindet  und  nicht  tagelang  bestehen  bleibt.  Ich  gebe  zu- 
nächst eine  Beschreibung  der  von  mir  jetzt  gebrauchten  Apparate. 

Ich  verwende  zum  reinen  Hyperämisieren  ausschHesslich  Glas- 
apparate.  Sie  haben  den  grossen  Vorteil,  dass  man  die  Farbe 
und  Anschwellung  der  Glieder  genau  dadurch  beobachten  kann, 
dass  sie  leicht  zu  reinigen  und  ausserdem  billig  sind.  Ich  habe 
alle  möghchen  Formen  und  Grössen  der  Apparate  anfertigen 
lassen.  Um  das  Ghed  völHg  luftdicht  abzuschhessen,  ist  dem 
Halse  des  Gefässes  eine  Stulpe  aus  Gummi  angefügt. 

Hat  man  das  Glied  in  das  Gefäss  gesteckt,  so  wird  die  Stulpe, 
wenn  sie  nicht  schon  von  selbst  gut  schliesst,  noch  mit  einer 
Gummibinde  an  das  Ghed  festgewickelt,  aber  nicht  so  stark,  dass 
die  Binde  an  sich  schon  eine  erhebliche  Stauungshyperämie  des 
eingeschlossenen  Gliedteiles  hervorbringt.  Man  lernt  es  bald, 
trotzdem  einen  luftdichten  Abschluss  hervorzubringen. 

Dann  wird  mittels  einer  Saugpumpe  die  Luft  im  Apparate  ver- 
dünnt.   Man  kann  dazu  die  kleine  von  Junod  hergestellte  Pumpe 


Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate. 


95 


benutzen,  doch  ziehe  ich  die  grössere  stehende  Pumpe  vor,  welche 
die  Fahrradhändler  zum  Aufblasen  der  Gummireifen  benutzen,  nur 
mit  der  umgekehrten  Ventilstellung,  so  dass  aus  der  Druckpumpe 
eine  Saugpumpe  wird  (siehe  Fig.  12.  Fig.  12  und  13  stellen  ver- 
altete Modelle  dar,  sie  dienen  nur  zur  Veranschaulichung  des 
Prinzips). 

Wie  die  Figur  zeigt,  ist  die  Pumpe  durch  einen  Schlauch  mit 
dem  Glasgefässe  verbunden.  Die  Verbindung  wird  hergestellt  durch 


Fig.   12. 


einen  Gummistöpsel,  welcher  luftdicht  in  die  Auslassöffnung  des 
Gefässes  passt.  Der  Stöpsel  wird  durch  einen  Stellhahn,  den  man 
nach  Belieben  öffnen  und  schliessen  kann,  durchbohrt. 

Die  Behandlung  des  kranken  Gliedes  gestaltet  sich  folgender- 
massen;  man  verdünnt  die  Luft  so  weit,  wie  es  von  dem  Kranken 
ohne  sonderliche  Beschwerden  vertragen  wird.  Ausserdem  beob- 
achtet man  durch  das  Glasgefäss  genau  den  Grad  der  erzielten 
Hyperämie.  Hat  man  diese  in  der  gewünschten  Stärke  erreicht, 
so  erhält  man  sie  einige  Minuten  auf  ihrer  Höhe,  dadurch,  dass 
man  den  Hahn  schliesst,  oder,  wenn  der  Abschluss,  wie  das  vor- 
kommt, nicht  ganz  dicht  ist,  langsam  weiterpumpt.  Dann  öffnet 
man  den  Hahn,  lässt  die  Luft  zuströmen  und  macht  eine  Pause 


96  Allgemeiner  Teil. 

von  20  Sekunden  bis  3  Minuten,  um  dann  durch  neues  Auspumpen 
die  Hyperämie  wieder  zu  erzeugen,  und  fährt  in  demselben  Tempo 
20  Minuten  bis  14  Stunde  lang  fort. 

Infolge  des  äusseren  Luftdruckes  stülpt  sich  die  Gummi- 
manschette wie  ein  geblähtes  Segel  in  den  Apparat  hinein  und 
gleichzeitig  wird  das  Glied  stark  in  das  Gefäss  hineingepresst. 
Wünschen  wir  wegen  der  Art  der  Erkrankung  ein  Anpressen  gegen 
die  Wände  des  Gefässes  zu  vermeiden,  so  muss  der  Kranke  durch 
starken  Gegenzug  bei  gleichzeitigem  Festhalten  des  Apparates  das 
Glied  zurückzuziehen  suchen. 

Ich  verwende  die  beschriebenen  Gefässe  für  Bein  und  Arm 
bis  in  die  Nähe  von  Hüft-  und  Schultergelenk.  Für  diese  beiden 
Gelenke  haben  wir  Saugapparate  noch  nicht  herstellen  lassen. 
Doch  dürfte  das  nicht  auf  unüberwindliche  Schwierigkeiten  stossen. 
Jeder  Teil  von  der  Mitte  des  Oberschenkels  und  Oberarmes  bis 
zu  den  Spitzen  von  Fingern  und  Zehen  kann  in  jenen  Gefässen 
der  Hyperämisierung  unterworfen  werden.  Allerdings  setzt  man 
ja,  wenn  man  beispielsweise  ein  Kniegelenk  behandeln  will,  den 
ganzen  Unterschenkel  und  den  Fuss  der  Hyperämie  mit  aus,  welche 
deren  gar  nicht  bedürfen,  aber  bei  der  kurzen  Dauer  und  der 
massigen  Stärke  der  Hyperämie  schadet  das  nichts;  Ohnmächten 
oder  sonstige  Unbequemlichkeiten  verursacht  man  dadurch  nicht. 
Will  man  die  Hjrperämie  beschränken,  so  kann  man  den  peripheren 
Gliedabschnitt  fest  mit  einer  Binde  einwickeln.  Dabei  darf  man 
die  Luftverdünnung  allerdings  nicht  soweit  treiben,  dass  die  Ränder 
der  Binde  in  die  Haut  einschneiden  und  Blutunterlaufungen  her- 
vorrufen. Diese  starke  Luft  Verdünnung  kommt  aber  für  unsere 
Zwecke  nicht  in  Betracht.  Übrigens  ist  die  Bindeneinwickelung 
wohl  nur  ganz  ausnahmsweise  angezeigt. 

Um  beschränktere  Gliedabschnitte  unter  Hyperämie  zu  setzen, 
habe  ich  an  beiden  Seiten  offene  Glasgefässe  herstellen  lassen,  die 
an  ihren  beiden  Enden  mit  je  einer  Gummistulpe  versehen  sind. 
Einen  solchen,  aus  der  Abbildung  ohne  weiteres  verständlichen 
Apparat  für  das  Knie  zeigt  Fig.  13 1).  Bei  der  Luftverdünnung 
werden  die  Gelenke  dadurch,  dass  sie  von  oben  und  unten  in  das 
Gefäss  hineingepresst  werden,  in  diesen  Apparaten  krumm  gezogen. 

In  ähnlicher  Weise  lassen  sich  solche  Sauggefässe  für  jeden 
einzelnen  Gliedabschnitt  unterhalb  von  Hüft-  und  Schultergelenk 

1)  In  der  Figur  ist  nur  die  obere  Gummistulpe  durch  eine  Gummibinde 
festgewickelt.     Die  untere  ist  noch  lose,  um  sie  besser  zu  zeigen. 


Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate.  gy 

herstellen.  Im  allgemeinen  sind  sie  zum  Zwecke  der  blossen 
Hyperämisierung  zu  entbehren,  weil  sie  den  ganzen  Apparat  zu 
sehr  komphzieren  und  der  doppelte  luftdichte  Abschluss  schwerer 
zu  erzielen  ist.  Dagegen  sind  sie  für  orthopädische  Zwecke,  wie 
ich  noch  erwähnen  werde,  gut  zu  brauchen. 

Durch  das  Glas  lassen  sich  die  Veränderungen  an  dem  be- 
handelten Ghedabschnitte  sehr  schön  beobachten,  wenn  man  die 
Innenwände  vorher  mit  Seifenpulver  abreibt.  Sonst  beschlagen  sie 
durch  das  aus  dem  Gliede  verdunstete  Wasser,  was  die  Beobachtung 
erschwert.    In  der  Regel  erzielt  man  in  den  ersten  Sitzungen  nicht 


^\ 


Fig.   13. 

gleich  die  hohen  Grade  der  Hyperämie,  welche  man  nach  mehr- 
facher Anwendung  des  Apparates  mit  Leichtigkeit  hervorbringt. 

Vorausgesetzt,  dass  man  die  den  luftdichten  Abschluss  er- 
zeugende um  die  Gummistulpe  gewickelte  Kautschukbinde  nicht 
so  fest  angelegt  hat,  dass  sie  allein  schon  eine  Stauungshyperämie 
hervorruft,  hat  das  in  den  Apparat  gebrachte  Ghed  vor  der  Luft- 
verdünnung seine  normale  Farbe.  Bei  den  ersten  Pumpenzügen 
fängt  es  an  leicht  zu  schwellen  und  wird  immer  lebhafter  rot. 
Häufig  sieht  man  beim  jedesmaligen  Aussaugen  der  Luft  vom 
Gliede  einen  feuchten  Nebel  ausgehen,  der  in  andern  Fällen  wieder 
vermisst  wird.  Meist  beschlägt  das  Gefäss  innen  mit  Feuchtigkeit, 
zuweilen  so  stark,  dass  sich  Wassertropfen  bilden  und  das  Glas 
so  undurchsichtig  wird,  dass  man  das  behandelte  Glied  nicht  weiter 
beobachten  kann. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  7 


gg  Allgemeiner  Teil. 

Bei  weiterer  Luftverdünnung  treten  in  der  lebhaft  geröteten 
Haut  blaue  Streifen  auf,  oder  die  ganze  Haut  verfärbt  sich  bläu- 
lich mit  zahlreichen  zinnoberroten  Flecken  dazwischen,  welche  wir 
oben  bereits  bei  der  starken  Bindenstauung  kennen  lernten. 

Je  öfter  man  den  Apparat  anwendet,  um  so  grossartiger  wird 
die  Hjrperämie.  Besonders  heftig  tritt  sie  an  tuberkulösen  Ghedern 
auf,  welche  manchmal  infolge  von  umschriebenen  Anschwellungen 
ganz  andere  Formen  annehmen.  Die  Volumzunahme  der  Glieder 
kann  so  stark  werden,  dass  man  sie  aus  Gefässen  mit  engem  Halse, 
in  welche  sie'  durch  den  äusseren  Luftdruck  stark  hineingepresst 
sind,  nur  mit  Mühe  wieder  herausziehen  kann.  Bei  stärkerer  Luft- 
verdünnung werden  die  Haarbälge  herausgesogen,  so  dass  das  GHed 
eine  ,, Gänsehaut"  bekommt.  Wie  die  Luftverdünnung  auf  offene 
Geschwüre  und  Fisteln  einwirkt,  werden  wir  später  bei  der  Be- 
schreibung der  Wirkung  der  Apparate  auf  aufgebrochene  Tuber- 
kulose auseinandersetzen. 

Bei  sehr  hochgradiger  Luftverdünnung  entstehen  punktförmige 
Blutungen  auch  in  die  normale  Haut  und  sehr  zahlreiche  zinnober- 
rote Flecke. 

Der  behandelte  Mensch  gibt  an,  dass  sich  dabei  die  Haut  stark 
spannt,  zuweilen  sehr  hochgradig,  dass  er  fürchtet,  die  Haut  könne 
platzen.  Im  Gliede  kribbelt  und  prickelt  es,  ,,als  ob  man  elektri- 
siert würde."  Bei  hochgradiger  Luft  Verdünnung  fangen  die  Gelenke 
besonders  das  Handgelenk  an  zu  schmerzen,  und  man  hat  das 
Gefühl,  als  ob  die  Gelenkenden  durch  einen  starken  Zug  von- 
einander entfernt  würden. 

Im  hyperämischen  Gliede  entsteht  ein  Gefühl  erhöhter  Wärme, 
welches  oft  noch  stundenlang  nach  der  Behandlung  andauert.  Ob- 
jektiv lässt  sich  eine  Vermehrung  der  Hauttemperatur  nachweisen. 

Leute,  welche  an  chronischem  Rheumatismus  leiden,  geben  an, 
dass  die  kranken  Gelenke,  in  welchem  sie  sonst  immer  das  Gefühl 
der  Kälte  hatten,  warm  werden  und  auch  in  den  Pausen  warm 
bleiben.  Bedeutende  Steigerung  der  Hauttemperatur  bemerkt  man 
besonders  bei  tuberkulösen  Gelenken,  welche  der  Behandlung  unter- 
zogen wurden. 

Man  sieht  also,  dass  die  Erweiterung  der  Gefässe  noch  sehr 
geraume  Zeit  nachwirkt. 

Die  stärksten  Grade  der  Hyperämisierung  dürfen  wir,  wie  oben 
erwähnt,  an  unseren  kranken  Gliedabschnitten,  wenn  es  sich  nicht 
um   alte   Versteifungen  handelt,    deren  veranlassende   Krankheit 


Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate.  99 

bereits  geschwunden  ist,  niemals  mit  dem  Saugapparat  hervorrufen, 
weil  man  dadurch  eher  schaden  als  nützen  würde.  Zu  vermeiden 
ist  das  Auftreten  von  Blutungen  in  die  Gewebe  und  von  zu  zahlreichen 
zinnoberroten  Flecken,  welche  immer  das  Zeichen  einer  sehr  erheb- 
lichen Zirkulationsstörung  sind.  Einzelne  dieser  Flecken  wird  man 
aber  wohl  bei  stärkerer  Anwendung  der  Apparate  regelmässig  sehen. 

Von  Wichtigkeit  ist  zu  entscheiden,  welche  Form  von  Hyper- 
ämie wir  eigentlich  durch  diese  Saugapparate  hervorbringen.  Zweifel- 
los wirkt  die  Luftverdünnung  in  erster  Linie  erweiternd  auf  die 
Kapillaren,  weil  sie  die  nachgiebigste  Wandung  haben,  in  zweiter 
Linie  auf  die  Venen.  Die  starkwandigen,  elastischen  Arterien 
werden  dadurch  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nur  unbedeutend  be- 
einflusst  werden.  Nimmt  man  dies  als  richtig  an,  so  sollte  man 
auf  den  ersten  Blick  vermuten,  dass  eine  Erweiterung  des  Strom- 
bettes bei  gleichbleibendem  Zufluss  eine  sehr  starke  Verlangsamung 
des  Stromes  herbeiführen  müsste.  Ich  habe  schon  in  meiner  mehrfach 
erwähnten  Arbeit  über  die  Entstehung  des  Kollateralkreislaufes 
auseinandergesetzt,  dass  dieser  anscheinend  physikalisch  so  klare 
und  naheliegende  Schluss  für  die  Verhältnisse  des  lebenden  Körpers 
ein  Trugschluss  ist.  Die  Erfahrung  zeigt  uns,  dass  eine  Erweite- 
rung einer  gewissen  Kapillarprovinz  im  Gegenteil  in  der  Regel  mit 
einer  bedeutenden  Vermehrung  der  Strömungsgeschwindigkeit  des 
Blutes  in  dem  betreffenden  Gebiete  verbunden  ist.  Die  Herab- 
setzung der  Widerstände  für  den  Blutumlauf,  welche  mit  der  Er- 
weiterung verbunden  ist,  ist  eben  so  gewaltig,  dass  die  verlang- 
samende Wirkung  des  erweiternden  Strombettes  dabei  gar  nicht  in 
Betracht  kommt.  Im  allgemeinen  kann  man  also  sagen:  örtliche 
Erweiterung  eines  gewissen  Kapillargebietes  ist,  gleichbleibende 
Herzkraft  vorausgesetzt,  mit  einer  erheblichen  Beschleunigung  des 
Blutstromes  verbunden,  —  eine  Thatsache,  welche,  beiläufig  be- 
merkt, eine  ganze  Reihe  theoretisch  aufgebauter  Spekulationen 
mancher  Hydrotherapeuten  über  den  Haufen  wirft. 

Trotzdem  aber  besteht  kein  Zweifel,  dass  der  Saugapparat, 
auch  in  der  beschriebenen  milden  Form  gebraucht,  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  eine  Stauungshyperämie  verursacht,  wie  aus  den  oben  an- 
geführten Beschreibungen  hervorgeht ;  der  Grund  für  diese  gewöhn- 
lich beobachtete  Stauungshyperämie  hegt  in  einer  Behinderung  des 
venösen  Rückflusses.  Sobald  man  die  Luft  im  Innern  des  Apparates 
verdünnt,  presst  der  äussere  Atmosphärendruck  die  abschliessende 
Stulpe  mit  grosser  Gewalt  gegen  das  Glied  an.     Dies  wird  noch 


\Q0  Allgemeiner  Teil. 

vermehrt,  wenn  die  Stulpe  mit  einer  Gummibinde  festgewickelt  wird. 
Beides  wirkt  alsdann  genau  wie  eine  stauende  Gummibinde.  Aus 
der  ganzen  Beschreibung,  welche  wir  oben  von  der  Wirkung  des 
Junod'schen  Apparates  gegeben  haben,  geht  hervor,  dass  jene 
alten  Ärzte  Stauungshyperämie  stärksten  Grades  mit  den  Appa- 
raten hervorgerufen  haben. 

Dass  man  dagegen  mit  denselben  Apparaten  bei  gewissen  Grade 
der  Luft  Verdünnung  zweifellos  arterielle  Hyperämie  erzeugen  kann, 
welche  als  Folge  der  Verringerung  der  Widerstände  in  den  Kapil- 
laren anzusehen  ist,  beweist  folgender,  an  mir  selbst  angestellter 
Versuch:  Ich  bringe  meinen  Arm  in  einen  gläsernen  Saugapparat 
und  befestige  die  abschliessende  Manschette  mit  einer  Gummibinde. 
Es  zeigt  sich,  dass  dadurch  allein  schon  eine  leichte  Stauungs- 
hyperämie im  Gliede  auftritt.  Bei  starker  Verdünnung  der  Luft 
erscheint  eine  dunkle  Hyperämie  der  Haut,  die  Hautvenen  schwellen 
an,  und  gleichzeitig  tritt  Prickeln  und  Kribbeln  im  Gliede  ein. 
Allmählich  treten  in  der  blauen  Grundfarbe  der  Haut  die  uns  von 
der  Bindenstauung  her  bekannten  zinnoberroten  Flecke  auf.  Bei 
stärkerer  Luft  Verdünnung  vermehren  sich  alle  diese  Erscheinungen. 
Das  Ghed  schwillt  an  und  ,, schwitzt"  stark^).  Es  macht  den  Ein- 
druck, als  ob  das  Blut  fast  völlig  in  dem  geschwollenen  Gliede  stocke. 
Dass  dies  in  der  Tat  der  Fall  ist,  beweist  die  starke,  reaktive 
arterielle  Hyperämie  des  Gliedes,  welche  eintritt,  nachdem  dieses 
nach  etwa  20  Minuten  dem  Apparate  entnommen  ist.  Denn  diese 
reaktive  Hjrperämie  ist  in  Stärke  und  Dauer  der  empfindhchste 
Gradmesser  für  die  Sauerstoffverarmung  eines  äusseren  Körperteiles, 
wie  ich  das  in  früheren  Arbeiten  bereits  ausführlich  auseinander- 
gesetzt habe. 

Jetzt  bringe  ich  den  immer  noch  arteriell  geröteten  Arm  wieder 
in  den  Apparat,  wickele  die  Stulpe  weniger  stramm  mit  der  Gummi- 
binde fest  und  mache  nur  eine  geringe  Luftverdünnung.  Es  tritt 
eine  ganz  gewaltige  hellrote  Hyperämie  auf,  im  Gliede  verspüre  ich 
das  Gefühl  einer  starken  Wärme.  Der  Arm  ,, schwitzt"  sehr  stark, 
so  dass  die  Wände  des  Glasapparates  dick  mit  Wasser  beschlagen 
sind  und  man  das  Gefühl  hat,  sich  mit  dem  Gliede  in  einer  feucht - 
warmen   Atmosphäre    zu   befinden.     Die    offenbar   hocharterielle 

1)  Ich  benutzte  den  Ausdruck  ,, schwitzen"  bei  den  Saugapparaten  der 
Kürze  halber  für  die  starke  Flüssigkeitsverdunstung  und  will  dahingestellt  sein 
lassen,  ob  es  sich  dabei  wirklich  um  Schwitzen  oder  um  vermehrte  Transpira- 
tion handelt. 


Hjrperämie  durch  grosse  Saugapparate.  ]^Q]^ 

Hyperämie  lässt  sich  bequem  20  Minuten  lang  unterhalten,  dann 
wird  der  Versuch  abgebrochen. 

Weil  man  so,  je  nachdem,  mit  den  Saugapparaten  aktive  oder 
passive  Hyperämie  erzeugen  kann,  so  habe  ich  die  mit  ihnen  er- 
zeugte Hyperämie  früher  als  gemischte  bezeichnet:  Der  Ausdruck 
ist,  wie  ich  zugebe,  nicht  besonders  glücklich  gewählt. 

Diese  Apparate  sind  bei  vielen  Leiden,  welche  der  Hyperämie- 
behandlung zugänglich  sind,  zu  verwerten.  Ich  werde  im  klinischen 
Teile  ihre  Anwendung  bei  den  einzelnen  Erkrankungen  schildern. 

Ich  benutze  diese  Saugapparate  zum  Hyperämisieren  bereits 
seit  reichlich  elf  Jahren,  konnte  sie  bisher  aber  leider  zum  all- 
gemeinen Gebrauche  noch  nicht  empfehlen,  weil  ihnen  noch  grosse 
Mängel  anhafteten,  die  die  in  Kiel  und  Greifswald  mir  zur  Ver- 
fügung stehenden  technischen  Kräfte  trotz  vielfacher  Bemühungen 
nicht  abzustellen  vermochten.  Erst  bei  meiner  Übersiedlung  nach 
Bonn  traf  ich  in  Carl  Eschbaum  einen  Techniker,  der  die  Appa- 
rate so  vervollkommnete,  dass  sie  gut  und  solide  arbeiten. 

Eine  weitere  Bedeutung  haben  die  Saugapparate  dadurch 
gewonnen,  dass  ich  den  Luftdruck  benutze,  um  versteifte  Gelenke 
zu  biegen  und  zu  strecken.  Ich  glaube  durch  diese  Verwendung 
des  Luftdruckes  ein  fruchtbares  Prinzip  in  die  Orthopädie  ein- 
geführt zu  haben,  das  sich  mit  Vorteil  noch  nach  verschiedenen 
Seiten  hin  ausbauen  lässt.  Diese  Apparate,  die  die  Gewalt  der  At- 
mosphäre auszuhalten  haben,  erfordern  eine  sehr  solide  Konstruktion, 
starke  Glaswände  und  starke  Gummistulpen,  die  für  die  grösseren 
Apparate  eine  Wandstärke  von  4 — 6  mm  haben  müssen.  Die  Stulpe 
besteht  aus  3  Teilen,  dem  Verschlussteil,  der  sie  luftdicht  an  den 
Apparat  anfügt,  der  Manschette,  die  sich  den  einzelnen  Gliedern 
anschmiegt,  und  ihrem  Umfange  etwa  entsprechend  gearbeitet  wird, 
und  dem  zwischen  beiden  liegenden  Zugtrichter,  der  an  Material 
sehr  ausgiebig  gehalten  sein  muss,  um  dem  Luftdruck  folgen  zu 
können.  An  den  neuesten  Apparaten  sind  die  Gummistulpen  so 
eingerichtet,  dass  sie  durch  ein  paar  einfache  Handgriffe  sich  ab- 
nehmen und  wieder  ansetzen  lassen,  um  das  Innere  leicht  reinigen 
und  geeignete  Hilfsapparate  einsetzen  zu  können. 

Bringt  man  ein  GHed,  z.  B.  einen  Arm,  in  einen  solchen  Saug- 
apparat und  verdünnt  die  Luft  darin,  so  presst  der  äussere  Luft- 
druck die  Hand  mit  immer  wachsender  Kraft  in  das  Glasgefäss 
hinein  und  schliesslich  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  gegen  den 
Boden  an.    Diese  gewaltige  Kraft  benutzen  wir  zum  Mobilisieren 


202  Allgemeiner  Teil. 

versteifter  Glieder.  Am  besten  wird  das  Verfahren  die  Beschreibung 
des  Handapparates,  des  praktisch  wichtigsten  und  technisch  am 
besten  ausgebildeten,  klar  machen i). 

I.  Beugung  des  Handgelenks:  In  den  Apparat  wird  ein 
5  cm  dickes,  in  Fig.  14  sichtbares  Polster  von  festvernähtem  Pferde- 
filz, der  in  Ledertuch  eingeschlossen  ist,  eingeführt.  Damit  es 
festliegt,  wird  es  in  eine  Halbrinne  aus  Blech  gebracht,  die  eben- 
falls mit  Ledertuch  überzogen  ist.  Der  Kranke  schiebt  die  Rinne 
gegen  den  Boden  des  Gefässes  mit  der  eingeführten  kranken  Hand 
und  legt  das  Polster  hinein.  Ist  die  Hand  zu  arg  versteift,  so  tut 
dies  der  Arzt. 

Die  Manschette  wird  in  der  oben  beschriebenen  Weise  am 
Vorderarm  befestigt.  Während  die  Finger  möglichst  zur  Faust 
eingeschlagen  sind,  stemmt  der  Kranke  die  volle  Rückseite  der 
ersten  FingergHeder  und  die  Metakarpophalangealgelenke  gegen 
das  Polster  und  beugt  das  Handgelenk,  soweit  die  Versteifung 
es  zulässt.  Der  Hahn  wird  geschlossen  und  die  Luft  im  Apparat 
stark  verdünnt.  Mit  grosser  Gewalt  drängt  der  Luftdruck  das 
GHed  in  den  Apparat  und  beugt  das  Handgelenk.  Bei  starker 
Luftverdünnung  ist  der  Kranke  ausserstande,  trotz  aller  An- 
strengung, die  Hand  vom  Polster  zu  entfernen  oder  das  Hand- 
gelenk zu  strecken,  mit  so  gewaltiger  Kraft  wird  das  Glied  gegen 
das  am  Boden  des  Gefässes  liegende  Polster  getrieben. 

IL  Beugung  der  Phalangometakarpalgelenke  der  4 
letzten  Finger  (Fig.  14  zeigt  dies).  Das  Handgelenk  wird  in 
Mittelstellung  gebracht,  die  ersten  Phalangen  werden  soviel  als 
möghch  gebeugt,  ihre  untere  Hälfte  wird  gegen  das  Polster  ge- 
stemmt, während  der  Daumen  in  Streckstellung  über  das  Polster 
hinwegragt.  Durch  Verdünnen  der  Luft  werden  die  Gelenke  so 
stark  gebeugt,  wie  es  der  Kranke  ohne  erhebhche  Beschwerden 
aushält. 

III.  Beugung  des  Daumens  im  Phalangometakarpal- 
gelenk:  Die  4  letzten  Finger  greifen  über  das  Polster  hinweg, 
der  Daumen  wird,  soweit  die  Versteifung  es  zulässt,  in  die  Hohl- 
hand eingeschlagen,  gegen  das  Polster  gestemmt  und  nunmehr 
durch  Luftverdünnung  die  Beugung  vorgenommen.    Die  Beugung 


1)  Die  genauere  Beschreibung  meiner  Apparate  findet  man  in  Bier,  Über 
einige  Verbesserungen  hyperämisierender  Apparate.  Münchner  med.  W.  1904. 
Nr.  6. 


Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate. 


103 


der  übrigen  kleinen  Fingergelenke  bedarf  keiner  Beschreibung;  sie 
ergibt  sich  von  selbst,  wenn  man  einmal  den  Versuch  an  der  eigenen 
Hand  ausgeführt  hat.  Ich  bemerke  noch,  dass  die  Beugung  des 
2.  und  3.  Fingerghedes  am  ausgiebigsten  sich  gestalten  lässt,  wenn 
man  das  Handgelenk  möglichst  streckt. 


Fiff.  14. 


m 

--W 

m    .^ 

■'  l 

=4=r=r_ 

m 

Fig.  15. 


Natürlich  kann  man  auch  jeden  einzelnen  Finger  und  jedes 
einzelne  versteifte  Gelenk  erfolgreich  im  Apparate  beugen. 

IV.  Streckung  des  Handgelenkes  (dargestellt  in  Eig.  15): 
Eine  Metallplatte,  von  der  ungefähren  Grösse  des  Glasbodens,  trägt, 
damit  sie  gegen  diesen  gelegt  nicht  umfällt,  4  Seitenstützen,  die 
gegen  die  Öffnung  des  Gefässes  sehen.  Die  beiden  oberen  Stützen 
haben  Ausschnitte,  welche  zur  Aufnahme  eines  bequemen  hölzernen 


10^  Allgemeiner  Teil. 

Handgriffes  dienen.  Der  Kranke  fasst  den  Handgriff  in  die  Faust, 
setzt  seine  Achsen  in  die  beschriebenen  Lager  der  oberen  Stützen, 
drängt  das  Ganze  gegen  den  Boden  des  Gefässes  und  streckt  das 
Handgelenk,  soweit  die  Versteif  ung  es  zulässt.  Die  weitere  Streckung 
besorgt  die  Luftverdünnung. 

Ein  Bhck  auf  die  Figuren  14  und  15  wird  die  Anwendung  des 
Apparates  klar  machen. 

Statt  des  Polsters  und  der  Krücke  zum  Gegenstemmen  der 
Hand  benutze  ich  meist  ein  aus  ganz  weichem  Gummi  bestehendes 
aufblasbares  Luftkissen,  das  jene  vollständig  ersetzt  und  für 
empfindliche  Finger  und  Hände  viel  schonender  ist. 

Alle  diese  passiven  Bewegungen  soll  der  Kranke  nach  Mög- 
hchkeit  aktiv  unterstützen.  Vor  aUem  darf  er  nicht  beim  Versuch, 
ein  Gelenk  zu  biegen,  durch  aktive  Streckung  krampfhaft  dagegen 
arbeiten. 

Der  Arzt,  welcher  Saugapparate  verwendet,  sollte  alles  erst 
einmal  an  seinen  eigenen  GHedern  probieren.  Es  ist  ja  leicht,  für 
jeden  einzelnen  Apparat  die  Kraft  des  Atmosphärendrucks  auszu- 
rechnen, mit  welchem  das  Ghed  in  den  Apparat  hineingetrieben 
wird.  Bei  x4.nbringung  eines  Manometers  am  Glasgefässe  kann  man 
sie  auch  für  jeden  behebigen  Grad  der  Luftverdünnung  bestimmen. 
Besser  als  solche  Rechnungen  aber  überzeugt  ein  Versuch  am 
eigenen  Ghede,  welch  gewaltige  orthopädische  Kraft  uns  hier  zur 
Verfügung  steht.  Und,  was  das  Merkwürdigste  ist,  die  schmerz- 
haften versteiften  Gelenke  vertragen  diese  bedeutende  Gewalt  im 
allgemenien  recht  gut.  Das  hegt  zum  grossen  Teil  daran,  dass  die 
gleichzeitig  oder  besser  schon  vorher  angewandte  Hyperämie 
Schmerzempfindung  und  Kontrakturen  mildert  und  durch  Quellung 
und  seröse  Durchtränkung  bindegewebiger  Teile  diese  geschmeidiger 
und  nachgiebiger  macht.  Deshalb  hyperämisiere  ich  regelmässig 
vorher  durch  Luftverdünnung  die  Hand,  ehe  ich  Bewegungen  und 
Streckungen  an  ihr  ausführe.  Auch  nach  den  gewaltsamen  Strek- 
kungen  und  Beugungen  wird  wieder  hyperämisiert,  während  der 
Kranke  fortwährend  aktive  Bewegungen  ausführt.  Dann  aber 
wirkt  keine  Gewalt  so  gleichmässig  und  sanft,  wie  dies  der  Luft- 
druck tut.  Und  zwar  können  wir  sie  nach  jeder  Richtung  hin 
dosieren. 

Da  wir  durch  Sudeck  wissen,  dass  auch  bei  Versteifungen 
der  Gelenke  nach  Verletzungen  und  Entzündungen  eine  bedeutende 
Atrophie  und  Erweichung  der  Knochen  auftritt,  habe  ich  anfangs 


Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate.  10b 

gefürchtet,  dass  selbst  bei  traumatisch  und  rheumatisch  erkrankten 
Gelenken  die  starke  Gewalt  der  Luftverdünnung  zu  Zerstörungen 
der  Knochen  führen  könnte.  Ich  habe  aber  trotz  häufiger  An- 
wendung bei  versteiften  Hand-  und  Fingergelenken  nie  einen 
Schaden  gesehen.  Offenbar  hält  doch  das  eigentümhche  Gefüge 
dieser  weichen  Knochen  im  lebendigen  Zustande  viel  mehr  aus,  als 
man  ihm  zutraut. 

Niemals  allerdings  darf  man  dieser  Behandlung  ein  noch  auf 
der  Höhe  der  Krankheit  stehendes  tuberkulöses  Gelenk  unter- 
werfen. Der  Druck  ist  bei  erheblicher  Luftverdünnung  so  gewaltig, 
dass  man  zweifellos  die  erweichten  Handwurzelknochen  damit  zer- 
quetschen und  zertrümmern  könnte.  Diese  orthopädische  Behand- 
lung benutze  ich  deshalb  fast  lediglich  für  traumatisch  und 
rheumatisch  versteifte  Gelenke.  Nur  ausgeheilte  tuberkulöse 
Gelenke  werden  zuweilen  zur  Hebung  zurückgebliebener  Verstei- 
fungen ebenso  behandelt.  Eine  Ausnahme  machen  in  Beugestellung 
stehende  tuberkulöse  Kniegelenke.  Diese  haben  wir,  auch  wenn  sie 
noch  krank  waren,  in  sehr  schonender  Weise  mit  dem  in  Fig.  17 
dargestellten  von  Klapp  konstruierten  Streckapparate  behandelt. 

Der  Saugapparat  verbindet  zw-ei  sehr  mächtige  Heilmittel  mit- 
einander. Er  macht  H3^erämie,  die,  wie  ich  noch  auseinander- 
setzen werde,  ein  vortreff Hohes  Lösungsmittel  für  Versteifungen 
ist,  und  ersetzt  oder  vielmehr  übertrifft,  besonders  bei  der  Hand, 
unsere  medikomechanischen  Apparate;  denn  mit  ihm  können  wir 
viel  grössere  Gewalten  weit  schonender  ausüben,  und  gerade  für 
die  Fingergelenke  fehlte  uns  bisher  ein  einwandfreies  Instrument. 
Denn  die  üblichen  Pendel-  und  ähnlichen  Apparate  vermögen  die 
kleinen  Fingerglieder  gar  nicht  zu  fassen. 

So  haben  mir  denn  auch  mehrere  urteilsfähige  Leute,  deren 
Hände  hintereinander  zuerst  im  Pendel-,  dann  im  Saugapparate 
behandelt  wurden,  versichert,  dass  der  letztere  nicht  nur  weit  wirk- 
samer, sondern  auch  viel  schonender  und  angenehmer  sei. 

Der  Handapparat  hatte  noch  den  Übelstand,  dass  Pro-  und 
Supination  sich  in  ihm  nicht  vornehmen  Hessen.  Dies  hat 
Fränkeli)  dadurch  beseitigt,  dass  die  durch  den  Luftdruck  in  das 


1)  Fränkel,  Eine  Verbesserung  der  Bier'schen  Saugapparate,  Vortrag, 
gehalten  in  der  freien  Vereinigung  der  Chirurgen.  Berlin  am  8.  Mai  1905,  und: 
Zur  Behandlung  von  Hand  Versteifungen  mit  dem  Bier'schen  Saugapparat.  Zeit- 
schrift für  diätet.  u.  physikalische  Therapie.     9.  Band.    10.  Heft. 


106 


Allgeniemer  Teil. 


Gefäss  getriebene  Hand  so  befestigt  wird,  dass  sie  einer  spiral- 
förmigen, in  den  Apparat  eingeschobenen  Ebene  folgen  muss, 
die  sowohl  für  Supinations-  wie  Pronationsbewegung  eingestellt 
werden  kann. 

Auch  für  die  übrigen  Bewegungen  machte  Fränkel  den 
Apparat  brauchbarer,  indem  er  den  Gelenken  der  Hand  durch  ge- 
eignete Fixierung  ihre  Bewegungen,  die  sie  durch  den  Druck  der 
Atmosphäre  ausführen  mussten,  genau  vorschrieb. 

Sehr  einfach  und  sinnreich  erzielte  Klapp  die  Pro-  und 
Supination.  Er  Hess  durch  C.  Eschbaum  einen  HohlzyHnder 
für  das  Saugglas  anfertigen,  der  mit  Zügen  nach  Art  der  Büchsen- 
läufe versehen  ist.  An  dem  einen  Ende  verlaufen  diese  Züge  von 
rechts  nach  links  für  die  Pronation,  an  dem  anderen  Ende  umge- 


Fig.  16. 


kehrt  für  die  Supination.  Als  Angriff  für  die  Hand  dient  ein  be- 
liebig in  die  Züge  zu  setzender  Handgriff.  Der  Luftdruck,  der  die 
Hand  in  den  Saugapparat  hineintreibt,  bewirkt  so  je  nach  der  Art 
der  Einstellung  die  Pronation  oder  Supination. 

Um  das  versteifte  Fussgelenk  zu  hyperämisieren  und  gleich- 
zeitig beweghch  zu  machen,  bediene  ich  mich  eines  starken  glä- 
sernen Stiefels  mit  sehr  geräumigem  Fussstücke.  Gegen  den  Boden 
des  Stiefels  wird  ein  sohlenartiges,  mit  Leder  oder  Ledertuch 
bezogenes  Eisenblech  gelegt,  welches  an  seinem  Fersenstück  eine 
Halbrinne  trägt,  um  ein  kurzes,  aber  hohes  und  sehr  steifes  Polster 
aufzunehmen.  Das  Polster  kann  durch  einen  Knopf  auch  am 
Zehenstück  der  Sohle  befestigt  werden. 

Will  man  den  Fuss  strecken,  so  stemmt  man  ihn  mit  dem 
Zehenballen  gegen  das  oben  am  Fussblech  aufgehängte  Polster, 
will  man  ihn  beugen,  so  wird  der  hintere  Teil  des  Hackens  auf  das 


Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate.  ]^Q7 

in  der  Hohlrinne  des  Fussbleches  liegende  Polster  aufgesetzt,  und 
nunmehr  die  Luft  verdünnt.  Besonders  die  Streckung  des  Fusses 
erfolgt,  wenn  man  unter  Verwendung  der  beschriebenen  starken 
Gummistulpe  die  Luft  im  Apparat  sehr  verdünnt,  wegen  des  langen 
Hebelarmes,  den  der  Vorderfuss  liefert,  ijiit  einer  ganz  enormen 
Grewalt.  Bei  Versuchen  an  meinem  eigenen  Fusse  hatte  ich  das 
Gefühl,  dass  die  Fascia  plantaris  bis  zum  Platzen  gedehnt  und  das 
Fussge wölbe  gänzlich  abgeplattet  wurde.  Trotz  des  kurzen  Hebels 
des  Hinterfusses  kann  man  aber  auch  im  Sinne  der  Beugung  eine 
grosse  Gewalt  ausüben. 

Zur  Beugung  von  Knie-  und  Ellbogengelenken  brauche  ich 
nach  dem  in  Fig.  16  abgebildeten  Typus  hergestellte  Apparate. 

Ich  bringe  das  in  annähernd  gestreckter  Stellung  versteifte 
Knie  in  eine  weite,  31  cm  lange,  an  beiden  Enden  offene,  fass- 
förmige  Glasröhre,  deren  Vorderfläche,  um  dem  Gliede  Spielraum 
zu  gewähren,  so  gebuckelt  ist,  dass  die  Mitte  des  Buckels  während 
der  Tätigkeit  des  Apparates  gerade  über  dem  Kniegelenkspalt 
hegt.  Die  Röhre  trägt  um  das  obere  Stück  für  den  Oberschenkel 
eine  weite,  um  das  untere  für  den  Unterschenkel  eine  enge  starke 
Gummistulpe.  Um  den  Apparat  anzuziehen,  steckt  der  Kranke  den 
Fuss  durch  die  obere  weite  Manschette,  der  Arzt  kommt  ihm  mit 
der  Hand  von  unten  her  entgegen,  fasst  den  gestreckten  Fuss  an 
den  Zehen  und  zieht  ihn,  während  der  Kranke  sich  die  obere 
Gummimanschette  über  den  Oberschenkel  streift,  durch  die  untere 
hindurch.  Die  letztere  wird  am  Unterschenkel  mit  einer  Gummi- 
binde befestigt,  die  erstere  pflegt  von  selbst  zu  sitzen.  Die  Luft- 
verdünnung beugt,  da  der  Luftdruck  von  beiden  Seiten  her  an- 
greift, mit  grosser  Kraft  das  Kniegelenk. 

Bei  kräftiger  Wirkung  des  Apparates  drückt  die  untere  Man- 
schette zuweilen  sehr  stark  gegen  das  Schienbein  und  ruft  heftige 
Schmerzen  hervor.  Dies  lässt  sich  leicht  dadurch  vermeiden,  dass 
man  die  Manschette  umkrempelt  und  einen  etwa  10  cm  breiten 
weichen  Filzstreifen  so  rund  um  das  Glied  legt,  dass  er  beim  Zu- 
rückstreifen der  Manschette  zu  drei  Vierteln  unter  diese  zu  hegen 
kommt  und  zu  einem  Viertel  unter  ihr  heraussieht.  Dies  letzte 
vorstehende  Stück  und  das  Verschlussstück  der  Manschette  werden 
dann  mit  einer  Gummibinde  auf  das  GHed  festgewickelt. 

In  folgender  Weise  wird  der  Apparat  nach  dem  Gebrauche 
ausgezogen:  Die  Kranke  greift  mit  beiden  Händen  unter  die  obere 
Manschette  und  lüftet  diese,  während  eine  zweite  Person  das  Glas- 


108 


Allgemeiner  Teil. 


gefäss  fasst  und  wie  einen  Stiefel  auszieht,  wobei  sich  die  untere 
Manschette  nach  innen  umstülpt  und  von  selbst  folgt. 

Der  in  Fig.  16  abgebildete  Apparat  ist  nur  für  allmähliche 
Beugung  ganz  versteifter  Kniee  bestimmt.  Will  man  bereits  aus- 
giebiger bewegHche  Kniegelenke  weiter  beugen,  so  liefert  dieser 
Apparat  nicht  Spielraum  genug.  Er  wird  durch  einen  anderen  von 
spitzwinkehger  Form  ersetzt,  in  dem  das  eingeführte  Bein  die 
möghchst  grosse  Beugung  schon  beim  Beginn  der  Saugwirkung 
einnehmen  muss.  Diese  spitzwinkeligen  Beugeapparate  bestehen 
aus  Metall.  Damit  man  das  behandelte  Glied  darin  beobachten 
kann,  ist  an  beiden  Seiten  je  ein  Fensterchen  angebracht. 


Fig.  17. 


Ich  habe  selbst  meine  Apparate  in  meiner  ersten  Veröffent- 
lichung noch  für  sehr  unvollkommen  erklärt.  Sie  sollten  damals 
im  wesentlichen  nur  das  Prinzip  der  Verbindung  der  mobihsierenden 
mit  der  hyperämisierenden  Wirkung  darstellen.  So  waren  sie  z.  B. 
nicht  zum  Strecken  in  Beugestellung  und  zum  Beugen  in  gerader 
Streckstellung  vollkommen  versteifter  GHeder  zu  gebrauchen.  Ich 
weiss  auch,  dass  es  einer  grossen  Technik  und  sinnreicher  Ein- 
richtungen bedürfen  wird,  um  sie  für  alle  Bewegungen  dienstbar 
zu  machen.  Aber  ich  zweifle  nicht,  dass  es  schhesshch  gehngen 
wird,  und  recht  erhebhche  Fortschritte  sind  schon  von  anderer 
Seite  auf  diesem  Gebiete  gemacht.  Vor  aUem  hat  Klappt)  mehrere 
Unvollkommenheiten  beseitigt.  Die  Beschreibung  zweier  seiner 
Apparate  wird  das  Prinzip  derselben  klar  machen. 


1)  Klapp,   Mobilisierung   versteifter   vmd   Streckizng   kontrakturierter   Ge- 
lenke durch  Saugapparate.    Münchner  med.  W.  1905.  Nr.  17. 


Hyperämie  durch  grosse  Saugapparate. 


109 


In  dem  grossen,  in  Fig.  17  dargestellten,  zum  Strecken 
eines  verkrümmten  Knies  bestimmten  Blechkasten,  der  wie  in 
meinen  Apparaten  mit  einer  Gummistulpe  zum  Abdichten  und 
Fassen  des  Oberschenkels  versehen  wird,  ist  oben  gerade  über  der 
Stelle,  an  der  das  verkrümmte  Gelenk  zu  hegen  kommt,  ein  sehr 
geräumiger  Ausschnitt  angebracht.  In  ihm  ist  ein  weiter  Gummi- 
sack (g)  luftdicht  eingelassen.  Wird  die  Luft  im  Blechkasten  ver- 
dünnt, so  muss  sich  das  Knie  unter  dem  Drucke  des  Gummisackes 
strecken.  Gleichzeitig  zieht  sich  auch  die  abschliessende  Stulpe 
ein,  aber  diese  Kraft  ist  bei  der  in  diesem  Apparate  erforderhchen 
Luftverdünnung  zu  gering,  als  dass  sie  die 
Reibung  des  schweren  Kastens  auf  der  Unter- 
lage einerseits  und  des  sitzenden  Körpers  des 
Kranken  andererseits  überwinden  könnte. 

Der  Kasten  muss  lang  sein,  damit  der 
Fuss  nicht  gegen  den  Boden  anstösst,  da  der 
Fuss  naturgemäss  bei  der  Streckung  des  Knies 
vorwärts  gleiten  muss.  Um  ihm  dies  zu  er- 
möglichen, ist  unter  der  Ferse  ein  gepolstertes 
Rollwägelchen  angebracht.  Da  die  drückende 
Kraft  dem  Flächeninhalt  des  Gummisackes 
proportional  ist,  so  streckt  man  bei  der  grossen 
Ausdehnung  desselben  mit  ungeheurer  Gewalt. 

Nach  dem  gleichen  Prinzipe  macht  Klapp 
ein  in  vollkommen  gerader  Stellung  versteiftes 
Handgelenk  soweit  beweglich,  bis  der  gewöhnliche 
oben  beschriebene  Handapparat  mit  Erfolg  an 
ihm  angreifen  kann.  Wieder  wird  ein  Blechkasten  mit  Gummistulpe 
und  oberem  Ausschnitt  verwandt.  Je  nachdem  gebeugt  oder  ge- 
streckt werden  soll,  wird  der  Unterraum  mit  der  Beuge-  oder 
Streckseite  auf  die  gepolsterte  Schiene  s  (Fig.  18)  gelegt,  die  nur 
bis  nahe  ans  Handgelenk  reicht.  Der  Gummisack  g  zieht  sich  bei 
der  Luft  Verdünnung  nach  innen  ein,  legt  sich  gegen  die  Hand  an 
und  besorgt,  je  nachdem,  Beugung  oder  Streckung.  Der  Sack  ist 
durch  eine  eigenartige  Vorrichtung  so  gebaut,  dass  er  den  Be- 
wegungen der  Hand  immer  folgt. 

Auf  den  ersten  Blick  könnte  man  auf  den  Gedanken  kommen, 
der  Gummisack  sei  deshalb  unzweckmässig,  weil  er  durch  seinen 
Druck  das  kranke  Gelenk  anämisiert.  Die  genauere  Überlegung 
aber  zeigt,  dass  gerade  die  Gliedabschnitte,  die  gedehnt  werden 


Fig.  18. 


2X0  Allgemeiner  Teil 

sollen,  vom  Drucke  des  Sackes  gar  nicht  betroffen,  sondern  durch 
die  Luftverdünnung  kräftig  hyperämisiert  werden,  so  z.  B.  bei 
verkrümmten  Kniegelenken  die  geschrumpften  Weichteile  der 
Kniekehle. 

Schmieden!)  hat  einen  sehr  gut  funktionierenden  grossen 
Saugapparat  aus  Glas  zur  Hyperämisierung  des  ganzen  Kopfes 
hergestellt,  der  durch  eine  Manschette  am  Halse  abgeschlossen  wird. 

Zur  Luftverdünnung  benutzt  man  die  in  Fig.  12,  14  und  15 
abgebildeten  Pumpen. 

In  der  hiesigen  chirurgischen  Klinik,  wo  Saugapparate  in  um- 
fangreicher Weise  zur  Verwendung  kommen,  ist  eine  mit  Schwung- 
rad versehene  grosse  Saug-  und  Druckpumpe  aufgestellt,  die  bei 
60  Umdrehungen  90  Liter  Luft  zieht.  Diese  Pumpe  hat  durch 
Schläuche  mit  Stellhähnen  Anschluss  an  alle  grösseren  Saugappa- 
rate und  wird  von  einem  Wärter  bedient,  der  imstande  ist,  gleich- 
zeitig eine  ganze  Anzahl  von  Apparaten  in  Tätigkeit  zu  halten. 
Durch  verschiedene  Stellung  der  Hähne  kann  man  die  Luftver- 
dünnung in  jedem  einzelnen  Apparate  genau  abstufen. 

Das  Ventil  dieser  Saugpumpe  ist  so  konstruiert,  dass  die  auf- 
gesaugte Luft  weiter  gegeben  werden  kann  in  einen  anderen 
Apparat,  in  dem  ich  verdichtete  Luft  zum  Drücken,  z.  B.  zum 
Wegdrücken  von  Ödemen,  gebrauche 2). 

Die  Verwendung  von  Saugapparaten  für  traumatische  Ver- 
steifungen hat  sich  bei  uns  so  gesteigert,  dass  ich  beabsichtige, 
einen  Motor  aufzustellen,  der  die  Luft  in  einem  grossen  Vakuum - 
kessel  verdünnt,  an  den  eine  Menge  Apparate  angeschlossen  werden 
können.  Durch  Stellung  der  Regulierhähne  kann  man  dann  ganz 
langsam,  schonend  und  gleichmässig  die  Luft  in  den  Apparaten  ver- 
dünnen. Der  Betrieb  mit  Pumpen  hat  den  Nachteil,  dass  diese 
alle  mehr  stossweise  wirken. 

Der  beste  und  empfehlenswerteste  Saugapparat  ist  der  in  Fig.  14 
und  15  dargestellte  für  die  Hand.  Er  ruht  auf  einem  eisernen  Ge- 
stelle, neben  dem  der  Kranke  bequem  sitzt.  Rechts  und  links  am 
Gestell  kann  man  eine  Handsaugpumpe  einklemmen,  die  der  Kranke 
selbst  mit  seiner  gesunden  Hand  bedient,  wenn  dies  nicht  aus  be- 
sonderen Gründen  ein  anderer  tun  soll  2). 


1)  Schmieden,  Ein  neiier  Apparat  z\ar  Hyperämiebehandlung  des  Kopfes. 
Münchner  med.  Wochenschrift.    1906.   Nr.  31. 

2)  Über  diese  Apparate  werde  ich  anderweitig  berichten. 

3)  Alle  diese  Apparate  werden  von  der  Firma  Eschbaum  in  Bonn  geliefert. 


Andere  Hyperämiemittel    insbesondere  chemische  „Derivantien".        IW 


Andere   Hyperämiemittel,  insbesondere  chemische 

„Derivantien". 

Seit  Jahrtausenden  benutzt  man  hautreizende  Mittel  gegen  alle 
möghchen  Erkrankungen.  Wohl  hat  man  sie  zu  Zeiten  mehr,  zu 
Zeiten  weniger  gebraucht,  aber  niemals  sind  sie  gänzlich  verlassen 
worden  und  werden  noch  heutigen  Tages,  wo  man  ihre  Wirkung 
vielfach  bezweifelt  hat,  von  zahlreichen  Ärzten  und  noch  viel  mehr 
in  der  Volksmedizin  angewandt.  Man  teilte  die  hautreizenden  Mit- 
tel (Epispastica)  ein  in  Rubefacientia,  rötende,  Vesicantia  und 
Pustulantia,  blasen-  und  pustelnziehende,  und  Suppurantia,  gewebs- 
zerstörende  und  eiterungerzeugende  Mittel i),  eine  etwas  künsthche 
Unterscheidung,  da  sie  alle  in  gleicher  Weise  und  nur  graduell 
verschieden  wirken.  Die  uralte  Anschauung,  dass  diese  Mittel 
schlechte  Säfte  von  den  kranken  Teilen  ableiten,  hat  im  allgemei- 
nen ihre  Herrschaft  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  bewahrt,  nur 
war  es  später  das  Blut,  welches  man  sich  ,in  verdorbenem  Zu- 
stande oder  in  zu  grosser  Menge  in  dem  kranken  Teile  angehäuft 
dachte,  das  man  in  gesunde  Teile  ablenken  und  dadurch  günstig  auf 
die  mit  Blut  überfüllte  Stelle  einwirken  lassen  wollte,  womit  man  im 
allgemeinen  die  Anschauung  von  einer  Verbesserung  des  Blutkreis- 
laufs in  Verbindung  brachte.  Demgemäss  gab  man  ihnen  den 
Namen  Derivantia  oder  Revulsiva,  ableitende  Mittel.  Seit  alten 
Zeiten  —  schon  Hippokrates  und  Galenus  machten  diesen 
Unterschied  —  nennt  man  ein  Derivans  ein  Mittel,  welches  nach 
der  unmittelbaren  Nachbarschaft,  ein  Revulsivum  ein  Mittel,  welches 
nach  weit  entfernten  Teilen  schlechte  Säfte  oder  stockendes  Blut 
ableiten  soll.  Bepinselt  man  also  die  Haut  über  einem  kranken 
Handgelenk  mit  Jodtinktur,  so  ist  das  ein  Derivans ;  behandelt  man 
eine  Lungenentzündung  mit  einem  Senfteige,  der  auf  die  Wade 
gelegt  wird,  so  ist  das  ein  Revulsivum.  Merkwürdigerweise  gibt  es 
nun  über  die  Wirkung  dieser  uralten  Mittel,  deren  Alter  und  Ver- 
breitung über  die  ganze  Erde  und  bei  allen  Völkern,  ohne  Aus- 


1)  Ich  nenne  von  der  Unzahl  dieser  Mittel:  Jod,  Äther,  Alkohol,  Ameisen- 
spiritus, Opodeldok,  Arnikatinktm-,  Kampfer,  Terpentinöl,  Pech,  Teer,  Cantha- 
riden,  Crotonöl,  Tartarus  stibiatus,  Argentum  nitricum,  starke  Laugen  (Ätzkali, 
Ätzkalk),  starke  Säuren  (Salpetersäure  usw.),  Quecksilber,  Schmierseife,  Senf, 
Zwiebeln,  Brennesseln,  Ammoniak,  balsamische  Harze. 


\12  xlUgemeiner  Teil. 

nähme,  das  Schröpfen  noch  bedeutend  übertrifft,  eine  unglaubhch 
spärHche  wissenschaftliche  Literatur  und  nur  ganz  vereinzelte 
Ärzte  haben  sich  mit  der  physiologischen  Erklärung  ihrer  Heil- 
wii'kung  beschäftigt.  Ich  will  die  hauptsächlichsten  Arbeiten  über 
diesen  Gegenstand,  welche  ich  habe  auffinden  können,  kurz  an- 
führen i).  Wir  wollen  zunächst  die  Revulsion  besprechen,  welche 
in  einem  anderen  Gewände  in  der  heutigen  Wasserheilkunde  eine 
grosse  Rolle  spielt.  Es  scheint  mir  dies  zum  Verständnis  wichtig, 
obwohl  wir  es  in  unserer  Arbeit  im  wesentlichen  mit  örtlichen  und 
nicht  mit  Fernwirkungen  zu  tun  haben. 

Der  erste  Angriff  auf  die  Revulsion  im  alten  Sinne  der  Ab- 
leitung von  Blut  und  schlechten  Säften  ging  von  Naumann^)  aus. 
Er  machte  folgenden  Versuch :  Er  schnitt  einem  mittels  Abtrennung 
der  Wirbelsäule  vom  Kopfe  getöteten  Frosche  unter  Vermeidung 
von  Blutverlust  das  eine  Hinterbein  mit  Ausnahme  des  Nervus 
ischiadicus  ab.  Das  Glied  hing  also  nur  noch  durch  diesen  Ner- 
ven mit  dem  übrigen  Körper  zusammen.  Reizte  Naumann  dieses 
Bein  mit  einem  faradischen  Pinsel  an  irgend  einer  Stelle,  so  fand 
er  eine  sehr  starke  Einwirkung  dieses  Mittels  auf  den  Blutkreislauf 
des  Frosches,  mochte  er  nun  das  Mesenterium,  die  Lungen  oder 
die  Schwimmhaut  unter  dem  Mikroskop  betrachten.  Es  verur- 
sachte nämlich  schwacher  Reiz  eine  Beschleunigung  des  Blutstroms 
und  vermehrte  Schlagweite  des  Herzens,  starker  Reiz  dagegen 
Verlangsamung  des  Blutstroms  und  schwächere  Herztätigkeit.  Ähn- 
liche Ergebnisse  hatte  er,  wenn  er  den  Versuch  an  Warmblütern 
(Fledermäusen)  anstellte,  deren  Blutkreislauf  er  in  der  Flughaut 
beobachtete.     Andere  Hautreizmittel  hatten  den  gleichen  Erfolg, 

Naumann  stellte  auch  Versuche  am  lebenden  Menschen  an, 
deren  Beweiskraft  nach  unseren  heutigen  physiologischen  Kennt- 
nissen nur  gering  sein  dürfte.     Ich  will  sie  deshalb  übergehen. 

Naumann  zog  aus  diesen  Versuchen  den  Schluss,  dass  eine 
den  Hautreiz  begleitende  Hyperämie  gar  nicht  in  Betracht  komme, 
und  es  eine  Ableitung  von  Blut  von  tieferen  auf  oberflächliche 
Teile,  wie  man  allgemein  angenommen  hatte,  überhaupt  nicht  gebe. 
Die  ganze  Heilwirkung  der  Epispastica  soll  lediglich  auf  reflekto- 


1)  Vergl.    Plaskuda,   Einige  alte  Behandlungsmethoden  in  moderner  Be- 
leuchtung.   Inauguraldissertation  Greifswald  1903. 

2)  Naumann,   Untersuchungen   über   die   physiologischen   Wirkungen   der 
Hautreizmittel  (Epispastica).     Prager  Viertel] ahrsschrift  für  die  praktische  Heil- 

'  künde.     20.  Jahrgang.     1863.    S.  1. 


Andere  Hyperämiemittel,   insbesondere  chemische   „Derivantien".        HS 

rischem  Wege  durch  Vermittlung  des  Centralnervensystems  ent- 
stehen. Es  soll  deshalb  der  Ort,  an  welchem  der  Hautreiz  an- 
gebracht wird,  völlig  gleichgültig  sein,  und  der  Erfolg  der  Mittel 
ledigHch  von  der  Stärke  des  Hautreizes  abhängen,  insofern  als 
schwache  Reize  die  Tätigkeit  von  Herz  und  Gefässen  im  ganzen 
Körper  erhöhen,  starke  sie  herabsetzen.  Diese  Beobachtungen  er- 
weiterte Naumann  in  späteren  Arbeiten i).  Er  fand,  dass  die  Ver- 
änderungen, welche  ein  länger  einwirkender  Hautreiz  im  Körper 
herbeiführt,  nach  Beendigung  desselben  noch  längere  Zeit  an- 
dauern, um  so  länger,  je  anhaltender  der  angewandte  Reiz  war. 
Ferner  stellte  er  fest,  dass  die  Hautreizmittel  auf  die  Körper- 
temperatur einwirken,  was  wir  hier,  als  uns  nicht  interessierend 
übergehen  können. 

Ebenfalls  mit  der  Revulsion  durch  Hautreizmittel  beschäftigt 
sich  eine  Arbeit  von  Schüller^).  Er  trepanierte  Kaninchen  und 
beobachtete  durch  die  unverletzte  Dura  hindurch  die  Piagefässe. 
Bedeckte  er  den  grössten  Teil  des  Bauches  oder  des  Rückens  der 
Versuchstiere  mit  Senfteig,  so  bemerkte  er,  abgesehen  von  einigen 
anderen  Veränderungen,  welche  uns  hier  nicht  interessieren,  dass 
sich  regelmässig  im  Beginne  der  Einwirkung  des  Mittels  die  Arterien 
erweiterten.  Dann  zeigten  die  Gefässe  für  die  Dauer  von  etwa 
10  Minuten  Schwankungen  in  ihrer  Weite,  um  allmählich  kleiner 
zu  werden  und  dauernd  eng  zu  bleiben.  Das  ganze  Gehirn  sank 
dabei  in  sich  zusammen.  Der  Senfteig  bheb  eine  halbe  Stunde 
Hegen  und  wurde  dann  abgewaschen;  aber  auch  nach  seiner  Ent- 
fernung blieben  die  Gefässe  noch  längere  Zeit  (bis  1^  Stunden) 
verengt.  Während  dieses  Zustandes  vermochte  ein  so  mächtiges 
Mittel,  wie  Einatmen  von  Amylnitrit,  nur  sehr  schwer  und  in 
geringerem  Grade  als  normal  eine  Erweiterung  der  verengten 
Gefässe  hervorzubringen.  Schüller  ist  der  Ansicht,  dass  diese 
Erscheinungen  ebensowenig  allein  durch  eine  reflektorische  Erre- 
gung der  Gehirngefässe,  als  allein  durch  eine  ,,depletorische" 
Wirkung  des  Senfteiges  erklärt  werden.  Er  glaubt,  dass  im  Beginn 
der  Wirkung  des  Mittels  reflektorisch  von  der  Haut  aus  eine  teil- 
weise Lähmung  der  vasomotorischen  Nervenfasern  hervorgerufen 
wird,  welche  die  massige  Erweiterung  der  Gefässe  bewirkt.    Wirkt 

1)  Naumann,  Prager  Viertel] ahrssehrift  1867,  imd:  Zur  Lehre  von  den 
Reflexreizen  und  deren  Wirkvmg.    Pflügers  Archiv.    5.  Bd.     1872. 

2)  Schüller,  Über  die  Einwirkung  einiger  Arzneimittel  auf  die  Gehirn- 
gefässe.   Berliner  klinische  Wochensclirift.     1874.    S.  294. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  8 


1^X4:  Allgemeiner  Teil. 

das  Senföl  aber  länger  ein,  so  setzt  die  starke  Hyperämie  und 
das  Ödem  der  Haut  den  Seitendruck  im  übrigen  Strombette  her- 
ab oder  vermindert  doch  die  relative  Blutmenge  in  demselben, 
vermag  also  auch  verringernd  auf  die  Blutfülle  des  Gehirns  ein- 
zuwirken. Schüller  will  dabei  auch  in  der  späteren  Zeit  der  Ein- 
wirkung des  Senföles  reflektorische  Einflüsse  auf  die  Gefässe 
durchaus  nicht  ausschliessen. 

Im  grossen  und  ganzen  führt  also  Schüller  die  Senfteig- 
wirkung  doch  auf  eine  Revulsion  im  Sinne  der  alten  Ärzte  zurück. 
Noch  in  demselben  Jahre  erschien  eine  grössere  Arbeit  von 
Schülleri)  ^{q  gjch  mit  den  Folgen  von  Wasseranwendungen  auf 
die  Haut  beschäftigt,  welche  nur  insofern  hierher  gehört,  als  die 
Wärme  und  die  Kälte  ebenfalls  zu  den  Hautreizen  zu  zählen 
sind.  Das  Ergebnis  von  Schüller' s  Untersuchungen  war,  ganz  kurz 
zusammengefasst :  durch  Anwendung  von  Kaltwasserreizen  an  ent- 
fernten Hautstellen  entsteht  eine  Erweiterung,  von  Warmwasser- 
reizen eine  Verengerung  der  Piagefässe.  Schüller  ist  der  An- 
sicht, dass  reflektorische  Einflüsse  der  Hautnerven  dabei  nur  eine 
untergeordnete  Rolle  spielen,  und  dass  sie  eher  hemmend  wirken. 
Die  Verändermigen  an  den  Hirngefässen  sollen  im  wesenthchen 
durch  Einengung  oder  Ausdehnung  des  Stromgebietes  der  Haut 
hervorgerufen  werden. 

Ich  kann  die  praktischen  Folgerungen,  welche  Schüller  für 
die  Wasserheilkunde  aus  seinen  Versuchen  zieht,  übergehen,  da 
sie  nicht  hierher  gehören.  Schüller' s  Versuche  spielen  in  der 
Wasserheilkunde  eine  grosse  Rolle.  Man  hat  versucht,  aus  ihnen 
Erklärungen  für  gewisse  Wasserwirkungen  abzuleiten  und,  auf  ihnen 
fussend,  bestimmte  Wasseranwendungen  einzuführen.  Winter- 
nitz^)  hebt  sie  rühmend  hervor  und  glaubt  durch  plethysmo- 
graphische Versuche,  welche  die  Beeinflussung  der  Blutmenge  des 
einen  Körperteils  durch  Wärme-  und  Kälteeinwirkung  auf  einen 
andern  dartun  ihre  Richtigkeit  beweisen  zu  können. 

Matthes^)  dagegen  schätzt  den  Wert  der  Schüller'schen 
Versuche  sehr  gering  ein.     Er  erklärt,  dass  sie  so  unsicher  seien. 


1)  Schüller,  Experimentalstudien  über  die  Veränderungen  der  Hirngefässe 
unter  dem  Einflüsse  äusserer  Wasserapplikationen.  Deutsches  Archiv  für  klin. 
Medizin.     14.  Bd.     1874.    S.  566. 

2)  Winternitz,  Die  Hydrotherapie  auf  physiologischer  und  klinischer 
Grundlage.    II.  Aufl.   1.  Bd.  S.  109—116. 

3)  Matthes,   Lehrbuch  der  klinischen  Hydrotherapie.      Jena  1900.    S.  31. 


Andere  Hyperämiemittel,  insbesondere  chemische  „Derivantien".       115 

„dass  diese  Art  des  physiologischen  Experimentierens  kaum  als 
wissenschaftliche  Beobachtung  angesehen  zu  werden  verdient". 

Hierher  gehören  noch  die  Versuche  Fran9ois  Franc k's,  die 
ich  schon  auf  Seite  20  geschildert  habe,  welchen  man  ebenfalls  zur 
Erklärung  von  heilenden  Wassereinwirkungen  eine  grosse  Bedeutung 
zugeschrieben  hat.  Ich  kann  hier  darüber  hinweggehen,  da  ich 
meine  Bedenken  gegen  die  Beweiskraft  dieser  Versuche  bereits 
geltend  gemacht  und  auseinandergesetzt  habe,  dass  sie  zu  sehr 
verkehrten  Anschauungen  über  die  örtliche  Wirkung  der  Wärme 
Veranlassung  gegeben  haben. 

Alles  in  allem  sehen  wir  also,  dass  auch  heute  noch  die  Fern- 
wirkung der  Reizmittel,  Kälte  und  Wärme  mit  eingeschlossen, 
keineswegs  wissenschaftlich  erforscht  ist  und  wir  ledigHch  auf  die 
Erfahrung  angewiesen  sind.  Wir  sind  hier  mit  unseren  Erklärungen 
tatsächlich  nicht  weiter,  wie  die  alten  Ärzte  mit  ihren  Ansichten 
über  die  Wirkung  des  Aderlasses  und  der  Junod'schen  Hämospasie, 
und  schliesslich  kommen  wir  wieder  auf  die  alte  Revulsion  hinaus, 
die  hier  in  einem  modernen  Gewände  erscheint.  Während  man 
früher,  die  Änderung  der  Blutverteilung  mechanisch  zu  bewerk- 
stelhgen  suchte,  will  man  das  jetzt  durch  vasomotorische  Einflüsse 
erreichen. 

Vor  allem  gilt  diese  Unsicherheit  der  Erklärung  von  Samuel' si) 
merkwürdigen  Versuchen,  welche  hier  noch  erwähnt  werden  müssen. 
Dieser  Arzt  zeigte,  dass  die  Krotonölentzündung  des  einen  Kanin- 
chenohres ausbleibt,  solange  man  das  andere  oder  auch  die  Glied- 
massen in  kaltes  Wasser  (unter  15*^)  steckt.  Samuel  dehnte  seine 
Abkühlungen  bis  zu  1 2  Stunden  aus  und  konnte  während  der  ganzen 
Zeit  die  Entzündung  hintanhalten,  die  auch  nach  Entfernung  der 
Abkühlung  viel  geringer  ausfiel,  als  unter  gewöhnlichen  Verhält- 
nissen. Wandte  Samuel  statt  des  Krotonöles  die  Verbrühung  als 
entzündungerregendes  Mittel  an,  so  konnte  er  zwar  die  Entzün- 
dungserscheinungen durch  seinen  Abkühlungsversuch  nicht  unter- 
drücken, aber  doch  abschwächen. 

Diese  Versuche  wären  noch  zu  begreifen,  wenn  wir  das  Aus- 
bleiben der  Entzündung  als  Reflexwirkung  deuten  könnten.  Aber 
Samuel  selbst  bewies,  dass  dies  nicht  der  Fall  ist,  denn  er  erhielt 
dieselben  Erscheinungen,  wenn  er  am  krotonosierten  Ohre  den  Sym- 
pathikus und  am  abgekühlten  den  Nervus  auricularis  major  und 


1)    Samuel,  Zur  Antiphlogose.      Virchow's  Archiv.    127.  Bd.    S.  457. 

8* 


11Q  Allgemeiner  Teil. 

minor  vorher  durchschnitt.  Diese  höchst  merkwürdigen  Tatsachen 
sind  also  einstweilen  noch  vollständig  unerklärt. 

Während  es  leicht  zu  verstehen  ist,  dass  die  Deutung  der 
Fernwirkungen  von  Hautreizmitteln  ausserordentlich  unsicher  ist, 
weil  wir  über  die  einschlägigen  physiologischen  Verhältnisse  so 
sehr  wenig  wissen,  so  sollte  man  glauben,  dass  die  örtliche  Wir- 
kung dieser  Mittel  genauer  erforscht  sei,  und  dass  wenigstens  über 
die  einfachen  objektiv  wahrzunehmenden  Veränderungen,  die  sich 
in  der  Gegend  des  Ortes  der  Anwendung  abspielen,  Überein- 
stimmung herrsche.  Dies  ist  aber  durchaus  nicht  der  Fall.  Nicht 
nur  sind  die  Versuche,  welche  man  zur  Prüfung  der  alten  Lehre 
von  der  Derivation  angestellt  hat,  ausserordentlich  spärlich,  sondern 
die  einzelnen  Versuchsergebnisse  widersprechen  sich  in  hohem  Masse. 

Zülzeri)  nimmt  im  Gegensatz  zu  Naumann  eine  einfache, 
durch  mechanische  Ursachen  bedingte  Ableitung  des  Blutes  an  von 
den  tiefen  nach  den  oberflächlichen  Teilen  hin,  wenn  letztere  durch 
Hautreizmittel  getroffen  werden.  Er  schliesst  das  aus  folgendem 
mehrfach  wiederholten  Versuche: 

Bei  einem  Kaninchen  wurde  die  geschorene  Haut  des  Rückens 
14  Tage  hintereinander  mit  Kantharidinkollodium  bestrichen.  Bei 
der  Sektion  fand  er  die  Haut  der  betreffenden  Seite  oberflächUch 
eiternd  und  verschorft,  die  Blutgefässe  der  Unterseite  der  Haut 
stark  erweitert  und  strotzend  gefüllt.  Das  Unterhautfettgewebe 
war  vollständig  verschwunden.  Die  oberflächlichen  Muskeln  waren 
stark  hyperämisch,  häufig  mit  Blutungen  durchsetzt.  Die  tieferen 
Muskeln  dagegen  waren  äusserst  blass,  mit  denen  der  gesunden 
Seite  verglichen,  ebenso  die  Brustwandungen,  an  deren  innerer 
Fläche  der  Unterschied  noch  deutlich  nachweisbar  war.  Der 
auffallend  verminderte  Blutreichtum  erstreckte  sich  bis  auf  die 
Schenkelmuskulatur  herab. 

Bei  öfterer  Wiederholung  des  Versuches  erschien  sogar  die 
Lunge  der  betreffenden  Seite,  mit  der  gesunden  verglichen,  stark 
anämisch. 

In  der  Umgebung  eines  Haarseiles  fand  er  die  gleichen  Ver- 
hältnisse, oberflächlich  Hyperämie,  in  der  Tiefe  Anämie. 

Schüller^)  fand  die  Haut  von  Kaninchen,  welche  er  mit  Senf- 

1)  Zülzer,  Über  die  Wirkung  der  ableitenden  Mittel  (Derivantia).  Deutsche 
Klinik.     17.  Bd.     1865.     S.  127. 

2)  Schüller,  Über  die  Einwirkung  einiger  Arzneimittel  auf  die  Gehirn- 
gefässe.    Berliner  klin.  Wochenschr.  1874.   S.  294. 


Andere  Hyperämiemittel,  insbesondere  chemische  ,,Derivantien".       ^17 

teig  behandelt  hatte,  einschliesshch  des  Unterhautzellgewebes, 
hyperämisch  und  sehr  stark  geschwollen  ,,zu  einer  derben,  gallert- 
artigen Masse".  Von  den  tieferen  Teilen  erwähnt  er  nichts.  Da- 
gegen gibt  er  an,  dass  kleine  Senfteige,  welche  er  auf  Ohr  und 
Rücken  der  Versuchstiere  anbrachte,  keine  Erweiterung  der  Pia- 
gefässe  erzeugten. 

Schede!)  prüfte  eine  Anzahl  hautreizender  Mittel,  besonders 
die  Jodtinktur,  auf  die  örtlichen  Wirkungen,  die  sie  auf  die  Ge- 
webe ausüben.  Er  konnte  nachweisen,  dass  die  Jodtinktur,  bloss 
auf  die  Haut  gestrichen,  nicht  nur  in  dieser  und  im  Unterhaut - 
Zellgewebe,  den  Muskeln  und  Muskelzwischenräumen  Ödem  und 
Austreten  von  Wanderzellen  hervorrief,  sondern  er  fand  die  letz- 
teren auch  im  Periost,  ja  er  wies  sogar  entzündhche  Reizung  des 
Knochenmarkes  und  Wucherungsvorgänge  an  den  Zellen  der 
Epiphysenknorpel  nach.  Da  wir  nun  keine  derartigen  Entzün- 
dungserscheinungen ohne  voraufgehende  und  begleitende  Hyperämie 
kennen,  so  würde  aus  diesen  Versuchen  folgen,  das  Jodtinktur, 
auf  die  Haut  gestrichen,  bis  in  die  Knochen  hinein  hyperämisiert. 

Neuerdings  hat  Wechsberg^)  unseren  Gegenstand  behan- 
delt. Pinselte  er  einem  Hunde  an  mehreren  aufeinanderfolgenden 
Tagen  die  Haut  am  Oberschenkel  mit  Jodtinktur  oder  anderen 
Reizmitteln  ein,  so  fand  er  eine  starke  Hyperämie  und  Ödem  der 
Haut  und  des  Unterhautzellgewebes  und  bei  der  weit  überwiegen- 
den Mehrzahl  der  Fälle  auch  noch  der  darunter  liegenden  Mus- 
kulatur; noch  stärker  als  Jodtinktur  wirkte  in  dieser  Beziehung 
Senf  öl.  Ferner  zeigte  sich  in  allen  Fällen  eine  stärkere  zelHge 
Infiltration  der  tieferen  Cutisabschnitte  und  des  subkutanen  Zell- 
gewebes, die  sich  zumeist  bis  in  die  Muskulatur  erstreckte.  Am 
stärksten  wirkte  in  dieser  Beziehung  Krotonöl,  am  wenigsten  stark 
Jodtinktur.  Bei  allen  Versuchen,  mit  Ausnahme  der  mit  Senf  öl 
ausgeführten,  findet  sich  die  Bemerkung:  ,, Keine  sicher  nachweis- 
bare Anämie  der  tieferen  Teile." 

Trotzdem  kommt  merkwürdigerweise  Wechsberg  auf  Grund 
gänzlich  unbewiesener  theoretischer  Überlegungen  zu  dem  Schlüsse, 
dass  die  Hautreizmittel  eine  Anämie  der  tieferen  Teile  hervor- 
rufen. 


1)  Schede,   Über  die  feineren  Vorgänge  nach   Anwendung  starker  Haut- 
reize,  besonders  der  Jodtinktur.     Archiv  für  kUnische  Chirurgie.      15.  Bd.     1873. 

2)  Weehsberg,     Über     den     Einfluss     chemischer     Gegenreize     auf     Ent- 
zündungen.    Zeitschrift  für  klinische  Medizin.     37.  Bd.   S.  360. 


1\Q  Allgemeiner  Teil. 

Meiner  Ansicht  nach  führen  solche  Versuche,  wie  die  Zülzer's 
und  Wechsberg's,  zu  keinem  Ergebnis.  Ich  halte  es  für  gänz- 
lich ausgeschlossen,  dass  man  durch  die  makroskopische  Beob- 
achtung von  tiefen  Teilen  bei  der  Sektion  einen  Schluss  auf  ihren 
Blutreichtum  ziehen  kann,  zumal  bei  dem  Muskel  des  Kaninchens, 
an  dem,  wie  mich  frühere  eigene  Versuche  gelehrt  haben,  nicht 
einmal  die  starke  reaktive  H3^erämie  nach  künstlicher  Blutleere 
deutlich  zu  sehen  ist.  Über  diese  Dinge  haben  wir  Chirurgen  eine 
ganz  andere  Erfahrung,  die  unendHch  viel  beweisender  ist,  als  jene 
physiologischen  Versuche.  Ich  habe  noch  immer  gefunden,  dass 
bei  tiefliegenden  Entzündungsherden  schon  der  Hautschnitt  viel 
blutiger  ist,  als  bei  normalem  Körper.  So  habe  ich  sogar  oft,  wenn 
bei  der  Probelaparotomie  der  Bauchwandschnitt  stark  blutete,  die 
Vermutung  ausgesprochen,  dass  wir  in  der  Tiefe  des  Bauches  einen 
Entzündungsherd  finden  würden,  und  ganz  regelmässig  recht  be- 
halten. Und  doch  handelt  es  sich  hier  um  Gefässgebiete,  welche 
höchstens  durch  unbedeutende  Verwachsungen  im  Zusammenhang 
stehen.  Im  Einklänge  damit  habe  ich  mehrmals  die  Hauttemperatur 
selbst  bei  chronischen  tiefliegenden  Entzündungen  (Tuberkulose) 
um  ein  bis  mehrere  Grade  erhöht  gefunden.  Sollte  nun  eine  Ent- 
zündung von  der  Tiefe  aus  nach  der  Oberfläche  anders  wirken,  als 
umgekehrt  ? 

Ferner  sprechen  viele  andere  Erfahrungen  dafür,  dass  der 
Entzündungsreiz  auf  weite  Strecken  hin  hyperämisiert.  Macht  doch 
ein  kleines  tiefliegendes  Panaritium  der  Hohlhand  Rötung  und 
ödematöse  Schwellung  des  Handrückens,  ja  unter  Umständen  des 
ganzen  Vorderarines.  Wie  weit  eine  rein  chemische  Entzündung 
sich  von  der  eigentlichen  Anwendungsstelle  des  Mittels  weg  ver- 
breiten kann,  habe  ich  vor  einigen  Jahren  erlebt:  ich  spritzte  auf 
eine  Pseudarthrose  des  Oberschenkels,  welche  allen  möghchen 
Behandlungsmethoden,  auch  der  Knochennaht  und  Einspritzen 
von  Jodtinktur,  getrotzt  hatte,  Terpentinöl  und  brachte  sie 
dadurch  schnell  zur  Heilung.  Aber  es  entstand  eine  ungeheure 
Reaktion;  das  Bein  schwoll  von  den  Zehen  bis  zur  Leisten- 
beuge sehr  stark  ödematös  an,  fühlte  sich  überall  heiss  an  und 
bheb  mehrere  Tage  in  diesem  Zustande.  In  neuerer  Zeit  hat 
Haffteri)  eine  interessante  hierher  gehörige  Beobachtung  gemacht. 
Er  konnte  nach  Sinapismen,  die  er  sich  zur  ,, Derivation"  auf  die 

1)  Haffter,  Besprechimg  der  ersten  Auflage  dieses  Buches  im  Correspon- 
denzblatt  für  Schweizer  Ärzte.     23.  Jalirgang.     1903.    Nr.  14.   S.  489. 


Andere  Hyperämiemittel,  insbesondere  chemische  „Derivantien".        WQ 

Lendengegend  legte,  rote  Blutkörperchen  in  seinem  Urin  nach- 
weisen, ein  Beweis  für  die  sehr  bedeutende  Tiefenwirkung  eines 
chemischen  Reizmittels. 

Zudem  hat  Samuel^)  diese  Verhältnisse  in  einer  Arbeit,  die 
ein  Meisterwerk  makroskopischer  Beobachtung  darstellt,  experi- 
mentell behandelt  und  ist  zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen  gekommen. 
Er  erzeugte  eine  Entzündung  der  oberen  Hälfte  eines  Kaninchen- 
ohres durch  Verbrühen  mit  Wasser  von  53".  Sofort  tritt  dabei 
ein  Entzündungsherd  auf,  welcher  an  der  Grenze  der  Einwirkung 
der  Schädigung  mit  einer  scharfen  Linie  abschneidet.  Bald  aber 
verbreitet  sich  die  Entzündung  über  das  ganze  Ohr,  ja  sogar  bis 
weit  über  dieses  hinaus  auf  die  Haut  des  Kopfes  und  des  Rückens. 
Dieselbe  ist  sehr  stark  ödematös,  gerötet  und  fühlt  sich  heiss  an. 
Diese  Erscheinungen  erreichen  ihren  Höhepunkt  nach  18 — 24  Stun- 
den, um  dann  allmählich  zu  verschwinden. 

In  neuerer  Zeit  hat  Wessely^)  in  sinnreicher  Weise  die  Fern- 
wirkung der  in  der  Augenheilkunde  gebräuchlichen  subkonjunkti- 
valen  Kochsalzlösungen  bewiesen.  Spritzte  er  5 — 10%  Lösungen 
subkonjunktival  ein,  so  nahm  der  Gehalt  des  sonst  sehr  eiweiss- 
armen  Kammerwassers  an  Eiweiss  und  Fibrin  gewaltig  zu.  Dass 
das  Eiweiss  lediglich  aus  den  erweiterten  und  durchlässiger  gewor- 
denen Ciliargefässen  kommen  konnte,  ist  an  sich  klar.  Wessely 
bewies  dies  aber  noch  schlagender  an  Kaninchen,  die  gegen  Rinder- 
blut immunisiert  waren.  Deren  normales  Kammerwasser  zeigte 
gegen  Rinderblut  keinerlei  hämolytische  Eigenschaften,  spritzte  er 
aber  vorher  Kochsalzlösung  unter  die  Konjunktiva,  so  wirkte  das 
Kammerwasser  stark  hämolytisch  auf  dies  Blut. 

Ähnlich  verhielt  sich  das  Kammerwasser  mit  Typhus  immuni- 
sierter Tiere.  Es  enthielt  schon  normal  geringe  Mengen  von  Typhus - 
agglutinin,  das  sich,  wie  die  Wi dal' sehe  Probe  zeigte,  durch 
subkonjunktivale  Kochsalzeinspritzung  ganz  erhebhch  vermehrte. 
Diese  Immunkörper  konnten  aber  nur  aus  den  erweiterten  Ciliar- 
gefässen stammen.  Wir  haben  hier,  entsprechend  meiner  oben 
erwähnten  Beobachtung,  ein  neues  Beispiel,  dass  ein  Entzündungs- 
reiz sich  von  dem  einen  auf  das  andere  Gefässgebiet  erstrecken 
kann,  obwohl  diese  gar  keinen  direkten  Zusammenhang  miteinander 

1)  Samuel,  Entzündungsherd  und  Entzündungshof.  Virchow's  Archiv. 
121.  Bd.  II.  Heft. 

2)  Wessely,  Experimentelles  über  subkonjunktivale  Injektionen.  D.  med. 
Wochenschr.  1903.    Nr.  7  u.  8. 


]^20  Allgemeiner  Teil. 

haben,  hier  von  den  Konjunktival-  auf  die  Binnengefässe  des  Auges. 
Wessely  führt  wohl  mit  Recht  die  vielfach  bestätigte  günstige 
Wirkung  der  subkonjunktivalen  Kochsalzeinspritzungen  bei  allen 
möglichen  Krankheiten  des  Auges  auf  Hyperämie  zurück. 

Meiner  Meinung  nach  können  Unterscheidungen  zwischen  ver- 
schiedener Wirkung  der  sogenannten  Derivantien  auf  tiefe  und 
weniger  tief  gelegene  Teile  nur  verwirrend  wirken.  Denn  was  ist 
tief  und  was  weniger  tief?  Pinseln  wir  z.  B.  Jodtinktur  auf  die 
Haut  über  einer  Oberschenkelpseudarthrose,  so  ist  das  wohl  un- 
bestritten tief,  und  nach  jener  Ansicht  anämisieren  wir  den  Knochen, 
pinseln  wir  sie  auf  die  Haut  über  einer  Pseudarthrose  am  unteren 
Ende  des  Radius,  so  ist  das  oberflächlich  und  wir  hyperämisieren 
den  Knochen.  Wir  müssten  also  in  beiden  Fällen  völlig  entgegen- 
gesetzte Wirkungen  hervorbringen. 

Die  genauere  Überlegung  zeigt  uns  auch,  dass  wir  mit  diesen 
Theorien  überall  sofort  in  Widerspruch  geraten.  Denn  die  Deri- 
vantien haben  sich  gerade  bei  den  dicht  unter  der  Haut  oder  der 
Schleimhaut  sitzenden  Krankheiten  als  wirksam  erwiesen,  und  die 
haben  nach  den  einstimmigen  Darlegungen  jener  Untersucher  doch 
als  oberflächlich  zu  gelten  und  werden  mit  hj^perämisiert.  Sie 
werden  also  von  der  beabsichtigten  Ableitung  gar  nicht  betroffen. 

Ich  glaube,  dass  der  Erfolg  der  Derivantien  in  erster  Linie 
auf  Hyperämie  beruht,  und  schliesse  das  vor  allem  daraus,  dass 
sie  vieKach  gerade  so  wirken,  wie  unsere  zweifellos  reinen  Hyper- 
ämiemittel.  Ihr  zu  keiner  Zeit  bestrittener  Einfluss  ist  die  sehr 
in  die  Augen  springende  Schmerzstillung;  diese  haben  sogar  die 
Verächter  und  Gegner  dieser  Mittel  anerkennen  müssen,  und  sie 
griffen  zur  Erklärung  dieser  Wirkung  zu  dem  sehr  bequemen  Aus- 
weg, sie  auf  Suggestion  zurückzuführen.  Wir  werden  aber  später 
noch  genauer  auseinandersetzen,  dass  jede  Hyperämie,  die  aktive 
wie  die  passive,  schmerzstillend  wirkt.  Da  es  sich  bei  den  ,, Deri- 
vantien" lediglich  um  entzündungerregende  Mittel  handelt,  so 
werden  wir,  da  Entzündungen  den  Blutstrom  verlangsamen,  ihre 
Wirksamkeit  mit  der  passiven  Hyperämie  vergleichen  müssen.  Und 
in  der  Tat  wirken  beide  sehr  übereinstimmend.  Die  Derivantien  hat 
man  angewandt  gegen  Entzündungen  und  Pseudarthrosen,  ferner  als 
resorbierende  und  auflösende  Mittel,  und  wir  werden  später  sehen, 
dass  die  passive  Hyperämie  genau  die  gleichen  Wirkungen  äussert, 
die  aktive  einige  derselben. 

Diese  vortreffliche  Übereinstimmung  in  den  Wirkungen  ist  weit 


Andere  Hyperämiemittel,  insbesondere  chemische  „Derivantien".       121 

Überzeugender,  als  alle  jene  so  ausserordentlich  unsicheren  physio- 
logischen Versuche,  die  den  einen  Beobachter  zu  den  genau  ent- 
gegengesetzten Ergebnissen  wie  den  anderen  kommen  Hessen. 

Nachdem  ich  von  den  Derivantien  und  insonderheit  von  der 
Wärme  behauptet  hatte,  dass  sie  nicht  durch  Anämisierung,  sondern 
im  Gegenteil  durch  Hyperämisierung  der  kranken  Teile  günstig 
wirkten,  hat  Buchneri)  die  guten  Erfolge,  welche  der  Salz- 
wedel'sche  Alkoholverband  bei  infektiösen  Erkrankungen  aufzu- 
weisen hat,  in  demselben  Sinne  erklärt.  Ich  habe  nun  keinen 
Zweifel,  dass  der  Alkohol,  und  zwar  gerade  in  Form  des  Salz- 
wedel'schen  Verbandes,  auch  den  ,, Derivantien"  zuzuzählen  ist, 
und  dies  ist  auch  schon  seit  langer  Zeit  üblich  gewesen,  sei  es 
nun,  dass  man  den  Alkohol  rein  oder  in  Form  von  Tinkturen  an- 
wendet, welche  noch  andere  hautreizende  Mittel  gelöst  enthalten; 
aber  die  Versuche,  welche  Buchner  zum  Beweise  dafür  anführt, 
kann  ich  nicht  anerkennen.  Es  ist  eine  ganz  verkehrte  Versuchs- 
anordnung, aus  dem  Umstände,  dass  Alkohol,  in  die  Gewebe  ein- 
gespritzt, Hyperämie  macht,  den  Schluss  zu  ziehen,  dass  er  dies 
auch,  auf  die  unverletzte  Haut  gebracht,  in  der  Tiefe  bewirke. 
Wäre  dies  tatsächlich  der  Fall,  so  gäbe  es  ausser  physiologischer 
Kochsalzlösung  und  gleichartigem  Blutserum  wohl  kaum  ein  flüssiges 
Mittel,  welches  nicht  hyperämisierend  wirken  müsste.  Sie  alle 
stellen,  in  die  Gewebe  gespritzt,  Reizmittel  dar,  welche  schhesslich 
entzündliche  Hjrperämie  hervorrufen.  Ebenso  verkehrt  ist  es,  aus 
dem  vermehrten  Blutdruck,  den  Buchner  und  seine  Mitarbeiter 
fanden,  auf  eine  Hyperämie  oder  gar  auf  die  Schnelligkeit  des 
Blutstromes  schliessen  zu  wollen.  Wissen  wir  doch  aus  zahllosen 
physiologischen  und  klinischen  Erfahrungen,  dass  oft  äusserste 
örthche  Anämie  und  Verlangsamung  des  Blutstromes  mit  Erhöhung 
und  gewaltige  H3rperämie  und  Beschleunigung  des  Blutstromes  mit 
Erniedrigung  des  Blutdruckes  verbunden  ist. 

Beweisender  für  die  hjrperämisierende  Wirkung  des  Alkohol - 
Verbandes  in  der  Tiefe  scheint  mir  ein  Versuch  von  Heinz 2).  Der- 
selbe fand  mittels  thermoelektrischer  Nadeln  die  Temperatur  der 


1)  Buchner,  Natürliche  Schutzeinrichtungen  des  Organismus  und  deren 
Beeinflussung  zum  Zweck  der  Abwehr  von  Infektionsprozessen.  Münchner 
medizinische  Wochenschrift  1899.    Nr.  39  u.  40. 

2)  Heinz,  Die  Wirkung  äusserer  (thermischer  imd  chemischer)  Reize 
auf  die  Blutverteilung  in  der  Tiefe.  Verhandl.  d.  19.  Kongresses  für  innere 
Medizin.   1901. 


222  Allgemeiner  Teil. 

Pleura  um  0,15 — 0,25 "  gesteigert,  wenn  er  einen  ALkoholumschlag 
auf  die  Haut  eines  Versuchstieres  brachte. 

Zu  den  Derivantien  rechnet  man  auch  die  Anwendung  des 
Glüheisens  auf  die  Haut.  Auch  dies  ist  ein  uraltes  Mittel,  welches, 
hin  und  wieder  einmal  in  Vergessenheit  geraten,  aber  immer  wieder 
zu  Ehren  gekommen  ist  und  in  der  uns  zunächst  hegenden  Zeit 
durch  Rust  eine  sehr  ausgebreitete  Verwendung  gefunden  hat. 
Auch  heute  ist  es  als  ,,Derivans"  noch  nicht  ganz  vergessen  und 
wird  in  erster  Linie  angewandt  gegen  sehr  hartnäckige  und  be- 
sonders schmerzhafte  Wirbelentzündungen,  wo  man  zu  beiden  Seiten 
des  Buckels  einen  breiten  Brandschorf  auf  der  Haut  verursacht. 
Dass  dies  Mittel  eine  hochgradige  Hjrperämie  der  Haut  hervorruft, 
ist  ohne  weiteres  klar,  seine  hyperämisierende  Tiefenwirkung  ist 
ferner  sehr  wahrscheinlich,  denn  falls  die  Brandwunden  nicht  gänz- 
lich aseptisch  bleiben,  muss  schon  eine  länger  dauernde  entzündliche 
Hyperämie  auftreten.  Dies  wird  um  so  mehr  der  Fall  sein,  wenn 
man,  wie  das  vielfach  Sitte  war,  die  Eiterung  der  Brandwunden 
durch  eingelegte  Erbsen  oder  durch  Kantharidinkollodium  unterhält. 

Mit  der  Wirkung  des  Glüheisens  auf  die  Gefässfüllung  in  der 
Tiefe  beschäftigen  sich  zwei  Arbeiten:  Wolter^)  teilt  den  Sektions- 
befund eines  Mannes  mit,  der  an  Tetanus  starb,  beidemBusch  2Tage 
vor  dem  Tode  zwei  Streifen  an  den  Seiten  der  Wirbelsäule  mit  dem 
Glüheisen  gebrannt  hatte,  um  auf  das  Rückenmark  einzuwirken.  ,,Bei 
der  Sektion  zeigte  sich  die  Rückenmuskulatur  im  allgemeinen  von 
einer  dunklen  bis  bräunlichen  Färbung,  dabei  weich  und  schlaff,  die 
Venen  in  der  Nähe  des  Rückgrats  stark  hyperämisch.  Der  Raum 
des  Rückenmarkskanals  ausserhalb  der  Dura  mater  war  gefüllt  mit 
einem  sehr  losen  Blutgerinnsel.  Es  machte  den  Eindruck,  als  ob  ein 
zartes  Bindegewebsstratum  mit  einem  dünnen,  mit  Serum  reichlich 
gemischten  Blute  stark  infiltriert  war.  Die  Dura  mater  war  stark 
imbibiert,  die  Pia  mater  entschieden  hyperämisch  und  leicht  öde- 
matös  infiltriert.  Die  Venen  an  der  Oberfläche  stark  geschlängelt." 
Wolter  stellte  dann  Versuche  an  Kaninchen  an  und  fand,  dass 
Brandstreifen,  welche  er  zu  beiden  Seiten  der  Wirbelsäule  anlegte, 
nicht  nur  die  unter  der  Haut  hegenden  Muskeln,  sondern  auch  den 
Wirbelkanal,  die  Rückenmarkshäute  und  sogar  das  Rückenmark 
selbst  hyperämisierten. 


1)  Wolter,  Über  das  Ferriim  candens  als  sogenanntes  Derivans.     Inaug.- 
Diss.     Bonn  1873. 


Andere  Hyperämiemittel,  insbesondere  chemische   „Derivantien".        123 

Schweringi)  konnte  Wolter's  Versuche  im  allgemeinen  be- 
stätigen. Er  fand  bei  der  gleichen  Versuchsordnung  bis  in  die 
Rückenmarkshäute  reichende  Hyperämie.  Unter  drei  Versuchen 
fand  er  einmal,  als  er  einen  Brandstreifen  von  5  cm  Länge  und 
2  cm  Breite  über  die  Bauchwand  in  der  Magengegend  gezogen 
hatte,  nicht  nur  die  ganze  Bauchhaut,  sondern  auch  die  gegenüber- 
liegende Magenwand  h3rperämisch ;  ,,in  einiger  Entfernung  von 
dieser  hyperämischen  Stelle  erschien  dagegen  die  Magenwand 
deutlich  anämisch."  In  den  übrigen  Versuchen  konnte  Schwering 
Zülzer's  Angabe  von  der  anämisierenden  Eigenschaft  des  Derivans 
in  der  Tiefe  nicht  bestätigen.  Trotzdem  zieht  er  merkwürdiger- 
weise aus  dem  einen  Befund  am  Magen  den  Schluss,  dass  das 
Glüheisen  wie  alle  Derivantien  ,,in  nächster  Nähe  Hyperämie,  in 
mehr  minder  grosser  Entfernung  Anämie"  hervorruft. 

Ich  habe  schon  oben  auseinandergesetzt,  dass  ich  auf  den  Be- 
fund von  Blutreichtum  und  Blutarmut  einzelner  Körperteile  an  der 
Leiche  wenig  Gewicht  lege.  Immerhin  ist  der  erstere  Befund  viel 
beweisender  als  der  letztere,  weil  ja  beirn  Einschneiden  in  hj^per- 
ämische  Organe  leicht  das  Blut  abfliesst  und  man  ausserdem  bei 
Muskehl,  besonders  aber  denen  der  Eingeweide,  gar  nicht  weiss, 
ob  sie  sich  nicht  während  des  Sterbens  zusammengezogen  und  ihr 
Blut  ausgepresst  haben.  Aber  meines  Erachtens  kann  auch  Blut- 
reichtum  im  Tode  gefunden  werden,  wo  er  vormals  nicht  bestand, 
und  wie  unsicher  diese  Versuche  sind,  geht  aus  der  Angabe 
Wolter's  hervor,  dass  er  auch  bei  einem  von  seinen  gesunden 
Kontrolltieren  genau  die  gleiche  in  den  Rückgratskanal  hinein- 
reichende Hyperämie  fand,  wie  bei  den  gebrannten  Tieren.  Für 
mich  ist  aus  diesen  Arbeiten  das  einzig  Beweisende  für  die  Hyper- 
ämisierung  der  Tiefe  durch  ein  auf  die  Haut  angewandtes  Glüh- 
eisen  der  durch  Wolter  mitgeteilte  Sektionsbefund  von  dem  ge- 
brannten Menschen.  Hier  lag  unter  dem  Brandschorf  im  Wirbel- 
kanal ein  Blutgerinnsel,  die  Dura  mater  war  imbibiert  und  die 
Pia  mater  ödematös.  Das  Glüheisen  hatte  also  in  grosser  Tiefe 
zu  Veränderungen  geführt,  welche  alle  stärkeren  Derivantien  nach 
sich  ziehen,  zu  Blutungen  und  entzündlichen  Erscheinungen, 
welche  keine  Kunstprodukte  und  keine  Leichenerscheinungen  sein 
können. 

Ich  brauche  wohl  nicht  auseinanderzusetzen,  dass  ich  auch  das 


1)  Schwering,  Über  das  Ferrum  candens.     Inaug.-Diss.     BerUn  1875. 


124:  Allgemeiner  Teil. 

Glüiieisen,  dieses  mächtigste  von  allen  Derivantien,  für  ein  hyper- 
ämisierendes  Mittel  halte. 

Die  Wirkung  der  Moxen,  Haarseile  und  Fontanellen,  die  in 
dasselbe  Gebiet  gehören,  werde  ich  später  erörtern. 

Ich  bemerke  noch,  um  nicht  missverstanden  zu  werden,  dass 
es  mir  gar  nicht  einfällt,  reflektorische  Einwirkungen  der  Deri- 
vantien und  Revulsiva  auf  entfernte  Körperteile  zu  leugnen,  und 
ich  gebe  zu,  dass  die  Möglichkeit  vorhegt,  dadurch  Heilwirkungen 
hervorzubringen.  Viel  wahrscheinlicher  scheint  es  mir  allerdings, 
dass  diese  Mittel  chemische  Änderungen  des  Blutes  und  der 
Gewebssäfte  an  Ort  und  Stelle  hervorrufen,  die  in  den  Blut- 
strom gelangen  und  an  entfernten  Körperteilen  heilkräftig  wirken. 
Ich  werde  in  einem  späteren  Kapitel  noch  auf  ihre  vielleicht 
vorhandenen  Fernwirkungen  zurückkommen.  Ich  glaube  aber 
gerade  unter  den  möglichen  Wirkungen  der  Derivantien  eine 
sicher  bewiesen  zu  haben,  nämlich,  dass  ihr  Haupteinfluss  ent- 
schieden die  Hyperämisierung  der  kranken  Körperteile  ist.  In 
dieser  Beziehung  leisten  sie  das  gerade  Gegenteil  von  dem,  was  ihr 
Name  sagt. 

Auch  die  Wirkungen  vieler  äusserlich  und  einiger  innerlich 
angewandter  Arzneimittel  dürften  zum  Teil  mit  auf  der  Hjrperämie 
beruhen,  welche  sie  hervorrufen. 

Ich  denke  hier  in  erster  Linie  an  die  sogenannten  Adstrin- 
gentien  und  ähnliche  Mittel.  Seit  langem  werden  die  Bindehaut- 
erkrankungen des  Auges  allgemein  mit  ziemlich  starken  Lösungen 
von  Argentum  nitricum,  Kupfer-  und  Zinksulfat  behandelt.  Eigen- 
tümlicherweise setzen  diese  scharfen  Mittel  nach  einer  anfäng- 
lichen mächtigen  Steigerung  die  Entzündung  herab.  Neuerdings 
hat  Fuchsi)  die  Ansicht  geäussert,  dass  die  durch  diese  Mittel 
hervorgerufene  H5rperämie  zu  einer  Transsudation  unter  dem  Ätz- 
schorf  führe,  die  mit  diesem  gleichzeitig  die  Bakterien  hinauswerfe. 
Ich  glaube,  die  Heilwirkung  der  Hyperämie  erklärt  sich  sehr  viel 
einfacher  in  einem  anderen  Sinne,  wie  ich  es  in  den  nächsten 
Kapiteln  auseinandersetzen  werde. 

Zwei  treffliche  Beispiele  lassen  sich  aus  dem  Gebiete  der  Haut- 
und  Geschlechtskrankheiten  aufführen :  Hebra  vertreibt  die  chroni- 
schien  Ekzeme  dadurch,  dass  er  sie  mit  ätzender  Kalilauge  abreibt, 
und  so  eine  heftige  Hyperämie  und  akute  Entzündung  hervorruft. 


1)  Fuchs,   Lehrbuch  der  Augenheilkunde. 


Andere  Hyperämiemitte],  insbesondere  chemische  „Derivantien".       125 

Der  chronische  Tripper  heilt  nicht  selten  nach  Ausspülungen  mit 
Argentum  nitricum,  besonders,  wenn  sie  nach  Janet'schen  Grund- 
sätzen vorgenommen  werden.  Ebenso  ist  der  frische  Tripper  durch 
J  an  et'sche  Spülungen  mit  Kai.  hypermang.  häuf  ig  in  wenigen  Tagen 
zu  beseitigen.  Dass  nicht  die  schwach  desinfizierende  Wirkung 
dieser  Mittel  die  Heilung  erzielt,  geht  daraus  hervor,  dass  viel 
stärkere  Desinf izienten  beim  Tripper  versagen  i ) .  Es  dürfte  auch  hier 
die  mächtige  entzündliche  Hyperämie  und  ihre  Folgen  die  Heilung 
besorgen.  Tritt  doch  nach  der  Janet'schen  Spülung  beim  frischen 
Tripper  ein  förmliches  Ödem  des  Penis  und  starker  seröser  Aus- 
fluss  aus  der  Harnröhre  auf.  Die  verbreitete  Auffassung,  dass  die 
seröse  Durchflutung  der  Schleimhaut  die  Gonokokken  mechanisch 
herausschwemme,  und  dadurch  heile,  dürfte  ebensowenig  das 
Richtige  treffen,  wie  die  obenerwähnte  gleichlautende  Meinung 
Fuchs'  über  die  Wirkung  der  in  der  Augenheilkunde  gebräuch- 
lichen Ätzmittel.  Sehen  wir  doch,  dass  eine  reine  Hyperämie  auf 
gonorrhoische  Metastasen  an  anderen  Körperteilen,  wo  ein  solches 
mechanisches  Herausschwemmen  von  Bakterien  gar  nicht  statt- 
haben kann,  wunderbar  heilend  wirkt. 

Es  Hessen  sich  aus  der  alten  Medizin  noch  eine  ganze  Reihe 
anderer  Beispiele  aufführen,  wo  man  beabsichtigte,  durch  Hervor- 
rufen einer  akuten  Entzündung  mit  chemischen  Reizmitteln  eine 
chronische  zur  Ausheilung  zu  bringen.  Wir  machen,  wie  ich  an- 
nehme, auch  heute  noch  vielfach  unbewusst  davon  Gebrauch,  und 
im  Volke  ist  der  Glaube  an  dieses  Verfahren  weit  verbreitet. 

Auch  bei  der  Wirkung  mancher  innerer  Arzneimittel  dürfte 
die  durch  sie  erzeugte  Hyperämie  mit  im  Spiele  sein. 

Wir  wissen  von  der  Sahzylsäure,  dass  sie  eine  deutliche 
Hyperämie  der  peripheren  Teile  verursacht.  So  erklären  sich  die 
Rötungen  der  Haut,  Schwitzen,  Ohrensausen  und  Sehstörungen, 
welche  man  dabei  beobachtet.  Ähnlich  wirkt  der  Alkohol.  Der 
Tartarus  stibiatus  macht,  innerlich  genommen,  neben  Hautrötungen 
und  Ausschlägen  eine  gewaltige  Hjrperämie  der  Schleimhäute. 


1)  Der  Tripper  üefert  ein  vortreffUches  Beispiel,  um  die  Ohnmacht  der 
Antiseptica  bei  bereits  eingewurzelter  Infektion  vor  Augen  zu  führen.  Denn 
dort  befindet  sich  in  der  engen  Harnröhre,  die  wir  mit  unseren  Desinfizientien 
gründlich  durchspülen  können,  ein  Mikrokokkus,  der,  wie  uns  die  Bakteriologen 
lehren,  gegen  Antiseptica  ausserordentlich  schwach  und  hinfällig  ist.  Und  doch 
gelingt  es  nicht,  durch  diese  Mittel  ihn  abzutöten,  sobald  er  nur  einigermassen 
in  die  Tiefe  vorgedrungen  ist. 


126  Allgemeiner  Teil. 

Ich  halte  es  für  möglich,  dass  der  günstige  Einfluss  der  Sahzyl- 
säure  bei  dem  akuten  Gelenkrheumatismus  auf  Hyperämiewirkung 
beruht.  Denn  wir  werden  später  sehen,  dass  die  künsthche  Hyper- 
ämisierung  der  Gelenke,  welche  von  dieser  Krankheit  befallen  sind, 
ebenfalls  Schmerzen  und  Schwellung  schnell  in  ihnen  beseitigt. 
Mit  dieser  Annahme  würde  auch  die  Erfahrung  übereinstimmen, 
dass  die  Salizylsäure  als  ein  Mittel,  welches  die  peripheren  Teile 
hyperämisiert,  nur  auf  die  Erkrankungen  der  Gelenke  wirkt, 
während  sie  Entzündungen  innerer  Teile,  insbesondere  der  Herz- 
häute, weder  verhütet  noch  beseitigt. 

Ich  erwähnte  schon  oben,  dass  Massage  und  Elektrizität  neben 
anderen  Wirkungen  auch  hyperämisieren.  Bei  der  Erklärung  des 
günstigen  Einflusses  dieser  Mittel  auf  Krankheiten  wäre  also  auch 
die  Hyperämie  mit  in  Betracht  zu  ziehen.  Ebenso  halte  ich  natür- 
lich auch  den  Priessnitz'schen  Umschlag  für  ein  hyperämisieren- 
des  Mittel.  Auch  habe  ich  schon  mehrfach  die  Ansicht  ausge- 
sprochen, dass  der  günstige  Einfluss  der  Punktion  auf  Bauchfell- 
tuberkulose, Pleuritis,  Meningitis  sich  vielleicht  auf  die  durch  den 
Eingriff  erzeugte  Hyperämie  zurückführen  lasse. 

Zum  Schluss  muss  ich  noch  der  Einsen' sehen  Lichtbehandlung 
des  Lupus  hier  gedenken.  Neben  anderen  Wirkungen  hat  diese 
Behandlung  nach  Forchhammer,  einem  Schüler  Eins  en's,  folgen- 
den Erfolg  1):  ,, Unmittelbar  nach  einer  solchen  Behandlung  zeigt 
sich  die  Haut  rot  und  geschwollen ;  diese  Reaktion  nimmt  allmäh- 
lich zu,  erreicht  in  etwa  20  Minuten  ihr  Maximum,  gewöhnlich  mit 
Bildung  einer  Blase.  Wenn  äussere  Verunreinigungen  abgehalten 
werden,  endet  die  Reaktion  nach  8 — 10  Tagen  mit  einer  oberfläch- 
lichen Exfohation. 

Zurück  bleibt  eine  recht  intensive  Röte,  die  erst  nach  Verlauf 
von  mehreren  Monaten  völlig  verschwindet.  Dieser  Entzündungs- 
prozess  hat  ohne  Zweifel  neben  der  bakteriellen  Wirkung  eine 
grosse  Bedeutung  für  den  Erfolg." 

Einsen 2)  selbst  und  sein  Schüler  Bie^)  legen  ebenfalls  grosses 


1)  Forchhammer,  Die  Finsentherapie  und  ihr  gegenwärtiger  Stand  in 
der  Dermatologie.  Kopenhagen  1901,  und  VII.  Kongress  der  deutschen  Der- 
matologischen Gesellschaft.    Breslau  1901. 

2)  Finsen,  Über  die  Anwendung  von  konzentrierten  chemischen  Licht- 
strahlen in  der  Medizin.      Leipzig.     Verlag  von  F.  C.  W.  Vogel.    1899. 

3)  Valdmar  Bie,  übersetzt  von  Schramm.  Die  Anwendung  des  Lichtes 
in  der  Medizin.    Wiesbaden.    Verlag  von  J.  F.  Bergmann.   1905. 


Andere  Hyperämiemittel,  insbesondere  chemische  ,,Derivantien".       2^27 

Gewicht  auf  diese  Wirkung  des  Lichtes  und  schreiben  ihr  einen 
Teil  des  Erfolges  b'ei  der  Heilung  des  Lupus  zu.  Sehen  wir  doch 
auch,  dass  andere  hyperämisch  entzündliche  Vorgänge  diese  Krank- 
heit zur  Ausheilung  bringen  können,  z.  B.  das  Erysipel.  Ich  selbst  i) 
sah  bei  hoffnungslosen  Lupusfällen,  nach  Transfusion  mit  fremd- 
artigem Blute,  die  zu  einer  grossartigen  Hyperämie  im  Lupus  führte, 
diesen  erheblich  sich  zurückbilden  und  überhäuten. 

Die  chemischen  Strahlen  in  Einsen' s  elektrischem  Bogenlicht 
und  die  Röntgenstrahlen  sind  in  ihrer  Wirkung  der  Stauungs- 
hyperämie  zu  vergleichen,  weil  beide  die  Entzündung  erheblich  ver- 
stärken, beziehungsweise  die  chemischen  Strahlen  sie  hervorrufen, 
die  lokalen  Glühlichtbäder  dagegen  den  Heissluftbädern,  da  dem 
Glühhcht  die  chemischen  Strahlen  fehlen,  und  es  lediglich  durch 
Wärme  wirkt. 

Die  Zahl  der  gebräuchlichen  Mittel,  mit  denen  man  unbewusst 
im  Krankheitsherde  Hyperämie  hervorruft,  ist  hiermit  keineswegs 
erschöpft. 

Es  ist  somit  klar,  dass  uns  zur  Hervorrufung  einer  Hyperämie 
sehr  zahlreiche  Wege  offen  stehen,  und  es  könnte  einseitig  erscheinen, 
dass  ich  mich  auf  zwei  Arten,  dieselbe  zu  erzeugen,  beschränkt 
habe.  Aber  die  genauere  Überlegung  zeigt,  dass  dies  notwendig 
war.  Denn  in  diesen  Mitteln  haben  wir  nicht  nur  reine  Hj^erämie, 
sondern  auch  ihre  beiden  Extreme:  das  eine  Mal  die  mächtige 
Beschleunigung  des  Blutstromes  durch  heisse  Luft,  das  andere 
Mal  jede  beliebig  stark  hervorzurufende  Verlangsamung  durch  die 
stauende  Binde  und  den  Schröpfapparat.  Wir  können  hier  nicht 
nur  die  reine  Wirkung  der  Hjrperämie  studieren,  sondern  auch  auf 
das  schönste  feststellen,  wo  die  verschiedenen  Arten  der  Hyperämie 
gleichartig  und  wo  sie  ungleichartig  wirken. 

Zudem  glaube  ich,  dass  es  kein  einziges  Mittel  gibt,  welches 
die  beiden  extremen  Formen  der  Hyperämie  so  kräftig  herstellen 
kann,  und  zwar,  nachdem  man  die  Grenzen  der  erlaubten  Anwen- 
dung herausbekommen  hat,  ohne  jeden  Schaden  für  den  Körper. 
Alle  jene  Mittel,  welche  nach  Art  der  ,,Derivantien"  wirken,  tun 
das  erst  indirekt  durch  Schädigung  der  Gewebe,  genau  so,  wie  es 
bei  Entzündungen  der  Fall  ist,  und  sie  sind  nicht  richtig  dosierbar, 
da  wir  nie  im  voraus  sagen  können,  wie  stark  und  wie  lange  z.  B. 
ein  Senfteig  bei  einem  bestimmten  Menschen  wirkt. 

1)  Bier,  Die  Transfusion  von  Blut,  insbesondere  von  fremdartigem  Blut, 
und  ihre  Verwendbarkeit  zu  Heilzwecken.     Münchn.  med.  W.  1901.  Nr.  15. 


128  Allgemeiner  Teil. 

Unsere  beiden  Mittel  aber  schädigen,  richtig  angewandt,  die 
Gewebe  gar  nicht,  und  sie  sind  im  vollsten  Masse  wie  ein  inneres 
Arzneimittel  dosierbar  i ) . 


Beeinflussung  des  Lymphstromes  durch 
hyperämisierende  Mittel. 

Von  grosser  Wichtigkeit  erscheint  die  Entscheidung  der  Frage : 
Wie  wirken  unsere  hjrperämisierenden  Mittel  auf  den  Lymphstrom  ? 
Wir  wollen  dabei  die  Streitfrage  über  die  Herkunft  der  Lymphe, 
ob  Transsudat,  ob  Sekretionsprodukt  der  KapillarendotheHen, 
gänzHch  ausser  Spiel  lassen,  da  das  für  unseren  Zweck  belang- 
los ist. 

Die  alte  Ansicht,  welche  die  Lymphe  als  ein  Transsudat  der 
Blutgefässe  ansah,  rechnete  mit  der  selbstverständlichen  Tatsache, 
dass  der  Lymphstrom  eines  Körperteiles  vom  Blutdrucke  und  von 
der  Blutfülle  in  demselben  abhängig  sei.  Sie  musste  demgemäss 
jeder  Hyperämie,  der  aktiven  wie  der  passiven,  eine  Beschleunigung 
der  Lymphbewegung  zuschreiben.  Den  ersten  Stoss  erhielt  diese 
Lehre  durch  eine  Arbeit  Paschutin's^),  welche  unter  Ludwig's 
Leitung  ausgeführt  wurde.  Er  wies  nach,  dass  die  grossartigsten 
arteriellen  Hyperämien,  welche  er  am  Vorderbein  des  Hundes  er- 
zeugte, ohne  jeden  Einfluss  auf  die  Schnelligkeit  des  Lymphstromes 
seien.  Als  Hyperämiemittel  verwandte  er  die  Durchschneidung 
des  Plexus  brachialis,  und  überzeugte  sich  von  dem  Eintritt  der 
Hyperämie  durch  den  Nachweis  einer  Erhöhung  der  Temperatur 
des  GHedes. 

Ja,  Paschutin  sah  nicht  einmal  eine  Vermehrung  des  Lymph- 
stroms, wenn  er  der  Durchschneidung  des  Plexus  brachialis  noch 
die  des  Halsmarkes  zufügte  und  dieses  reizte,  obwohl  dabei  der 
Blutdruck  um  das  4 — 9 fache  stieg,  und  demgemäss  in  dem  ge- 
lähmten Gliede  mit  seinen  erweiterten  Gefässen  die  grösstmög- 
liche  arterielle  Hyperämie  auftreten  musste.      Er  konnte  damit 


1)  Diesen  Unterschied  hat  z.  B.  Wolf f  (Diskussion  zu  Kuhn's  Vortrag. 
Deutsche  med.  W.  1906.  Nr.  29.  S.  1177)  nicht  begriffen,  wenn  er  die  Wirkung 
von  Formalindämpfen  mit   der  der  Stauungshyperämie   vergleicht. 

2)  Paschutin,  Über  die  Absonderung  der  Lynaphe  im  Arme  des  Hundes. 
Bericht  der  Königl.   Sachs.  Ges.  der  Wissensch.     Math,  physik.  Klasse.    1873. 


Beeinflussung  des  Lymphstromes  durch  hyperämisierende  Mittel.        ^29 

nicht  einmal  das  regelmässige  Sinken  des  Lymphstromes,  welches 
stets  mit  der  Zeit  bei  längerer  Versuchsdauer  eintritt,  auf- 
halten. 

Unter  zahlreichen  Versuchen  vermochte  er  nur  zweimal  eine 
geringe  Beschleunigung  des  Lymphstromes  zu  erzeugen  und  hier 
einen  klaren  Versuchsfehler  leicht  als  Ursache  derselben  nachzu- 
weisen. 

Paschutin's  Versuchsergebnisse  wurden  von  verschiedenen 
Seiten  bestätigt.  So  im  grossen  und  ganzen  durch  E  mminghausi) 
in  einer  ebenfalls  unter  Ludwig's  Leitung  ausgeführten  Arbeit. 
Ebenso  durch  Jankowsky^),  welcher  bei  Cohnheim  arbeitete. 
Dieser  fand  auch,  dass  an  einem  normalen  Gliede  die  durch  Läh- 
mung der  Vasomotoren  erzeugte  arterielle  Hyperämie  den  Lymph- 
strom  nicht  steigerte,  sondern  im  Gegenteil  zuweilen  verzögerte. 
Brachte  er  dagegen  das  Glied  zur  Entzündung,  oder  machte  er  die 
Versuchstiere  künstlich  hydrämisch,  so  beschleunigte  die  Vaso- 
motorenlähmung den  Lymphstrom. 

Umgekehrt  dagegen  fanden  andere  Untersucher  stets  bei  der 
arteriellen  Hyperämie  den  Lymphstrom  vermehrt  und  beschleunigt. 
Rogowicz^),  welcher  unter  Heidenhain  arbeitete,  behauptete, 
dass  jede  auf  irgend  eine  Weise  erzeugte  arterielle  Hyperämie,  sofern 
sie  nur  eine  deutlich  nachweisbare  Temperatursteigerung  an  dem 
betreffenden  Körperteile  zur  Folge  habe,  die  Lymphabsonderung 
vermehre  und  den  Lymphstrom  beschleunige.  Lähmung  der  Vaso- 
motoren, Reizung  der  Dilatatoren  und  durch  Gifte  erzeugte  arterielle 
Hyperämie,  sie  alle  hatten  denselben  Erfolg.  Eine  Hauptbeweis- 
kraft schreibt  R  o  g  ow  i  c  z  folgendem  Versuche  zu :  Er  hyperämisierte 
eine  Zungenhälfte  durch  wiederholte  Lingualisreizung  und  spritzte 
währenddessen  in  eine  Vena  saphena  eine  gesättigte  Lösung  von 
indigoschwefelsaurem  Natron.  Die  hyperämisierte  Seite  färbte  sich 
sehr  rasch  blau,  während  die  anderen  Körperteile  zunächst  noch  ihre 
normale  Farbe  behielten  und  sich  erst  später  färbten.  Hatte  die 
andere  Zungenhälfte  sich  auch  gebläut,  und  wurde  die  einseitige 


1)  Emminghaus,    Über    die    Abhängigkeit   der    Lymphabsonderung   vom 
Blutstrom.    Arbeiten  aus  der  Physiol.  Anstalt  zu  Leipzig.   1873. 

2)  Jankowsky,  Über  die  Bedeutung  der  Gefässnerven  für  die  Entstehung 
des  Ödems.    Virchow's  Archiv.    93.  Bd.   S.  259. 

3)  Rogowiez,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Lymphbildung.    Pflüger's  Archiv 
1885.    S.  252. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  9 


230  Allgemeiner  Teil. 

Hjrperämie  länger  unterhalten,  so  entfärbte  sich  die  hyperämische 
Seite  viel  schneller  als  die  andere.  Daraus  schliesst  Rogowicz, 
dass  die  Lymphe,  welche  den  Farbstoff  den  Geweben  zuführe,  auf 
der  hyperämischen  Seite  viel  schneller  ausgeschieden  werde,  und 
dass  bei  weiterer  Unterhaltung  der  Hyperämie  ein  stark  ge- 
steigerter Lymphstrom  die  betreffende  Seite  auch  viel  schneller 
wieder  auswasche.  Er  fand  auch,  dass  die  Lymphe  eines  arte- 
riell hjrperämisierten  Gliedes  bei  den  oben  geschilderten  Ver- 
suchsbedingungen viel  blauer  aussah,  als  die  des  entsprechenden 
anderen. 

Ebenso  sahen  PekelharingundMensonidesi)  bei  arterieller 
Hyperämie  eines  Hinterbeines,  welche  sie  vermittels  Durchschnei- 
dung des  Nervus  ischiadicus  hervorbrachten,  eine  bedeutende  Ver- 
mehrung des  Lymphstromes. 

Ch  ab  bas  2),  welcher  unter  Grünhagen  arbeitete,  konnte  nach- 
weisen, dass  ,,die  Sekretion  des  Humor  aqueus  eine  direkte  Funk- 
tion des  Blutdruckes  ist".  Er  wies  nach,  dass  die  Erniedrigung  des 
Blutdruckes  durch  Chloralhydratnarkose  die  Absonderung  des 
Kammerwassers  verminderte,  Erhöhung  des  Blutdrucks  durch 
Nikotin  oder  durch  Unterbindung  der  Aorta  oberhalb  des  Zwerch- 
fells sie  erhöhte. 

Diese  Beobachtungen  sind  von  anderer  Seite  durch  noch  ge- 
nauere Versuche  bestätigt,  und  in  einer  neueren  Arbeit  hat  Leb  er  3) 
die  Richtigkeit  derselben  anerkannt.  Sollten  die  Versuche  für  die 
Abhängigkeit  der  Lymphabsonderung  von  Blutdruck  und  Gefäss- 
füllung  entscheidend  sein,  so  müsste  allerdings  erst  der  sichere 
Beweis  geführt  werden,  dass  Kammerwasser  und  Lymphe  das- 
selbe sind.  Viele  Beobachter  scheinen  mir  den  Begriff  ,, Lymphe" 
sehr  weit  zu  fassen.  So  rechnet  Emminghaus*)  ohne  weiteres 
Ödem,  Hydrops,  Anasarka,  Hydrothorax,  Ascites  dazu  und  be- 
hauptet:  ,,Ödem  und  vermehrte  Lymphbildung  sind  identisch." 


1)  Pekelharing  u.  Mensonides,  Zitiert  nach  Virchow-Hirsch's  Jahres- 
berichten 1887.    Das  Original  war  ixiir  nicht  zugänglich. 

2)  Chabbas,  Über  die  Sekretion  des  Humor  aqueus  in  bezug  auf  die 
Ursachen  der  Lymphbildung.     Pflüger's  Archiv.     16.  Bd.     1878.    S.  143. 

3)  Leber,  Merkel-Bonnets  Ergebnisse  der  Anatomie  und  Entwicklungs- 
geschichte.    1894.    S.  156. 

4)  Emminghaus,  Physiologisches  und  Pathologisches  über  die  Ab- 
sonderung der  Lymphe.  Wunderlich-Roser's  Archiv  der  Heilkunde.  15.  Jahrg. 
1874.     S.  369. 


Beeinflussung  des  Lymphstromes  diirch  hyperämisierende  Mittel.       2^3  J 

Bedenken  wir  ferner,  unter  was  für  unnatürlichen  Bedingungen 
diese  Untersucher  arbeiteten  —  bei  Tieren,  die  mit  Curare  und 
Nikotin  vergiftet,  denen  Rückenmark  und  Nerven  durchschnitten 
waren,  die  Aorta  unterbunden  und  künstHche  Atmung  eingeleitet 
war  — ,  so  werden  wir  an  der  Beweiskraft  dieser  Versuche  zweifeln 
und  die  gänzlich  verschiedenen  Ergebnisse  verstehen.  Wir  müssen 
aus  ihnen  den  Schluss  ziehen:  Wir  wissen  nicht,  ob  und  wie  arte- 
rielle Hyperämie  auf  den  Lymphstrom  wirkt. 

So  verschieden  hier  nun  die  Ansichten  sind,  so  erfreuliche 
Übereinstimmung  herrscht  über  den  Einfluss  der  Stauungshyper- 
ämie auf  den  Lymphstrom.  Alle  Beobachter  ohne  Ausnahme  fanden 
die  Ausscheidung  und  den  Strom  der  Lymphe  dadurch  ganz  er- 
heblich vermehrt. 

Die  ersten  Versuche  über  diesen  Gegenstand  machte  T  h  o  m  s  a  i) : 
Behinderte  er  bei  unverändertem  Arterienzufluss  den  venösen  Blut- 
strom  am  Samenstrang,  so  wurde  der  Strom  in  den  zugehörigen 
Lymphge fassen  erheblich  vermehrt. 

Emminghaus^)  machte  denselben  Befund  bei  den  Beinen  von 
Versuchstieren,  ebenso  Gonitschewsky^),  ein  Schüler  Cohn- 
h  e  i  m's.  Er  erzeugte  die  Stauungshyperämie  durch  Gipsbrei,  welchen 
er  in  die  Venen  künsthch  blutleer  gemachter  Gheder  einspritzte 
und  darin  erstarren  liess.  War  dies  geschehen,  so  wurde  der  Blut- 
strom  freigegeben,  und  es  entstand  eine  sehr  bedeutende  Stauungs- 
hyperämie. Diese  hatte  eine  starke  Erweiterung  der  Lymphgefässe 
und  sehr  vermehrten  Lymphstrom  zur  Folge.  Die  aufgefangene 
Lymphe  war  dünnflüssig,  enthielt  viele  rote  und  wenig  weisse  Blut- 
körperchen und  hatte  nur  geringe  Gerinnungsfähigkeit. 

Pugliese*)  machte  ähnliche  Beobachtungen,  wenn  er  durch 
Zusammendrücken  der  Vena  subclavia  eine  Stauungshyperämie  im 
Vorderbein  eines  Versuchstieres  erzeugte.  Nur  fand  er  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  keine  Veränderung  der  Farbe  und  der  festen  Bestand- 
teile der  Lymphe.  Dieser  Unterschied  gegen  die  Befunde  des 
vorigen  Beobachters  erklärt  sich  daraus,  dass  jener  durch  seinen 


1)  Thomsa,  Wiener  Sitzungsbericht.     46.  Bd.     II.  Abschnitt.    Zitiert  nach 
Paschutin.    Das  Original  war  mir  nicht  zugänglich. 

2)  Emminghaus,  1.  c. 

3)  Gonit sehe wsky,  Über  Stauungsödem.   Virchow's  Archiv.   Bd.  77.  S.  65. 

4)  Pugliese,  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Lymphbildung.     Pflüger's  Archiv 
1898.     72.  Bd.   S.  603. 

9* 


]^32  Allgemeiner  Teil. 

Gipsbrei  eine  ganz  gewaltige,  Pugliese  durch  das  Zusammen- 
drücken der  Vena  subclavia  nur  eine  geringe  Stauung  hervor- 
brachte. 

Schon  früher  hatte  Lassar^)  bewiesen,  dass  auch  Entzündung 
den  Lymphstrom  beträchthch  vermehrt.  Er  kam  deshalb  zu  der 
Überzeugung,  dass  sowohl  Stauung  als  Entzündung  den  Lymph- 
strom ganz  bedeutend  verstärken.  Aber  beide  Lymphsorten  zeigten 
erhebhche  Verschiedenheiten:  die  Entzündungslymphe  ist  eine  gelb- 
Uche,  zähe,  leicht  gerinnende  Flüssigkeit,  enthält  sehr  viel  weisse, 
aber  nur  wenig  rote  Blutkörperchen,  und  hinterlässt  beim  Ein- 
trocknen Rückstände,  welche  die  der  normalen  Lymphe  beträcht- 
lich, die  der  Stauungslymphe  um  das  Mehrfache  übertreffen.  Die 
Stauungslymphe  dagegen  ist  eine  dünnflüssige,  leicht  rötliche  und 
unvollständig  gerinnende  Flüssigkeit  mit  sehr  viel  roten  und  wenig 
weissen  Blutkörperchen.  Machte  Lassar  am  entzündeten  Beine 
eines  Versuchstieres  eine  arterielle  Hyperämie  vermittels  Durch- 
schneidung des  Nervus  ischiadicus,  so  blieb  dies  ohne  jeden  Ein- 
fluss  auf  den  Lymphstrom. 

Alle  diese  Untersucher  verursachten  ihre  Stauungshyperämie 
durch  Unterbinden  oder  Zusammendrücken  grosser  Venenstämme, 
durch  Einspritzen  von  Gipsbrei  oder  unvollkommene  Umschnürung 
des  betreffenden  Gliedes,  wie  wir  es  bei  unserer  Stauungshyperämie 
machen.  Aber  auch  in  letzterem  Falle  fingen  sie  die  Lymphe 
natürhch  aus  einem  Gefässe  unterhalb  des  abschnürenden  Bandes 
auf.  Der  Abfluss  der  Lymphe  war  also  bei  keinem  ihrer  Versuche 
behindert. 

Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  bei  unserer  Stauungs- 
hyperämie, welche  wir  mit  der  Binde  und  mit  Schröpfappa- 
raten erzeugen.  Wir  schnüren  die  Lymphgefässe  mit  ab,  und,  da 
diese  noch  zartere  Wände  haben  als  die  Venen,  so  machen  wir 
höchstwahrscheinlich  auch  eine  noch  vollkommenere  Lymph-  als 
Blutstauung. 

Jene  Versuche,  deren  Richtigkeit  wohl  bei  den  übereinstimmen- 
den Ergebnissen  nicht  zu  bezweifeln  ist,  kommen  also  bei  uns  nur 
insofern  in  Betracht,  als  wir  annehmen  müssen,  dass  nach  Abnahme 
der  stauenden  Binde,  also  in  den  Pausen,  der  Lymphstrom  ver- 
mehrt ist. 


1)   Lassar,  Über  Ödem  und  Lymphstrom  bei  der  Entzündung.    Virchow's 
Archiv.     69.  Bd.   S.  516. 


Beeinflussung  des  Lymphstromes  durch  hyperämisierende  Mittel.       ISS 

Ich  bemerkte  schon,  dass  es  eine  Art  von  Stauung  gibt,  welche 
ich  früher  mit  dem  Namen  ,, weisse  Stauung"  bezeichnet  habe,  die 
mir  hauptsächhch  die  Lymphe  zurückzuhalten  scheint.  Dabei  tritt 
die  Hyperämie  gänzlich  in  den  Hintergrund,  aber  die  Gheder 
schwellen  trotzdem  an  und  werden  ödematös.  Da  die  Hyperämie 
fehlt,  so  sieht  die  Haut  dabei  weiss  aus.  Man  sieht  diese  Form 
der  Stauung  recht  selten,  ich  habe  sie  bei  tuberkulösen  Gelenken 
beobachtet  und  liebe  sie  nicht,  da  sie  sich  gänzlich  unwirksam 
zeigte. 


Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 


Schmerzstillende  Wirkung  der  Hyperämie. 

Es  gibt  kaum  eine  Wirkung  der  Hyperämie,  welche  mehr  in 
die  Augen  fällt,  als  die  Linderung  der  Schmerzen  bei  schmerz- 
haften Krankheiten.  Diese  Eigenschaft  haben  aktive  wie  passive 
Hyperämie.  So  sehen  wir  es  fast  regelmässig,  dass  ein  Gelenk, 
welches  von  schmerzhaftem  chronischen  Rheumatismus  befallen  ist, 
unmittelbar  nachdem  es  einer  einstündigen  Behandlung  im  Heiss- 
luftkasten  ausgesetzt  war,  weniger  empfindlich,  zuweilen  ganz  un- 
empfindlich wird. 

Noch  viel  deuthcher  ist  der  Einfluss  der  Stauungshyperämie 
auf  die  rasend  schmerzhafte  schwere  Form  der  gonorrhoischen  Ge- 
lenkentzündung. Hier  bessern  sich  die  Schmerzen  schon  14  bis 
1  Stunde  nach  Anlegung  der  Gummibinde.  Wie  hochgradig  und 
wunderbar  gerade  in  diesen  Fällen  die  Schmerzstillung  ist,  werde 
ich  im  weiteren  Verlaufe  dieser  Arbeit  noch  beschreiben. 

Aber  auch  bei  allen  möghchen  anderen  schmerzhaften  Krank- 
heiten, bei  welchen  die  Hyperämie  überhaupt  mit  Nutzen  anwend- 
bar ist,  ist  die  Schmerzherabminderung  immer  ihre  hervorragendste 
Erscheinung.  So  beseitigen  die  verschiedenen  Formen  der  Hyper- 
ämie Neuralgien  und  Kopfschmerzen  und  setzen  die  EmpfindUch- 
keit  von  Gelenken,  die  aus  den  allerverschiedensten  Ursachen 
schmerzhaft  sind,  ganz  erheblich  herab. 

Anfangs,  als  meine  Versuche  mit  Hyperämiebehandlung  sich 
nur  auf  eine  beschränkte  Zahl  von  Krankheiten  bezogen,  neigte  ich 
zu  der  Annahme,  diese  sonderbare  Schmerzstillung  als  mittelbar 
anzusehen,  insofern  als  die  Krankheitsursache,  welche  den  Schmerz 
hervorrufe,  durch  die  Hjrperämie  günstig  beeinflusst  werde,  und  mit 


Schmerzstillende  Wirkung  der  Hyperämie.  135 

ihrem  Zurückgehen  auch  ihre  Symptome,  zu  welchen  die  Schmerz 
haftigkeit  gehört.    Ich  bin  noch  immer  der  Ansicht,  dass  dies  bei 
der  Beseitigung  des  Schmerzes  sehr  wohl  eine  Rolle  spielen  kann 
Wir  können  uns  vorstellen,  dass  die  aktive  Hyperämie  giftige  Stoffe 
welche  diu-ch  Schädigung  der  Nervenenden  Schmerz  hervorrufen 
hinwegschwemmt,  und  die  passive  Hyperämie  sie  verdünnt.   Etwas 
Ähnliches  könnte  sogar  bei  den  verletzten  Gelenken,  wo  die  Hyper- 
ämie ebenfalls  schmerzstillend  wirkt,  in  Frage  kommen.    Indessen 
müssen  wir  doch  wohl  die  Herabsetzung  der  Empfindlichkeit  als 
eine  allgemeine  Eigenschaft  der  Hyperämie  ansehen.     Dies  geht 
schon  daraus  hervor,  dass  die  Schmerzstillung  in  manchen  Fällen 
so  ausserordenthch  schnell  —  in  Bruchteilen  einer  Stunde  —  ein- 
tritt, dass  von  irgend  einem  ernsthaften  Einfluss  des  Mittels  auf 
die  Krankheitsursache  keine  Rede  sein  kann. 

Was  die  Erklärung  der  schmerzlindernden  Wirkung  der  Hyper- 
ämie anlangt,  so  verweise  ich  auf  die  Arbeiten  Ritte r's^);  er  wies 
experimentell  nach,  dass  jede  Form  der  Hyperämie  die  Schmerz- 
empfindung mildert.  Er  glaubt,  dass  die  seröse  Durchtränkung 
der  Gewebe  die  Empfindlichkeit  der  Nerven  herabsetzt,  in  ähn- 
Hchem  Sinne,  wie  dies  Schleich  in  seinen  bekannten  Versuchen 
für  alle  möglichen  ödematisierenden  Mittel  nachwies. 

In  anderer  Weise  erklärt  Bu  m^)  die  Herabsetzung  der  Schmer- 
zen kranker  Gelenke  durch  Stauungshyperämie.  Er  weist  darauf  hin, 
dass  diese  eine  Vermehrung  des  Gelenkinhaltes  und  dadurch  eine 
Verminderung  der  Flächenberührung  der  kranken  Gelenkenden  her- 
vorbringe. Sie  müsse  also  in  ähnlichem  Sinne  schmerzstillend  wirken, 
wie  ein  Streckverband.  Meines  Erachtens  wird  diese  Erklärung  da- 
durch hinfällig,  dass  Hyperämie  bei  zahlreichen  Weichteilerkran- 
kungen, wo  derartige  Verhältnisse  gar  nicht  in  Betracht  kommen, 
genau  ebenso  die  Schmerzen  herabsetzt. 

Aktive  und  passive  Hyperämie  wirken  auf  eine  Reihe  von  Krank- 
heiten in  gleicher  Weise  schmerzstillend,  z.  B.  bei  allen  chronischen 
schmerzhaften  Gelenkversteifungen,  mögen  sie  nun  durch  chronischen 


1)  Ritter,  Die  natürlichen  schmerzlindernden  Mittel  des  Organismus. 
Verhandlixngen  der  deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie.  31.  Kongress  1902, 
und:  Archiv  für  klinische  Chirurgie.  68.  Band.  S.  429,  imd:  Die  praktische 
Bedeutung  der  natürlichen  Schmerzlinderung.  Die  Heilkunde.  VII.  Jahrgang. 
5.  Heft.     1903. 

2)  Bum,  Die  Behandlung  von  Gelenkerkrankungen  mittels  Stauung. 
Wiener  med.  Presse.     1905.    Nr.  3  u.  4. 


]^3g  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Rheumatismus,  Arthritis  deformans,  Verletzungen  oder  andere  Ur- 
sachen entstanden  sein.  Bei  allen  schmerzhaften  Infektionskrank- 
heiten, z.B.  gonorrhoisch,  akut  rheumatisch,  tuberkulös  erkrankten 
Gelenken,  allen  phlegmonösen  Prozessen,  ist  zweifellos  die  passive 
Hyperämie,  wie  in  jeder  Beziehung,  so  auch  in  der  schmerzstillenden 
Wirkung  das  überlegenere  Mittel,  während,  wie  mir  scheint,  auf 
Neuralgien  wieder  die  aktive  Hyperämie  viel  besser  wirkt. 

Jedenfalls  müssen  wir  vollständig  mit  der  alten  Ansicht  brechen, 
dass  Hjrperämie,  z.  B.  die  entzündhche  Hjrperämie  als  solche, 
Schmerzen  hervorriefe,  im  Gegenteil,  diese  entstehen  durch  die 
Schädigung  der  Zellen  und  der  Nervenendigungen,  welche  mit  jeder 
Entzündung  verbunden  ist,  und  die  nachfolgende  Hyperämie  mit 
ihren  Veränderungen  setzt,  weit  entfernt,  die  Schmerzen  zu  ver- 
mehren oder  hervorzurufen,  diese  vielmehr  herab.  Die  längst  be- 
kannte ,, thermische"  Schmerzlinderung  ist  meines  Erachtens  ledig- 
lich durch  H3rperämiewirkung  erzeugt,  und  es  war  ein  grober  Irrtum, 
wenn  man  sie  sich  allgemein  dadurch  erklärte,  dass  die  Hitze  durch 
Ableitung  die  schmerzhaften  Teile  von  Blut  entlaste,  oder,  wie  man 
gewöhnüch  sagte,  sie  ,,dekongestioniere".  Genau  so  verhält  es  sich 
mit  anderen  hjrperämisierenden  Mitteln.  Ich  erwähnte  schon,  dass 
die  von  alters  her  gebrauchten  chemischen  Derivantien  schmerz- 
linderndwirken. Auch  die  trockenen  Schröpfköpfe  haben  ihren  alten 
Ruf  als  Schmerzstiller  bis  auf  den  heutigen  Tag,  insbesondere  bei 
schmerzhafter  Pleuritis  sicca  und  bei  Lumbago  bewahrt.  Freilich 
auch  von  ihnen  meinte  man,  dass  sie  ihre  wohltätige  Wirkung 
durch  Anämisierung  der  blutüberfüllten  schmerzhaften  Teile  ent- 
falteten. Unverrichti)  glaubte  sogar  an  den  Leichen  infolge 
Pleuritis  verstorbener  Leute,  denen  im  Leben  Schröpfköpfe  gesetzt 
waren,  eine  Anämie  der  Pleura  nachweisen  zu  können;  er  sagt: 

,,Eine  andere  Möghchkeit,  die  Schmerzen  zu  lindern,  besteht 
in  der  Anwendung  ableitender  Verfahren,  welche  vor  aUen  Dingen 
darauf  abzielen,  die  Hyperämie  der  entzündeten  Pleura  zu  ver- 
mindern. Gehngt  es,  die  Kongestion  zu  beseitigen,  dann  bleibt 
auch  eine  schmerzhndernde  Wirkung  nicht  aus.  Am  meisten  ist 
in  dieser  Beziehung  von  Schröpf  köpfen  zu  erwarten.  Ich  habe 
mich  selbst  davon  überzeugt,  dass  die  Stelle  der  Pleura,  an  welcher 


1)  Unverricht,  Krankheiten  des  Brustfells  und  des  Mittelfells,  im  Hand- 
buch der  praktischen  Medizin  von  Ebstein  u.  Schwalbe.  I.  Band.  S.  405. 
Stuttgart  1905. 


Schmerzstillende  Wirkung  der  Hyperämie.  237 

die  Schröpfköpfe  gesessen  haben,  an  der  Leiche  noch  durch  eine 
geringere  Gefässfüllung  nachweisbar  ist.  Es  wird  anscheinend  der 
Blutstrom  durch  die  Saugkraft  des  Schröpfkopfes  nach  aussen  ab- 
gelenkt." 

Dies  steht  in  einer  Abhandlung  vom  Jahre  1905!  Man  sieht, 
wie  schwer  es  ist,  alteingewurzelte  Vorurteile  zu  beseitigen.  Ich 
kämpfe  seit  Jahren  vergeblich  gegen  die  Ansicht,  dass  Hyperämie 
Schmerz  erzeuge. 

Ich  wiederhole  Unverricht  gegenüber,  was  ich  schon  im 
Kapitel  über  ,,Derivantien"  gesagt  habe,  dass  sich  aus  der  Blutver- 
teilung in  der  Leiche  keine  Schlüsse  für  die  am  Lebenden  ableiten 
lassen. 

Meine  Entdeckung  der  schmerzlindernden  Wirkung  der  passiven 
Hyperämie  vollends  steht  im  schroffsten  Widerspruche  zu  den  bis- 
her geltenden  ärztlichen  Anschauungen,  denn  man  nahm  es  als 
vollständig  selbstverständlich  und  durch  die  tägliche  Erfahrung  er- 
wiesen an,  dass  Blutstauungen  Schmerzen  hervorriefen.  So  weiss 
ich  denn  auch,  dass  man  meine  Bestrebungen,  mit  Stauungshyper- 
ämie Schmerzen,  besonders  an  entzündeten  Gliedern,  stillen  zu 
wollen,  mit  bedenklichem  Kopfschütteln  aufgenommen  hat.  Es  fällt 
mir  aber  trotzdem  nicht  ein,  mich  hier  mit  der  Beweisführung  auf- 
zuhalten, denn  wenn  irgend  etwas  in  der  Medizin  leicht  zu  zeigen 
ist,  so  ist  es  dies,  und  jeder,  der  sich  ernsthaft  davon  überzeugen 
will,  kann  dies  jederzeit  ohne  besondere  Kunst  und  Mühe  tun. 
Nur  bitte  ich,  wenn  man  diese  Versuche  nachmacht,  sie  auch  richtig 
anzustellen  und  nicht  die  Stauungsbinden  so  fest  anzuziehen,  dass 
durch  schwere  Ernährungsstörungen  der  Gewebe  und  Druck  auf  die 
Nerven  die  heftigsten  Schmerzen  entstehen.  Ich  muss  denjenigen, 
welche  berichtet  haben,  dass  Stauungshjrperämie  Schmerzen  bereite, 
nur  immer  wieder  entgegnen,  dass  sie  mit  der  Technik  nicht  um- 
zugehen wissen. 

Übrigens  hätten  zahlreiche  Beobachtungen  uns  längst  davon 
überzeugen  sollen,  dass  die  Hyperämie,  auch  die  entzündliche  und 
ihre  Folgen,  schmerzstillend  wirkt.  Denn,  um  zwei  Beispiele  zu 
nennen,  die  sehr  schmerzhafte  Kieferperiostitis  bei  Zahnkaries 
schmerzt  rücht  mehr,  wenn  die  Backe,  der  Knochenbruch,  wenn 
das  GHed  anschwillt. 

Ganz  im  Gegensatz  dazu  aber  hielt  man  an  der  hergebrachten 
Ansicht  fest,  dass  die  Hyperämie  Schmerzen  erzeuge.  Es  war  eine 
logische  Folge  dieser  Anschauung,  dass  man  in  der  Chirurgie  all- 


]^38  Allgemeine  Wirkiingen  der  Hyperämie. 

gemein  die  Hochlagerung  gegen  die  Schmerzen  der  Entzündung 
anwandte  und  niemand  an  der  Überzeugung  zu  rüttehi  wagte,  dass 
sie  das  vornehmste  und  natürhchste  Mittel  gegen  den  Entzündungs- 
schmerz darstellte.  Die  Erfahrung  und  der  Erfolg  schienen  diese 
Ansicht  auf  das  schlagendste  zu  bestätigen.  Denn  jedermann  weiss, 
dass  im  entzündeten  Körperteile  ein  heftiger  klopfender  Schmerz 
entsteht,  wenn  man  ihn  herabhängen  lässt,  und  dass  der  Schmerz 
aufhört  oder  sich  bessert,  wenn  man  das  entzündete  Ghed  hoch- 
lagert. 

Und  doch  ist  diese  Anschauung  grundfalsch.  Zweifellos  hört 
der  klopfende  Schmerz  bei  der  Hochlagerung  bald  auf,  aber  sehr 
bald  stellen  sich  andere  heftig  schmerzhafte  Empfindungen  ein. 
So  habe  ich  oft  gehört,  dass  Kranke,  deren  Arme  wegen  sehr 
schmerzhafter  Sehnenscheidenphlegmonen  hochgehangen  waren, 
über  heftige  Schmerzen  und  Unbequemhchkeiten  klagten,  und  um 
eine  andere  Lagerung  ihrer  Gheder  baten.  Man  entgegnete  ihnen 
dann:  ,,Die  Hochlagerung  muss  beibehalten  werden,  sonst  hätten 
sie  noch  viel  mehr  Schmerzen."  Ich  kann  mich  in  dieser  Be- 
ziehung sehr  kurz  fassen.  Denn  ich  habe  an  zahllosen  Fällen  be- 
wiesen, dass  die  heftigen  Schmerzen  der  Phlegmonen  durch  eine 
kräftige  Stauungshyperämie  gemildert  werden,  eine  Tatsache,  die 
neuerdings  von  vielen  Seiten  bestätigt  ist,  weiui  auch  zugegeben 
werden  muss,  dass  die  Stauung  im  ersten  Augenbhck  den  klopfen- 
den Schmerz  im  Entzündungsherde  häufig  steigert. 

Die  schmerzstillende  Wirkung  der  Hyperämie  ist  nicht  nur  in- 
sofern nützhch,  als  sie  für  den  Kranken  angenehm  ist.  Sie  ist 
es  hauptsächhch,  welche  bald  nach  ihrer  Anwendung  versteiften 
GHedern  ihre  Beweghchkeit  wiedergibt.  Denn  die  Versteifungen 
der  Gelenke  bei  allen  möglichen  Entzündungen  sind  nur  zu  einem 
Teile  durch  grob  anatomische  Ursachen  bedingt,  zum  andern  Teil 
werden  sie  durch  Muskelkontrakturen  herbeigeführt  und  unter- 
halten, deren  erste  Ursache  die  schmerzhafte  Nervenreizung  im 
Gelenke  darstellt.  Zugleich  mit  ihr  verschwindet  auch  ihr  Folge - 
zustand,  die  Kontraktur.  Nur  so  ist  es  zu  erklären,  dass  unmittel- 
bar nach  Anwendung  eines  hyperämisierenden  Verfahrens  versteifte 
Gelenke  beweglich  werden. 

Allerdings  treten  gewöhnhch  sehr  bald  nach  dem  Aussetzen 
des  Mittels  Schmerz  und  Versteifung  wieder  ein,  und  es  wäre 
immerhin  mehr  ein  Scheinerfolg,  wenn  die  Hyperämie  weiter  nichts 
erreichte,  als  eine  Herabsetzung  des  Schmerzes  während  oder  auch 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.        X39 

noch  eine  Zeitlang  nach  ihrer  Dauer.  Glücklicherweise  aber  hat 
dasselbe  Mittel  noch  zahlreiche  Wirkungen,  welche  die  Krankheits- 
ursache und  ihre  anatomischen  Folgezustände  günstig  beeinflussen, 
so  dass  bald  die  Schmerzhaf  tigkeit  kranker  Teile  nicht  nur  unmittel- 
bar durch  die  Hyperämie,  sondern  vor  allem  mittelbar  durch 
Besserung  der  Krankheit  abnimmt  oder  verschwindet,  wovon  gleich 
die  Rede  sein  soll.  Trotzdem  müssen  wir  aber  der  reinen  schmerz- 
stillenden Wirkung  der  Hyperämie  eine  bedeutende  Rolle  zu- 
schreiben. Sie  bewahrt  die  Glieder  vor  dem  Festwerden  in  fehler- 
haften Stellungen,  welche  die  reflektorische  Kontraktur  mit  sich 
führt,  und  gestattet,  frühzeitig  passive  Bewegungen  vorzunehmen 
und  sonst  unvermeidliche  anatomische  Versteifungen  zu  umgehen. 


Bakterientöteiide  oder  abschwächende  Wirkung 
der  Hyperämie. 

Wenn  man  Fälle  von  Infektionskrankheiten,  wie  die  später 
noch  zu  beschreibenden,  beobachtet,  welche  nicht  nur  mit  grosser 
Geschwindigkeit  unter  Stauungshjrperämie  sich  bessern  und  aus- 
heilen, sondern  wo  auch  sofort  mit  der  Anwendung  des  Mittels 
plötzhch  ein  Umschwung  in  der  Krankheit  eintritt,  so  wird  man 
kaum  im  Zweifel  sein,  dass  es  sich  hier  um  eine  regelrechte  Ab- 
tötung  oder  wenigstens  Abschwächung  der  verursachenden  Krank- 
heitserreger handelt.  Der  experimentelle  Beweis  dafür,  dass  die 
Stauungshyperämie  diese  Fähigkeit  hat,  ist  in  neuerer  Zeit  von 
Nötzeil)  erbracht  worden.  Es  gelang  ihm  in  51  von  67  Fällen, 
Kaninchen,  welchen  er  in  Körperteile,  die  unter  dem  Einflüsse  einer 
kräftigen  Stauungshjrperämie  standen,  sonst  sicher  tötende  Gaben 
von  Milzbrandbazillen  und  sehr  virulenten  Streptokokken  einimpfte, 
am  Leben  zu  erhalten.  Nur  16  Tiere  starben.  Es  waren  das  aus- 
nahmslos solche  Tiere,  bei  denen  die  Art  des  Ödems  ,,von  vorn- 
herein den  Charakter  einer  Ernährungsstörung  trug".  Es  ist  also 
bei  diesen  tödlich  verlaufenden  Fällen  diejenige  Stauungshyperämie 
verwendet,  die  ich  ,, kalte  Stauung"  genannt  und  deren  Unwirksam- 
keit und  Schädlichkeit  ich  schon  öfters  betont  habe. 


1)  Nötzel,  Über  die  baktericide  Wirkung  der  Stauungshyperämie  nach 
Bier.  Archiv  für  klin.  Chiriorgie.  60.  Bd.  I.  Heft,  und:  Verhandlungen  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie.    28.  Kongress.      1899.     II.  Bd.  S.  661. 


240  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Dass  in  der  Tat  die  Stauungshyperämie  ganz  allein  den  Tod 
verhindert  hatte,  geht  daraus  hervor,  dass  dieselben  Tiere  sämt- 
lich einige  Wochen  später,  mit  denselben  Bakterien  ohne  Stauungs- 
hj^erämie  geimpft,  an  der  Infektion  zugrunde  gingen,  ebenso  wie 
alle  KontroUtiere. 

Nun  ist  ja  allerdings  die  künsthche  frische  Infektion  etwas 
ganz  anderes,  als  eine  auf  natürhchem  Wege  entstandene  und  ein- 
gewurzelte Infektionskrankheit,  wo  die  Bakterien  sich  bereits  den 
Verhältnissen  des  Körpers  und  wahrscheinlich  auch  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  seinen  Abwehrvorrichtungen  angepasst  haben. 
Nichtsdestoweniger  aber  haben  Nötzel's  Versuche  einen  hohen 
Wert,  da  sie  zweifellos  zeigen,  dass  die  Stauungshyperämie  als 
solche  bakterientötende  Eigenschaft  hat. 

Nötzels  Versuche  sind  vor  kurzem  von  v.  Baumgarteni) 
und  Hey  de  am  gestauten  Kaninchenbein  nachgemacht.  Was 
den  Milzbrand  anlangt,  so  kommen  sie  zu  denselben  Resultaten 
wie  Nötzel.  Dagegen  verliefen  die  Staphylokokkenversuche  schon 
weniger  günstig.  Zwar  heilten  kleinere  Haut-  und  Gelenkeiterungen 
unter  Stauungshyperämie  rascher  aus  als  ohne  dieselbe,  ausgedehn- 
tere Abscedierungen  erfuhren  dagegen  unter  Stauung  eher  eine 
VerschHmmerung,  und  so  gut  wie  wirkungslos  blieb  das  Mittel  bei 
der  experimentell  erzeugten  Gelenktuberkulose  der  Kaninchen. 

Trotz  dieser  bei  Staphylokokken-  und  Tuberkelbazilleninfek- 
tion sehr  schlechten  Ergebnisse  sind  die  bei  der  Milzbrandinfek- 
tion durch  V.  Baumgarten  erzielten  Resultate,  die  eine  Be- 
stätigung der  Nötzel' sehen  Versuche  darstellen,  von  grosser 
prinzipieller  Wichtigkeit  für  meine  Lehre,  da  sie  zeigen,  dass  eine 
sonst  für  das  Versuchstier  unter  aUen  Umständen  tödliche  Infek- 
tion durch  Stauungshyperämie  vollständig  unterdrückt  werden 
kann. 

V.  Baumgarten's  Experimente  über  Staphylokokken-  und 
Tuberkuloseinfektion  stimmen  nun  durchaus  nicht  mit  den  klini- 
schen Resultaten,  die  ich  und  viele  andere  am  Menschen  erzielten, 
überein:  Es  kann  das  ja,  wie  bei  so  vielen  anderen  Versuchen, 
daran  hegen,  dass  Menschen  und  Kaninchen  doch  immerhin  ver- 
schiedene Dinge  sind,  und  eine  künstliche  Impfung  etwas  ganz 
anderes  bedeutet,   als  eine  natürliche  Infektion.     Ich  kann  aber 


1)   V.  Baumgarten,  Experimente  über  den  Wert  der  Bier 'sehen  Stauung 
auf  infektiöse  Prozesse.     Münchner  med.  Wochenschr.    1906.    Nr.  48. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         141 

auch  den  Einwand  nicht  unterdrücken,  der  gegen  v.  Baumgarten's 
Versuche  schon  durch  v.  Brunn i)  gemacht  wurde,  dass  es  nur 
sehr  schwer  gelingen  dürfte,  den  von  mir  geforderten  richtigen 
Grad  der  Stauung  am  Kaninchenbein  hervorzurufen.  Sind  wir 
doch  beim  Menschen  ganz  wesentlich  auf  dessen  eigene  Angaben 
angewiesen,  um  die  Stauungshyperämie  richtig  zu  dosieren.  Mir 
ist  es  gerade  so  gegangen,  wie  v.  Brunn.  Ich  habe  mehrmals 
jüngere  Kollegen  veranlasst,  Stauungshyperämie  gegen  experimen- 
telle Infektionen  am  Kaninchenbein  anzuwenden.  Sie  sind  gar 
nicht  zu  den  Infektionsversuchen  gekommen,  denn  ich  musste 
ihnen  immer  sagen,  dass  das,  was  sie  mir  als  richtig  gestaute 
Kaninchenbeine  zeigten,  etwas  ganz  anderes  sei,  als  ich  unter  einer 
gegen  Infektionen  wirksamen  Stauungshyperämie  verstehe,  und 
deshalb  ihre  Versuche  zwecklos  seien. 

Auf  die  bakterientötende  Kraft  des  Stauungsödems  wies  vor 
allem  Joseph^)  hin  und  Colley^)  glaubt,  sie  auf  folgende  Weise 
bewiesen  zu  haben:  Mit  dem  staphylokokkenhaltigen  Eiter  eines 
Ellbogengelenkempyemes  impfte  er  Mäuse.  Alle  wurden  krank, 
die  Mehrzahl  ging  unter  septischen  Erscheinungen  zu  Grunde. 
Dann  fertigte  er  eine  Aufschwemmung  des  Eiters  in  Bouillon  an. 
Die  Hälfte  davon  bewahrte  er  unverdünnt  auf,  der  anderen 
Hälfte  setzte  er  die  dreifache  Menge  von  Ödemflüssigkeit  zu, 
die  er  aus  dem  gestauten  entzündeten  Gliede  gewonnen  hatte. 
Infizierte  er  nach  24  Stunden  mit  dem  unverdünnten  Bouillon- 
eiter eine  Maus,  so  ging  sie  meistens  zu  Grunde,  während  die 
Impfung  mit  dem  Eiter,  dem  Ödemflüssigkeit  zugesetzt  war,  die 
Mäuse  wohl  krank  machte,  aber  nicht  eine  einzige  tötete.  Die 
aus  dem  gestauten  gesunden  Arme  desselben  Menschen  ent- 
nommene Ödemflüssigkeit  übte  dagegen  gar  keinen  oder  nur 
einen  geringen  Einfluss  auf  die  Virulenz  des  Eiters  aus.  Co  Hey 
wiederholte  diesen  Versuch  bei  den  verschiedensten  Eiterungs- 
arten mit  demselben  Resultate.  Er  schliesst  aus  diesen  Er- 
fahrungen, dass   die  Ödemflüssigkeit   eines  entzündeten  Körper- 

1)  Münchner  med.  Wochenschr.    1906.   Nr.  48.   S.  2370.  ' 

2)  Joseph,  Einige  Wirkungen  des  natürUchen  Ödems  und  der  künstlichen 
ödemisierung.    Münchner  med.   Wochenschr.    1905.  Nr.  40. 

3)  Co  Hey,  Beobachtimgen  xmd  Betrachtungen  über  die  Behandlung  akut 
eitriger  Prozesse  mit  Bier 'scher  Stauungshyperämie.  Münchner  med.  Wochenschr. 
1906.   Nr.  6. 


14:2  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

teiles  höhere  bakterientötende  Eigenschaften  hat  als  die  eines 
nicht  entzündeten. 

Laqueuri)  prüfte  die  bakterientötende  Kraft  des  aus  Stauungs- 
blut gewonnenen  Serums  in  Reagenzglas  versuchen.  Er  entnahm 
Kapillarblut  aus  den  Fingern  gesunder  und  an  chronischem  Rheu- 
matismus erkrankter  Personen,  und  verglich  zwei  Proben  auf  ihre 
bakterientötende  Kraft,  von  denen  die  eine  vor,  die  andere  einige 
Zeit  nach  dem  Liegen  der  Stauungsbinde  entnommen  war.  Die 
Versuche  zeigten,  dass  die  bakterientötende  Kraft  des  aus  Stauungs- 
blut gewonnenen  Serums  deutHch,  wenn  auch  nicht  sehr  erhebhch 
erhöht  war. 

Auch  gegen  diese  Untersuchungen  kann  man  einwenden,  dass 
Reagenzglas  versuche  nichts  für  den  lebenden  Körper  beweisen,  und 
dass  das  von  gesunden  und  besonders  chronisch  rheumatisch  er- 
krankten Personen  stammende  Blut  etwas  ganz  anderes  ist,  als 
das  Blut,  welches  in  einem  akuten  Entzündungsherde  kreist,  zumal 
sich  in  letzterem  eine  viel  energischere  heisse  Stauung  hervor- 
rufen lässt. 

Übrigens  bestreitet  v.  Baumgarten  in  seiner  obenerwähnten 
Arbeit  diese  Versuchsergebnisse.  Denn  Hey  de  ermittelte  durch 
genaue  Untersuchungen,  dass  die  baktericide  Kraft  des  Stauungs- 
transsudates  entschieden  geringer  ist,  als  die  des  Blutserums 
desselben  Tieres. 

Sehr  interessante  hierher  gehörige  Versuche  machte  Wessely^), 
Er  wies  zunächst  nach,  dass  nach  warmen  Umschlägen  auf  das 
Kaninchenauge  der  Gehalt  des  an  sich  sehr  eiweissarmen  Kammer- 
wassers an  Eiweiss  sehr  stark  zunimmt.  Da  das  letztere  nur  aus 
dem  Blute  stammen  kann,  so  nimmt  Wessely  mit  Recht  an,  dass 
die  durch  die  Wärme  erzeugte  Hyperämie  den  Grund  der  Eiweiss- 
zunahme  abgibt. 

Da  nun  die  Antikörper  des  Blutes,  ihrer  kolloidalen  Be- 
schaffenheit entsprechend,  in  demselben  Masse  wie  andere  Eiweiss - 
körper  aus  den  Gefässen  austreten,  so  vermutete  Wessely,  dass 
man  bei  künstlich  immunisierten  Tieren  durch  hyperämisierende 


1)  Laqueur,  Über  den  Einfluss  der  Bier'schen  Stauixng  auf  die  bakteri- 
cide Kraft  des  Blutes.  Zeitschrift  für  experimentelle  Pathologie  und  Therapie. 
1905.     1.  Bd. 

2)  Wessely,  Zur  Kenntnis  der  Wirkung  lokaler  Reize  luid  lokaler  Wärnae- 
applikation  (nach  Experimenten  am  Auge).  Archiv  für  klinische  Chirurgie- 
Band  71.    Heft  2. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.        14:3 

Mittel  die  Antikörper  in  vermehrter  Menge  an  bestimmten  Stellen 
anhäufen  könnte.  Diese  Vermutung  wurde  durch  Versuche  bestätigt. 
Er  fand,  dass  durch  Immunisierung  der  Versuchstiere  erzeugte 
Antikörper  (er  wählte  der  Einfachheit  des  Nachweises  halber 
Hämolysin  und  Typhusagglutinin)  normalerweise  nur  in  ganz  ge- 
ringen Mengen  in  das  Kammerwasser  übergehen,  bei  Anwendung 
von  lokalen  Reizen,  besonders  Wärme,  dagegen  erheblich  an  Menge 
zunehmen.  Dies  lässt  sich  leicht  quantitativ  mittels  der  Hämo- 
lyse  und  der  Widal'schen  Probe  nachweisen. 

Wessely  schlägt  deshalb  vor,  in  geeigneten  Fällen  die  hyper- 
ämisierende  mit  der  Serumbehandlung  zu  verbinden,  um  die 
Immunkörper  der  erkrankten  Stelle  in  vermehrter  Menge  zu- 
zuführen. 

Schon  früher  hatte  Wesselyi)  den  Nachweis  geführt,  dass 
andere  lokale  Reize  denselben  Einfluss  ausübten.  Spritzte  er 
5 — 10%  Kochsalzlösungen  subkonjunktival  bei  Kaninchen  ein  oder 
bepinselte  er  die  Bindehaut  des  Auges  mit  einem  feinen  Haar- 
pinsel, so  nahm  ebenfalls  der  Gehalt  des  Kammerwassers  an 
Eiweiss  und  bei  Tieren,  die  mit  fremdartigem  Blut  oder  Tjrphus 
immunisiert  waren,  an  Hämolysin  und  Typhusagglutinin  zu.  Alle 
diese  Tier-  und  Reagenzglasversuche  aber  werden  weit  in  den 
Schatten  gestellt  durch  absolut  beweisende  Beobachtungen,  welche 
ich  an  kranken  Menschen  machte:  Ich  konnte  mehrmals  durch 
Probepunktion  nachweisen,  dass  grosse  heisse  Abszesse,  die  massen- 
haft Staphylokokken  enthielten,  und  aus  denen  sich  kulturell  eine 
Reinkultur  von  Staphylokokken  züchten  Hess,  allein  durch  Stau- 
ungshyperämie und  ohne  jeden  weiteren  chirurgischen  Eingriff  in 
kurzer  Zeit  steril  wurden  und,  nachdem  sie  sich  inzwischen  in 
klares  Serum  verwandelt  hatten,  spurlos  verschwanden. 

Man  hat  natürHch  die  bakterientötende  Wirkung  der  Hyper- 
ämie mit  den  zurzeit  herrschenden  Theorien  über  die  Schutzkraft 
der  einzelnen  Blutbestandteile  in  Einklang  zu  bringen  und  zu  er- 
klären versucht. 

So  ist  Buchner 2)  der  Ansicht,  dass  es  sich  bei  der  Stauungs- 
hyperämie nicht  nur  um  Blutstauung,  sondern  um  vermehrte  An- 
sammlung von  Leukocyten  am  Infektionsorte  handele,  welche  durch 

1)  Wessely,  Experimentelles  über  subkonjunktivale  Injektionen.  Deutsche 
med.  Wochenschrift  1903.    Nr.  7  u.  8. 

2)  Buchner,  Über  die  natürlichen  Hilfskräfte  des  Organismus  gegenüber 
den  Krankheitserregern.    Münchner  med.  Wochenschr.  1894.    Nr.  30. 


\^4:  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Ausscheidung  von  Alexinen  in  das  Serum  die  Infektionserreger 
abtöten.  In  späteren  Arbeiten  i)  lässt  er  die  Verdauung  und  Auf- 
lösung der  Bakterien  ebenso  wie  anderer  organischer  Stoffe  im 
Körper  durch  Enzyme,  welche  das  Blut,  und  insbesondere  seine 
zerfallenen  Leukocyten  enthält,  vor  sich  gehen. 

Heller^)  meint,  dass  die  Stauungshyperämie  die  Stoffwechsel- 
produkte der  Bakterien  zurückhält  und  diese  alsdann  ihre  Erzeuger 
abtöten.  Wir  hätten  also  dann  z.  B.  bei  der  Heilung  der  Tuber- 
kulose eine  Art  von  Tuberkuhnwirkung. 

Cornet^)  erklärt  die  heilende  Wirkung  der  Stauungshjrperämie 
bei  Tuberkulose  in  ähnlicher  Weise  wie  Heller.  Er  sieht  eben- 
falls in  der  Zurückhaltung  der  Stoffwechselprodukte  der  Tuberkel- 
bazillen das  Wesentliche,  erblickt  aber  den  Heilungsvorgang  nicht 
in  der  vernichtenden  Wirkung  derselben  auf  ihre  Erzeuger,  sondern 
glaubt,  dass  sie  das  Gewebe  zur  Bindegewebsneubildung  und 
Narbenbildung  reizen,  welche  den  Infektionsherd  abkapseln  und 
unschädlich  machen. 

Richter*)  glaubt,  dass  ,,die  Erfolge  des  Verfahrens  (Stauungs- 
hyperämie) hauptsächUch  auf  der  verursachten  Zirkulationsstörung 
mit  nachfolgender  Randstellung  und  Emigration  von  Leukocyten 
beruhen".  Er  sieht  in  der  Stauungshyperämie  nichts  als  die  Her- 
vorrufung der  mildesten  Form  der  Entzündung  und  stellt  sie  an- 
deren Behandlungsverfahren,  welche  in  demselben  Sinne  wirken 
(Tuberkuhn,  Zimtsäure,  Chlorzink,  Jodoform),  zur  Seite. 

Nötzel^)  teilt  Buchner' s  Ansicht,  dass  die  Heilwirkung  der 
Stauungshj^erämie  durch  eine  Konzentration  der  baktericiden 
Kraft  des  Blutes  am  Infektionsorte  zustande  kommt,  zumal  ihn  die 
mikroskopische  Untersuchung  belehrte,  dass  in  dem  entstehenden 
Transsudat  eine  grosse  Menge  von  Leukocyten  vorhanden  war.  Er 
glaubt  deshalb,  dass  die  Schutzwirkung  desselben  der  des  normalen 
Blutserums  noch  überlegen  ist. 


1)  Buchner,  Natürliche  Schutzvorrichttingen  des  Organismus  und  deren 
Beeinflussung  zum  Zweck  der  Abwehr  von  Infektionsprozessen.  Münchner  med. 
Wochenschr.  1899.  Nr.  39  u.  40,  und:  Zur  Lehre  von  der  natürlichen  Immunität. 
Münchner  med.  Wochenschr.  1899.    Nr.  43. 

2)  In  einer  Diskussion  im  Kieler  physiologischen  Verein  in  Kiel  geäussert. 

3)  Cornet,  Die  Tuberkulose.  In  Nothnagel's  spezieller  Pathologie  und 
Therapie.    Wien  1899.    S.  545  u.  546. 

4)  Richter,  Über  neuere  Behandlungsmethoden  der  Tuberkulose.  Schmidt's 
Jahrbücher.     1893.    Bd.  239.   S.  180. 

5)  Nötzel,  1.  c. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkimg  der  Hyperämie.        ]^45 

In  anderer  Weise  hat  Hamburger^)  die  heilende  Wirkung 
der  Stauungshyperämie  erklärt:  Durch  die  Stauung  wird  das  Blut 
reicher  an  Kohlensäure,  und  dieser  Kohlensäurereichtum  steigert 
das  baktericide  Vermögen  des  Serums,  einmal  weil  die  Kohlensäure 
selbst  bakterientötend  wirkt,  dann  weil  unter  ihrem  Einflüsse  die 
roten  Blutkörperchen  quellen,  dem  Serum  Wasser  entziehen  und 
seine  Konzentration  erhöhen,  und  schhesshch,  weil  das  Serum 
an  diffusiblem  AlkaH  zunimmt.  Das  letztere  geschieht  teils,  weil 
mit  der  grösseren  Konzentration  des  Serums  auch  der  Prozent - 
gehalt  an  Alkali  zunimmt,  teils  weil  unter  dem  Einfluss  der  Kohlen- 
säure Alkali  aus  den  Blutkörperchen  in  das  Serum  übergeht,  und 
durch  Zersetzung  von  Albuminaten  des  Serums  diffusibles  Alkali 
frei  wird. 

Nun  beweisen  zahlreiche  bakteriologische  Untersuchungen  2) 
den  Einfluss  des  Alkalis  auf  die  antibakterielle  Wirkung  der  Blut- 
flüssigkeit. So  ist  z.  B.  nach  v.  Behring  die  Empfänglichkeit  der 
Ratten  gegen  Milzbrand  von  der  Alkaleszenz  des  Blutes  abhängig. 
V.  Fodor  konnte  durch  Einspritzen  von  Alkali  in  die  Blutbahn 
die  Widerstandsfähigkeit  gegen  Milzbrand  steigern  und  umgekehrt 
durch  Einspritzen  von  Milchsäure  verringern.  Ferner  ist  bei  im- 
munisierten Tieren  eine  Steigerung  der  Blutalkaleszenz  vorhanden. 

Für  die  Richtigkeit  seiner  Anschauungen  führt  Hamburger 
noch  eine  Reihe  von  ärztlichen  Beobachtungen  an,  so  die  Seltenheit 
der  Tuberkulose  bei  Kalkarbeitern,  welche  während  eines  grossen 
Teiles  ihres  Lebens  stark  kohlensäurereiche  Luft  einatmen,  und 
ihre  Häufigkeit  bei  Proletariern,  welche  sich  besonders  mit  Kartoffeln 
nähren.  Die  letztere  Beobachtung  soll  sich  daraus  erklären,  dass 
Pflanzennahrung  die  Alkaleszenz  des  Blutes  vermindert,  Fleisch- 
nahrung sie  erhöht 

Hamburger  konnte  ferner  nachweisen,  dass  das  baktericide 
Vermögen  der  Blutflüssigkeit  bei  venöser  Stauung  zunimmt  und 
—  worauf  er  besonders  Gewicht  legt  —  dass  die  entstehende  Ödem- 
lymphe kräftiger  baktericid  ist,  als  das  entsprechende  Blutserum, 
welches  sonst  die  normale  Lymphe  übertrifft.  Da  nun  die  Bakte- 
rien  meist    in    den    Lymphspalten    liegen,    ist  dieser  Befund  be- 


1)  Hamburger,  Über  den  Einfluss  von  Kohlensäure  bzw.  von  Alkali 
auf  das  antibakterielle  Vermögen  von  Blut-  und  Gewebsflüssigkeit,  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  von  venöser  Stauung  und  Entzündtmg.  Virchow's 
Archiv.     156.  Bd.   2.  Heft.   S.  329.     1899. 

2)  Literatur  s.  im   Original. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  10 


246  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

sonders  wichtig  und  erklärt  die  günstige  Wirkung  der  Stauungs- 
hyperämie. 

Auch  das  baktericide  Vermögen  der  Exsudatflüssigkeiten  wird 
durch  Kohlensäure  vermehrt,  und  zwar  um  so  mehr,  je  mehr  die 
Flüssigkeit  Leukocyten  enthält. 

In  einer  zweiten  Arbeit  hat  Hamburg er^)  den  Einfluss  von 
venöser  Stauung  und  Kohlensäure  auf  die  Phagocytose  untersucht. 
Er  kommt  zu  dem  Ergebnisse,  dass  der  Einfluss  derselben  auf  die 
Chemotaxis  gering  ist,  und  nur  grosse  Mengen  von  Kohlensäure 
die  Beweglichkeit  der  Leukocyten  so  verlangsamen,  dass  sie  an 
ihrer  Fähigkeit,  Kohleteilchen  aufzunehmen,  einbüssen. 

Hamburger  ist  vorsichtig  genug,  die  bakterientötenden  Eigen- 
schaften der  Kohlensäure  als  einen  unter  den  heilsamen  Einflüssen 
der  Stauungshyperämie  anzusehen,  ohne  zu  behaupten,  dass  sie  das 
einzig  wirksame  Mittel  sei. 

Da  es  aus  älteren  Arbeiten  bekannt  ist,  und  auch  die  oben- 
genannten Untersucher  bestätigen,  dass  bei  massiger  Stauungs- 
hyperämie —  bei  starker  hört  im  Gegenteil  die  Auswanderung 
der  Leukocyten  auf  —  Leukocyten  in  vermehrter  Anzahl  nach 
der  kranken  Stelle  auswandern,  so  könnte  man  auch  im  Sinne  der 
Metschnikof  f  sehen  Phagocytose  die  günstige  Wirkung  des  Mittels 
auffassen,  v.  Leyden  und  Lazarus^)  fanden,  dass  die  Leukocy- 
tose  bei  der  thera,peutisch  verwandten  Stauungshyperämie  recht  er- 
heblich ist.  Die  Zahl  der  Leukocyten  vermehrte  sich  im  Stauungs- 
bezirke um  das  Doppelte  bis  Dreifache. 

V.  Baumgarten^)  meint,  dass  die  venöse  Stauung  das  von 
ihr  betroffene  Gewebe  schädige,  doch  insofern  nützlich  sei,  als 
die  durch  sie  bewirkte  pathologische  Veränderung  des  Gewebs- 
stoff wechseis  auch  auf  die  Bakterien,  und  zwar  in  viel  höherem 
Masse  als  auf  die  Gewebszellen,  schädigend  einwirke.  Die  Bak- 
terien würden  also  unter  Stauungshyperämie  gewissermassen  den 
Hungertod  sterben.  Diese  Auffassung  liegt  sehr  nahe  und  ist 
mir  gegenüber   schon    mehrmals    gesprächsweise    geäussert.     Ein 


1)  Hamburger,  Über  den  Einfluss  von  venöser  Stauung  und  Kohlen- 
säure auf  die  Phagocytose.     Virchow's  Archiv.      156.  Bd.   2.  Heft.   S.  375. 

2)  V.  Leyden  und  Lazarus,  Über  die  Behandlung  der  Gelenkentzün- 
dungen mit  der  Bier'schen  Stauungshyperäraie.  v.  Leuthold-Gedenkschrift. 
I.  Band. 

3)  V.  Baumgarten,  Experimente  über  die  Wirkung  der  Bier'schen 
Stauung  auf  infektiöse   Prozesse.     Münchner  med.  Wochenschr.    1906.    Nr.  48. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         I47 

hochgeschätzter  Lehrer  von  mir,  der  es  hebte  sich  drastisch  und 
treffend  auszudrücken,  sagte  mir  mehrmals:  ,,Was  mühen  Sie  sich 
ab,  die  Wirkung  der  Stauungshyperämie  zu  erklären?  Die  Sache 
ist  sehr  einfach,  Sie  lassen  die  Bakterien  im  venösen  Blute  ver- 
hungern, ersticken  und  ersaufen."  Aber  so  einfach  ist  die  Sache 
durchaus  nicht.  Im  Kapitel  über  die  ernährende  Wirkung  der 
Hyperämie  werde  ich  auseinandersetzen,  dass  der  gegen  akute 
Infektionen  durch  Staphylo-  und  Streptokokken  nützliche  Grad 
der  Hyperämie  durchaus  keine  Ernährungsstörung  darstellen  darf 
und  jede  stärkere  Ernährungsbeschränkung  sogar  eine  grosse 
Gefahr  darstellt.  Damit  ist  nicht  gesagt,  dass  nicht  für  gewisse 
Infektionen,  z.  B.  die  mit  Milzbrand,  die  Baum  garten 'sehe  Auf- 
fassung das  Richtige  trifft. 

Meine  Assistenten  Joseph  1)  und  Hofmann^)  haben  auf  den 
Nutzen  der  Durchspülung  offener  infizierter  Wunden  durch  die 
reichliche  Ödemflüssigkeit,  die  Stauungsgebinde  und  Schröpfkopf 
erzeugen,  mit  Recht  hingewiesen.  Lexer^)  geht  nun  so  weit,  in 
dieser  mechanischen  Durchspülung  des  Eiterjierdes  den  Haupt- 
nutzen der  Stauungsbehandlung  zu  sehen.  Dies  ist  eine  sehr  ein- 
seitige Auffassung.  Wie  will  man  denn  auf  diese  Weise  die  Heilung 
der  Fälle  erklären,  die  in  diesem  Buche  zum  Teil  beschrieben  sind: 
Ich  probepunktierte  wiederholt  schwer  vereiterte  Gelenke  und 
andere  Abscesse  und  wies  Eiter  und  Staphylokokken  nach.  Ich 
staute  die  betreffenden  Glieder  eine  Zeit  lang.  Alle  Erscheinungen 
gingen  zurück.  Ich  machte  wieder  eine  Probepunktion  und  ent- 
leerte steriles  Serum.  Hier  waren  also  gar  keine  äusseren  Wunden 
vorhanden  und  doch  gingen  die  Abscesse  zurück. 

Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  dass  die  Stauungshyperämie,  rein 
theoretisch  nach  den  modernen  Auffassungen  und  Theorien  betrach- 
tet, ein  berechtigtes  und  logisches  Mittel  gegen  Krankheiten  sein 
muss,  welche  durch  Bakterien  hervorgerufen  werden,  denn  mit 
keiner  dieser  Theorien  steht  sie  im  Widerspruch,  sondern  im  Gegen- 
teil, ihnen  allen  wird  sie  gerecht. 

1)  Joseph,  Einige  Wirkungen  des  natürlichen  Ödems  und  der  künst- 
hchen    ödemisierung.     Münchner  med.  Wochenschrift.     1905.     Nr.  40. 

2)  H  o  f  m  a  n  n  ,  Veränderungen  im  Granulationsgewebe  fistulöser  f ungöser 
Herde  durch  Hyperämisierung  mittelst  Saugapparate.  Münchner  med.  Wochenschr. 
1905.    Nr.  39. 

3)  Lexer,  Zur  Behandlung  akuter  Entzündungen  mittelst  Stauungshyper- 
ämie. Münchner  med.  Wochenschr.  1906.  Nr.  4,  und  Verhandlungen  der  Deut- 
schen Gesellschaft    für  Chirurgie.     1906.    I,   238. 

10* 


I^Q  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Ich  bin  nun  weit  entfernt,  jene  bakteriologischen  Unter- 
suchungen irgendwie  zu  unterschätzen  oder  ihren  Wert  gering  an- 
zuschlagen, kann  aber  nicht  umhin,  zu  betonen,  dass  sie  alle  an 
einer  gewissen  Einseitigkeit  leiden. 

Stellen  wir  uns  heber  einmal,  wenn  wir  die  Entzündung  als 
etwas  Heilsames  ansehen,  auf  den  Standpunkt,  dass  die  Natur  hier 
nichts  umsonst  tut,  und  dass  alle  die  zahlreichen  sehr  in  die  Augen 
springenden  Veränderungen,  welche  neben-  und  nacheinander  ein- 
treten, den  Zweck  haben,  die  Infektion  zu  unterdrücken  und  ab- 
zuwehren. Wir  werden  alsdann  zugestehen,  dass  unter  den  vielen 
Veränderungen  jene  obenerwähnten  und  durch  genaue  Versuche 
erkannten  Blutbestandteile  heilsam  wirken,  aber  daneben  auch  be- 
tonen, dass  ausserdem  noch  eine  Menge  Vorgänge  sich  abspielen, 
die  ebenfalls  nützhch  sein  können,  welche  wir  aber  zurzeit  noch 
gar  nicht  einmal  genau  kennen,  geschweige  denn  etwas  von  ihren 
Wirkungen  wissen.  Das  einzige  aber,  was  beim  Warmblüter  allen 
Entzündungen  ohne  Ausnahme  von  den  einfachsten  bis  zu  den 
schwersten  gemeinsam  ist,  und  allen  anderen  Erscheinungen 
voraufgeht,  das  ist  die  Veränderung  der  Zirkulation,  welche  bisher 
noch  niemand  genügend  erklärt  hat,  und  welche  stets  zu  einer 
Hyperämie  führt.  Wir  werden  deshalb  auch  diesen  gesetzmässigsten 
Vorgang,  aus  welchem  sich  alle  anderen  Erscheinungen  nachher 
erst  entwickeln,  als  den  bedeutendsten  und  wichtigsten  anerkennen 
müssen.  Fehlt  er  doch  selbst  nicht,  wenn  gefässlose  Teile  ent- 
zündlich gereizt  werden,  auch  hier  ist  ja  die  Hyperämie  der  um- 
gebenden gefässhaltigen  Teile  das  erste,  womit  der  Körper  auf 
den  Entzündungsreiz  antwortet.  Ja,  es  kommt  oft  vor,  dass  eine 
schnell  verschwindende  Hyperämie  der  einzige  Reaktionsvorgang 
auf  die  Schädlichkeit  des  Entzündungsreizes  bleibt,  und  es  zu  den 
weiteren  Veränderungen,  welche  sich  aus  dieser  Hyperämie  ent- 
wickeln, überhaupt  nicht  kommt.  Hier  müssen  wir  eben  an- 
nehmen, dass  die  reine  Hyperämie  genügt  hat,  die  Schädlichkeit 
zu  entfernen. 

Deshalb  ist  es  auch  nur  eine  Nachahmung  eines  natürlichen 
Heilungs Vorganges,  wenn  wir  gegen  gewisse  bakterielle  Erkran- 
kungen die  schon  vorhandene  Hyperämie  verstärken  und  besonders 
sie  da  einleiten,  wo  sie  nicht  genügend  vorhanden  ist.  Denn  es  ist 
theoretisch  wohl  denkbar,  dass  die  Natur  hier  häufig  nicht  genug 
leistet.  Wir  können  z.B.  annehmen,  dass  ein  Mensch,  dessen  Körper 
auf  eine  tuberkulöse  Infektion  nicht  mit  der  genügenden  Hyperämie 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.        HQ 

antwortet,  aus  welcher  sich  die  übrigen  heilenden  Entzündungser- 
scheinungen erst  der  Reihe  nach  entwickeln,  nur  aus  diesem  Grunde 
an  einer  Tuberkulose  erkrankt,  oder  sie,  wenn  sie  ausgebrochen 
ist,  nicht  selbst  ausheilt.  Wir  können  uns  ungezwungen  vorstellen, 
dass  gewisse  bakterielle  Krankheiten  nur  deshalb  so  hartnäckig 
und  chronisch  sind,  weil  ihre  Erreger  nicht  den  nötigen  Entzün- 
dungsreiz abgeben,  welcher  erst  die  heilenden  Kräfte  des  Körpers 
entfesselt,  und  dass  wir  hier  durch  künstliche  Nachhilfe  die  Natur 
wirksam  unterstützen  können.  Denn  ich  habe  schon  mehrfach 
betont,  dass  die  HiKskräfte  des  Körpers,  wenn  man  auch  blind  sein 
muss,  um  ihre  Zweckmässigkeit  zu  verkennen,  häufig  doch  nur  un- 
vollkommen sind. 

Eine  Krankheit,  auf  die  der  Körper  nicht  mit  der  nötigen 
entzündlichen  Hyperämie  und  ihren  Folgeerscheinungen  reagiert, 
scheint  mir  —  abgesehen  von  den  akuten  entzündlichen  Schüben, 
die  bei  dieser  Krankheit  vorkommen  —  der  chronische  Gelenk- 
rheumatismus und  einige  andere  chronische  Gelenkkrankheiten  zu 
sein.  Die  davon  befallenen  Menschen  haben  sehr  häufig  das  Gefühl 
der  Kälte  in  den  kranken  Gliedern,  und  ich  konnte  in  einigen 
Fällen,  welche  ich  darauf  hin  untersuchte,  nachweisen,  dass  im 
Gegensatz  zu  tuberkulösen  chronischen  Entzündungen  die  Haut- 
temperatur über  den  chronisch  rheumatischen  Gelenken  sehr 
niedrig  war. 

Und  doch  wird  gerade  der  chronische  Gelenkrheumatismus, 
wie  ich  später  noch  erörtern  werde,  durch  alle  Formen  der  Hyper- 
ämie zwar  gewöhnlich  nicht  geheilt,  aber  sehr  günstig  beeinflusst. 
Wir  hätten  demnach  hier  eine  Krankheit,  wo  die  natürlichen 
Hilfsmittel  der  Natur  regelmässig  versagen,  und  wir  sie  künstlich 
ersetzen  müssen. 

Da  meine  damaligen  Untersuchungen  mit  dem  gewöhnlichen 
Haut-Quecksilberthermometer  und  nur  an  wenigen  Fällen  angestellt 
waren,  so  erklärte  ich  genauere  Untersuchungen  über  diesen  Gegen- 
stand für  sehr  wünschenswert.  Diese  Untersuchungen  sind  in- 
zwischen von  mehreren  Seiten  angestellt  und  haben  meine  Be- 
obachtungen bestätigt.  Herz i)  fand  über  chronisch  erkrankten  Ge- 
lenken, mochten  dieselben  nun  durch  chronischen  Rheumatismus, 
Verletzungen  und  Gonorrhöe  entstanden  sein,  eine  Herabsetzung 


1)  Herz,   Über   die   Temperaturverhältnisse   chronisch   erkrankter   Gelenke 
und  gestauter  GUedmassen.    Berl.  khn.  Wochenschrift.   1903.    Nr.  20. 


^qQ  -  Allgemeine  Wirkiingen  der  Hyperämie. 

der  Hauttemperatur.  Sommer^)  kam  zu  denselben  Ergebnissen. 
Beide  bedienten  sich  des  von  Herz  ersonnenen  Differentialluft - 
tliermometers  ^). 

Da  uns  dies  Instrument  nach  eigenen  Untersuchungen  nicht  zu- 
verlässig genug  erschien  und  Meissner^)  seine  Mängel  hervorhob, 
so  veranlasste  ich  Kothe*),  mit  feineren  Instrumenten  die  Messung 
vorzunehmen.  Er  wählte  als  das  beste  das  thermoelektrische  Ver- 
fahren und  verwandte  das  Paschen' sehe  sehr  empfindhche  Galva- 
noskop, das  er  für  seine  Zwecke  umänderte.  Kothe  fand  nun  über 
allen  akut  erkrankten  Gelenken  die  Hauttemperatur  erheblich  erhöht, 
und  zwar  bei  Eiterungen  um  5°  und  mehr,  beim  akuten  Gelenk- 
rheumatismus um  1 — 2°.  Ebenso  zeigten  traumatisch  frisch  ent- 
zündete Gelenke  durchweg  hochgradig  erhöhte  Hauttemperatur,  die 
zuweilen  wochenlang  andauerte.  Unter  den  chronisch  entzündeten 
Gelenken  fand  Kothe  bei  den  tuberkulösen  im  Einklang  mit 
meinen  früheren  Untersuchungen  ausnahmslos  eine  Temperatur- 
erhöhung, die  oft  recht  beträchtlich  war.  Im  Gegensatz  dazu  war 
die  Haut  über  chronisch  rheumatisch  erkrankten  Gelenken  fast 
durchweg  um  1 — 2  °  kälter,  niemals  dagegen  wärmer,  und  nur  selten 
war  kein  Unterschied  zwischen  dem  gesunden  und  dem  befallenen 
Gelenke  nachzuweisen. 

Bekannthch  haben  nun  alle  oben  aufgestellten  Theorien  über 
die  bakterienfeindlichen  Eigenschaften  gewisser  Blutbestandteile 
und  Zellen  vielfachen  Widerspruch  erfahren,  und  sie  haben  heute 
noch  so  viele  Feinde,  dass  keine  von  ihnen  sich  allgemeiner  An- 
erkennung erfreut.  Das  Meiste  davon  interessiert  uns  für  unsere 
Zwecke  nicht  und  ich  kann  mich  darauf  beschränken,  hier  einen 
Einwand  zu  erwähnen,  den  Spronk^)  scheinbar  mit  grossem 
Recht  gegen  Hamburger's  und  Nötzel's  Befunde  von  der  bak- 


1)  Sommer,  Über  die  mittelbare  tmd  Dauerwirkung  der  Licht-  und 
Wärmestrahlung  auf  die  Hauttemperatur.  Berl.  klin.  Wochenschrift.  1903. 
Nr.  40. 

2)  Herz,  Eine  neue  Methode  der  Thermopalpation.  Wiener  med.  Presse. 
1897.  Nr.  7,  und:  Herz  u.  Hiebel,  Über  Thermopalpation.  Wiener  med.  Presse. 
1897.    Nr.  7  und  8. 

3)  Meissner,  Berliner  klinische  Wochenschrift.     1903.    Nr.  50. 

4)  Kothe,  Studien  über  die  Temperatur  erkrankter  und  hyperämisierter 
Gelenke.    Münch.  med.  Wochenschrift.     1904.    Nr.  31. 

5)  Spronk,  Weekblad  van  het  Nederl.  Tydschrift  vor  Geneskunde.  1898. 
Nr.  1.  Die  Originalarbeit  war  mir  nicht  zugänglich,  ich  kenne  sie  nur  aus 
einem  Referate. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         151 

tericiden  Eigenschaft  des  Stauungsödems  gemacht  hat,  nämhch: 
dass  gerade  solche  Körperteile,  welche  sich  in  ödematösem  Zu- 
stande befinden,  mit  Vorliebe  von  bakteriellen  Krankheiten  befallen 
werden.  Das  ist  eine  so  alte  chirurgische  Erfahrung,  dass  man 
sich  dabei  nicht  aufzuhalten  braucht.  Es  kommt  hinzu,  dass  ich 
selbst  über  schwere  erysipelatöse  Entzündungen  und  über  Eiterungen 
berichten  musste,  die  an  Gliedern  auftraten,  welche  ich  unter 
künstliche  Stauungshyperämie  versetzt  hatte.  Ich  kam  aber,  wie 
schon  auf  S.  76  erwähnt,  bald  dahinter,  dass  es  sich  nur  um  Fehler  der 
Technik  handelte,  und  dass  diese  üblen  Zufälle  nur  da  auftraten,  wo 
eine  übertrieben  starke  und  lange  Kreislaufstörung  durch  das  ab- 
schnürende Band  erzeugt  war.  Ich  habe  deshalb  mehrmals  nach- 
drücklich darauf  hingewiesen,  dass  bei  längerer  Anwendung  nur  die 
heisse  Stauung  wirksam  ist,  die  kalte  dagegen  sehr  schädliche  Folgen 
haben  kann,  weil  sie  zu  stärkeren  Zirkulationsstörungen  führt. 

Ich  konnte  denn  auch  mitteilen,  dass  diese  heisse  Stauung, 
statt  zu  erysipelatösen  und  anderen  akuten  Infektionskrankheiten 
an  den  gestauten  Gliedern  zu  führen,  im  Gegenteil  dieselben  auf 
das  wirksamste  bekämpft  und  eins  der  besten  Mittel  gegen  viele 
dieser  Krankheiten  darstellt. 

Wir  haben  also  auch  hier,  wie  bei  den  meisten  physikalischen 
Behandlungsmethoden  —  man  denke  nur  an  die  Anwendung  des 
Wassers  zu  Heilzwecken  —  die  Erfahrung  machen  müssen,  dass 
das  Nützliche  und  Schädliche  des  Mittels  häufig  dicht  beieinander 
liegen,  und  dass  man  es  genau  kennen  und  abmessen  muss,  um 
nicht,  statt  zu  nützen,  schweren  Schaden  zu  verursachen. 

Die  wissenschaftliche  Bestätigung  für  diese  Tatsachen  bringt 
die  obenerwähnte  vortreffliche  Arbeit  Nötzel's,  welcher  nachwies, 
dass  zum  Abtöten  der  Bakterien  immer  neues  Blut  und  neues 
Transsudat  notwendig  sind,  und  dass  schwerere  Zirkulationsstö- 
rungen und  chronisches  Ödem,  statt  die  Infektion  zu  verhindern, 
im  Gegenteil  sie  begünstigten. 

Ich  wende  deshalb  bei  den  meisten  Infektionskrankheiten  die 
Stauungsh3rperämie  nicht  mehr  dauernd  an.  Wie  man  bei  den  ein- 
zelnen Erkrankungsformen  verfährt,  werde  ich  später  im  klinischen 
Teile  dieser  Arbeit  auseinandersetzen. 

Übrigens  vergisst  man  häufig,  dass  man  unter  Odem  ganz  ver- 
schiedene Dinge  versteht.  Das  Transsudat  bei  chronischen  Herz- 
und  Nierenerkrankungen  ist  etwas  ganz  anderes  als  das  Exsudat 
der  akuten  Entzündung. 


1^2  Allgemeine  Wirkiongen  der  Hyperämie. 

Den  wichtigen  Nachweis,  dass  das  Entzündungsödem  selbst 
bei  schweren  Infektionen  bakterienfrei  ist,  hat  neuerdings  Jo- 
sephi)  geführt. 

Ich  bin  mir  wohl  bewusst,  dass  ich  mit  meinen  Anschauungen 
über  die  günstige  Wirkung  der  StauungshjTperämie  auf  Infektions- 
krankheiten mich  zu  der  herrschenden  Lehre  über  die  Behandlung 
derselben  in  den  denkbar  schroffsten  Widerspruch  begeben  habe. 
Galt  es  doch  in  der  Chirurgie  als  ein  ganz  unumstösslicher  Lehr- 
satz, dass  jede  Blutstauung  im  höchsten  Grade  schädlich  auf  alle 
möghchen  entzündlichen  Vorgänge  wirke,  und  dass  das  A  und  0 
der  Behandlung  die  Beseitigung  der  Stauung  sein  müsste!  Des- 
halb ist  denn  auch,  wo  man  die  Stauungshyperämie  zur  Erzeugung 
von  Knochenbildung  beschrieb,  angegeben,  dass  das  Mittel  ,,selbst- 
verständhch"  ganz  ausgeschlossen  sei  bei  Entzündungen  der  be- 
treffenden Glieder,  und  sei  es  auch  nur  die  chronische  tuberkulöse 
Entzündung.  Die  Richtigkeit  dieser  Meinung  schien  durch  die  Be- 
obachtungen unterstützt  zu  werden,  welche  die  inneren  Ärzte  bei 
der  sogenannten  hypostatischen  Pneumonie  machten,  welche  man 
als  eine  Folge  von  Blutsenkungen  in  den  abhängigen  Lungenteilen 
ansah. 

Nun  kam  ferner  hinzu,  dass  die  reichste  Erfahrung  angeblich 
gezeigt  hatte,  dass  die  sogenannte  Antiphlogose,  welche  mit  den 
drei  Worten  ,,Ruhe,  hohe  Lage,  Eis  für  alle  Entzündungen"  ge- 
kennzeichnet wird,  schwere  und  gefährliche  Entzündungen  an  den 
GHedern  sofort  besserte. 

Wie  lassen  sich  diese  sonderbaren  Widersprüche  vereinen? 
Zunächst  ist  für  die  hjrpostatische  Pneumonie  zu  betonen,  dass 
hier  ganz  besondere  Verhältnisse  vorhegen.  Sie  wird  hervorge- 
rufen durch  eine  Erlahmung  der  Herzkraft,  also  bei  aufs  äusserste 
geschwächten  Personen,  deren  natürhche  Reaktionsfähigkeit  über- 
haupt schon  gehtten  hat,  und  dann  scheint  es  mir  nicht  einmal 
erwiesen,  dass  wirklich  die  Blutsenkung  und  nicht  ganz  andere 
Verhältnisse,  z.  B.  mangelhafte  Lüftung  und  deshalb  mangelhafte 
Reinigung  der  betreffenden  Lungenteile,  die  eigentliche  Ursache 
der  Krankheit  abgeben,  während  die  Hyperämie  vielleicht  nur  ein 
Nebenbefund  ist. 


1)  Joseph,  Einige  Wirkungen  des  natürlichen  Ödems  und  der  kiiast- 
lichen  Ödemisierung.  Ein  Beitrag  zixr  Stauungstherapie.  Münchner  med. 
Wochensclirift.     1905.    Nr.  40. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         1^3 

Aber  es  bleibt  die  scheinbar  nicht  wegzuleugnende  günstige 
Wirkung  der  Antiphlogose,  von  der  ich  mich  selbst,  da  ich  in 
einer  der  strengsten  antiphlogistischen  Schulen  erzogen  bin,  un- 
zählige Male  glaubte  überzeugt  zu  haben.  So  befand  ich  mich 
denn  in  einem  unglücklichen  Zwiespalt  meiner  Anschauungen; 
ich  sah  seit  langem  die  Entzündung  als  etwas  Nützliches  an, 
und  handelte  in  vielen  Fällen  danach;  ich  bekämpfte  die  Ent- 
zündung nicht,  sondern  unterstützte  sie.  Ich  wandte  seit  elf  Jahren 
das  reine  Gegenteil  der  Antiphlogose,  die  Stauungshyperämie,  die 
das  beste  zurzeit  bekannte,  die  Entzündung  verstärkende  Mittel 
darstellt,  auch  bei  einer  Reihe  von  akuten  entzündlichen  Krank- 
heiten an,  nachdem  ich  sie  schon  vorher  bei  chronischen  benutzt 
hatte,  und  bin  darin  von  Jahr  zu  Jahr  weitergegangen.  Aber  im 
grossen  und  ganzen  blieb  ich  doch  bei  nicht  eitrigen  oder  beginnenden 
akuten  eitrigen  Entzündungen  stehen.  Wenn  ich  auch  einige 
vorgeschrittene  Eiterungen  schon  in  früheren  Jahren  mit  Glück 
durch  Stauungshyperämie  behandelte,  so  hielt  mich  doch  die 
Furcht  vor  der  sogenannten  Erfahrung  da,von  ab,  dies  Mittel 
auch  bei  schweren  und  schwersten  eitrigen  Entzündungen  grund- 
sätzlich zu  verwenden.  Und  doch  musste  ich  mit  logischer  Not- 
wendigkeit dahin  kommen.  Denn  vom  gonorrhoischen  und  pyämi- 
schen  zum  traumatisch  und  osteomyelitisch  vereiterten  Gelenke, 
von  der  Lymphangitis  und  dem  beginnenden  Panaritium  zu  den 
schweren,  die  Glieder  und  das  Leben  bedrohenden  Phlegmonen  ist 
nur  ein  kleiner  Schritt,  den  ich  seit  einiger  Zeit  getan  und  nicht 
zu  bereuen  gehabt  habe. 

Allerdings  erscheint  es  ja  auf  den  ersten  Blick  selbstverständ- 
lich, dass  die  hohe  Lage  günstig  und  die  Stauungshyperämie 
schädhch  wirken  muss  bei  den  schweren  Infektionskrankheiten  der 
Glieder,  welche  an  sich  schon  zu  so  starken  Kreislaufstörungen 
und  venöser  Blutstockung  neigen,  dass  Brand  einzutreten  droht 
oder  gar  schon  eingetreten  ist.  Aber  ich  werde  im  weiteren  Ver- 
laufe dieser  Arbeit  Fälle  anführen,  die  beweisen,  dass  man  sich 
hier  ganz  verkehrte  Anschauungen  gemacht  hat.  Denn  dass  die 
Blutstauung  —  natürlich  nicht  übertrieben  —  eine  Ernährungs- 
störung sei,  ist  ebenso  eine  Sage,  wie  die  Behauptung,  dass  sie 
Schmerzen  hervorriefe.  Das  beweisen  eine  Reihe  unserer  Fälle, 
wo  es  gelang,  nach  unseren  bisherigen  Erfahrungen  dem  Tode  ver- 
fallene Körperteile  am  Leben  zu  erhalten.  Die  richtig  ausgeführte 
Stauungshyperämie  ist  keine  Verschlechterung,  sondern  eine  Ver- 


]  5J:  Allgemeine  Wirkungen  der  Hj^erämie. 

besserung  der  Emälirimg.  Nicht  die  entzündliche  Stauung  macht 
die  Nekrosen,  sondern  die  primäre  Schädlichkeit,  im  wesenthchen 
Bakteriengifte,  genau  so,  wie  sie  die  Schmerzen  verursacht.  Die 
Stromverlangsamung  bei  der  Entzündung  hat  im  Gegenteil  den 
Zweck,  durch  Unschädhchmachen  der  Bakterien  und  ihrer  Gifte 
und  durch  reichliche  Ernährung  die  Nekrosen  zu  verhüten. 

Allerdings,  dass  es  Fälle  gibt,  wo  die  Natur  über  das  Ziel 
hinausschiesst,  und  die  entzündhche  Hyperämie  und  die  Stromver- 
langsamung so  stark  werden  kann,  dass  nicht  ihre  Vermehrung, 
sondern  ihre  Verminderung  angezeigt  ist,  will  ich  keineswegs  leug- 
nen.    Indessen  sind  diese  Fälle  offenbar  äusserst  selten. 

Ich  bin  deshalb  überzeugt,  dass  die  Antiphlogose  m  ihrer 
strengen  Durchführung  einer  der  folgenschwersten  Irrtümer  un- 
serer Wissenschaft  war,  und  dass  die  Zeit  lücht  fern  hegt,  wo 
man  sie  zu  den  schhmmen  Irrlehren  der  Medizin  rechnen  wird. 
Um  so  auf  fähiger  ist  es,  dass  dieses  Verfahren  sich  so  lange  Zeit 
hindurch  der  uneingeschränktesten  Anerkennung  der  Ärzte  er- 
freuen konnte.  Da  hegt  es  nahe,  zu  untersuchen,  ob  nicht  auch 
hier,  ähnhch  wie  bei  der  ,, Derivation",  eine  falsche  Theorie  zu  einer 
richtigen  Praxis  verholten  hat,  bzw.  ob  nicht  doch  in  einzelnen 
Massnahmen  der  Antiphlogose  ein  richtiger  Kern  steckt. 

Was  den  Eisbeutel  i)  anlangt,  so  halte  ich  denselben,  auf  die 
Dauer  angewandt,  für  kein  anämisierendes,  sondern  für  ein  hyper- 
ämisierendes  Mittel,  also  für  das  Gegenteil  von  dem,  was  man  von 
ihm  erwartet  hat.  Denn  es  ist  bekannt,  dass  eine  so  heftige 
Kälteanwendung,  wie  sie  der  Eisbeutel  darstellt,  nach  vorüber- 
gehender kurzer  Anämie  eine  dauernde  Hyperämie  macht.  Man 
braucht  nur  einmal  eine  HautsteUe,  welche  diesem  Mittel  einige 
Stunden  ausgesetzt  war,  zu  betrachten.  Da  die  Kälte,  wie  aus 
den  bekannten  Versuchen  von  Esmarch's,  der  Schlikoff  u.  a. 
hervorgeht,  sehr  weit  in  die  Tiefe  der  Gewebe  eindringt,  so  wird 
man  auch  annehmen  müssen,  dass  die  Hyperämie  dem  Kältereiz 
in  der  Tiefe  folgt.  Die  Hyperämie  muss  passiv  sein,  weil  es  sonst 
gar  nicht  möghch  wäre,  dass  die  Kälte  so  weit  in  die  Tiefe  dringen 
könnte,  da  der  mit  einer  aktiven  Hyperämie  verbundene  schnellere 


1)  Dieser  Absclinitt  über  den  Eisbeutel  steht  schon  in  der  ersten  Auflage 
dieses  Buches.  Trotzdera  ist  melirfach  behauptet  (bes.  von  Hornberger:  Areh. 
f.  kl.  Chirurgie.  1906.  Bd.  80.  H.  4),  dass  ich  den  Eisbeutel  verwürfe  und  über- 
sehen hätte,   dass  er  in  Wirklichkeit   auch  hyperäniisiere. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         255 

Blutstrom  die  Temperaturunterschiede  weit  schneller  ausgleichen 
müsste. 

Schliesslich  ist  zu  bedenken,  dass  es  eine  Erfahrungstatsache 
ist,  dass  man  häufig  mit  scheinbar  oder  wirklich  entgegengesetzten 
Mitteln  dasselbe  erreicht.  So  legen  die  einen  Ärzte  dem  Pneu- 
moniker  einen  Eisbeutel,  die  anderen  einen  warmen  Umschlag  auf 
die  Brust,  und  beide  sehen  gute  Erfolge  davon,  besonders  was  die 
Schmerzlinderung  anlangt.  Und  eine  wirklich  gänzlich  verschie- 
dene, aber  jede  in  ihrer  Art  trotzdem  günstige  Wirkung  liesse  sich 
auch  von  unseren  beiden  entgegengesetzten  Mitteln  etwa  in  folgen- 
der Weise  erwarten:  Man  hat  in  neuerer  Zeit  den  Versuch  ge- 
macht, bakterielle  Erkrankungen  auf  zwei  verschiedene  Weisen  zu 
behandeln:  einmal  durch  Abtöten  der  Bakterien,  wie  bei  der  Anti- 
sepsis, dann  durch  Vernichtung  oder  Bindung  der  schädlichen 
Gifte,  wie  bei  dem  v.  Behring'schen  Diphtherieheilserum.  Nun 
denke  man  sich  auf  der  einen  Seite  die  Stauungshyperämie  als 
bakterientötendes,  auf  der  anderen  Seite  die  Antiphlogose  als  ein 
die  Resorption  und  die  Wirkung  der  Gifte  verlangsamendes  Mittel, 
so  hat  man  auf  zwei  gänzlich  verschiedene  Weisen  dasselbe  erreicht, 
nämlich  die  Krankheit  günstig  beeinflusst.  Und  dass  die  Gift- 
wirkung und  vor  allem  die  Resorption  durch  die  antiphlogistischen 
Mittel  sehr  stark  beeinflusst  wird,  erhellt  aus  zahlreichen  im  Ka- 
pitel über  die  Resorption  noch  zu  erwähnenden  Arbeiten.  Wir 
werden  dort  sehen,  dass  sich  merkwürdigerweise  in  dieser  Be- 
ziehung die  entgegengesetzten  Mittel,  Hochlagerung  und  Stauungs- 
hyperrämie,  berühren. 

Aus  diesen  Auseinandersetzungen  geht  hervor,  dass  die  oben 
behandelten  Widersprüche  nicht  so  schroff  zu  sein  brauchen,  als 
sie  scheinen.  Immerhin  haben  wir  uns  hier  sehr  auf  das  Gebiet 
der  Theorie  begeben,  und  in  der  praktischen  Medizin  spielt  immer 
die  Erfahrung  die  Hauptrolle.  Und  davon  glaube  ich  jetzt  genug 
zu  haben,  um  behaupten  zu  können,  dass  in  Wirkhchkeit  die  Anti- 
phlogose gar  nicht  so  günstig  wirkt,  als  man  auf  den  ersten  Blick 
glauben  sollte. 

Behandeln  wir  beispielsweise  ein  akut  oder  subakut  entzündetes 
Gelenk,  das  keine  schweren  Zirkulationsstörungen  aufweist,  anti- 
phlogistisch, so  sehen  wir  zwar  häufig  schnell  die  Schmerzen  ver- 
schwinden, Entzündung  und  Fieber  abnehmen,  aber  meist  zieht 
sich  die  Behandlung  recht  in  die  Länge  und  die  Folge  ist  leider 
nur  allzu  häufig  eine  schlimme  Versteifung.     Behandeln  wir  das- 


256  Allgemeine  Wirki.mgen  der  Hyperämie. 

selbe  Gelenk  mit  Stauungshyperämie,  so  sehen  wir  die  Schmerzen 
meist  noch  viel  schneller  verschwinden,  das  Fieber  häufig  sofort 
abnehmen  und  vor  allem  in  auffäUiger  Weise  die  Beweglichkeit 
zunehmen.  Ferner  ist  der  ganze  Verlauf  der  Krankheit  unend- 
lich viel  rascher.  Ich  kann  mich  hier  des  Eindrucks  nicht  er- 
wehren, dass  wir  in  solchen  Fällen  durch  die  Antiphlogose  sehr 
geschadet  haben.  Wir  haben  die  dem  Kranken  unangenehmen  Er- 
scheinungen zurückgedrängt,  gleichzeitig  aber  die  nützliche  Ent- 
zündungsreaktion, haben  dadurch  die  Krankheit  verlängert  und  vor 
allem  das  Gelenk  versteifen  lassen.  Der  Erfolg  der  Antiphlogose 
war  also  nur  scheinbar,  in  Wirkhchkeit  war  es  ein  Misserfolg. 

Umgekehrt  aber  ist  die  Antiphlogose  am  Platze  und  nützlich 
in  den  äusserst  seltenen  Fällen,  wo  die  Natur  in  den  Entzündungs- 
erscheinungen, vor  allem  in  der  Hyperämie,  über  das  Ziel  hinaus - 
schiesst,  wie  ich  oben  bereits  auseinandersetzte.  In  noch  viel 
höherem  Grade  nützt  die  Hochlagerung  bei  chronischen  Ödemen, 
deren  Schädhchkeit  ich  schon  öfter  betont  habe. 

Bevor  ich  Stauungshyperämie  gegen  Infektionskrankheiten  der 
GHeder  verwandte,  habe  ich  die  aktive  Hyperämie  zu  demselben 
Zwecke  benutzt.  Denn  die  ersten  Versuche,  welche  ich  überhaupt 
mit  Hyperämie  anstellte,  machte  ich  im  Jahre  1891  bei  einer  aus- 
gesprochenen Infektionskrankheit,  der  Tuberkulose,  mit  heisser 
Luft.  Ich  habe  schon  in  meiner  Arbeit  vom  Jahre  1893  das  Miss- 
lingen  dieser  Versuche  beschrieben.  Ich  sah  bis  auf  einen  Fall  nur 
Verschlimmerungen  danach.  Diese  Beobachtungen  sind  später  von 
Thiemi)  bestätigt  worden,  welcher  dieselben  Erfahrungen  machte. 

Im  übrigen  finde  ich  in  der  Literatur  nur  noch  zwei  Mit- 
teilungen über  die  Behandlung  von  Tuberkulose  durch  heisse  Luft. 

Clado^),  der,  wie  ich  oben  schon  erwähnte,  etwa  gleichzeitig 
mit  mir  heisse  Luft  zur  Behandlung  von  tuberkulösen  Gelenkleiden 
verwandte,  in  der  Absicht,  in  ihnen  nach  Art  der  ,, diskontinuier- 
lichen Sterilisation"  Tyndall's  die  Tuberkelbazillen  abzutöten, 
teilt  mit,  dass  er  unter  sechs  tuberkulösen  Gelenken,  welche  er 
täglich  eine  Stunde  mit  Luft  von  110°  behandelte,  vier  geheilt 
habe.     Nähere  Angaben  macht  er  nicht. 


1)  Thiem,  Über  Thermotherapie  bei  der  Nachbehandlung  Unfallverletzter. 
Zeitschr.  f.  Unfallheilkunde.     1900.    Nr.  3. 

2)  Traitement    des    lesions    tuberculeuses    accessibles    par    la    temper ature. 
elevee.     Mitteilungen  des  französischen  Chirurgenkongresses  vom  Jahre  1891. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         ]^57 

Wilsoni)  hat  zahlreiche  Gelenktuberkulosen  mit  heisser  Luft 
behandelt,  hat  aber  gleichzeitig  nebenher  die  Gelenke  festgestellt. 
Er  ist  der  Ansicht,  dass  die  Krankheit  durch  die  Behandlung 
günstig  beeinflusst  wird,  kann  das  aber  nicht  sicher  behaupten, 
und  weiss  nicht,  welches  von  den  beiden  Mitteln  gewirkt  hat. 

Der  Umstand,  dass  man  so  wenig  von  der  Behandlung  tuber- 
kulöser Gelenke  mit  der  jetzt  so  ausserordentlich  populär  ge- 
wordenen heissen  Luft  hört,  scheint  mir  dafür  zu  sprechen,  dass 
die  Erfolge  im  allgemeinen  schlecht  gewesen  sind,  denn  verwandt 
hat  man  sicher  das  Mittel,  wie  gegen  alle  möglichen  andern  Ge- 
lenkerkrankungen, auch  häufig  gegen  Tuberkulose.  Und  ich  glaube 
nicht,  dass  meine  im  Jahre  1893  erfolgte  Abmahnung  hier  ab- 
schreckend gewirkt  hat;  dieselbe  ist,  wie  es  scheint,  kaum  bekannt 
geworden,  oder  war,  als  Taller  mann's  Apparat  die  Aufmerksam- 
keit weiterer  Kreise  auf  die  Heissluftbehandlung  lenkte,  schon 
längst  vergessen. 

Ebensowenig  habe  ich,  als  ich  bald  nachher  die  Hyperämie- 
behandlung auch  bei  akuten  Gelenkentzündungen  begann,  mit 
heisser  Luft  bei  diesen  etwas  erreicht'.  Ich  habe  sie  allerdings 
nur  bei  4 — 5  akut  gonorrhoisch  oder  rheumatisch  erkrankten  Ge- 
lenken gebraucht  mit  durchweg  massigem  Erfolge.  Sie  besserten 
sich  entweder  nicht  oder  verschlimmerten  sich  sogar.  Jedenfalls 
zeigte  sich  die  Wirkung  der  Stauungsh3;^erämie  hier  bedeutend 
überlegen. 

Auch  Wilson  hatte  bei  akuten  Gelenkerkrankungen  keine 
Erfolge  aufzuweisen.  Er  gibt  ausdrückhch  an,  dass  bei  akuter 
und  chronischer  Gicht,  bei  akutem  Rheumatismus  und  rheumatoiden 
Arthritiden  die   Heissluftbehandlung   nicht   günstig  gewirkt   hat. 

Nun  findet  man  in  der  Literatur  zahlreiche  Angaben  über  den 
günstigen  Einfluss  der  heissen  Luft  auf  gonorrhoische  Gelenk- 
entzündungen. Aber  es  steht  nicht  dabei,  ob  dies  auch  wirklich 
akut  entzündete  Gelenke  und  nicht  ihre  Folgeerscheinungen,  in 
erster  Linie  Versteifungen,  gewesen  sind.  Nur  bei  einer  Mitteilung 
bin  ich  im  Zweifel,  ob  der  betreffende  Arzt  wirklich  derartige  akut 
entzündete  Gelenke  mit  Erfolg  der  Heissluftbehandlung  unterzogen 
hat.  Löwenhardt^)  teilt  mit,  dass  er  in  ,, allen  möghchen  Stadien 
der  gonorrhoischen  Gelenkerkrankung  heisse  Luft  angewendet  und 

1)  Wilson,  Hot  air  in  joint-diseases.     Annais  of  siorgery.     29.  Bd.      189[). 

2)  Löwenhardt,  Zur  Pathologie  und  Therapie  der  gonorrhoischen  Ge- 
lenkerkrankungen.   Wiener  med.  Presse.     1898.    Nr.  45. 


258  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

eine  schädigende  Wirkung  eigentlich  nie  davon  gesehen  hat". 
Gleich  hinterher  aber  gibt  er  zu:  „Nur  zur  Zeit  der  hohen  Tem- 
peraturen und  bei  direkt  zur  Abszedierung  neigenden  Prozessen 
habe  ich  nicht  Gelegenheit  gehabt  oder  auch  mich  nicht  veranlasst 
gefühlt,  thermisch  einzuwirken."  Jedenfalls  geht  auch  aus  dieser 
Arbeit  nicht  hervor,  ob  Löwenhardt  bei  akut  oder  auch  nur 
subakut  entzündeten  Gelenken  wirkhch  günstige  Erfolge  mit 
heisser  Luft  erzielt  hat. 

Jüngst  hat  Buchneri)  im  Sinne  der  von  ihm  aufgestellten 
Theorie  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  die  aktive  Hyperämie, 
welche  er  durch  einen  Alkohol  verband  zu  erzielen  glaubt,  in 
höherem  Masse  bakterientötend  wirke  als  die  passive,  welche 
man  durch  Blutstauung  erzielt. 

Ich  habe  nun  schon  auseinandergesetzt,  dass  Buchner 
gänzlich  den  Beweis  schuldig  geblieben  ist,  dass  die  H3^erämie, 
welche  der  Alkoholverband  auch  in  der  Tiefe  erzeugt,  eine  aktive 
und  nicht  vielmehr  eine  der  entzündlichen  nahestehende  passive 
Hyperämie  ist.  Es  spricht,  wie  erwähnt,  vielmehr  alles  dafür,  dass 
das  letztere  der  Fall  ist. 

Schliesslich  hat  Ullmann^)  über  sehr  gute  Erfolge  berichtet, 
die  er  nach  Behandlung  infizierter  Wunden  und  bakterieller  Ge- 
schwüre mit  heisser  Luft  erzielt  hat.  Er  schiebt  diese  guten  Er- 
folge auf  die  bakterientötende  Wirkung  der  durch  das  Mittel  er- 
zielten aktiven  Hyperämie.  Es  ist  aber  bemerkenswert,  dass  die 
von  Uli  mann  behandelten  infektiösen  Krankheiten  lediglich  ober- 
flächlich liegende  Geschwüre  waren.  Die  habe  ich  nun  selbst  schon 
vom  Beginn  meiner  Versuche  an  häufiger  mit  heisser  Luft  be- 
handelt, und  bereits  in  meiner  ersten  Arbeit  über  einen  sehr  be- 
merkenswerten derartigen  Fall  berichtet.  Aber  es  erscheint  mir 
doch  sehr  zweifelhaft,  ob  es  sich  hier  um  bakterientötende  Wirkungen 
der  aktiven  Hyperämie  handelt,  und  diese  Zweifel  habe  ich  schon 
mehrfach  ausgesprochen.  Hier  kommen  doch  noch  sehr  wesentliche 
andere  Einflüsse  zur  Geltung,  nämlich  die  bakterientötende  Wirkung 
der  Hitze  selbst,  die  man  bei  so  oberflächlich  liegenden  Geschwüren 
kaum  bezweifeln  kann,  die  Beschleunigung  der  Demarkation  bei 
brandigen  und  nekrotisierenden  Vorgängen  und  die  lebhafte 
Granulationsbildung. 


1)  1.  c. 

2)  XJllm.ann,  Wiener  klin.  Wochensclirift.    1901.    Nr.  1. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         ^^59 

Fragen  wir  nun  einmal  nach:  wie  verfährt  denn  eigenthch  die 
Natur,  wenn  sie  ihre  entzündhche  Hyperämie  hervorruft,  so  er- 
fahren wir  ganz  übereinstimmend,  dass  sie  bei  allen  Entzündungen 
nach  einer  vorübergehenden  Beschleunigung  des  Blutstroms  diesen 
verlangsamt  und  dass  die  Verlangsamung  während  der  ganzen 
Dauer  der  Entzündung  bestehen  bleibt  i).  Sehen  wir  also  im  ganzen 
Entzündungs Vorgang  etwas  Nützliches,  so  werden  wir  auch  nicht 
umhin  können,  dies  für  die  Verlangsamung  des  Blutstromes  in 
Anspruch  zu  nehmen  und,  wenn  wir  die  Naturheilung  unterstützen 
wollen,  dürfen  wir  diese  nicht  stören,  im  Gegenteil,  wir  müssen  sie 
verstärken. 

Ich  erwähnte  schon,  dass  es  oft  sehr  schwer  zu  sagen  ist,  ob 
es  sich  bei  der  Hervorrufung  von  Hyperämien  um  Beschleunigung 
oder  um  Verlangsamung  des  Blutstroms  handelt.  Dies  gilt  aber 
besonders,  wenn  wir  entzündete  Teile  noch  künstlich  hyperämisieren. 
Denn  wie  die  Beobachtung  unter  dem  Mikroskop  gezeigt  hat, 
versteht  es  der  in  seiner  Wirkung  noch  gänzlich  unbeka.nnte  Ent- 
ziindungsreiz,  einen  ursprünglich  beschleunigten  Blutstrom  zu  ver- 
langsamen und  verlangsamt  zu  erhalten.  Alle  Erklärungen,  die 
man  für  diese  sonderbare  Erscheinung  abgegeben  hat,  sind  gänzlich 
ungenügend.  (Ich  habe  in  einer  früheren  Arbeit  2)  bewiesen,  dass 
ein  entzündeter  Körperteil,  selbst  unter  künstlicher  Blutleere,  mit 
grosser  Zähigkeit  das  Blut  festhält,  und,  wenn  man  es  künstlich 
aus  ihm  vertreibt,  mit  grosser  Kraft  wieder  ansaugt.  Diese  ein- 
fache und  leicht  zu  zeigende  wichtige  Tatsache  wird  in  der  Ent- 
zündungsiehre  vollständig  ignoriert,  weil  die  meisten  Ärzte  in  der 
Darstellung  vom  Blutkreislaufe  nur  das  für  wissenschaftlich  halten, 
wofür  sie  grobe  hydrodynamische  Erklärungen  geben  können.) 

Aber  so  ist  es  auch  wohl  sicher,  dass  Mittel,  welche  an  sich 


1)  Von  einzelnen  Untersuchern  ist  die  Verlangsamiuig  des  Blutstromes  bei 
der  Entzündung  nicht  anerkannt.  Neuerdings  hat  sie  noch  Hornberger  (Eine 
physio-pathologische  Studie  über  venöse  Hyperämie.  Archiv  f.  Min.  Chirxirgie. 
1906.  Bd.  80.  H.  4)  lebhaft  bestritten.  Es  würde  mich  zu  weit  führen,  diese 
Streitfrage  hier  zu  erörtern.  Ich  werde  dies  nächstens  an  anderer  Stelle  aus- 
führlich tun.  Meines  Erachtens  spricht  schon  die  eine  Tatsache,  dass  die 
künstliehe  Verlangsamimg  des  Blutstromes  alle  Erscheinungen  der  Entzündung 
mächtig  vermehrt,  besser  als  alle  möglichen  unsichern  und  sich  widersprechenden 
Versuche  dafür,  dass  bei  der  Entzündvmg  die  Verlangsamung  des  Blutstromes 
die  entscheidende  Rolle  spielt. 

2)  Bier,  Die  Entstehixng  des  KoUateralkreislaufs.  Virchow's  Archiv. 
153.  Band,   1898.    S.  451. 


IQQ  AUgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

aktiv  hyperämisierend  wirken,  doch  in  entzündeten  Teilen  ver- 
mehrte passive  Hyperämie  erzeugen,  da  eben  in  den  Gefässen 
des  entzündeten  Teiles  der  Blutstrom  verlangsamt  wird.  In- 
dessen darf  die  aktive  Hyperämie  nicht  das  Übergewicht  erhalten, 
sonst  stört  sie  den  natürlichen  Reaktions Vorgang.  Es  folgt 
daraus,  dass  wir  nicht  zu  heftig  aktiv  hyperämisierende  Mittel 
brauchen  dürfen,  und  ein  solches  ist  entschieden  die  heisse  Luft, 
während  andere  schon  seit  alten  Zeiten  gegen  Entzündungen  an- 
gewandte Wärmemittel,  z.  B.  feuchtwarme  Umschläge  oder  heisse 
Kompressen,  Kataplasmen,  Warmiwasserbeutel,  dennatürhchen  Ent- 
zündungsvorgang verstärken  können,  weil  sie  in  weit  geringerem 
Grade  den  Blutstrom  beschleurügen  und  deshalb  wohl  bei  Ent- 
zündungen angebracht  sind. 

Wie  recht  ich  mit  dieser  meiner  mehrfach  geäusserten  An- 
schauung hatte,  geht  auch  daraus  hervor,  dass  Ullmanni)  bei  den 
obenerwähnten  akuten  Erkrankungen  die  heisse  Luft  später  durch 
einen  ,,Hydrothermoregulator"  ersetzt  hat,  der  durchaus  im  Sinne 
jener  alten  Mittel  wirkt.  Er  schiebt  hier  nach  dem  Vorgange 
Welander's  feuchte  Watte  zwischen  den  Wärmezuleitungskörper 
und  den  behandelten  Körperteil  und  bezeichnet  diese  Art  der 
Wärmewirkung  für  die  genannten  Erkrankungen  als  weit  wirksamer. 

Hierher  gehört  auch  meine  obenerwähnte  Beobachtung,  dass 
ein  Schröpf  köpf,  welcher  bei  massiger  Saugwirkung  an  einer  ge- 
sunden Hautstelle  eine  hellrote  arterielle  Hyperämie  hervorbringt, 
auf  eine  lupöse,  also  chronisch  entzündete  aufgesetzt,  dunkle  venöse 
Hyperämie  verursacht. 

Zu  den  ausserordentlich  heftigen  Wallungen  scheint  mir  die 
Hjrperämie  zu  zählen,  welche  wir  nach  Koch'schen  Tuberkuhn- 
einspritzungen  auftreten  sahen,  und  es  ist  immerhin  möghch,  das 
ein  Teil  der  Verschlimmerungen,  welche  man  danach  beobachtete, 
hierauf  zurückzuführen  ist. 

Es  liegt  sehr  nahe,  bei  dieser  Gelegenheit  darauf  hinzuweisen, 
dass  nach  gewaltigen  Anstrengungen,  welche  mit  funktioneller 
aktiver  Hyperämie  einhergehen,  nicht  selten  Infektionskrankheiten 
an  den  überanstrengten  Körperteilen  auftreten,  z.  B.  Tuberkulose 
und  Gonorrhoe  der  Gelenke  nach  übermässigem  Gebrauche  der 

1)  Uli  mann,  Zur  Thermotherapie  mittels  konstanter  Wärme.  Zeitsclirift 
für  diätetische  und  physikalische  Therapie.  6.  Band.  S.  603.  1903,  und:  Zur 
klinisch-therapeutischen  Verwertbarkeit  der  konstanten  Wärme.  Wiener  klini- 
sche Rundschau.     1902.    Nr.  23—25. 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         \Ql 

Glieder.  Ich  will  es  vermeiden,  diesen  Schluss  zu  ziehen;  denn 
jene  Beobachtungen  erklären  sich  eigentlich  ungezwungener  aus 
der  starken  Inanspruchnahme  und  Schädigung  der  Gewebe,  welche 
die  Folge  jeder  Überanstrengung  ist.  Man  kann  hier  höchstens 
feststellen,  dass  die  aktive  funktionelle  Hyperämie  nicht  imstande 
ist,  die  Entstehung  jener  Krankheiten  hintanzuhalten. 

Es  scheint  mir  überhaupt  eine  durchgehende  Erscheinung  in 
der  Natur  zu  sein,  dass  bei  irgend  einer  notwendigen  Funktion 
der  Organismus  sich  ganz  auf  diese  wirft,  und  nur  schlecht  zwei 
wichtige  Dinge  mit  demselben  Hilfsmittel  leisten  kann.  Wir  sehen, 
dass  ein  entzündeter  Körperteil  die  Arbeit  ruhen  lässt,  meiner 
Ansicht  nach  deshalb,  um  seine  Kräfte  nicht  unnütz  anderweitig 
zu  zersplittern  und  sie  ganz  gegen  die  schädigende  Entzündungs- 
ursache  zur  Verfügung  zu  haben.  Wir  nehmen  alle  an,  dass  gut 
mit  Blut  versorgte  Gewebe  an  sich  nicht  leicht  an  Infektionen  er- 
kranken. Im  schroffen  Gegensatze  dazu  aber  fallen  gerade  stark 
blutüberfüllte  wachsende  Körperteile  mit  Vorliebe  den  Bakterien 
zum  Opfer,  so  der  kindliche  wachsende  Knochen  der  akuten 
Osteomyelitis,  die  Brustdrüse  der  Schwangeren  und  Säugenden 
der  Mastitis.  So  erkrankt  die  Harnröhre  des  mit  chronischem 
Tripper  Behafteten  wieder  akut,  wenn  er  den  Beischlaf  ausübt 
oder  von  Erektionen  gepeinigt  wird,  während  doch  künstliche 
H3rperämie,  wie  ich  bewiesen  habe,  und  zwar  gerade  die  Art  von 
Hyperämie,  die  das  steife  Glied  zeigt,  einen  wunderbar  heilenden 
Einfluss  auf  die  Gonokokkeninfektion  ausübt.  Es  wird  eben  die 
ganze  Energie  des  Organismus  nach  einer  Seite  hin  (Wachstum, 
Arbeit,  Unterdrückung  einer  Infektion)  festgelegt. 

Derartige  Beispiele  Hessen  sich  in  grosser  Anzahl  aus  allen 
Gebieten  der  Medizin  bis  auf  das  psychische  Gebiet  hinauf  an- 
führen. So  gibt  es  ja  bekanntlich  wenig  Menschen,  die  gleich- 
zeitig über  einen  Gegenstand  schreiben  und  über  einen  anderen 
sich  unterhalten  können,  und  man  hat  diese  seltene  Fähigkeit 
als  ein  Zeichen  besonderer  geistiger  Grösse  angesehen  (Cäsar, 
Napoleon). 

Etwas  Ähnliches  ist  für  einen  ganz  speziellen  Fall  schon  ein- 
mal von  Frey  er  ausgesprochen.  Dieser  Physiologe  nahm  an,  dass 
die  Ganglienzellen  des  Zentralnervensystems  mit  den  narkotischen 
Mitteln  chemische  Verbindungen  eingehen,  zu  deren  Zersetzung 
und  Beseitigung  die  Zellen  ihre  ganze  lebendige  Energie  aufwenden, 
ihre  normalen  Funktionen  so  lange  aufgeben  müssen  und  deshalb 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  11 


\Q2  Allgemeine  Wirkiuigen  der  Hyperämie. 

in  Schlaf  verfallen,  bis  ihnen  die  Ausstossung  und  Vernichtung  des 
Giftes  gelungen  ist. 

Nach  all  den  mitgeteilten  Erfahrungen  scheint  es  mir,  rein 
theoretisch  gedacht,  nur  logisch  zu  sein,  bei  der  Auswahl  der  ver- 
schiedenen Formen  der  Hyperämie  zur  Behandlung  entzündhcher 
Krankheiten  die  Stauungshyperämie  in  erster  Linie  zu  berück- 
sichtigen, da  sie  viel  treuer  den  natürhchen  Heilungs Vorgang  der 
Entzündung  nachahmt  und  ihn  verstärkt.  Meine  praktischen  Er- 
folge stimmen  auch  durchaus  mit  dieser  theoretischen  Vorstellung 
überein.  Dass  man  nicht  hier  und  da  aktive  Hjrperämie  anwenden 
darf  und  mit  Nutzen  anwenden  wird,  halte  ich  für  zweifellos,  für 
ebenso  sicher  allerdings  auch,  dass  die  kräftigsten  Formen  der 
aktiven  Hyperämie  bei  akuten  Entzündungen  schädlich  wirken,  bei 
subakuten  und  chronischen  durch  die  Stauungshyperämie  zum 
mindesten  sehr  üb  er  troffen  werden. 

Höchst  komisch  aber  erscheint  es  mir,  wenn  neuere  Unter- 
sucher, nachdem  man  sich  lange  um  meine  Erklärung  der  genannten 
Mittel  als  hjrperämisierende  durchaus  nicht  gekümmert  hat,  nun 
die  Sache  aufgreifen  und  nach  einer  ganz  bestimmten  Theorie 
Hyperämie  anwenden.  Da  lässt  der  eine  das  Serum,  der  andere 
die  Leukocyten,  der  dritte  die  Kohlensäure  usw.  auf  die  Bakterien 
los,  ohne  zu  bedenken,  dass  es  sich  doch  hier  in  der  Tat  noch 
um  unbewiesene  Theorien  handelt.  So  wichtig  und  höchst  frucht- 
bringend nun  diese  Theorien  zweifellos  sind,  dass  ich  sie  unter 
keinen  Umständen  entbehren  möchte,  so  können  sie  doch,  in  dieser 
Einseitigkeit  auf  die  Praxis  übertragen,  höchst  bedenklich  werden. 
Wir  laufen  alsdann  Gefahr,  zu  Zuständen  zu  kommen,  wie  sie 
teilweise  in  der  Wasserheilkunde  geherrscht  haben,  wo  man  auch 
alle  möglichen  unbewiesenen  physiologischen  Versuche  auf  die 
Praxis  anwandte  und  aus  Untersuchungsmethoden,  deren  Beweis- 
kraft längst  kein  Physiologe  mehr  anerkennt,  immer  noch  weit- 
gehende Schlüsse  zieht. 

Ich  halte  diesen  Ärzten,  welche  je  nach  ihren  vorgefassten 
theoretischen  Meinungen,  die  einen  das  Serum,  die  anderen  die 
Leukocyten  usw.  den  wirksamen  Bestandteil  der  entzündlichen 
Hyperämie  und  ihrer  Folgen  sein  lassen,  folgendes  entgegen:  Ich 
will  einmal  für  unsere  praktischen  Zwecke  alle  Vorgänge,  die  zur 
Erhaltung  des  Menschen  und  seiner  Art  dienen,  als  physiologisch, 
alle,  welche  auf  seine  Schädigung  und  Vernichtung  abzielen,  als 
pathologisch  bezeichnen.   (Die  Erklärung  der  physiologischen  Lehr- 


Bakterientötende  oder  abschwächende  Wirkung  der  Hyperämie.         163 

bücher,  dass  die  Physiologie  die  Lehre  von  den  Lebenserscheinungen 
der  Organismen  sei,  können  wir  Praktiker  nicht  brauchen;  denn 
dann  sind  Vergiftung  und  Tod  auch  physiologisch.)  Trifft  diese 
Benennung  —  natürlich  immer  nur  für  das  praktische  Denken  des 
heilenden  Arztes  —  zu,  dann  ist  die  Entzündung  ein  hoch-physio- 
logischer Vorgang:  Der  Kampf  des  Körpers  gegen  den  Überfall 
eines  in  ihn  eingedrungenen  gefährlichen  Feindes,  den  er  nicht  nur 
zu  vernichten,  sondern  dessen  Verheerungen  und  Zerstörungen  er 
ausserdem  noch  wieder  gut  zu  machen  hat  (Regeneration  bei  der 
Entzündung).  Alle  solche  physiologischen  Vorgänge  aber  sind  im 
höchsten  Masse  kompliziert,  und  wenn  jemand  glaubt,  dass  von  all 
den  zahlreichen  Erscheinungen  der  Entzündung,  z.  B.  nur  das 
Blutserum  oder  nur  die  Leukocyten,  welche  dabei  in  die  Gewebe 
treten,  die  Heilung  besorgen,  so  kommt  mir  das  gerade  so  vor,  als 
wollte  man  behaupten,  nur  der  Magensaft  oder  nur  der  Pankreas- 
speichel  verrichte  die  Verdauung  und  Assimilation  der  Nahrung, 
alles  andere  aber,  was  auf  dem  Wege  vom  Munde  bis  zum  After 
mit  der  Nahrung  geschieht,  Kauen,  Speicheln,  Schlucken,  die  Ab- 
sonderung aller  möglichen  anderen  Verdauungssäfte  usw.,  sei  ein 
mehr  oder  weniger  unnützes  Beiwerk. 

Mich  erinnern  diese  Einseitigkeiten  der  Bakteriologen  im.mer 
an  die  der  pathologischen  Anatomen  zu  der  Zeit,  als  Cohnheim 
seine  berühmte  Entdeckung  von  der  Auswanderung  der  weissen 
Blutkörperchen  machte.  Damals  hielt  man  die  Frage  der  Ent- 
zündung für  vollständig  gelöst,  so  sehr  blendete  diese  glänzende 
Entdeckung  die  Augen  der  Ärzte.  Ja  man  ging  noch  viel  weiter. 
Der  Leukocyt  konnte  alles.  Er  war  der  Elementarorganismus,  der, 
je  nach  Bedarf,  Bindegewebe,  Muskel,  Nerv  usw.  wurde.  Jetzt 
denken  wir  kühler  darüber.  Wir  wissen,  dass  diese  Auswanderung 
der  Leukocyten  nur  eine  Teilerscheinung  der  Entzündung  ist, 
und  dass  ihr  eigentliches  Wiesen  noch  immer  in  tiefes  Dunkel  ge- 
hüllt ist. 

Fassen  wir  so  die  Entzündung  als  einen  physiologischen  Vor- 
gang auf,  so  verstehen  wir  auch  die  grosse  Verlegenheit  der  patho- 
logischen Anatomen,  den  Entzündungsbegriff  anatomisch  zu  fassen, 
die  schon  zu  dem  höchst  unglücklichen  Vorschlage  geführt  hat, 
ihn  überhaupt  aufzugeben.  Die  Entzündung  ist  ebensowenig  etwas 
Anatomisches,  wie  es,  um  im  Vergleiche  zu  bleiben,  die  Verdauung 
ist,  zumal  schon  eine  sehr  grosse  Anzahl  der  Entzündungserschei- 
nungen mit  dem  Tode  verschwindet. 

11* 


\Q^  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Nun  gibt  es  zurzeit  kein  besseres  und  wirksameres  Mittel, 
die  nützliche  und  heilende  Entzündung  in  allen  ihren  Erscheinungen 
zu  unterstützen  und  zu  verstärken,  als  die  Stauungshyperämie,  die 
wir  mit  der  Binde  oder  mit  Saugapparaten  hervorrufen.  Die  pas- 
sive Hyperämie  passt  überhaupt  mehr  für  akute  beziehungsweise 
bakterielle,  die  aktive  mehr  für  chronische  und  nichtbakterielle 
Krankheiten  beziehungsweise  für  die  Folgen  der  letzteren.  Ich 
unterscheide  hier  absichthch  zwischen  passiver  und  aktiver  und 
nicht  zwischen  venöser  und  arterieller  H3rperämie.  Denn  ich  halte 
es  für  wahrscheinlich,  dass  etwas  mehr  Gehalt  an  Kohlensäure  oder 
an  Sauerstoff  bei  der  entzündlichen  Hj^erämie  eine  viel  geringere 
Rolle  spielt,  als  die  Stromverlangsamung  und  Stromverbreiterung. 
Denn  diese  bringt  die  geschädigten  Gewebe  in  viel  innigeren  Zu- 
sammenhang mit  den  heilenden  Blutbestandteilen  (Serum,  Leukc- 
cyten  etc.),  wie  der  schneUf liessende  arterielle  Strom. 


Resorbierende  Wirkung  der  Hyj^erämie. 

Seit  langem  habe  ich  die  aktive  Hyperämie,  welche  die  heisse 
Luft  erzeugt,  benutzt  zur  Resorption.  Ich  machte  zuerst  die  Er- 
fahrung, dass  bei  chronischen  Gelenkerkrankungen,  die  ich  ab- 
wechselnd mit  passiver  und  aktiver  Hyperämie  behandelte,  die 
letztere  die  Ödeme,  welche  die  erstere  erzeugte,  schnell  beseitigte. 
Auf  dieser  Erfahrung  fussend,  wandte  ich  dann  die  aktive  Hj^per- 
ämie  in  ausgedehntem  Masse  zur  Behandlung  von  Ödemen  an,  welche 
nach  der  Heilung  von  Knochenbrüchen  an  den  Ghedern  eintraten  und 
in  einigen  Fällen  von  Elephantiasis.  Will  man  diese  resorbierende 
Wirkung  ausüben,  so  darf  die  heisse  Luft  allerdings  nicht  zu  lange 
angewandt  werden,  weil  sie  sonst  im  Gegenteil  Ödem  hervorruft. 
Ich  habe  schon  in  meiner  ersten  Arbeit  solche  Fälle  erwähnt,  wo 
Glieder,  die  8 — 10  Stunden  täglich  einer  heissen  Luft  von  100° 
ausgesetzt  waren,  stark  ödematös  wurden.  Wir  sehen  hier  die 
schon  erwähnte  Eigentümlichkeit  physikalischer  Heilmittel,  die  uns 
noch  mehrfach  aufstossen  wird,  wieder,  dass  sie  in  verschieden 
hoher  und  langer  Anwendung  zu  ganz  verschiedenen  Ergebnissen 
führen. 

Die  resorptionsbefördernde  Wirkung  der  aktiven  Hyperämie 
stimmt  mit  unseren  heutigen  wissenschaftlichen  Kenntnissen  über 
die  Wege  der  Resorption  aufs  beste  überein,  denn  man  weiss,  dass 


Resorbierende  Wirkung  der  Hyperämie.  1  g  5 

fast  die  ganze  Resorption  wässriger  und  wasserlöslicher  Stoffe 
durch  die  Blutkapillaren  und  nicht,  wie  man  vielfach  angenommen 
hatte,  durch  die  Lymphwege  erfolgt.  Unbestritten  ist  diese  An- 
schauung für  die  Magendarmverdauung,  so  dass  man  hierüber 
keine  weiteren  Beweise  aus  der  Literatur  anzuführen,  sondern 
lediglich  der  Darstellung  eines  neueren  Lehrbuchs  der  Physiologie 
zu  folgen  braucht.  Es  geschieht  die  Resorption  von  Wasser, 
Salzen,  gelösten  Kohlehydraten,  Peptonen  und  einigen  unver- 
änderten löslichen  Eiweisskörpern  fast  ausschliesslich  durch  die 
Blutbahn.  Nur  bei  sehr  reichlicher  Ernährung  mit  diesen  Stoffen 
hat  man  geringe  Mengen  davon  in  den  Lymphwegen  vorgefunden. 

Dagegen  wird  das  Fett,  mag  es  nun  in  verseiftem  Zustande 
oder  in  Form  feiner  Körnchen  aufgenommen  werden,  fast  ledighch 
durch  die  Lymphe  abgeführt,  während  nur  ein  ganz  kleiner  Teil 
der  Fettseifen  unvermittelt  in  das  Blut  zu  treten  scheint. 

Ganz  ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  der  Resorption  von 
Stoffen  aus  den  Geweben  und  den  Körperhöhlen.  Es  hat  aller- 
dings Zeit  und  Schwierigkeit  gekostet,  bis  man  sich  zu  dieser  Über- 
zeugung durchgerungen  hat.  Und  es  erscheint  in  der  Tat  auf  den 
ersten  Blick  sonderbar,  dass  in  Wasser  gelöste  Mittel,  die  man  in 
die  Gewebsspalten,  d.  h.  also  in  die  Anfänge  der  Lymphwurzeln 
selbst  einspritzt,  nicht  von  diesen,  sondern  von  den  Blutgefässen, 
die  durch  eine  Wand  abgesondert  sind,  aufgenommen  und  weiter- 
geführt werden.  Ebenso  liegt  es  von  vornherein  viel  näher,  an- 
zunehmen, dass  die  offenen  Lymphspalten  der  Bauchhöhle,  welche 
V.  Recklinghausen  besonders  am  Zwerchfell  nachwies,  Flüssig- 
keiten ohne  weiteres  aufnehmen,  als  dass  diese  erst  durch  die  Wand 
der  Blutkapillaren  durchtreten.  Zahlreiche  Untersuchungen  haben 
aber  gezeigt,  dass  dies  tatsächlich  der  Fall  ist,  und  dass  die  Re- 
sorption auf  ganz  ähnliche  Weise  erfolgt,  wie  im  Verdauungskanale. 
Ich  übergehe  die  schon  recht  alten  Versuche i),  aus  denen  die  Be- 
obachter schlössen,  dass  die  Gewebsresorption  abhänge  von  der  all- 
gemeinen und  örtlichen  Blutmenge,  und  erwähne  von  den  zahl- 
reichen Arbeiten  einige  der  hauptsächlichsten  neueren,  welche  den 
strengen  Beweis  führen. 

Orlow^),  ein  Schüler  Heidenhain's,  beobachtete,  dass  wäh- 

1)  S.    bei   C.  Ludwig,    Lehrbuch   der    Physiologie   des  Menschen.      2.  Bd. 
2.  Aufl.  186L  S.  565. 

2)  Orlow,  Einige  Versuche  über  die  Resorption  der  Bauchhöhle.  Pflüger 's 
Archiv.  59.  Bd.   S.  170. 


J^ßß  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

rend  der  Aufsaugung  von  Flüssigkeiten  und  Salzen,  welche  er  in 
die  Bauchhöhle  von  Tieren  gespritzt  hatte,  weder  die  einen  noch 
die  anderen  in  der  aus  dem  Ductus  thoracicus  aufgefangenen 
Lymphe  zunahmen.  Da  sie  aber  während  der  Beobachtung  aus 
der  Bauchhöhle  verschwanden,  so  müssen  sie  durch  die  Blutkapil- 
laren aufgenommen  sein. 

Starlingi)  sah  bei  der  Resorption  von  indigschwefelsaurem 
Natron  aus  Pleura-  und  Bauchhöhle  dieses  eher  im  Harn,  als  in 
der  Lymphe  auftreten. 

Heidenhain^)  sagt  in  einer  Abhandlung,  in  welcher  er  die  Er- 
gebnisse Orlow's  gegen  Angriffe  Cohnstein's  verteidigt:  ,,Ich  bin 
also  auf  Grund  der  Versuche  von  Orlow  und  meiner  eigenen  Er- 
fahrungen nach  wie  vor  der  Überzeugung,  dass  die  wesenthchen 
Resorptionswege  der  Peritonealhöhle  in  den  Blutkapillaren  gegeben 
sind  — ,  unbeschadet  der  nach  Orlow  durchaus  nicht  bestrittenen 
Möglichkeit,  dass  die  Recklinghausen'schen  Lymphbahnen  dem 
Brustgange  unmittelbar  eine  geringe  Menge  von  Flüssigkeit  zu- 
führen." 

Hamburger^)  sah,  dass  nach  Unterbindung  des  Ductus  thora- 
cicus die  Resorption  aus  der  Bauchhöhle  ebenso  rasch  zustande 
kam,  wie  wenn  der  Lymphstrom  unbehindert  war.  ,, Hieraus  erfolgt 
schon  per  exclusionem,  dass  die  Blutgefässe,  wenn  nicht  ausschUess- 
hch,  doch  jedenfalls  grösstenteils  verantwortlich  gemacht  werden 
müssen."  Dass  es  bei  der  Gewebsresorption  sich  gerade  so  ver- 
halte, sucht  Hamburger  durch  folgenden  Versuch  zu  beweisen: 
Er  verschloss  die  Aorta  eines  Versuchstieres  unterhalb  der  Nieren - 
arterie  mit  einer  Pinzette  und  spritzte  ausserdem  Jodkalilösung  in 
das  eine  Hinterbein,  dessen  Vena  cruralis  er  herauspräpariert  und 
mit  einem  Röhrchen  versehen  hatte,  welches  den  Blutaustritt  aus 
dem  fusswärts  gelegenen  Ende  gestattete.  Er  fand  trotzdem  im 
Venenblut  des  Beines  Jodkah.  Dies  musste  durch  die  BlutkapiUaren 
resorbiert  sein,  denn  hätte  es  der  Lymphstrom  in  das  Blut  geführt, 
so  hätte  es  nicht  weiter  in  die  Blutbahn  gelangen  können,  als  bis 
zur  Unterbindungsstelle  der  Aorta. 


1)  Zitiert  nach  Orlow. 

2)  Heidenhain,  Bemerkungen  und  Versuche  betreffs  der  Resorption  in 
der  Bauchhöhle.     Pflüger's  Archiv.     62.  Bd.   S.  320. 

3)  Hamburger,  Über  die  Regelung  der  osmotischen  Spannkraft  von 
Flüssigkeiten  in  Bauch-  und  Pericardialhöhle.  Du  Bois-Reymond-His'sches 
Archiv.    Physiol.  Abt.   1895.    S.  281. 


Resorbierende  Wirkung  der  Hyperämie.  167 

Asheri)  machte  einen  ähnlichen  Versuch.  Er  unterband  die 
Aorta  abdominahs,  präparierte  Arteria  und  Vena  crurahs  frei,  durch- 
schnitt sie  und  führte  Kanülen  hinein.  In  die  Gewebe  des  Beines 
spritzte  er  Jodnatriumlösung  ein.  Liess  er  nun  durch  das  aus  dem 
Kreislauf  ausgeschaltete  Glied  einen  künstlichen  Blutstrom  gehen, 
so  fand  er  in  dem  aus  der  Vene  kommenden  Blute  Jod.  Dasselbe 
konnte  also  nur  durch  die  Kapillaren  aufgenommen  sein.  Auch  in 
mehreren  auf  andere  Weise  angestellten  Versuchen  konnte  Asher 
die  Resorption  des  Jodnatriums  durch  die  Blutkapillaren  nach- 
weisen. 

J.  Munk^)  bewies  die  Gewebsresorption  durch  die  Blutbahiien 
auf  folgende  Weise:  Er  band  den  Halslymphstamm  von  Versuchs- 
tieren, welcher  die  gesamte  Kopflymphe  abführt,  zu,  und  schnitt 
ihn  kopfwärts  von  der  Unterbindungsstelle  an,  so  dass  alle  Lymphe 
nach  aussen  geleitet  wurde.  Dann  spritzte  er  nach  und  nach  Gift 
unter  die  Kopfhaut  der  Tiere.  Es  ergab  sich  kein  wesentlicher 
Unterschied  in  bezug  auf  Eintritt  und  Ablauf  der  Vergiftung, 
einerlei,  ob  die  Lymphe  nach  aussen  abgeleitet  wurde  oder  nicht, 
was  doch  hätte  geschehen  müssen,  wenn  die  Lymphwurzeln  das 
Gift  aufgenommen  hätten.  Es  war  auch  in  der  abgeleiteten  Lymphe 
niemals  das  Gift  (Strychnin)  nachzuweisen. 

War  nach  diesen  Versuchen  kaum  ein  Zweifel  möglich,  dass 
in  der  Tat  die  Blutgefässe  fast  die  gesamte  Resorption  wasser- 
löslicher Stoffe  aus  Geweben  und  Körperhöhlen  vermitteln,  so  ist 
diese  Tatsache  neuerdings  aufs  schlagendste  bewiesen  durch  meinen 
Assistenten  Prof.  Klappt),  welcher  den  glücklichen  Gedanken  hatte, 
als  Versuchsmittel  Milchzucker  zu  wählen.  Voit*)  hat  gezeigt,  dass 
aller  Milchzucker,  welchen  man  irgendwo  subkutan  einspritzt,  bis 
auf  die  letzten  Reste  im  Harn  wieder  erscheint.  Dieser  Stoff 
ist    noch    obendrein    jederzeit    durch    den    Polarisationsapparat 


1)  Asher,  Ein  Beitrag  ziir  Resorption  durch  die  Blutgefässe.  Zeitschr.  f. 
Biologie.    29.  Bd.    S.  247.     1892. 

2)  J.  Munk,  Zur  Kenntnis  der  interstitiellen  Resorption  wasserlöslicher 
Substanzen.  Verhandlungen  der  Berliner  physiol.  Gesellschaft.  XII.  Sitzung. 
5.  April  1895.    Du  Bois-Reymond-His'sches  Archiv.     Physiol.  Abt.     1895.     S.  387. 

3)  Klapp,  Über  Bauchfellresorption.  Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten 
der  Medizin  und  Chirurgie.     10.  Bd.    1.  u.  2.  Heft. 

4)  Voit,  Untersuchungen  über  das  Verhalten  verschiedener  Zuckerarten 
im  menschlichen  Organismus  nach  s^ibkutaner  Injektion.  Deutsches  Archiv  für 
klin.  Medizin.     58.  Bd.   S.  523. 


IQQ  Allgemeine  Wii'kiingen  der  Hj'perämie. 

leicht  quantitativ  nachzuweisen.  Es  war  also  im  Milchzucker  ein 
Mittel  gegeben,  um  zum  erstenmal  quantitativ  die  Grösse  der  Aus- 
scheidung zu  bestimmen,  und  dadurch  war  den  Resorptionsver- 
suchen eine  bisher  unerreichte  Genauigkeit  verheben. 

Klapp  unterband  nun  bei  Hunden  sowohl  den  Ductus  thora- 
cicus  als  den  Ductus  lymphaticus  dexter  und  schloss  so  alle  Lymph- 
wege,  welche  den  in  die  Bauchhöhle  eingespritzten  Milchzucker  ins 
Blut  befördern  konnten,  aus.  Trotzdem  erschien  dieser  ohne  jeden 
Rest  in  derselben  Zeit  im  Harn  wieder,  wie  bei  einige  Tage  früher 
unternommenen  Kontrollversuchen  an  denselben  Tieren,  während 
ihre  Lymphwege  noch  normal  waren.  Es  war  somit  der  unanfecht- 
bare Beweis  gehefert,  dass  wasserlöshche  Stoffe  ganz  allein  durch 
die  Blutbahn  aufgesogen  werden  können.  Dass  die  Lympf bahnen 
ebenfalls  bei  der  Resorption  beteiligt  sein  können,  bestreitet  Klapp 
ebensowenig,  wie  die  obengenannten  Untersucher,  doch  müssen  sie, 
da  ihr  Ausfall  quantitativ  keine  Verzögerung  der  Resorption  mit 
sich  bringt,  nur  eine  ganz  untergeordnete  Rolle  spielen,  und  haben 
also  nicht  die  Bedeutung  für  die  Resorption  von  Wasser,  Salzen 
und  anderen  wasserlöslichen  Stoffen,  welche  v.  Recklinghauseni) 
und  Wegner2)  in  ihren  berühmten  Arbeiten  ihnen  zuschreiben. 

Ebenso  sichergestellt  aber  ist  es  durch  v.  Recklinghausen, 
dass  kleine  körperliche  Bestandteile  (Milch,  Emulsionen,  Blut, 
Kobalt,  Tusche)  durch  die  Lymphwege  des  Zwerchfells  aufgenommen 
werden.  Diese  Beobachtungen  sind  von  verschiedenen  Seiten  be- 
stätigt worden.  So  fand  Sulzer^)  Körner  von  Weizengries,  welche 
er  in  die  Bauchhöhle  eingespritzt  hatte,  in  den  Lymphgefässen  der 
Brustseite  des  Zwerchfells  und  im  Ductus  thoracicus  wieder,  und 
ist  der  Ansicht,  dass  sie  grösstenteils  unvermittelt  dorthin  ge- 
langen und  weniger  durch  Leukocyten  aufgenommen  und  ver- 
schleppt werden. 

Zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen  kam  Muscatello*).  Er  fand, 
dass  das  Zwerchfell  das  einzige  Gebiet  der  Serosa  in  der  Bauch- 


1)  V.  Recklinghausen,  Zur  Fettresorption.     Virchow's  Archiv.     26.  Bd. 
S.   172. 

2)  Wegner,   Chirurgische  Bemerkungen  über  die   Peritonealhöhle  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  Ovariotomie.      Langenbeck's  Archiv.     20.  Bd. 

3)  Sulz  er,  Über  den  D\irchtritt  corpuskulärer  Gebilde  durch  das  Zwerch- 
fell.   Virchow's  Archiv.     143.  Bd.   S.  99. 

4)  Muscatello,  Über  den  Bau  und  das  Aufsaugungsvermögen  des   Peri- 
toneum.   Virchow's  Archiv.     142.  Bd.   S.  327. 


Resorbierende  ^^'irkung  der  Hyperämie.  1G9 

höhle  ist,  welches  für  die  Aufsaugung  körniger  Stoffe  bestimmt  ist. 
Diese  Aufsaugung  geht  mit  sehr  grosser  Schnelligkeit  vor  sich.  Er 
ist  der  Ansicht,  dass  feinkörnige  Stoffe  und  manche  schmiegsame 
Körper  die  Endothelzellen  in  freiem  Zustande  durchwandern, 
während  starre  Körper  zum  grössten  Teil  von  Wanderzellen  be- 
fördert werden. 

Wir  können  also  folgenden  Satz,  als  durch  vielfache  wissen- 
schaftliche Untersuchungen  festgestellt,  aussprechen:  Die  Auf- 
saugung von  Wasser  und  wasserlöslichen  Stoffen  erfolgt  bei  der 
Magendarm  Verdauung  wie  bei  der  Resorption  aus  den  Geweben 
und  aus  Körperhöhlen  im  wesentlichen  durch  die  Blutgefässe,  die 
Aufnahme  kleinster  körperlicher  Bestandteile  dagegen  im  wesent- 
lichen durch  die  Lymphgefässe. 

Für  uns  Praktiker  ist  die  Frage  nun  von  äusserster  Wichtig- 
keit: Können  wir  diese  Resorption  künsthch  beeinflussen,  wie  ich 
oben  schon  behauptet  habe,  und  lässt  sich  diese  praktisch  erprobte 
Beeinflussung  auch  wissenschaftlich  nachweisen?  Leider  wissen 
wir,  wie  ich  früher  auseinandergesetzt  habe,  noch  so  wenig  über 
die  Beeinflussung  des  Lymphstromes,  dass  die  Frage,  ob  wir  durch 
diesen  auf  die  Aufsaugung  körperlicher  Bestandteile  fördernd  ein- 
wirken können,  für  die  wissenschaftliche  Erörterung  vollständig 
ausfällt.  Wir  bleiben  also  auf  die  Frage  beschränkt:  Wie  wirkt 
die  Beeinflussung  des  Blutstroms  auf  die  Resorption  ein? 

Auch  hierüber  gibt  es  schon  ältere  wissenschaftliche  Beobach- 
tungen. Insbesondere  hat  man  in  der  Zeit  des  Aderlasses  den 
Einfluss  der  allgemeinen  Blutfülle  auf  die  Resorption  sehr  ausführ- 
lich erörtert.  Da  dies  für  uns  nicht  in  Betracht  kommt  und  für 
die  örtliche  Beeinflussung  der  Resorption  erst  neuere  Arbeiten 
beweisend  sind,  so  wende  ich  mich  gleich  zu  diesen. 

Als  die  V.  Esmarch'sche  Blutleere  durch  ihre  grossen  Erfolge 
die  Gemüter  der  Chirurgen  beschäftigte,  erörterte  man  eifrig  die 
Vorteile  und  die  Nachteile,  welche  dies  Verfahren  biete.  In  diese 
Zeit  fällt  eine  Arbeit  Wölfler'si),  welche  die  Gefahrlosigkeit 
starker  Antiseptika  auf  Wunden,  die  unter  Blutleere  standen,  be- 
weisen sollte.  Wenn  der  Versuch  auch  zu  anderem  Zwecke  angestellt 
ist,  so  hat  er  doch  für  uns  hervorragendes  Interesse,  weil  er  eine 
Beeinflussung  der  Resorption  durch  Hyperämie  sehr  deutlich  zeigt. 


1)  Wölfler,  Über  den  Einfluss  der  Esmarch'schen  Blutleere  auf  die  Re- 
sorption flüssiger  Stoffe.     Langenbeck's  Archiv.     27.  Band. 


270  Allgemeine  Wirk\ingen   der  Hyperämie. 

Wölf  1er  legte  Hunden  am  Sprunggelenke  eine  Wunde  an,  träufelte 
darauf  3  g  einer  wässrigen  Lösung  von  Ferrocyankalium  und  wies 
nach,  dass  in  der  Regel  erst  in  30  Minuten  das  Mittel  im  Harn 
nachzuweisen  war.  Machte  er  dagegen  das  Glied  blutleer  und 
träufelte  auf  eine  gleich  grosse  Wunde  die  vierfache  Menge  des 
Farbstoffes,  so  trat  während  des  Bestehens  der  Blutleere  keinerlei 
Reaktion  im  Harn  auf,  wurde  aber  die  Blutleere  gelöst,  so  fand 
sich  die  Reaktion  schon  binnen  10  Minuten.  Hieraus  folgerte 
Wölf  1er,  ausser  anderen  Schlüssen,  die  er  aus  diesen  Versuchen 
zog,  dass  die  Aufnahme  des  Farbstoffes  in  den  Kreislauf  nach 
Abnahme  des  blutleer  machenden  Schlauches  viel  schneller  ge- 
schehe, als  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen. 

Den  Einwand,  dass  während  der  Blutleere  die  Farbstofflösung 
sich  unterhalb  des  Schlauches  in  dem  aus  den  Kreislauf  ausgeschal- 
teten Gliede  durch  Diffusion  und  Osmose  vorher  verbreitet  haben 
könnte,  und  deshalb  nach  Freigabe  des  Blutstromes  schneller  in 
den  Kreislauf  gelangt  sei,  suchte  Wölf  1er  durch  folgende  Versuchs- 
anordnung zu  begegnen:  Er  legte  den  abschnürenden  Schlauch 
in  der  Leistengegend  an  und  träufelte  auf  die  Wunde  am  Sprung- 
gelenke wieder  die  Farbstoff lösung  auf.  Nach  35  Minuten  legte 
er  einen  zweiten  Schlauch  2  Finger  breit  oberhalb  der  Wunde  an 
und  entfernte  den  ersten.  Trotzdem  trat  keine  Reaktion  in  der 
gewöhnhchen  Zeit  im  Harn  auf.  Als  er  aber  auch  den  zweiten 
Schlauch  abnahm,  erschien  6  Minuten  später  das  Mittel  im  Harn. 
Wölf  1er  schliesst  daraus,  dass  unter  dem  abschnürenden  Schlauche 
keine  Imbibition  des  aus  dem  Kreislauf  ausgeschalteten  Gliedes 
mit  Farbstoff  stattfinde.  Versuche  mit  Strychnin  führten  zu  dem- 
selben Ergebnis, 

Bekanntlich  tritt  nun  nach  der  künstlichen  Blutleere  eine 
gewaltige  arterielle  (die  sogenannte  reaktive)  Hyperämie  auf.  Und 
wir  hätten  hier  ein  Beispiel  dafür,  dass  die  arterielle  Hjrperämie 
die  Resorption  eines  wasserlösHchen  Stoffes  ungeheuer  beschleunigt. 
Derselbe  trat  schon  nach  6 — 10  Minuten  im  Harn  auf,  während  das 
lanter  gewöhnlichen  Verhältnissen  30  Minuten  dauerte. 

Mit  Recht  macht  Klapp  i)  gegen  die  Beweiskraft  dieser  Ver- 
suche mehrere  Einwände.  Er  meint,  dass  es  allen  unseren  Erfah- 
rungen über  Diffusion,  Osmose  und  Imbibition  widerspräche,  anzu- 


1)  Klapp,    Über    parenchymatöse    Resorption.      Archiv    f.    experimentelle 
Pathologie  und   Pharmakologie.     47.  Bd.   S.  86. 


Resorbierende  Wirkung  der  Hj'perämie.  171 

nehmen,  dass  die  aufgeträufelte  Flüssigkeit  nicht  auch  ohne  den 
Blutstrom  das  Gewebe  in  der  Umgebung  der  Wunde  durchtränkt 
habe,  und  führt  Tatsachen  an,  die  beweisen,  dass  auch  nach  Unter- 
brechung des  Blutstromes  gelöste  Massen  sich  in  den  Geweben 
verbreiten.  Wenn  Wolf  1er  den  zweiten  Schlauch  zwei  Finger 
breit  oberhalb  der  Wunde  anlegte  und  nachher  keine  Reaktion 
im  Harne  fand,  so  sei  das  noch  kein  Beweis,  dass  nicht  doch  die 
unmittelbare  Umgebung  der  Wunde  in  ausgiebiger  Weise  mit  dem 
Farbstoff  durchtränkt  gewesen  sei.  Ferner  macht  Klapp  darauf 
aufmerksam,  dass  alle  Resorptionsversuche  mit  Farbstoff lösungen 
und  Giften  durchaus  unsicher  sind,  weil  man  sie  nur  qualitativ 
an  Vergiftungserscheinungen  und  Reaktionen,  niemals  aber  genau 
quantitativ  nachweisen  kann.  Diese  Überlegung  bewog  ihn 
eben  zu  der  obenerwähnten  Einführung  des  Milchzuckers  zum 
Zwecke  von  Resorptionsversuchen,  da  sich  dieser  in  allen  Zeit- 
räumen des  Versuchs  mit  grosser  Leichtigkeit  quantitativ  nach- 
weisen lässt.  Dieses  Verfahren  ist  denn  auch  offenbar  allen  anderen 
so  sehr  überlegen,  dass  ich  die  Ausführungen  Klapp's  über  Beein- 
fluEsung  der  Resorption  durch  Hyperämiemittel  an  die  erste  Stelle 
setzen  will. 

Klapp  wies  zunächst  nach,  dass  die  aktive  Hyperämie  eine 
sehr  starke  Beschleunigung  der  Resorption  verursacht.  Er  spritzte 
Hunden  am  Hinterbein  Milchzucker  subkutan  ein  und  brachte 
dann  das  Glied  für  die  Dauer  von  20  Minuten  bis  zwei  Stunden 
in  einen  der  oben  beschriebenen  Heissluftkästen.  Er  fand,  dass 
unter  18  Versuchen  in  zwei  Fällen  nur  geringe,  kaum  zu  rechnende 
Unterschiede  auftraten.  In  den  übrigen  Fällen  aber  fand  sich 
eine  sehr  starke  Beschleunigung  der  Resorption  um  das  Doppelte 
bis  Mehrfache.  Bei  Versuchen,  welche  Klapp  an  sich  selbst  und 
an  Studenten  ausführte,  machte  er  die  Erfahrung,  dass  hier  die 
heisse  Luft  zwar  auch  regelmässig  eine  Vermehrung  der  Resorption, 
aber  in  viel  geringerem  Grade  als  beim  Hunde  herverbrachte. 

In  seiner  zweiten  Arbeit  i)  zeigte  Klapp,  dass  man  auch  die 
Resorption  in  der  Bauchhöhle  durch  heisse  Luft  im  Sinne  der 
Beschleunigung  beeinflussen  kann.  Dieselbe  war  stets  vorhanden, 
aber  lange  nicht  so  bedeutend,  als  wenn  das  Mittel  am  Bein  ein- 
gespritzt und  dieses  unter  dieselben  Bedingungen  gesetzt  wurde. 


1)   Klapp,  Über  Bauchfellresorption.     Mitteilungen  aus   den  Grenzgebieten 
der  Medizin  u.  Chirurgie.     10.  Bd.    1.  u.  2.  Heft. 


^72  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Dies  ist  leicht  verständlich,  wenn  man  bedenkt,  dass  auf  einen 
kleinen  Gliedabschnitt  die  heisse  Luft  ganz  anders  wirkt  als  auf 
den  grossen  Bauch. 

Man  könnte  gegen  die  Beweiskraft  dieser  Versuche  für  die 
Wirksamkeit  der  Hjrperämie  einwenden,  dass  sie  keineswegs 
sicher  sei,  da  die  Hitzeanwendung  doch  noch  zahlreiche  andere 
Veränderungen  ausser  der  Hyperämie  nach  sich  ziehe.  Es  liegt 
dieser  Einwand  um  so  näher,  als  man  schon  früher  den  Einfluss 
der  Wärme  und  Kälte  auf  die  Resorption  bewiesen  hat.  So  be- 
obachtete Sassetzkyi),  dass  gewisse  Arzneien  (Pilokarpin,  Mor- 
phium, Jodkali,  gelbes  Blutlaugensalz)  vom  menschlichen  Körper 
schneller  resorbiert  wurden,  wenn  er  die  Temperatur  der  Hautstelle, 
an  welcher  er  die  Mittel  einspritzte,  vorher  auf  39°  brachte,  oder 
wenn  er  die  Lösungen  erwärmte,  dagegen  langsamer,  wenn  er  nach 
einigen  Tagen  durch  Kältemittel  dieselbe  Hautstelle  auf  12°  ab- 
kühlte. Im  letzteren  Falle  erschienen  die  Stoffe  3 — 4  Minuten 
später  im  Urin,  als  im  ersten. 

V.  Kossa^)  machte,  sich  auf  frühere  Beobachtungen  Luch- 
singer's  und  Claude  Bernard's  stützend,  folgende  Versuche: 
Er  spritzte  Kaninchen  in  die  Ohrmuschel,  welche  er  mit  Kälte- 
mischungen oder  mit  kaltem  Wasser  (es  genügt  Leitungswasser 
von  +7°)  abgekühlt  erhielt,  die  schhmmsten  Gifte,  Cyankalium, 
Strychnin,  Pikrotoxin,  ein.  Alle  diese  Tiere  blieben  am  Leben  und 
gesund,  wenn  v.  Kossa  die  Ohrmuschel  1 — 1%  Stunden  abgekühlt 
erhielt,  während  die  Kontrolltiere  starben  oder  die  heftigsten  Ver- 
giftungen durchzumachen  hatten.  Er  glaubt,  dass  während  der 
Kälteeinwirkung  entweder  überhaupt  nicht,  oder  so  langsam  resor- 
biert wird,  dass  der  Stoff  allmähhch  und  ohne  Vergiftungserschei- 
nungen zu  machen  wieder  ausgeschieden  wird. 

Ebenso  konnte  Klapp  die  Ausscheidung  von  Milchzucker, 
welchen  er  in  die  Gewebe  und  die  Bauchhöhle  eingespritzt  hatte, 
ganz  erheblich  verlangsamen,  wenn  er  eine  Abkühlung  durch  Eis- 
wasser  oder  Eisbeutel  hervorrief. 

Wir  wissen  aber,  dass  Wärme  Hyperämie,  und  zwar  nach  meiner 
Auffassung  arterielle  Hyperämie,  Kälte,  Anämie,  oder  bei  längerer 


1)  Sassetzky,  Über  den  Einfluss  erhöhter  und  herabgesetzter  Tempera- 
turen auf  die  Resorption  an  der  Stelle  einer  subkutanen  Injektion.  St.  Peters- 
burger med.  Wochenschr.  1880.    Nr.  15  u.  19. 

2)  V.  Kossa,  Die  Resorption  der  Gifte  an  abgekühlten  Körperstellen. 
Archiv  f.  experimentelle  Pathologie  u.  Pharmakologie.     36.  Bd.   S.  120. 


Resorbierende  Wirkung  der  Hyperämie.  173 

Einwirkung  Stauungshyperämie  hervorbringt.  Es  lassen  sich  diese 
Versuche  also  sehr  wohl  mit  unserer  Ansicht  vereinigen,  dass  arte- 
rielle Hyperämie  die  Resorption  beschleunigt  und  Anämie  sie  ver- 
langsamt. 

Mehrere  andere  Versuchsresultate  Klapp's  bestätigen  diese 
Auffassung.  Er  fand  nämlich,  dass  breite  Eröffnung  der  Bauch- 
höhle und  kurze  Vorlagerung  der  Eingeweide  —  bis  zu  einer  Viertel- 
stunde —  die  Resorption  aus  der  Bauchhöhle  beschleunigte,  längere 
Vorlagerung  sie  verlangsamte.  Nun  wissen  wir  aus  zahlreichen 
Beobachtungen,  dass  die  Folge  eines  grösseren  Bauchschnittes  mit 
Vorlagerung  der  Eingeweide  eine  sehr  starke  Hyperämie  der  letz- 
teren ist.  Zuerst  ist  dies  eine  aktive,  später  infolge  von  Aus- 
trocknung,  Abkühlung  und  anderen  Schädigungen  eine  passive 
Hyperämie.  Die  aktive  Hyperämie  dauert  nach  Hildebrandti) 
bei  Kaninchen  ungefähr  20  Minuten,  um  dann  der  passiven  Platz  zu 
machen.  Dies  stimmt  mit  Klapp's  Befunden  aufs  beste  überein, 
und  wir  sehen  auch  hier  wieder,  dass  aktive  Hyperämie  die  Resorp- 
tion beschleunigt,  obwohl  man  ja  an  und  für  sich  durch  den  be- 
deutenden Eingriff,  welchen  ein  grosser  Bäuchschnitt  und  Vor- 
lagerung der  Eingeweide  darstellt,  zweifellos  eine  Schädigung  der 
Gewebe  der  Bauchhöhle  hervorbringt. 

Sehr  befremdend  war  mir  anfangs  der  Befund  Klapp's,  dass 
Hochlagerung  eines  Gliedes  die  Resorption  verlangsamt,  da  wir 
durch  zahlreiche  Versuche  wissen,  dass  Ödeme  durch  hohe  Lage 
verschwinden.  An  gesunden  Ghedern  aber  Hess  sich  die  Verlang- 
samung der  Resorption  des  Milchzuckers  durch  dieses  Mittel  ganz 
zweifellos  nachweisen  und  wir  werden  wohl  nicht  fehlgehen,  wenn 
wir  die  durch  die  hohe  Lage  verminderte  Blutfülle  dafür  verant- 
worthch  machen. 

Wir  sehen  also,  dass  auch  der  wissenschaftliche  Versuch  unsere 
durch  praktische  Erfahrungen  gewonnene  Ansicht,  dass  arterielle 
Hyperämie  resorbierend  wirkt,  bestätigt. 

Umgekehrt  liegt  es  bei  rein  theoretischer  Betrachtung  nahe, 
anzunehmen,  dass  eine  Stauungsbinde,  während  sie  in  Tätigkeit 
ist,  die  Resorption  herabsetzt.  Diese  Erwägungen  haben  uns  ver- 
anlasst, die  Stauungshyperämie,  wenn  sie  bei  nichtinfektiösen 
Krankheiten  zur  Beseitigung  von  rheumatischen  und  anderen  Ge- 
lenkversteifungen benutzt  wird,  mit  Massage  zu  verbinden,  in  der 

1)  Hildebrandt,  Die  Ursachen  der  Heilwirkung  der  Laparatomie  bei 
BaucMelltuberkulose.    Münchner  med.  Wochenschr.  1898. 


]^7Jt  Allgemeine  Wirkungen  der   Hyperämie. 

Absicht,  krankhafte  Stoffe,  welche  sie  erweicht  und  gelöst  hat 
(siehe  folgendes  Kapitel),  zur  Resorption  zu  bringen. 

Klapp  hat  es  unternommen,  diese  Frage  ebenfalls  durch  den 
Versuch  zu  beantworten.  Er  fand  nun,  dass  in  der  Tat,  solange 
die  Stauungsbinde  lag,  die  Resorption  sehr  erhebhch  verlangsamt 
war,  dass  sie  aber  sich  sehr  vermehrte  nach  Lösung  der  Binde. 
Und  zwar  war  die  Vermehrung  der  Resorption  nach  Abnahme  der 
Binde  so  bedeutend,  dass  der  Enderfolg  der  Stauungshyperämie 
schhesshch  eine  Beschleunigung  bedeutete.  Dabei  ist  aber  zu  be- 
denken, dass  Klapp  nach  der  Einspritzung  des  Milchzuckers  nur 
eine  Stunde  die  Stauungshyperämie  anwandte,  und  die  ganze  Aus- 
scheidung in  etwa  drei  Stunden  vollendet  war.  Wir  wenden  aber 
häufig  die  Stauungshyperämie  viel  längere  Zeit  bei  erkrankten 
Gliedern  an,  und  man  darf  wohl  annehmen,  dass  hier  das  End- 
ergebnis nicht  eine  Beschleunigung  der  Resorption  ist.  Aus  dem 
Grunde  haben  wir  eben  der  Stauungshyperämie  in  solchen  Fällen 
die  Massage  zugefügt. 

Schon  vorher  hatte  ein  früherer  Assistent  von  mir,  Ritter, 
die  resorptionsverlangsamende  Wirkung  der  Stauungsbinde  be- 
wiesen. Er  spritzte  Tuberkulösen  an  Gliedern  Tuberkulin  ein, 
welche  sich  unter  dem  Einfluss  einer  kräftigen  Stauungshyperämie 
befanden.  Es  gelang  ihm  dadurch,  nicht  in  allen,  aber  in  den 
meisten  Fällen,  die  Tuberkulinreaktion  um  ein  Beträchtliches 
hinauszuschieben . 

Ich  habe  hier  noch  einiger  teilweise  recht  alter  Versuche  zu 
gedenken,  die  die  Verlangsamung  der  Resorption  durch  Stauungs- 
hyperämie und  Anämie  beweisen. 

Die  Behandlung  vergifteter  Wunden  mit  Schröpfköpfen  ist  ein 
uraltes,  bei  den  verschiedensten  Völkern  gebräuchhches  Mittel. 
Man  dachte  damit  das  eingedrungene  Gift  aus  den  Wunden  heraus- 
zusaugen. Aber  aus  Andeutungen  Cooper'si)  geht  klar  hervor, 
dass  er  auch  die  Verhinderung  der  Resorption  des  Giftes  infolge 
der  Stauung,  welche  der  Schröpfkopf  hervorbringt,  für  sehr  wichtig 
hält.  Er  erwähnt  dies  bei  der  Besprechung  der  Versuche  Barry's, 
der  Versuchstieren  beigebrachte  Vipernbisse  erfolgreich  mit  Schröpf- 
köpfen behandelte. 

Wichtige  Untersuchungen  über  die  Beeinflussung  der  Resorp- 


1)   Cooper,   Theoretisch  praktische  Vorlesungen  über  Chirurgie.      III.  Bd. 
S.  814.    Übersetzt  von  Schütte.    Cassel  1846. 


Resorbierende  Wirkung  der  Hyperämie.  175 

tion  durch  Stauungshyperämie  und  Anämie  finden  wir  in  Braun's 
vortreff hohen  Arbeiten  über  Lokalanästhesie.  Brauni)  wies  nach, 
dass  auch  eine  kräftige  Stauungshyperämie  die  Resorption  des 
peripher  von  der  abschnürenden  Binde  eingespritzten  Cocains  ganz 
erhebhch  verlangsamt.  Vor  allem  aber  bewirkte  dies  der  Zusatz 
von  Nebennierenpräparaten  durch  die  starke  Anämie,  die  sie  er- 
zeugen. Diese  Tatsachen  sind  ja  durch  Braun's^)  Methoden  der 
Lokalanästhesie  so  allgemein  bekannt  geworden,  dass  ein  kurzer 
Hinweis  darauf  genügt. 

Klappt)  konnte  die  Richtigkeit  der  Voraussetzungen  Braun's, 
dass  Nebennierenpräparate  die  Resorption  des  Cocains  erheblich 
verzögern,  durch  exakte  Tierversuche  nachweisen. 

Überall  also  sehen  wir,  dass  vor  allem  die  Anämie  und  da- 
neben auch  die  Stauungshjrperämie  die  Resorption  stark  verlang- 
samen. Dies  erscheint  für  unsere  Zwecke  deshalb  von  Bedeutung, 
weil  wir  hoffen  können,  durch  diese  Mittel  gefährliche  Bakterien- 
gifte im  erkrankten  Körperteile  zurückzuhalten  und  so  edlere 
Teile,  z.  B.  das  Zentralnervensystem,  vor  ihnen  zu  schützen,  weil 
sie  nur  langsam  in  den  Kreislauf  eindringen  und  allmählich  aus- 
geschieden werden  können.  Allerdings  ist  ja  jede  künstliche  Anämie 
ein  vorübergehender  Zustand,  der  sogar  mit  Notwendigkeit  von 
einer  Hyperämie  gefolgt  ist,  und  auch  die  Stauungshyperämie 
wenden  wir  nicht  dauernd,  sondern  mit  Unterbrechungen  an.  Da 
liegt,  theoretisch  betrachtet,  die  Gefahr  vor,  dass  beim  Nachlassen 
jener  resorptionsbehindernden  Mittel  plötzlich  die  aufgehäuften 
Giftstoffe  in  den  Kreislauf  eintreten,  und  nun  erst  recht  eine 
schwere  Allgemeinvergiftung  hervorrufen.  Dies  wäre  der  Fall,  wenn 
die  lebendigen  Gewebe  es  nicht  verständen,  auf  bisher  noch  unauf- 
geklärte Weise  organische  Giftstoffe  zu  vernichten  und  unschädlich 
zu  machen,  wie  neuere  wichtige  Arbeiten  darzutun  scheinen. 

Czylharz  und   Donath*)  teilten  im  Jahre   1900  folgenden 


1)  Bravin,  Experimentelle  Untersuchungen  und  Erfahrungen  über  Leitungs- 
anästhesie. Archiv  für  klinische  Chirurgie.  71.  Band.  1.  Heft.  S.  10,  und:  Die 
Lokalanästhesie,  ihre  wissenschaftlichen  Grundlagen  und  praktische  Anwendung. 
Leipzig  1905.    S.  177. 

2)  Vergleiche  sein  soeben  genanntes  zusammenfassendes  Werk:  Die  Lokal- 
anästhesie usw. 

3)  Klapp,  Experimentelle  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Wirkung  der  Neben- 
nierenpräparate.   Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie.     71.  Band. 

4)  Czylharz  tind  Donath,  Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Entgif tiing. 
Centralblatt  für  innere  Medizin.     1900.    Nr.  13. 


\'J Q  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Aufsehen  erregenden  Versuch  mit,  den  sie  oft  mit  demselben  Er- 
folge wiederholten:  Sie  brachten  am  Hinterbein  eines  Meer- 
schweinchens eine  v.  Es  mar ch' sehe  künstMche  Blutleere  an  und 
spritzten  in  das  aus  der  Zirkulation  ausgeschaltete  Glied  eine 
Dosis  Strychnin,  die  bei  gleich  schweren  Kontrolltieren  in 
2 — -5  Minuten  sicher  tödlich  wirkte.  Alle  Tiere  blieben  vollständig 
gesund,  wenn  nach  1 — 4  Stunden  die  abschnürende  Binde  abge- 
nommen wurde.  Es  musste  also  das  Gift  auf  irgend  eine  Weise 
von  dem  lebendigen  Gewebe  gebunden  oder  neutralisiert  sein. 

Die  Ergebnisse  und  Schlussfolgerungen  dieser  beiden  Ärzte 
wurden  von  Meltzer  und  Langmann^)  bestritten.  Sie  konnten 
nur  bestätigen,  dass  bei  der  gleichen  Versuchsordnung  die  Re- 
sorption von  Giften,  die  in  ,, blutleere"  Glieder  eingespritzt  sind, 
nach  Lösung  der  Schnürbinde  etwas  beeinträchtigt,  aber  durchaus 
nicht  wesenthch  beeinflusst  oder  gar  aufgehoben  wird.  Meltzer 
und  Langmann  leugnen  deshalb  die  Bindung  und  Neutralisierung 
der  Gifte  durch  die  Gewebe  und  erklären  die  Beeinträchtigung 
ihrer  Resorption  durch  Verlegung  von  Blut-  und  Lymphgefässen, 
die  durch  die  Abschnürung  eintreten  soll.  Das  trifft  nun  vielleicht 
für  Schlangengift  zu,  welches  schwere  Stauungen,  Blutungen,  Trom- 
bose  und  sogar  Gangrän  des  gebissenen  Gliedes  hervorbringen 
kann,  aber  sicher  nicht  für  Gifte,  die  nicht  zu  so  heftigen  Reak- 
tionen führen.  Denn  wir  wissen,  dass  eine  1 — 4stündige  Blutleere 
zu  einer  mit  gewaltiger  Beschleunigung  des  Blutstroms  und  somit 
auch  der  Resorption  führenden  Hyperämie  der  abgeschnürt  ge- 
wesenen Glieder  führt.  Man  sollte  im  Gegenteil  erwarten,  dass 
nach  Lösung  der  Binde  die  Vergiftung  viel  schneller  und  plötz- 
licher auftreten  sollte.  Dass  dies  nicht  der  Fall  ist,  spricht  schon 
mit  grosser  Deutlichkeit  für  die  Richtigkeit  der  von  Czylharz 
und  Donath  behaupteten  Entgiftung. 

Kohlhardt^)  konnte  diese  Entgiftung  bei  Strychnin  an  den 
blutleer  gemachten  Geweben  des  Kaninchens  zwar  ebenfalls  nicht 
nachweisen,  wohl  aber  gelang  ihm  dieser  Nachweis  bei  Cocain. 
Spritzte  er  Kaninchen  absolut  tödliche  Dosen  von  Cocainum  muria- 
ticum  in  abgeschnürte  Glieder,  so  richtete  sich  die  nach  Lösung 
des    Gummischlauchs    beobachtete    Vergiftung    genau    nach    der 

1)  Meltzer  und  Langmann,  Wird  Strychnin  durch  lebendes  tierisches 
Gewebe  entgiftet.     Centralblatt  für  innere  Medizin.     1900.    Nr.  37. 

2)  Kohlhardt,  Über  Entgiftung  des  Cocains  im  Tierkörper.  Verhand- 
lungen der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie.      1901.     Band  II.      S.  644. 


Resorbierende  Wirkung  der  Hyperämie.  2 77 

Dauer  der  Abschnürung.  Hatte  der  Schlauch  länger  als  eine 
Stunde  gelegen,  so  traten  überhaupt  keine  Vergiftungserscheinungen 
mehr  auf. 

Kleine!)  konnte  die  Beobachtungen  von  Czylharz  und 
Donath  bestätigen,  erklärt  sie  aber  ganz  anders.  Er  nimmt  an, 
dass  trotz  der  Abschnürung  auf  dem  Wege  der  Resorption  oder 
der  Osmose  ganz  kleine  Mengen  des  Giftes  in  die  Blutbahn  ge- 
langen. Dass  dies  wirklich  der  Fall  ist,  bewies  er  dadurch,  dass 
er  statt  Strychnins  Ferrocyankalium  in  das  abgeschnürte  Glied 
spritzte,  und  nach  2  Stunden  in  dem  der  Blase  entnommenen  Harn 
auf  Zusatz  von  Salzsäure  und  Eisenchlorid  deutliche  Berlinerbläu- 
Reaktion  fand.  Auch  sämtliche  Gewebe  des  Oberschenkels  oberhalb 
der  Abschnürung  gaben  diese  Reaktion,  freilich  nur  schwach.  Die 
Versuche  Kleine's  sind  einwandfrei,  vorausgesetzt,  dass  die  Ab- 
schnürung wirklich  vollständig  war,  und  er  nicht  vor  der  völligen 
Abschnürung  des  Gliedes  durch  langsames  Zuschnüren  der  Binde 
eine  Stauungshjrperämie  hervorgebracht  hat.  Denn  ich  habe  den 
Beweis  geführt 2),  dass  in  solchen  Körperteilen  das  gestaute  Blut 
zum  grossen  Teil  durch  den  Knochen,  der  natürlich  nicht  abge- 
schnürt werden  kann,  zurückläuft. 

Freilich,  keinesfalls  genügt  Kleine's  Erklärung  für  die  Ver- 
suche Kohlhardt's.  Denn  die  Giftmengen,  die  die  Abschnürung 
passieren  können,  sind  nur  sehr  gering,  und  Kohlhardt  spritzte 
so  ungeheure  Mengen  von  Cocain  bei  seinen  Versuchstieren  ein, 
dass  der  Tod  oder  wenigstens  schwere  Vergiftungserscheinungen 
hätten  eintreten  müssen,  wenn  nicht  tatsächlich  die  ,, Entgiftung" 
erfolgt  wäre.  Alles  in  allem  scheint  mir  aus  diesen  Versuchen 
hervorzugehen,  dass  in  der  Tat  die  lebendigen  Gewebe  die  Vernich- 
tung eingedrungener  Gifte  durch  einen  noch  unbekannten  Lebens- 
vorgang bewirken  können.  Wir  würden  dann  auch  die  Wirksamkeit 
des  uralten  Mittels  verstehen,  Glieder  mit  vergifteten  Wunden,  in 
erster  Linie  Schlangenbissen,  abzuschnüren.  In  der  Regel  liess 
man  ja  allerdings  der  Abschnürung  das  Ausbrennen,  Ausschneiden 
oder  Aussaugen  der  Wunde  folgen,  aber  auch  der  Abschnürung 
allein  schrieb  man  —  wie  es  nach  den  erwähnten  Untersuchungen 
scheint,  mit  Recht  —  einen  wohltätigen  Einfluss  zu. 


1)  Kleine,  Über  Entgiftung  im  Tierkörper.      Zeitschrift  für  Hygiene  und 
Infektionskrankheiten.     36.  Band.     S.  1.     1901. 

2)  Bier,  Virchow's  Archiv.      153.  Band.   S.  311  und  folgende  Seiten. 
Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  12 


]^7g  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Von  grösserer  Wichtigkeit  für  unser  Thema  ist  die  Tatsache, 
dass  auch  die  Stauungsh3rperämie  hier  in  ähnhcher  Weise  wie  die 
Anämie  wirkt.  Sicherhch  spielt  bei  dieser  Behandlung  auch  die 
grössere  Verdünnung  der  Gifte  durch  das  entstehende  Ödem  eine 
Rolle.  Wissen  wir  doch  aus  der  Pharmakologie  und  aus  Schleie h's 
Untersuchungen,  dass  die  Grösse  der  Giftwirkung  im  höchsten 
Grade  abhängig  ist  von  der  Konzentration  des  Giftes. 

Den  experimentellen  Beweis  dafür,  dass  in  ödematöse  Körperteile 
eingespritzte  Gifte  in  ihrer  Wirkung  ganz  erheblich  abgeschwächt 
werden,  hat  kürzlich  Joseph^)  geliefert.  Von  7  Versuchstieren, 
denen  er  die  unbedingt  tödliche  Dosis  von  Strychnin  einspritzte, 
kamen  6  mit  dem  Leben  davon,  wenn  er  die  Einspritzung  in 
Körperteile  machte,  die  durch  eine  Stauungsbinde  stark  ödematisiert 
waren.  Dass  hier  die  einfache  Verdünnung  und  die  dementsprechend 
verlangsamte  Resorption  und  nicht  etwa  eine  spezifische  Wirkung 
des  Bluttranssudats  die  Tiere  gerettet  hatte,  geht  daraus  hervor, 
dass  eine  vorherige  Ödematisierung  mit  physiologischer  Kochsalz- 
lösung den  gleichen  Erfolg  hatte. 

So  erklärt  sich  auch,  wie  ich  schon  mehrfach  betont  habe,  der 
augenfällige  und  sofortige  Einfluss  der  Stauungshyperämie  auf  den 
Verlauf  des  Fiebers  bei  manchen  akuten  Infektionen.  Nach  dem 
Anlegen  der  Stauungsbinde  sahen  wir  zuweilen  die  Körpertempe- 
ratur sofort  fallen,  beim  Abnehmen  wieder  steigen.  Natürlich  be- 
einflusst  daneben  die  Stauungshyperämie  auch  den  Temperatur- 
verlauf durch  Vernichtung  der  Krankheitsursache.  Lexer^)  hält 
die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Infektionen  für  sehr  bedenklich, 
weil  sie  die  Bakterien  in  grosser  Anzahl  löse,  ihre  Endotoxine 
frei  mache  und  diese  nun  nach  Lösung  der  Binde  in  grossen 
Mengen  in  den  Kreislauf  gelangen.  Ich  werde  auf  diesen  und 
andere  Einwände  Lexer's  später  zurückkommen. 

Wir  verstehen  jetzt  ferner,  was  die  Natur  bezweckt,  wenn  sie 
in  Gliedern,  die  von  Schlangen  gebissen  sind,  sofort  die  grossartigste 
Blutstockung  eintreten  lässt,  die  sich  bis  zum  Brande  steigern  kann. 
Sie  will  verhüten,  dass  das  Gift  in  den  Kreislauf  dringt  und  tödlich 
wirkt,  und  sie  scheut  sich  nicht,  diesem  Zwecke  nötigenfalls  das 
GHed  zu  opfern,  um  das  Leben  zu  erhalten. 

1 )  Joseph,  Einige  Wirkiingen  des  natürlichen  Odems  und  der  künstlichen  Öde- 
matisierung.   Ein  Beitrag  zur  Stauungstherapie.   Münchner  med.  W.    1905.  Nr.  40. 

2)  Lexer,  Die  Behandlung  akuter  Entzündungen  mittels  Stauungshyper- 
ämie.     Münchner  med.  Wochenschrift.      1906.      Nr.  14. 


Resorbierende  Wirkung  der  Hyperämie.  J^79 

Ich  habe  mehrmals  darauf  hingewiesen,  dass  die  Resorption 
von  Wasser  und  wasserlöshchen  Stoffen  normalerweise  fast  gänz- 
lich durch  das  Blut  erfolge,  dass  damit  aber  nicht  ausgeschlossen 
sei,  dass  der  Lymphstrom  dies  ebenfalls  besorgen  könne.  Das 
letztere  scheint  mir  z.  B.  der  Fall  zu  sein  bei  der  Volkmann'- 
schen  Behandlung  der  chronischen  Gelenkergüsse  mit  starken 
Druckverbänden.  Volkmann  selbst  beschreibt,  dass  die  Binden 
mit  grosser  Kraft  über  das  geschwollene  Gelenk  angezogen  wurden, 
so  dass  der  fusswärts  gelegene  Teil  der  Glieder  blau  und  ödematös 
wurde.  Das  Verfahren  ist  deshalb  so  schmerzhaft,  dass  der  Kranke 
die  erste  und  häufig  auch  die  zweite  Nacht  in  der  Regel  nicht 
schläft.  Da  durch  einen  so  starken  Druck  die  ganze  Gegend  des 
kranken  Gelenks,  soweit  die  Binde  sitzt,  zweifellos  anämisiert 
wird,  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  der  Erguss  hier  in  die  Lymph- 
spalten des  Gelenks  hineingedrückt  wird  und  die  Lymphwege  ihn 
abführen. 

Umgekehrt  scheint  es,  dass  die  Lymphwege  durch  die  Blut- 
bahnen  in  der  Aufsaugung  und  Fortschaffung  der  ausgeschiedenen 
Lymphe  vertreten  werden  können.  Denn  wir  Chirurgen  zerstören 
häufig  in  der  ausgiebigsten  Weise  bei  der  Ausräumung  erkrankter 
Achsel-  und  Schenkeldrüsen  die  grossen  abführenden  Lymphstämme, 
da  wir  die  ganze  Gegend  meist  bis  auf  die  grossen  Blutgefässe 
und  Nerven  von  ihren  Drüsen  und  Bindegewebe  befreien.  Nach 
dieser  eingreifenden  Operation  sieht  man  nur  verhältnismässig 
selten  Lymphstauung,  und  wir  müssen  wohl  annehmen,  dass  die 
ausgeschiedene  Lymphe  hier  von  den  Blutgefässen  wieder  aufge- 
nommen wird,  bis  sich  genügende  Lymphkollateralbahnen  gebildet 
haben.  Ist  das  letztere  dagegen  nicht  der  Fall,  so  scheint  es,  dass 
die  Blutgefässe  nicht  auf  die  Dauer  die  Fortschaffung  der  ausge- 
schiedenen Lymphe  besorgen  können,  denn  es  sind  zahlreiche  Fälle 
bekannt,  wo  es  nach  den  genannten  Operationen  zu  dauerndem 
Ödem  und  infolge  davon  zu  Elephantiasis  kam. 


Auflösende  Wirkung  der  Hyperämie. 

Nun  haben  wir  es  bei  den  Krankheiten,  gegen  welche  wir  er- 
fahrungsgemäss  hyperämisierende  Mittel  mit  Erfolg  anwenden, 
nicht  immer  mit  wässrigen  oder  mit  wasserlöslichen,  sondern  oft 

12* 


ISO  AUgeixieine  Wirktuigen  der  Hyperämie. 

auch  mit  festen  Stoffen  zu  tun,  welche  schhesshch  der  Resorption 
verfallen  müssen,  wenn  anders  sie  beseitigt  werden  sollen.  Dies 
ist  zum  Beispiel  der  Fall  bei  Blutgerinnseln,  Gelenkversteifungen 
und  Gelenk  Wucherungen.  Sollen  diese  resorbiert  werden,  so  müssen 
sie  vorher  gelöst  sein,  und  dass  dies  die  Hyperämie  besorgen  kann, 
darüber  besteht  gar  kein  Zweifel.  Denn  unter  ihrem  Einfluss 
sehen  wir  Gelenkwucherungen  und  Sehnenknoten  zuweilen  in  ver- 
hältnismässig kurzer  Zeit  verschwinden.  Ich  konnte  das  unter 
anderem  auf  das  schönste  beobachten  bei  einem  Herrn,  welcher 
durch  einen  vor  längerer  Zeit  überstandenen  gonorrhoischen  Rheu- 
matismus der  verschiedensten  Gelenke  und  Sehnenscheiden  in 
einen  trostlosen  Zustand  gekommen  war.  Er  war  sehr  lange 
ohne  jeden  Erfolg  nicht  nur  mit  allen  möglichen  milden  Mitteln 
(Massage,  Wasser,  Jodeinpinselungen),  sondern  auch  mit  den 
quälendsten  eingreifenden  Massnahmen  (medikomechanischen  Ma- 
schinen, brisement  force  mit  und  ohne  Narkose)  ohne  jeden  Er- 
folg, aber  niemals  mit  stärker  hyperämisierenden  Mitteln  behan- 
delt. Da  an  den  Strecksehnen  seiner  Finger  dicke,  leicht  fühl- 
und  sichtbare  Knoten  zurückgeblieben  waren,  so  boten  diese  eine 
ausgezeichnete  Gelegenheit,  sich  von  der  auflösenden  Wirkung  der 
Hyperämie  zu  überzeugen.  Um  beide  Arten  derselben  zu  studie- 
ren, wandte  ich  zuerst  auf  der  einen  Seite  Stauungshyperämie,  dann 
auf  der  anderen  heisse  Luft  an.  Bei  beiden  Formen  der  Hyper- 
ämie konnte  ich  die  Knoten  unter  meinen  Augen  schrumpfen  und 
verschwinden  sehen.  In  ähnlicher  Weise  sah  ich  vor  Jahren  einen 
sieht-  und  fühlbaren  Gelenkknoten  unter  dem  Einflüsse  eines  Saug- 
apparates verschwinden.  Am  augenfälhgsten  war  die  Wirkung 
der  Hyperämie  bei  den  ersten  Anwendungen;  später  ging  die  Auf- 
lösung langsamer  vorwärts.  Neuerdings  beobachtete  ich  einen  wei- 
teren Fall  von  Auflösung  eines  Sehnenknotens,  der  zu  schnellen- 
dem Finger  geführt  hatte.  Der  Träger  desselben,  ein  älterer  Herr, 
konsultierte  mich  wegen  desselben.  Ich  schlug  ihm  die  operative 
Entfernung  des  deutlich  fühlbaren  Knotens  vor  und  riet  ihm  ab, 
einen  Heissluftapparat,  dessen  Verordnung  er  von  mir  gewünscht 
hatte,  zu  gebrauchen.  Er  schaffte  sich  aber  trotzdem  auf  eigene 
Faust  den  Apparat  an  und  benutzte  ihn  täglich  1  Stunde.  Nach 
einigen  Wochen  stellte  er  sich  mir  vor,  mit  der  Angabe,  dass  das 
Schnellen  des  Fingers  unter  dieser  Behandlung  bald  aufgehört 
habe  und  der  Knoten  allmähhch  verschwunden  sei.  Ich  musste  die 
Richtigkeit  dieser  Beobachtung  bestätigen. 


Auflösende  Wirkung  der  Hyperämie.  ]^3]^ 

Ein  mir  bekannter  Kollege,  Dr.  Thomas  aus  Cöln,  erzählte  mir, 
dass  er  Keloide  unter  Stauungshyperämie  habe  verschwinden  sehen. 
Ich  selbst  konnte  Thomas'  Beobachtungen,  wie  ich  später  noch 
schildern  werde,  bestätigen. 

An  der  Tatsache  der  Auflösung  krankhafter  fester  Stoffe  durch 
hyperämisierende  Mittel  besteht  nach  diesen  Beobachtungen  nicht 
der  geringste  Zweifel.  Ich  erinnere  daran,  dass  man  von  alters  her 
die  sogenannten  hautreizenden  und  ,, ableitenden",  oder,  wie  wir 
behaupten,  ebenfalls  hyperämisierenden  Mittel  für  diesen  Zweck 
der  Lösung  gebraucht  hat.  Man  hat  sie  deshalb  sehr  treffend 
auch  mit  dem  Namen  der  erweichenden  und  zerteilenden  Mittel 
belegt. 

Es  ist  unbestritten,  dass  Entzündungen,  und  zwar  vor  allem 
eitrige  Entzündungen,  gewebslösende  und  einschmelzende  Wirkung 
haben.  Man  hat  diesen  merkwürdigen  Vorgang  wegen  seiner  Ähn- 
üchkeit  mit  der  Verdauung  Autodigestion,  später  Autolyse  genannt 
und  lässt  sie  durch  eine  Fermentwirkung  entstehen,  die  man  vor  allen 
Dingen  den  Leukocyten  zuschreibt.  Die  oben  beschriebenen  gleich- 
artigen Wirkungen  der  reinen  Hyperämie  sprechen  aber  mit  gros- 
ser Deutlichkeit  dafür,  dass  die  blosse  entzündliche  H3rperämie 
hier  ebenfalls  eine  Rolle  spielt. 

Dies  scheint  mir  auch  folgende  Erfahrung  zu  bestätigen:  Es 
wird  wohl  niemandem  einfallen,  die  Erweiterung  der  Harnröhren - 
Verengerungen  durch  Bougies  der  rein  mechanischen  Wirkung 
derselben  zuzusprechen.  Man  gibt  allgemein  zu,  dass  die  durch 
den  Eingriff  geschaffene  entzündliche  Reizung  der  Narbe  diese  er- 
weicht und  nachgiebig  macht,  und  unseren  herrschenden  Anschau- 
ungen folgend,  wird  man  dies  wieder  allein  die  Eiterkörperchen 
besorgen  lassen.  Demgegenüber  weise  ich  auf  die  Tatsache  hin, 
dass  Narben  der  Scheide,  die  so  schlimm  sind,  dass  sie  unver- 
ändert ein  Geburtshindernis  sein  würden,  in  der  Schwangerschaft 
so  erweichen,  dass  sie  dehnbar  werden  und  die  Geburt  ohne  Schwie- 
rigkeit verlaufen  kann.  Hier  ist  aber  von  Eiterung  keine  Rede,  es 
kann  nur  die  mächtige  Hyperämie,  welche  in  allen  Teilen  des  Ge- 
schlechtsapparates während  der  Schwangerschaft  herrscht,  die 
Lösung  hervorgebracht  haben. 

Dass  auch  andere  Blutbestandteile  als  Leukocyten  und  ihre 
Zerfallsprodukte  lösend  und  einschmelzend  wirken,  beweist  eine  Er- 
fahrung der  inneren  Medizin,  Bei  schwerem  Hydrops  nach  Nieren- 
und  Herzkrankheiten  lässt  man  nach  Versagen  der  inneren  Mittel 


232  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

das  Ödem  aus  kleinen  Wunden  am  Unterschenkel  ab.  Tagelang 
fliesst  aus  ihnen  die  alkalische  Flüssigkeit  und  maceriert  und  löst 
die  Haut  auf,  wenn  diese  nicht  sorgfältig  durch  Salben  und  Pasten 
geschützt  wurde.  Und  doch  handelt  es  sich  nur  um  ein  dünnes 
Bluttranssudat,  von  einem  entzündhchen  Produkte  ist  hier  keine 
Rede. 

Auch  Billrothi)  schreibt  in  seiner  Abhandlung  über  Entzün- 
dung die  lösende  Wirkung  derselben  hauptsächlich  den  eingewan- 
derten Leukocyten  zu.  Er  sagt:  „Jeder  Arzt  weiss,  dass  das  ent- 
zündlich infiltrierte,  ziemlich  feste  Bindegewebe  beim  Eiterungs- 
prozess  vollständig  verschwinden  und  aufgelöst  werden  kann ;  es  ist 
ferner  bekannt,  dass  sogar  Knorpel  und  Knochen  bei  der  Entzün- 
dung in  lösliche  Substanzen  umgewandelt  werden,  und  dass  nur 
Sehnen,  Nägel  und  Haare  diesem  Auflösungsprozess  mit  grosser 
Kraft  zu  widerstehen  pflegen,  und  erstere  meist  in  Form  von  nekro- 
tischen Fetzen  bei  der  Eiterung  ausgestossen  werden."  Er  weist 
dann  an  Präparaten  von  entzündeten  Vorhäuten  nach,  wie  das 
entzündliche  Ödem  und  eingewanderte  Zellen  das  Bindegewebe 
vollständig  zur  Auflösung  bringen.  Er  schreibt  diese  Wirkung 
besonders  den  letzteren  zu,  denn  er  sagt:  ,,Es  scheint  aus  den  an- 
geführten Beobachtungen  hervorzugehen,  dass  eine  der  Wirkungen 
der  lebendigen  Zellen  darin  beruht,  dass  sie  unter  gewissen  Ver- 
hältnissen die  Bindegewebsfaser  und  auch  die  Fibrinfaser  in  einen 
weichen,  halb  gallertartigen  Zustand  zu  metamorphosieren  im- 
stande sind." 

Wir  sahen  an  unseren  einwandfreien,  oben  angeführten  Beob- 
achtungen, dass  eine  Lösung  bindegewebiger  Teile  allein  durch  die 
Hyperämie  möghch  ist.  Wir  werden  deshalb  auch  nicht  umhin 
können,  die  Ansicht,  dass  nur  der  Eiterungsprozess  bei  der  Ent- 
zündung die  Auflösung  bewerkstellige,  als  einseitig  hinzustellen, 
und  werden  auch  der  die  Entzündung  einleitenden  und  sie  während 
ihrer  ganzen  Dauer  begleitenden  Hyperämie  in  dieser  Beziehung 
eine  wichtige  Rolle  bei  der  Auflösung  zuschreiben  müssen.  Ich 
will  damit  keineswegs  die  durch  zahlreiche  Beobachtungen  fest- 
gestellte lösende  und  einschmelzende  Wirkung  der  Eiterung  be- 
zweifeln. 

Diese  hat  man  nun  seit  langem  einer  verdauenden  Eigenschaft 
der    Eiterkörperchen    zugeschrieben;    sie    sollen    sogenannte    ver- 

1)  Billroth,  Mancherlei  über  die  morphologischen  Vorgänge  bei  der  Ent- 
zündung.   Medizinische  Jahrbücher.     18.  Bd.   S.  18.     1869. 


Auflösende  Wirkung  der  Hyperämie.  183 

dauende  Enzyme  ausscheiden,  welche  die  Einschmelzung  bewerk- 
steUigen.  Vor  allem  hat  Leberi)  durch  seine  schönen  und  über- 
zeugenden Untersuchungen  dieser  Anschauung  zum  Siege  verhelfen. 
Auch  aus  den  sehr  zahlreichen  anderen  Untersuchungen,  die  wir 
als  zu  weit  führend  hier  übergehen  müssen,  ist  die  verdauende  und 
lösende  Wirkung  der  Leukocyten  auf  das  schlagendste  bewiesen. 

Neuerdings  hat  nun  Büchner^)  allen  Zellen  des  Körpers 
neben  aufbauenden  (assimilierenden)  abbauende  (desassimilierende) 
Stoffe  zugeschrieben.  Diese  letzteren  sollen  von  den  Zellen  als 
lösende  und  verdauende  Säfte  (Enzyme)  an  das  Blutserum  ab- 
gegeben werden,  und  dieses  soll  dadurch  dieselbe  Wirkung  erhalten, 
während  die  aufbauenden  Stoffe  an  die  Zellen  gebunden  bleiben 
sollen.  Diese  verdauenden  Säfte  lösen  nach  Buchner  alles  Fremd- 
artige, was  in  den  Körper  hineingelangt  ist,  und  zwar  nicht  nur 
organische  Fremdkörper,  Katgutfäden,  abgestorbene  Gewebsbe- 
standteile,  sondern  auch  die  Bakterien.  Er  hält  deshalb  zwar  an 
seiner  Ansicht  von  der  bakterientötenden  Eigenschaft  des  Blut- 
serums, dessen  wirksame  Bestandteile  vor  allem  aus  den  Leukocyten 
stammen,  fest,  glaubt  aber  nicht  mehr^  dass  dies  eine  spezifische 
Tätigkeit  sei,  sondern  dass  die  allgemein  das  Fremdartige  auflösende 
Wirkung  des  Blutserums  auch  die  Bakterien  mit  umfasse  und  so 
ihre  Vernichtung  herbeiführe. 

Buchner  vertritt  hier  Anschauungen,  welche  in  einer  aller- 
dings grösseren  Beschränktheit  schon  vor  langer  Zeit  Landois^) 
ausgesprochen  hat.  Derselbe  wies  zuerst  darauf  hin,  dass  jede 
Art  ihr  eigenes  Blut  hat  und  dies  von  fremden  Bestandteilen  unter 
allen  Umständen  rein  zu  erhalten  sucht.  Deshalb  wird  jede  fremde 
Blutart,  welche  man  einem  Tier  oder  Menschen  einverleibt,  sofort 
von  dem  Blute  des  Empfängers  vernichtet.  Und  zwar  wies  Lan- 
dois  überzeugend  nach,  dass  das  Blutserum  eines  jeden  Tieres 
die  Blutkörperchen  aller  andern  Tierarten  zur  Auflösung  bringt. 
Die  neuere  bakteriologische  Forschung,  welche  diese  Untersuchungen 
merkwürdigerweise  fast  gänzlich  mit  Stillschweigen  übergeht,  hat 
ja  Landois'  Beobachtungen  aufs  vollkommenste  bestätigt  und 
nach  einer  vollständig  neuen  Richtung  hin  weiter  ausgebaut. 

1)  Leber,  Die  Entstehung  der  Entzündung.     Leipzig  1891. 

2)  Buchner,  Natürliche  Schutzeinrichtungen  des  Organismus  und  deren 
Beeinflussung  zum  Zweck  der  Abwehr  von  Infektionsprozessen.  Münchner 
med.  Wochenschr.  1899.    Nr.  39  u.  40. 

3)  Landois,  Die  Transfusion  des  Blutes.     Leipzig  1875. 


\g^  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Zu  den  lösenden  Eigenschaften  des  Blutes  müssen  wir  wohl 
auch  in  erster  Linie  die  Besserungen  der  Gelenkversteifungen 
rechnen,  welche  nach  jeder  Einwirkung  der  Hyperämie,  der  aktiven 
sowohl  wie  der  passiven,  auftreten.  Allerdings  ist  hier  noch  vieles 
andere  in  Betracht  zu  ziehen.  Wahrscheinhch  werden  binde  webige 
Verwachsungen  infolge  von  seröser  Durchtränkung  und  Quellung 
weicher,  geschmeidiger  und  dehnbarer  gemacht.  Ferner  habe  ich 
früher  schon  melirfach  darauf  hingewiesen,  dass  ein  grosser  Anteil 
in  der  Beseitigung  von  Versteifungen  zweifellos  der  Schmerz- 
hnderung  durch  die  Hyperämie  zuzuschreiben  ist.  Denn  sonst 
wäre  es  gar  nicht  verständhch,  dass  ein  Mensch  sein  chronisch 
rheumatisch  erkranktes  Gelenk,  welches  vorher  ganz  steif  war, 
nach  einem  einstündigen  Aufenthalt  im  Heissluftkasten,  und  ein 
Tripperkranker  sein  rasend  schmerzhaftes  und  völlig  unbeweg- 
liches entzündetes  Gelenk  nach  einer  halb-  bis  einstündigen 
Stauungshyperämie  bewegen  kann. 

Sudecki)  hat  die  günstige  Wirkung  der  Stauungshyperämie 
bei  traumatisch  versteiften  Gelenken  in  erster  Linie  dadurch  zu 
erklären  gesucht,  dass  diese  die  von  ihm  dabei  nachgewiesene 
Knochenatrophie  durch  bessere  Ernährung  beseitige  (das  Genauere 
siehe  später).  Es  ist  immerhin  möghch,  wenn  auch  unbewiesen, 
dass  dies  eine  Rolle  mitspielt,  aber  wir  kommen  um  die  auflösende 
Wirkung  des  Blutes  nicht  herum,  das  beweist  das  oben  beschrie- 
bene, von  uns  direkt  beobachtete  Verschwinden  von  Sehnen-  und 
Gelenkknoten  unwiderleghch. 

Man  darf  eben  nie  vergessen,  dass  wir  unter  dem  Namen 
Hyperämie  eine  grosse  Reihe  von  chemischen  und  physikalischen 
Vorgängen  zusammenfassen,  und  je  mehr  Erfahrung  ich  auf  diesem 
Gebiete  bekomme,  um  so  mehr  wende  ich  mich  von  einseitigen  An- 
schauungen ab,  wie  sie  hier  von  Sudeck  und  in  anderer  Beziehung, 
wie  ich  schon  ausführte,  von  Bakteriologen  vertreten  werden. 

Ich  kann  mich  überhaupt  mit  dem  heute  in  der  Pathologie 
vielfach  herrschenden  Schematismus,  der  stets  nur  einer  einzigen 
der  vielen  Eigenschaften  oder  Stoffe  eines  Lebensvorganges  die 
alleinige  Wirksamkeit  zuspricht,  nicht  befreunden.  Denn  sehen  wir 
uns  einmal  die  physiologischen  Vorgänge  im  Körper  an,  so  be- 


1)  Sudeck,  Über  die  akute  (reflektorische)  KJnochenatrophie  nach  Ent- 
zündungen und  Verletzungen  an  den  Extremitäten  und  ihre  klinischen  Er- 
scheinimgen.    Fortschritte  auf  dem  Gebiet  der  Röntgenstrahlen.     5.  Bd. 


Auflösende  Wirkung  der  Hyperämie.  185 

merken  wir,  dass  sie  sämtlich  eine  Vielheit  von  Zwecken  haben, 
die  auf  einen  Endzweck  hinauslaufen.  Dafür  kann  man  sehr  zahl- 
reiche Beispiele  anführen;  ich  will,  da  wir  uns  hier  gerade  mit  der 
Wirkung  der  Hyperämie  beschäftigen,  zwei  Formen  der  physio- 
logischen Hyperämie  als  Beispiel  wählen,  obwohl  man  auf  anderen 
Gebieten  noch  viel  schlagendere  Beweise  vorbringen  könnte. 

Wenn  wir  einen  Körperteil  einer  sehr  heissen  Luft  aussetzen, 
so  entsteht  eine  starke  Hyperämie  desselben,  und  wenn  er  gross 
ist,  auch  anderer  Körperteile.  Diese  Hyperämie  dient  mehreren 
Zwecken.  Sie  muss  den  Stoff  für  die  Schweissabsonderung  ab- 
geben, sie  muss  dadurch,  dass  ein  starker  und  schnellfliessender 
Blutstrom  den  gefährdeten  Teil  durchströmt,  ihn  als  Kühlstrom 
abkühlen  und  schhessHch  auch  den  ganzen  Körper,  da  das  Blut 
in  die  peripheren  Teile  geleitet  wird  und  dort  die  aufgenommene 
Wärme  nach  aussen  abgibt.  Die  Hyperämie  erfüllt  also  mindestens 
drei  verschiedene  Zwecke:  sie  nahm  an  der  einen  Stelle  Wärme 
auf,  an  der  andern  gab  sie  sie  ab  und  sie  ermöghchte  die  starke 
Schweissabsonderung,  aber  diese  Zwecke  dienten  sämthch  dem 
einen  Endzweck,  den  Körper  vor  einer  Schädlichkeit,  der  örthchen 
und  allgemeinen  Überhitzung,  zu  bewahren. 

Nach  reichlicher  Nahrungszufuhr  ermöglicht  die  starke  Hyper- 
ämie die  Ausscheidung  von  Wasser  in  den  Magendarmkanal,  die 
Absonderung  sehr  verschiedener  Verdauungssäfte  und  schHesslich 
die  Resorption.  Und  alle  diese  verschiedenen  Vorgänge  haben 
wieder  nur  einen  gemeinschafthchen  Zweck,  die  Assimilation  der 
Nahrung. 

Nichts  kann  besser  die  ganz  verschiedene  Wirkung  der  künst- 
hchen  Hyperämie  auf  Krankheiten,  je  nach  der  zu  bekämpfenden 
Ursache  beweisen,  als  folgende  Überlegung:  Eine  der  anerkann- 
testen Wirkungen  der  Stauungshyperämie  ist  die  Knochenneubil- 
dung. Man  benutzt  sie  ja  deshalb,  um  Knochenbrüche,  die  nicht 
heilen  wollen,  zu  festigen.  Dieselbe  Hyperämie  aber  lässt  nicht 
etwa  stark  kariöse,  mit  grossen  von  Knorpel  entblössten  Knochen- 
geschwüren versehene  Gelenkenden  häufiger  ankylosieren,  sondern 
im  Gegenteil  erhält  das  Gelenk,  wie  mich  zahlreiche  Beobachtungen 
überzeugt  haben,  häufig  beweglich,  welches  ohne  sie  bei  der  Aus- 
heilung sicher  der  Ankylose  verfallen  wäre. 

Bei  der  Lösung  von  Versteifungen  wirken  aktive  und  passive 
Hyperämie  vollständig  gleichartig.  Das  Nähere  werde  ich  bei  den 
betreffenden  Kapiteln  im  speziellen  Teile  auseinandersetzen. 


\QQ  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Wahrscheinlich  führt  der  Lösungsvorgang  der  Hyperämie  die 
krankhaften  Wucherungen  und  Verwachsungen  versteifter  Gelenke 
und  anderer  Krankheiten  zum  grossen  Teil  in  wasserlöshche  Stoffe 
um,  die  der  Blutstrom  resorbiert.  Aber  es  ist  wohl  kaum  zu  be- 
zweifeln, dass  dabei  geformte  Gewebstrümmer  zurückbleiben,  welche 
nach  allen  unseren  Erfahrungen  auf  dem  Lymphwege  weggeführt 
werden.  Es  wäre  also  sehr  zu  wünschen,  dass  unsere  Kenntnisse 
über  die  Beeinflussung  des  Lymphstroms  durch  die  Hjrperämie 
gründlicher  wäre,  als  sie  nach  den  Ausführungen,  welche  ich  in 
dem  betreffenden  Kapitel  gegeben  habe,  sind.  Solange  wir  aber 
noch  so  wenig  über  diese  Verhältnisse  wissen,  ist  es  müssig,  Ver- 
mutungen und  Behauptungen  darüber  aufzustellen,  dass  auch  auf 
diesem  Gebiete  unsere  praktische  Erfahrung  durch  die  wissenschaft- 
liche Kenntnis  gestützt  und  erklärt  werde. 

In  neuerer  Zeit  hat  man  versucht,  auch  die  Wirkung  gewisser 
chemischer  und  physikalischer  Mittel  auf  Autolyse  zurückzuführen. 
So  glaubt  Heilei),  dass  das  in  kalte  tuberkulöse  Abszesse  einge- 
spritzte Jodoform  eine  Einwanderung  von  Leukocyten  veranlasse, 
durch  deren  Zerfall  Enzyme  frei  werden,  die  den  Abszessinhalt 
auflösen  und  resorptionsfähig  machen. 

Heineke^)  fand,  dass  eine  mehrstündige  Bestrahlung  von  Ver- 
suchstieren mit  Röntgenlicht  das  lymphoide  Gewebe  des  Körpers 
die  Follikel  der  Milz,  der  Lymphdrüsen,  des  Darmkanals  und  bei 
jungen  Tieren  auch  der  Thymus  in  der  grossartigsten  Weise  zer- 
stört. Vor  kurzem  konnte  er  dasselbe  für  die  weissen  Zellen  des 
Knochenmarks  nachweisen.  Diese  äusserst  wichtigen  Befunde  wer- 
fen ein  ganz  neues  Licht  auf  die  rätselhaften  Wirkungen  der  Rönt- 
genstrahlen auf  den  Tierkörper  und  versprechen  die  Grundlage 
weiterer  wichtiger  Untersuchungen  zu  werden.  Heile  folgert  aus 
Heineke's  Beobachtungen,  dass  auch  das  Röntgenhcht  durch  die 
Zerstörung  von  Organzellen  und  Leukocyten  Enzyme  frei  mache, 
die  zur  Einschmelzung  und  Resorption  von  normalen  und  krank- 
haften Geweben  führen. 


1)  Heile,  Über  intravitale  Beeinflussung  autoly tischer  Vorgänge  im  Kör- 
per.   Zeitschrift  für  klinische  Medizin.     55.  Band. 

2)  Heineke,  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Einwirkung  der 
Röntgenstrahlen  auf  innere  Organe.-  Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten  der 
Medizin  und  Chtnargie.  14.  Band.  I.  u.  II.  Heft.  1904,  und:  Über  die  Ein- 
wirkungen der  Röntgenstrahlen  auf  innere  Organe.  Münchner  med.  Wochen- 
schrift 1904.    Nr.  18. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  187 

Vielleicht  erklären  sich  auf  diese  Weise  die  Erfolge,  über  die 
Moseri)  bei  der  Behandlung  von  Gelenkversteifungen  mit  Röntgen - 
licht-Bestrahlung  berichtet.  Man  könnte  sich  denken,  dass  dabei 
Enzyme  frei  werden,  die  die  Wucherungen  und  bindegewebigen 
Schrumpfungen  der  versteiften  Gelenke  lösen  in  ähnlicher  Weise, 
wie  ich  das  oben  für  die  Hyperämie  geschildert  habe.  Auf  dem 
Chirurgenkongresse  im  Jahre  1905  hat  Heile 2)  weitere  Mitteilungen 
über  die  Autolyse  nach  Röntgenbestrahlung  gemacht.  Er  geht 
von  dem  Gedanken  aus,  die  in  den  Leukocyten  aufgespeicherten 
Enzyme  frei  zu  machen  und  sie  zur  Auflösung  und  Beseitigung 
pathologischer  Zustände  während  des  Lebens  auszunützen.  Lockte 
Heile  durch  leukotaktische  Mittel  Leukocyten  nach  der  Haut  an 
und  bestrahlte  diese  Stelle,  so  bekam  er  ein  Röntgengeschwür, 
das  bei  dem  Kontrolltiere  nach  gleicher  Bestrahlung  fehlte,  selbst 
wenn  er  das  Gewebe  durch  nicht  leukotaktische  Mittel  beschädigt 
hatte. 

Heile  konnte  ferner  die  künstlich  erzeugte  Peritonitis  eines 
Kaninchens  heilen,  wenn  er  die  Leukocyten  auf  das  Bauchfell  des 
Tieres  konzentrierte  und  sie  durch  Röntgenstrahlen  zum  Zerfall 
brachte,  während  Kontrolltiere  trotz  gleicher  Leukocytose  mit  der 
gleich  grossen  Infektion  an  Peritonitis  zugrunde  gingen,  da  hier 
die  Enzyme  an  die  Leukocyten  gebunden  blieben  und  nicht  auf 
die  Bakterien  einwirken  konnten. 

Auch  den  heilenden  Einfluss  der  Stauungshyperämie  erklärt 
Heile  aus  dem  Freiwerden  intracellulärer  Enzyme  und  deren  Wirk- 
samkeit auf  pathologische  Zustände.  Denn  nach  seinen  Unter- 
suchungen hat  die  Anlegung  einer  stauenden  Gummibinde  an  allen 
vier  Gliedern  einen  sehr  lebhaften  Zellzerfall  zur  Folge,  wie  er  an 
der  Vermehrung  der  Gesamtstickstoff- Ausscheidung  und  an  der 
vergrösserten  Ausfuhr  von  Harnsäure  und  Purinbasen  im  Harn 
nachweisen  konnte.  Diese  Untersuchungen  sind  sicherlich  sehr 
wichtig  und  interessant,  aber  auch  sie  greifen  aus  einem  kompli- 
zierten physiologischen  Vorgange  meiner  Ansicht  nach  nur  eine 
Teilerscheinung  heraus.      Ich  glaube  deshalb  nicht,  dass  sie  die 


1)  Moser,  Behandlung  von  Gelenkfraktioren  mit  Röntgenbestrahlung. 
Centralblatt  für  Chiriirgie  1904.  Nr.  23,  und:  Über  Behandlvmg  von  Gelenk- 
st eifigkeiten  mit  Röntgenbestrahlixng.    Naturforscher- Versammlung  1904. 

2)  Heile,  Die  Autolyse  als  Heilfaktor  in  der  Chirurgie.  Archiv  für  klin. 
Chirxirgie.    Bd.  77.  Heft.  4.     1905. 


]^gg  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Wirkung  der  Stauungshyperämie  erklären  können,  noch  viel  weniger, 
dass  sie  den  Gebrauch  der  so  einfach,  bequem  und  ungefährlich 
anzuwendenden  hyperämisierenden  Methoden  einschränken  oder 
ersetzen  werden.  Meines  Erachtens  soll  man  einen  natürlichen 
Vorgang  nach  Möghchkeit  in  allen  seinen  Einzelheiten  nach- 
ahmen . 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie. 

Bei  der  Erörterung  der  vorhergehenden  Kapitel  waren  wir  in 
der  glücklichen  Lage,  klare  Erfahrungstatsachen  zu  behandeln. 
Darüber,  dass  arterielle  und  venöse  Hyperämie  schmerzstillend, 
dass  beide  auflösend,  dass  die  arterielle  Hyperämie  resorbierend, 
die  passive  heilend  auf  Infektionskrankheiten  wirkt,  besteht  für 
mich  gar  kein  Zweifel,  denn  ich  habe  es  unzählige  Male  mit  meinen 
Augen  gesehen.  Ich  hätte  jede  dieser  Tatsachen  mit  ein  paar 
Worten  schildern  können,  sie  brauchten  nicht  näher  bewiesen  zu 
werden.  Wenn  ich  trotzdem  längere  Ausführungen  darüber  ge- 
macht habe,  so  tat  ich  das  ledighch  aus  dem  Grunde,  um  nach 
dem  Stande  unserer  heutigen  wissenschafthchen  Anschauungen 
jene  Wirkungen  zu  erklären  und  fremde  Beobachtungen  mit  ihnen 
in  Einklang  zu  bringen.  Es  hat  sich  glückhch  so  gefügt,  dass  wir 
diese  im  allgemeinen  mit  unseren  Ansichten  in  Einklang  bringen 
konnten;  jene  Tatsachen  sind  aber  so  zweifellos  feststehend,  dass 
ich,  auch  wenn  das  Gegenteil  der  Fall  gewesen  wäre,  in  vollem 
Umfange  daran  festgehalten  hätte.  Ich  sprach  mich  schon  in  der 
ersten  Auflage  dieses  Buches  mit  dieser  Entschiedenheit  aus,  ob- 
wohl meine  Beobachtungen  damals  von  anderer  Seite  wenig  oder 
gar  nicht  bestätigt  und  so  gut  wie  gänzhch  ignoriert  waren,  denn 
die  in  den  vorhergehenden  Kapiteln  von  mir  behaupteten  Eigen- 
schaften der  künsthchen  Hyperämie  sind  so  in  die  Augen  springend, 
dass  ich  ein  sehr  schlechter  Beobachter  sein  müsste,  wenn  ich  mich 
getäuscht  hätte. 

Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  bei  diesem  Kapitel,  wel- 
ches über  die  Beeinflussung  der  Ernährung  durch  Hyperämie  han- 
delt. Denn  obwohl  diese  Frage  von  allen,  die  bei  der  Erörterung 
der  Hyperämiewirkung  in  Betracht  kommen,   im   Gegensatz   zu 


Ernährende  Wirkiing  der  Hyperämie.  189 

meinen  oben  beschriebenen  neuen  Beobachtungen  seit  langer  Zeit 
gründlich  und  häufig  behandelt  ist,  so  liegen  die  Verhältnisse 
keineswegs  klar.  Wir  werden  sehen,  dass  sich  hier  die  Ansichten 
sehr  stark  widersprechen. 

Die  Behauptung,  dass  Hyperämie  als  solche  ernährend  wirke, 
ist  sehr  alt.  Vor  allem  hat  man  dies  für  die  sogenannte  funk- 
tionelle Hypertrophie  in  Anspruch  genommen.  Man  glaubte,  dass 
die  gesteigerte  Funktion  Hyperämie,  und  diese  erst  die  Hyper- 
trophie erzeuge.  Ich  will  diesen  alten  Streit  hier  nicht  weiter 
erörtern.  Er  ist  im  grossen  und  ganzen  als  dahin  entschieden  zu 
betrachten,  dass  zwar  die  Hyperämie  zur  Hypertrophie  notwendig, 
aber  dass  sie  nicht  das  eigentlich  Veranlassende  ist,  sondern  dass 
der  sogenannte  Reiz  —  ein  Wort  für  einen  noch  unbekannten 
Begriff  —  die  Zellen  erst  veranlasst  und  befähigt,  aus  der  ihnen 
durch  die  Hyperämie  im  Überschuss  gebotenen  Nahrung  Stoffe 
aufzunehmen,  die  sie  zu  ihrer  Vergrösserung  oder  Vermehrung 
verarbeiten.  Wir  wollen  uns  hier,  da  wir  immer  den  praktischen 
Zweck  im  Auge  haben,  die  Hyperämie  zum  Heilen  von  Gebrechen 
zu  benutzen,  auf  die  Frage  beschränken :  Gelingt  es,  durch  Hyper- 
ämie schwache,  welke  und  zurückgebliebene  Körperteile  passiv 
so  zu  ernähren,  dass  sie  an  Umfang  und  Leistungsfähigkeit  —  das 
letztere  ist  das  Entscheidende  —  zunehmen? 

Meines  Erachtens  sind  hier  zwei  Dinge  scharf  auseinander  zu 
halten,  nämlich: 

1.  Können  wir  durch  Hjrperämie  unsere  fertigen  Körpergewebe 
in  einen  Zustand  von  Überernährung  bringen,  können  wir  sie  ge- 
wissermassen  künstlich  mästen,  und  können  wir  das  physiologische 
Wachstum  dadurch  beeinflussen? 

2.  Können  wir  die  Regeneration  der  Gewebe  durch  Hyperämie 
beschleunigen  oder  anfachen? 


Einfluss  der  Hyperämie  auf  die  Ernährung  fertiger 
Körperteile  und  auf  das  physiologische  Wachstum. 

Viele  der  älteren  Beobachtungen,  welche  über  das  Vorkommen 
und  die  Ursachen  hypertrophischer  Körperteile  handeln,  sind  nicht 
zu  verwerten,  weil  man  die  allerverschiedensten  Dinge  unter  dem 
Namen  ,, Riesenwuchs"  zusammenfasste,  von  denen  wir  jetzt  wissen, 


j^QQ  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

dass  sie  mannigfachen  Krankheitsursachen  ihre  Entstehung  ver- 
danken. So  sah  man  zum  Beispiel  als  reine  Hjrpertrophie  von 
Körperteilen  an,  was  wir  jetzt  zur  Syringomyelie,  Akromegalie  und 
zu  den  Vorstufen  der  verschiedenen  Formen  der  Muskelatrophie 
rechnen.  Wir  werden  deshalb  bei  der  Auswahl  der  Fälle  sehr 
vorsichtig  sein  und  uns  an  solche  halten  müssen,  wo  sicher  oder 
wenigstens  höchst  wahrscheinlich  die  Hyperämie  wirklich  die  Ur- 
sache der  Hypertrophie  von  Geweben  und  Körperteilen  war. 

Man  hat  behauptet,  dass  man  Muskelhjrpertrophie  nach  venöser 
Hyperämie,  besonders  infolge  von  Venenthrombose,  beobachtet 
habe.  Zwar  hat  man  diese  Fälle  sehr  häufig  mit  Muskel- 
erkrankungen anderer  Art  zusammengeworfen  und  verwechselt, 
nämlich  mit  der  Pseudohypertrophie  der  Muskeln  (Hpomatöser 
Muskelhypertrophie  und  juveniler  progressiver  Muskelatrophie  und 
mit  Muskelerkrankungen  aus  spinalen  Ursachen),  aber  es  gibt  doch 
mehrere  offenbar  reine  Fälle,  wo  als  Ursache  der  Muskelhyper- 
trophie nichts  als  eine  Venenthrombose  nachgewiesen  werden 
konnte,  und  schon  der  Umstand,  dass  das  Leiden  gänzlich  auf  das 
Gebiet  der  venösen  Stauung  beschränkt  blieb,  beweist,  dass  diese 
in  der  Tat  die  einzige  Ursache  war.  Die  einzelnen  Fälle  zeigen 
eine  sehr  grosse  Übereinstimmung  miteinander  und  sind  für  unsere 
Frage  von  so  entscheidender  Wichtigkeit,  dass  wir  etwas  näher 
auf  dieselben  eingehen  müssen. 

Paget  1)  berichtet  von  einer  Hypertrophie  des  einen  Armes 
nach  Venenthrombose.  Der  kranke  Arm  war  fast  um  ein  Drittel 
stärker  als  der  gesunde,  wie  es  schien,  hauptsächlich  infolge  stär- 
kerer Muskelentwicklung,  weniger  durch  tiefes  Ödem.  Auch  die 
zugehörige  Schulter  und  der  obere  Teil  des  Musculus  pectoralis 
major  waren  auffallend  gross  und  breit.  Im  Anschluss  hieran 
erwähnt  Paget  noch  eine  dahingehende  Beobachtung,  welche  Pro- 
fessor Laurie  an  sich  selbst  machte:  dieser  bekam  infolge  von 
Typhus  eine  Venenthrombose  an  einem  Beine,  die  neben  Ödem 
eine  Muskelverdickung  hervorrief,  welche  zeitlebens  zurückblieb. 

Die  folgenden  Fälle  sind  genauer  beschrieben  und  beobachtet. 
Die  Kranken,  bei  welchen  das  Alter  überhaupt  angegeben  ist, 
zählten  zur  Zeit,  als  sie  die  Venenthrombose  bekamen,  19,  20,  22, 
26,  26,  29,  41  Jahre;  als  die  Hypertrophie  zur  Beobachtung  kam. 


1)  Referat  in  Schmidt's  Jahrbücher.     134.  Bd.     1864. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  ]^9]^ 

waren  die  meisten  mehrere  Jahre  älter.    Über  3  Fälle,  welche  das 
BeiQ  betrafen,  berichtet  Bergeri): 

1 .  F  al  1 :  Das  Leiden  entstand  aus  einer  Venenthrombose  während 
eines  Tjrphus.  Das  linke  Bein  war  sehr  stark  verdickt,  und  zwar 
wölbten  die  Reliefs  der  Muskeln,  besonders  der  Musculi  quadriceps, 
glutaei  und  triceps  surae  sich  mächtig  empor.  Der  Fuss  befand 
sich  in  leichter  Spitzfussstellung.  Die  Haut  des  kranken  Beines  war 
von  zahlreichen  erweiterten  Hautvenen  durchzogen,  die  Haut- 
temperatur beider  Beine  war  gleich.  Die  verdickte  Muskulatur 
fühlte  sich  fest,  hart  und  straff  an.  Haut  und  Knochen  erschienen 
nicht  merklich  verdickt.  Es  war  kein  Ödem  vorhanden.  Sensibilität 
und  Reflexerregbarkeit  waren  im  ganzen  Beine  stark  herabgesetzt. 
Der  Kranke  ermüdete  sehr  leicht  im  kranken  Bein,  und  dessen 
Kraft  war  bedeutend  vermindert.  Es  traten  nach  Bewegungen 
häufig  Muskelzuckungen  auf.  Die  elektrische  Erregbarkeit  war 
stark  vermindert. 

Berger  liess  nun  mittels  einer  Mi ddeldorpf 'sehen  Harpune 
aus  dem  Musculus  soleus  beider  Beine  an  symmetrischen  Stellen 
Muskelstückchen  zur  mikroskopischen  Untersuchung  herausholen, 
welche  sich  schon  makroskopisch  sehr  lebhaft  unterschieden.  Das 
Muskelfleisch  des  kranken  Beines  war  bleich  und  blutleer,  das  des 
gesunden  hatte  die  normale  tiefrote  Färbung.  Mikroskopisch  fand 
Berg  er  eine  wahre  Hypertrophie  des  kranken  Muskels,  seine  Fasern 
waren  hier  um  mehr  als  das  Doppelte  verbreitert.  Sonst  zeigten 
sie  normales  Verhalten.  Von  interstitieller  Fett-  oder  Bindegewebs- 
wucherung  war  keine  Spur  vorhanden. 

2.  Fall:  Auch  hier  entstand  die  Krankheit  durch  Venenthrom- 
bose infolge  von  Typhus  und  betraf  ebenfalls  das  linke  Bein.  Der 
Kranke  klagte  über  Schmerzen,  Muskelzuckungen  und  Schwäche 
im  kranken  Gliede.  Dasselbe  besass  eine  ,, wahrhaft  herkulische 
Muskulatur"  und  war  dadurch  stark  verdickt,  während  die  Haut 
kaum,  der  Knochen  gar  nicht  hypertrophisch  zu  nennen  war.  Nur 
am  Fussrücken  fand  sich  ein  geringes  Ödem,  sonst  rührte  die  Ver- 
dickung von  der  Muskelschwellung  her.  Das  Glied  war  sehr  schwach, 
die  Muskelkraft,  die  elektrische  Erregbarkeit  und  die  Sensibilität 
waren  stark  herabgesetzt. 


1)  Berger,    Zur   Ätiologie   und    Pathologie  der  sogenannten  Muskelhyper- 
trophie.   Deutsches  Archiv  f.  klin.  Medizin.     9.  Bd.   S.  363. 


\Q2  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Die  Untersuchung  von  Muskelstückchen,  die  an  symmetrischen 
Stellen  beider  Glieder  mit  der  Middeldorpf  sehen  Harpune  her- 
ausgeholt waren,  ergab  genau  den  gleichen  Befund,  wie  im  vorigen 
Falle. 

3.  Fall:  Die  Krankheit  entstand  nach  einer  Schussverletzung 
des  Oberschenkels,  welche  nach  der  Krankengeschichte  wahrschein- 
hch  eine  Venenthrombose  zur  Folge  hatte,  und  bestand  in  einer 
starken  Verdickung  der  hnken  Wade,  welche  die  Muskeln  betraf, 
da  Haut  und  Knochen  sich  nicht  an  der  Schwellung  beteiligten. 
Es  bestand  nirgends  Ödem,  das  Venennetz  der  Wade  war  massig 
erweitert.  Der  übrige  Befund  ghch  den  beiden  ersten  Fällen. 
Eine  anatomische  Untersuchung  von  Muskelstückchen  wurde  nicht 
ausgeführt. 

Lesage'si)  Kranker  war  ein  Mann,  der  während  eines  Typhus 
eine  Thrombose  der  linken  Vena  femoralis  bekam.  Zwei  Jahre  nach 
diesem  Ereignis  sah  Lesage  den  Kranken  und  machte  folgenden 
Befund:  Das  ganze  linke  Bein  war  sehr  viel  stärker  als  das  rechte. 
Die  Hypertrophie  erstreckte  sich  lediglich  auf  die  Muskulatur  und 
war  in  der  Wade  am  stärksten.  Odem  und  Varicen  fehlten.  Knochen 
und  Haut  waren  nicht  verdickt.  Elektrische  Erregbarkeit,  Reflexe 
und  Sensibilität  waren  normal,  die  Hauttemperatur  am  kranken 
Bein  erhöht. 

Gegen  Ende  des  Tages  trat  ein  wenig  Ödem  am  Fuss  und 
Knöchel  ein,  mit  einer  leichten  bläuhchen  Verfärbung  der  Haut. 
Die  Muskelkraft  des  kranken  Beines  war  stärker  als  die  des  gesunden. 
Dagegen  ermüdete  das  erstere  viel  rascher,  und  es  traten  alsdann 
Muskelkrämpfe  in  ihm  auf.  Ferner  waren  die  Muskeln  des  kranken 
Beines  weicher.  Zwei  Jahre  später  machte  Lesage  denselben 
Befund,  das  Leiden  stand  also  still. 

Eulenburg's^)  hierher  gehöriger  Kranker  trug  ebenfalls  eine 
Thrombose  der  hnken  Vena  femoralis  im  Anschluss  an  eine  schwere 
septische  Erkrankung  davon,  nachdem  er  1  Jahr  früher  eine  Wirbel- 
fraktur erlitten,  welche  erhebliche  Störungen  der  Innervation  zurück- 
gelassen hatte.  Im  Anschluss  an  die  Thrombose  bildete  sich  eine 
sehr  starke  Hypertrophie  mit  gleichzeitiger  Schwäche  der  Muskeln 


1)  Lesage,    Note  sur  une  forme  de  Myopathie  hypertrophique  secondaire 
k  la  fievre  typhoide.    Revue  de  medecine.     8.  Jahrgang.     S.  903.     1888. 

2)  Eulenburg,    Ein    Fall    von    fortschreitender    muskulärer    Dystrophie. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1885.    S.  178. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  ]^^3 

des  linken  Beines  aus.  Die  Untersuchung  von  Muskelstückchen, 
die  aus  symmetrischen  Stellen  beider  Beine  entnommen  waren, 
ergab  auf  beiden  Seiten  eine  Muskeldegeneration  (das  rechte  Bein 
war  infolge  der  die  Wirbelfraktur  begleitenden  Innervationsstörungen 
atrophisch),  aber  auf  der  linken  Seite  „waren  die  degenerierten 
Fasern  viel  dicker  und  zahlreicher.  Dieselben  sahen  aufgequollen 
aus,  trotzdem  die  Präparation  genau  dieselbe  war.  Die  fettige  und 
wachsartige  Degeneration  ist  deutlich  ausgesprochen,  auch  sind 
weniger  normale  Fasern  vorhanden.  Die  interstitielle  Fettinfil- 
tration zeigt  hier  charakteristische  Reihen,  wie  man  sie  bei  der 
Pseudohypertrophie  der  Muskeln  findet." 

Goldscheideri)  stellte  einen  jungen  Mann  vor,  welcher  nach 
Thrombose  der  Vena  femoralis  im  Anschluss  an  Orchitis  traumatica 
Hypertrophie  des  einen  Beines  bekam,  und  Hess  diesen  Fall  durch 
Masskow^)  genauer  beschreiben.  Der  Fall  ist  dadurch  interessant, 
dass  der  ganze  Verlauf  des  Leidens  von  Golds  cht  eider  beobachtet 
werden  konnte.  Der  Kranke  bekam  im  Jahre  1894  die  Venen- 
thrombose am  hnken  Bein  und  Htt  in  Anschluss  daran  an  hef- 
tigen Muskelzuckungen.  Im  Jahre  1897' bot  das  betreffende  Bein 
folgendes  Bild:  Die  linke  Vena  saphena  und  eine  Vene  der  linken 
Bauchhaut  sind  erweitert,  am  Unterschenkel  bemerkt  man  etwas 
Ödem  und  Cyanose.  Die  Muskulatur  des  linken  Beines,  und  zwar 
besonders  der  Wade,  ist  stark  hypertrophisch  und  etwas  derber 
als  die  des  rechten  anzufühlen.  Ihre  Kraft  ist  etwas  abgeschwächt. 
Auch  das  Fettpolster  ist  am  linken  Unterschenkel  massig  vermehrt. 
Das  linke  Bein  schwitzt  mehr  als  das  rechte  und  fühlt  sich  wärmer 
an,  soll  sich  aber  leichter  abkühlen  und  zeigt  geringeres  Haar  Wachs- 
tum. Das  hypertrophische  Glied  ist  schwächer  und  ermüdet  leicht. 
Die  Sensibilität  ist  nicht  gestört.  Die  elektrische  Erregbarkeit  der 
Muskeln  des  linken  Unterschenkels  ist  herabgesetzt. 

Es  bestehen  Muskelzuckungen,  die  etwa  3 — 4  mal  in  der  Sekunde 
auftreten.  Bei  Anstrengung  des  kranken  Beines  stellen  sich  krampf- 
hafte Schmerzen  ein. 

Eine  anatomische  Untersuchung  der  hypertrophischen  Muskeln 
wurde  nicht  vorgenommen. 


1)  Goldseheider,    Verhandlungen    des    15.  Kongresses    für    innere   Medi- 
zin.    1897. 

2)  Masskow,    Muskelhypertrophie    nach    Venentlirombose.       Inaug.-Diss. 
Berlin  1897. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  1.3 


\Q4:  Allgemeine  Wirkiingen  der  Hyperämie. 

Während  in  diesen  Fällen  sich  die  Volumzunahme  der  Glieder 
mit  Sicherheit  an  eine  Venenthrombose  anschloss,  so  ist  das 
in  den  beiden  folgenden  zwar  nicht  sicher,  aber  doch  so  wahr- 
scheinlich, dass  es  erlaubt  sein  dürfte,  sie  dieser  Krankheitsgruppe 
zuzuzählen. 

In  einer  sehr  ausführlichen  Abhandlung  berichtet  Auerbachi) 
über  folgenden  Fall:  Ein  24 jähriger  Mann  bemerkte  eines  Tages 
beim  Ausziehen,  dass  sein  rechter  Arm  viel  stärker  war  als  der 
linke;  allmählich  stellte  sich  Schwäche  und  schnelles  Erlahmen  in 
dem  verdickten  Gliede  ein.  Auerbach  fand  eine  herkulische  Ent- 
wicklung der  Muskeln  des  rechten  Armes.  Die  Haut  desselben 
zeigte  sehr  ausgedehnte  Venennetze  und  ein  bläulich  marmoriertes 
Aussehen.  Die  rechte  Hand  war  kühler  als  die  linke.  Nach 
längerem  Aufenthalt  im  Freien  war  sie  dunkelblau. 

Auerbach  liess  aus  dem  Musculus  deltoides  und  biceps  des 
kranken  und  zum  Vergleich  aus  dem  M.  biceps  des  gesunden  Armes 
Stückchen  zur  Untersuchung  ausschneiden.  Er  fand,  dass  es  sich 
um  eine  wahre  Muskelhypertrophie  handelte.  Dieselbe  hat  ihren 
Grund  in  einer  sehr  starken  Verbreiterung  der  Muskelzylinder. 
Sie  waren  zweimal  so  breit,  als  man  sie  an  normalen  Muskeln 
findet,  aber  auch  die  des  gesunden  Armes  waren  um  etwa  14  breiter. 
Die  Muskelkerne  waren  etwa  entsprechend  der  Dickenzunahme 
vermehrt. 

Bei  der  Operation  fiel  die  bedeutende  Blutfülle,  nicht  nur  die 
schon  äusserlich  sichtbare  der  Haut,  sondern  auch  die  des  Muskels, 
auf.  An  die  Operation  (sie  wurde  1871  gemacht)  schloss  sich  am 
kranken  Arm  eine  schwere  Entzündung  und  Eiterung  an. 

Am  Dynamometer  wies  Auerbach  gleiche  Stärke  beider  Arme 
nach;  es  war  also  die  Kraft  des  rechten  Armes  nicht  im  Verhält- 
nis zur  Muskelh3rpertrophie  gewachsen. 

Auch  in  Redlich's^)  Falle  ist  es  ungewiss,  ob  der  Krankheit 
eine  Venenthrombose  voraufging,  wenn  auch  die  Anamnese  so  sehr 
dafür  spricht,  dass  Redlich  dies  als  sicher  annimmt.  Der  be- 
treffende Mann  bekam  im  Anschluss  an  eine  akut  fieberhafte  Krank- 
heit plötzlich  heftige  Schmerzen  im  linken  Bein,  die  von  einer  be- 


1)  Auerbach,     Ein     Fall     von     wahrer     Muskelhypertrophie.        Virchow's 
Archiv.    53.  Bd.   S.  234  u.  397. 

2)  Redlich,  Über  einen  Fall  von  Hypertrophie  des  linken  Beins.     Wiener 
med.  Wochenschr.  1893.    S.  1482,   1519  u.  1549. 


Ernährende  Wirkving  der  Hyperäraie.  ]^95 

trächtlichen  Schwellung  gefolgt  waren.  Das  Glied  blieb  dicker,  und 
der  Kranke  behielt  abnorme  Gefühle  darin.  Von  dem  behandelnden 
Arzt  war  die  Diagnose  „Lymphangioitis"  gestellt.  Sechs  Jahre 
danach  untersuchte  Redlich  den  Kranken  und  fand  eine  sehr 
bedeutende  Schwellung  des  linken  Beines,  besonders  des  Unter- 
schenkels. Die  Verdickung  kam  zum  grössten  Teile  auf  Rechnung 
der  Muskulatur,  aber  auch  die  Haut  war  daran  beteiligt.  Die 
Knochen  waren  normal.  Das  Haarwachstum  war  auf  der  kranken 
Seite  geringer.  Die  Haut  war  etwas  marmoriert,  aber  —  ausser 
Varicen  an  der  linken  Hodensackhälfte  —  war  keine  besonders 
starke  Venenentwicklung  zu  bemerken.  Auch  dieser  Kranke  klagte 
über  Muskelschwäche,  Parästhesien  und  Schmerzen,  doch  fehlten 
diese  auch  im  rechten  Bein  nicht,  wie  der  Kranke  überhaupt  noch 
sonstige  nervöse  Erscheinungen  (Pupillenstarre,  Sprachstörungen 
usw.)  darbot.  Redlich  hielt  dies  für  beginnende  progressive 
Paralyse. 

Aus  der  Wade  des  hypertrophischen  Beines  wurde  ein  Muskel - 
Stückchen  zur  Untersuchung  ausgeschnitten.  Dabei  fand  sich  eine 
etwas  verdickte  Haut  mit  viel  Fettpolster.  Nach  Durchtrennung 
der  Fascie  erschien  wieder  ein  dickes  Fettpolster,  unter  dem  der 
Muskel  lag.  Dieser  sah  blass,  aber  sonst  normal  aus.  Die  Blutung 
aus  der  Wunde  war  sehr  gering.  Mikroskopisch  fand  Redlich  im 
allgemeinen  normales  Muskelgewebe.  Das  interstitielle  Gewebe  war 
verdichtet  und  ebenso  wie  die  Gefässe  zellig  infiltriert.  Ausserdem 
fand  sich  viel  Blutpigment  in  Schollen  und  Körnern. 

Möglich,  aber  im  höchsten  Grade  unsicher  ist  es,  ob  Hitzig's^) 
Fall  zu  unserer  Krankheitsgruppe  gehört.  Bei  einem  jungen  Manne 
trat  im  Anschluss  an  eine  Verletzung  der  rechten  Fossa  supraclavi- 
cularis  venöse  Stauung  und  Muskelhypertrophie  am  rechten  Arme 
auf.  Nebenbei  aber  bestanden  Lähmungen  der  Brustmuskeln,  so 
dass  die  Wahrscheinlichkeit  grösser  ist,  dass  es  sich  hier  um  ein 
nervöses  Leiden  handelte.  Von  Wichtigkeit  ist,  dass  Hitzig  bei 
diesem  Falle  eine  deutliche  Verlängerung  des  kranken  Ober-  und 
Unterarmes  nachwies,  was  in  keinem  der  vorhergehenden  Fälle 
bemerkt  wurde. 

Nach  diesen  Beobachtungen,  von  denen  die  Mehrzahl  ganz 
einwandsfrei  ist,  können  wir  keinen  Augenblick  im  Zweifel  sein. 


1)  Hitzig,    Über    einen    Fall    von    Hypertrophie    eines    Armes.      Berliner 
klin.  Wochenschr.  1872.     S.  588. 

13* 


296  Allgemeine  Wirkimgen  der  Hyperämie. 

dass  infolge  einer  hochgradigen  venösen  Stauung,  wie  sie  nach 
Venenthrombose  vorkommt,  eine  Volumzunahme  der  Glieder,  die 
hauptsächlich  oder  ausschliesshch  die  Muskeln  betrifft,  vorkommt. 
Auch  scheint  durch  die  mikroskopischen  Befunde  mehrerer  Be- 
obachter der  Beweis  geliefert,  dass  es  sich  hier  um  eine  wahre 
Hypertrophie  handelt.  Aber  dieser  Beweis  wird  gänzlich  erschüttert 
durch  Arbeiten  Oppenheim's  und  Siemerling'si),  die  nachweisen, 
dass  die  Fasern  von  Muskelstücken,  welche  man  lebenden  Menschen 
und  Tieren  entnimmt,  stets  den  Eindruck  machen,  als  ob  sie  stark 
hypertrophiert  seien.  Dies  geht  so  weit,  dass  Oppenheim  und 
Siemerling  unter  dem  Mikroskop  sofort  unterscheiden  konnten, 
ob,  es  sich  um  Muskeln  handelte,  welche  der  Leiche  oder  dem 
Lebenden  entnommen  waren.  Zuntz  sprach  die  Vermutung  aus, 
dass  sich  infolge  der  Reizung  durch  schneidende  und  quetschende 
Instrumente  und  durch  Reagenzien  der  lebende  Muskel  stark  zu- 
sammenzöge, sodass  die  Dicke  seiner  Fasern  auf  Kosten  der  Länge 
zunähme .  Oppenheim  und  Siemerling  konnten  die  Richtigkeit 
dieser  Erklärung  durch  den  Tierversuch  beweisen.  Ausser  einer 
Verbreiterung  der  MuskeKasern  aber  ist  von  den  oben  genannten 
Beobachtern  kein  sicheres  Zeichen  für  eine  wahre  Hypertrophie 
der  Muskeln  gefunden  worden.  Eulen  bürg  fand  degenerierte 
Muskelfasern  und  gibt  ausdrücklich  an,  dass  eine  Fettinfiltration 
im  Muskel  vorhanden  war,  die  in  charakteristischen  Reihen  auf- 
trat, wie  sie  sich  bei  der  Pseudohypertrophie  des  Muskels  findet, 
und  Redlich  fand  normales  Muskelgewebe,  dagegen  Vermehrung 
des  interstitiellen  Gewebes,  wie  man  es  ebenfalls  von  der  Pseudo- 
h3rpertrophie  her  kennt. 

Es  kommt  hinzu,  dass  man  die  in  allen  Fällen  —  ausser  dem 
Lesage'schen,  wo  aber  auch  der  kranke  Muskel  viel  schneller  er- 
müdete —  vorgefundene  Schwäche  der  verdickten  Muskulatur  doch 
unmöghch  als  das  Zeichen  einer  wahren  Hypertrophie  auffassen 
kann.  So  sind  denn  auch  Auerbach  und  Redlich  der  Ansicht, 
dass  diese  sogenannte  ,, wahre  Muskelhypertrophie"  nur  das  erste 
Stadium  der  lipomatösen  Pseudohypertrophie  darstelle. 

Der  Schluss,  welchen  wir  aus  diesen  vielfach  bearbeiteten 
Krankheitszuständen  ziehen,  lautet  also:  Es  ist  zweifellos,  dass  als 


1)  Oppenheim  und  Siemerling,  Über  das  Vorkommen  von  Hyper- 
trophie der  Primitivfasern  in  Muskelpartikeln,  welche  dem  lebenden  Menschen 
excidiert  wurden.     Centralblatt  f.  die  med.  Wissenschaften.     1889.     S.  705  u.  737. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  ][97 

Folgezustand  von  Venenthrombose  Volnmzunahme  der  befallenen 
Glieder,  und  zwar  insbesondere  der  Muskeln,  auftreten  kann.  Ob 
dies  eine  wahre  Hypertrophie  oder  das  erste  Stadium  einer  De- 
generation des  eigentlichen  Muskelgewebes  ist,  ist  unbekannt. 

Für  unsere  praktischen  Zwecke  aber  können  wir  daraus  einen 
ganz  sicheren  Schluss  ziehen,  nämlich:  so  hochgradige  Stauungen, 
wie  diejenigen  sind,  welche  die  sogenannte  Muskelhypertrophie 
hervorrufen,  dürfen  künstlich  nicht  hervorgerufen  werden.  Denn 
wir  erfahren,  dass  in  den  meisten  derartigen  Fällen  gleichzeitig 
nervöse  Störungen  durch  die  Stauung  hervorgerufen  wurden, 
und  der  Erfolg  der  Zunahme  der  Muskulatur  durchgehends  nicht 
eine  Vermehrung,  sondern  eine  Verminderung  ihrer  Leistungs- 
fähigkeit war. 

Nun  wäre  es  ja  möghch,  dass  man  mit  einer  geringeren  Stau- 
ungshyperämie  eine  wahre  H3rpertrophie  erzeugen  könnte,  während 
jene  schwere  Hyperämie  nach  einer  vorübergehenden  Hypertrophie 
zur  Degeneration  führte.  Dagegen  aber  spricht,  dass  ich  in  vielen 
Hunderten  von  Fällen,  welche  ich  mit  solchen  Graden  der  Stau- 
ungshyperämie,  die  zu  Heilzwecken  erlaubt  sind,  längere  Zeit  be- 
handelt habe,  niemals  eine  Muskelhypertrophie  gesehen  habe.  Ich 
habe  wohl  beobachtet,  dass,  besonders  infolge  von  Gelenkkrank- 
heiten, stark  abgemagerte  Gheder  unter  Hyperämiebehandlung  sich 
schnell  erholten,  aber  nicht  mehr,  als  sich  aus  der  Besserung  des 
Grundleidens  erklären  hess,  denn  Muskeln  und  andere  Gewebe 
atrophieren  nicht  nur  bei  vielen  Gelenkkrankheiten  mit  reissender 
Geschwindigkeit,  sondern  sie  erholen  sich  ebenso  schnell  wieder, 
wenn  man  die  schuldige  Ursache  entfernt. 

Zweifellos  führt  die  H3rperämie,  aktive  wie  passive,  zum  leb- 
hafteren Wachstum  der  deckenden  epithelialen  Gebilde.  So  ist  es 
bekannt,  dass  im  Sommer,  wo  die  Haut  durchbluteter  ist  als  im 
Winter,  Haare  und  Nägel  stärker  wachsen.  Ausserdem  gibt  es 
zahlreiche  Beobachtungen,  die  beweisen,  dass  dasselbe  bei  allerlei 
chronischen  Hyperämien  auftritt.  Daneben  sah  man  lebhafte  Ab- 
schuppung der  Epidermis.  Der  sogenannte  Desquamativkatarrh  der 
Stauungslunge,  wobei  es  zur  AnfüUung  der  Lungenalveolen  mit 
massenhaft  abgestossenen  Epithelien  kommt,  dürfte  ebenfalls  hier- 
her gehören.    ■ 

Auch  in  der  Nähe  chronischer  Geschwüre,  die  mit  Hyperämie 
einhergehen,    sieht   man,    wie    jedem   Arzte   bekannt   ist,    häufig 


298  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperäixiie. 

Epithelverdickung  und  vermehrtes  Haar  Wachstum .  L  e  b  e  r  i )  konnte 
dasselbe  sogar  hervorbringen,  wenn  er  den  von  ihm  dargestellten 
entzündungserregenden  Stoff  Phlogosin  einspritzte. 

Dass  vermehrtes  Haarwachstum  als  Folge  passiver  Hyperämie 
ausserordentlich  häufig  auftritt,  geht  auch  aus  Helferich's  und 
meinen  Beobachtungen  unzweifelhaft  hervor ;  wir  sahen  sehr  häufig 
nach  künstlich  angewandter  Stauungshyperämie  vermehrtes  Haar- 
wachstum auftreten. 

Vor  kurzem  sah  ich  bei  einer  Dame  einen  Unterschenkel, 
der  mit  einem  sehr  ausgedehnten  angeborenen  cavernösen  Angiom 
behaftet  war,   außergewöhnlich  stark  behaart. 

Dass  arterielle  Hyperämie  ebenso  wirkt,  zeigen  neben  dem  oben 
erwähnten  vermehrten  Haarwachstum  im  Sommer  die  haarigen 
Hände  der  Chirurgen,  welche  infolge  sehr  häufigen  Waschens  sich 
dauernd  in  einem  Zustande  von  Hyperämie  befinden.  Man  hat 
wohl  angenommen,  dass  ein  oder  das  andere  chemische  Mittel,  das 
man  anwandte,  hieran  schuld  sei,  indessen  wirken  hier  alle  Wasch- 
mittel gleichartig,  sodass  wohl  nur  die  Hyperämie  als  Ursache 
übrig  bleibt. 

Ein  schlagendes  Beispiel  für  das  vermehrte  Wachstum  eines 
Epithelgebildes  unter  dem  Einflüsse  von  Hyperämie  ist  der  oft  an- 
geführte Versuch  J.  Hunter's,  welchen  Paget^)  mitteilt:  Ver- 
pflanzt man  den  Sporn  eines  Hahnes  in  das  blutreiche  Gewebe 
seines  Kammes,  so  erreicht  der  Sporn  eine  gewaltige  Grösse. 

Es  kann  deshalb  als  festgestellt  gelten,  dass  passive  wie  aktive 
Hjrperämie  vermehrtes  Wachstum  der  Deckepithelien  hervorbringen. 

Dagegen  ist  meines  Wissens  nicht  ein  einziger  Fall  bekannt, 
der  bewiese,  dass  sezernierendes  Drüsenepithel  durch  Hyperämie 
hypertrophiert  wäre.  Im  Gegenteil,  wir  werden  gleich  auseinander- 
setzen, dass  chronische  Stauung  in  der  Leber  sogar  Atrophie  der 
Epithelzellen  hervorbringt. 

An  Hoden,  welche  man  wohl  schwerlich  zu  den  sezernierenden 
Drüsen  rechnen  darf  —  man  hat  den  Hoden  ja,  weil  er  unter  den 
Drüsen  nicht  recht  unterzubringen  ist,  ,, Keimstock"  genannt  — , 
machte  ich  mehrmals  die  Beobachtung,  dass  sie  unter  dem  Ein- 
flüsse von  Stauungshyperämie,  die  ich  wegen  Tuberkulose  oder  zur 
Auflösung  von  harten  Narben,  welche  nach  Tripperinfektion  zurück - 


1)  Leber,  Die  Entstehung  d.  Entzündung.   Leipzig  1891.  S.  506  u.  163— 164. 

2)  Paget,   Lectures  on  surgical  pathology. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  19Q 

geblieben  waren,  anwandte,  sehr  stark  sich  vergrösserten,  und  dass 
die  Vergrösserung  auch  nach  Aussetzen  der  Stauungshyperämie 
geraume  Zeit  andauerte.  In  einem  Falle  von  sehr  starker  alter 
Verhärtung  eines  Nebenhodens  mit  Fistelbildung  infolge  von  Tripper 
hatte  ich  beide  Hoden  (auch  den  gesunden)  durch  einen  an  der 
Wurzel  des  Hodensackes  angelegten  Gummischlauch  hyperämisiert. 
Der  betreffende  Kranke  klagte  mir,  dass  er  in  der  ersten  Zeit  der 
Anwendung  von  sehr  starken  Pollutionen,  die  jede  Nacht  mehr- 
fach auftraten,  gepeinigt  würde,  während  er  früher  nur  selten 
nächthche  Pollutionen  gehabt  habe.  Sie  verschwanden  nach  vor- 
übergehendem Aussetzen  des  Mittels  und  kehrten  nicht  wieder,  als 
dasselbe  nur  kürzere  Zeit  täglich  angewandt  wurde. 

Da  ich  niemals  in  der  Lage  gewesen  bin,  einen  durch  künst- 
liche Stauungshyperämie  vergrösserten  Hoden  anatomisch  zu  unter- 
suchen, so  muss  es  dahingestellt  bleiben,  auf  welche  Ursachen  und 
auf  welches  Gewebe  die  Vergrösserung  zu  beziehen  ist. 

Eine  ähnliche  Beobachtung  von  vermehrter  Funktion  einer 
Drüse  durch  Hyperämie  machte  Moll^).  Er  versuchte  die  Milch- 
sekretion bei  milcharmen  Ammen  durch  eine  Saugglocke,  die 
er  dreimal  täglich  je  eine  Stunde  an  der  Brust  ansetzte,  anzu- 
regen und  zu  vermehren,  und  berichtet,  daß  seine  ersten  Ver- 
suche zur  Zufriedenheit  ausgefallen  seien. 

Vorderhand  ist  aus  diesen  Beobachtungen  noch  nicht  viel 
zu  machen,  und  es  muß  weiterer  Beobachtung  vorbehalten 
bleiben,  zu  entscheiden,  ob  man  tatsächlich  die  Drüsensekretion 
durch  Hyperämie  anregen  und  steigern  kann. 

Bekanntlich  nimmt  man  an,  dass  chronische  Blutstauung  in  den 
Eingeweiden  infolge  von  Herzfehlern,  Emphysem  usw.  eine  Ver- 
mehrung von  Bindegewebe  in  denselben  hervorbringt,  welche  man 
als  cyanotische  Induration  bezeichnet  hat.  Ich  halte  es  für  nütz- 
lich, die  Veränderungen,  welche  die  verschiedenen  Eingeweide  bei 
dieser  chronischen  Stauung  erleiden,  kurz  nach  dem  Ziegler'schen 
Lehrbuche  der  pathologischen  Anatomie  zu  schildern: 

Die  chronische  Stauungsmilz  ist  normal  gross  oder  vergrössert, 
selten  verkleinert.  Sie  ist  immer  verhärtet.  Die  Härte  wird  durch 
die  Derbheit  der  roten  Pulpa  bedingt.  ,,Die  Hauptveränderung 
besteht  in  einer  Zunahme  deg  Bindegewebes,  welche  sowohl  das 

1)  Moll,  Zur  Technik  der  Bier 'sehen  Hyperämie  für  die  Behandlung  der 
Mastitis  nebst  vorläufigen  Bemerkungen  über  die  Anwendung  derselben  zur  An- 
regung  der  Milchsekretion.      Wiener  klinische   Wochenschr.    1906.   Nr.  17. 


200  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Trabekelsystem  als  auch  die  Blutgefässwände  und  ihre  Umgebung 
betrifft.  Mitunter  lässt  sich  auch  eine  partielle  Verdickung  des 
Retikulums  der  Pulpastränge  nachweisen. 

Die  chronische  Stauungsleber  ist  meist  etwas  verkleinert,  die 
Oberfläche  zuweilen  uneben,  granuliert  und  leicht  höckrig.  Bei  der 
mikroskopischen  Untersuchung  findet  man  die  Venen,  und  zwar 
besonders  die  Venulae  centrales,  sowie  das  ihnen  zunächst  gelegene 
Kapillargebiet,  bei  höheren  Graden  der  Stauung  alle  Kapillaren 
der  Leberläppchen  erweitert.  ,,Die  Leberzellen  zwischen  den 
erweiterten  Kapillaren  sind  stets  mehr  oder  weniger  atrophisch, 
meist  zugleich  von  gelben  und  braunen  Pigmentkörnern,  manche 
auch  von  Fetttröpfchen  durchsetzt.  Die  Degeneration  ist  im  Zen- 
trum und  den  mittleren  Zonen  der  Acini  stets  am  weitesten  vor- 
geschritten. Bei  langer  Dauer  der  Zirkulationsstörungen  und  star- 
ker Dilatation  der  Kapillaren  kann  ein  Teil  der  Leberzellen  ganz 
zugrunde  gegangen  sein,  sodass  zwischen  den  weiten  Kapillaren 
nur  noch  gelbe  und  gelbbraune  Pigmentschollen  und  Pigment- 
körner hegen.  Das  periportale  Bindegewebe  der  Leber  ist  meist 
unverändert,  doch  kommt  es  vor,  dass  dasselbe  hypertrophisch 
und  zelhg  infiltriert  ist,  sodass  eine  besondere  Art  der  Cirrhose 
entsteht." 

Die  chronische  Stauungsniere  ist  hart  und  fest,  ,,das  Binde- 
gewebe zwischen  den  Harnkanälchen  ist  etwas  verbreitert,  die  Blut- 
gefässe sind  weit  und  klaffend,  die  Kapillarwände  und  die  Adven- 
titia  der  Venen  verdickt.  Zuweilen  stellen  sich  auch  leichte  ent- 
zündliche, zelüge  Infiltrationen  ein."  Von  den  Epithelien  der 
Harnkanälchen  sind  manche  verfettet. 

In  der  chronischen  Stauungslunge  sind  die  Gefässe,  vor  allem 
die  Kapillaren,  stark  erweitert  und  springen  in  die  Lichtung  der 
Lungenalveolen  vor.  Die  Lunge  wird  hart.  ,,In  manchen  Gebieten 
ist  auch  das  Lungenbindegewebe  verdichtet  oder  in  Entzündung 
und  Wucherung  begriffen,  doch  ist  dies  weniger  eine  Folge  der 
Stauung,  als  vielmehr  von  häufig  wiederkehrenden  Blutungen, 
welche  sich  in  solchen  Lungen  vorzufinden  pflegen." 

Da  ich  in  der  Literatur  sehr  verschiedene  Angaben  über  die 
Hochgradigkeit  der  Bindegewebswucherung  in  Stauungseingeweiden 
fand,  so  bat  ich  meinen  früheren  Kollegen  P.  Grawitz  in  Greifs- 
wald, mir  seine  Erfahrungen  über  diesen  Punkt  mitzuteilen.  Der- 
selbe kam  meiner  Bitte  auf  das .  liebenswürdigste  nach  und  be- 
legte seine  Ausführungen  mit  sehr    lehrreichen    mikroskopischen 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  201 

Präparaten,  sodass  ich  mich  selbst  von  dem  Zutreffenden  seiner 
Schilderung  überzeugen  konnte. 

Nach  P.  Grawitz  ist  die  Bindegewebswucherung  und  Ver- 
dickung am  hochgradigsten  von  allen  Eingeweiden  in  der  Stauungs- 
milz.  Doch  ist  er  im  Zweifel,  ob  diese  Veränderung  lediglich 
Folge  der  chronischen  Stauung  ist,  oder  ob  nicht  noch  andere 
Ursachen  mitwirken. 

Die  Stauungslunge  verdankt  ihre  Derbheit  viel  mehr  der  prallen 
Füllung  der  Kapillaren  (durch  Anschneiden  und  Druck  wird  sie 
weicher),  teilweisen  Atelektasen  und  einer  Anfüllung  der  Alveolen 
durch  primäres  Exsudat  und  abgestossene  Zellen,  als  einer  Wuche- 
rung des  Bindegewebes.  Selbst  bei  den  stärksten  chronischen 
Stauungen  kann  die  Bindegewebs  Vermehrung  vollständig  fehlen, 
und  doch  ist  die  ,, braune  Induration"  der  Lunge  vorhanden. 

In  der  Stauungsleber  sieht  man  bei  länger  dauernder  Stauung 
die  Kapillaren  der  Leberläppchen  sehr  stark  erweitert,  besonders 
um  die  Zentralvene  herum,  gleichzeitig  damit  geht  ein  Schwund 
von  Leberzellen  einher,  der  am  frischen  Präparat  nach  Wasser- 
einwirkung sehr  deutlich  daran  zu  erkerinen  ist,  dass  die  Reihen 
der  Leberzellen  erst  in  einem  gewissen  Abstände  von  der  Zentral - 
vene  beginnen.  Im  Stauungsbezirke  sieht  man  nur  Trümmer  von 
Leberzellen  oder  kleinzellige  Infiltration.  Bei  schwerer  langdauern- 
der Stauung  geht  der  Schwund  der  Leberzellen  über  das  ganze 
Läppchen  und  erreicht  oft  einen  sehr  grossen  Umfang.  Das  End- 
ergebnis chronischer  schwerer  Stauung  in  der  Leber  ist  nach 
P.  Grawitz  Atrophie  der  Leberzellen,  in  der  Regel  ohne  Binde - 
gewebsentwicklung. 

Die  Stauungsniere  fühlt  sich  derb  an,  kann  aber  von  der 
chronisch  interstitiellen  Nephritis  dadurch  unterschieden  werden, 
dass  trotz  erheblicher  Derbheit  die  Oberfläche  vollständig  glatt 
und  ohne  jede  Narbenbildung  ist.  Bindegewebs  verdickung  kann 
vorhanden  sein,  aber  selbst  bei  den  hochgradigsten  chronischen 
Stauungen  fehlen.  Ist  sie  vorhanden,  so  tritt  sie  gleichmässig  auf, 
ohne  einzelne  Herde  zu  bilden  und  kleinzellige  Infiltration  hervor- 
zurufen; sie  ist  aber  stets  ohne  Einfluss  auf  die  epithelialen  Teile 
der  Niere. 

P.  Grawitz  gibt  zu,  dass  sehr  häufig  die  chronische  Blutstauung 
in  den  Eingeweiden  Bindegewebsvermehrung  hervorrufe,  betont 
aber,  dass  dies  keineswegs  ein  regelmässiges  Ereignis  ist,  und  dass  sie 
in  vielen  Fällen  hochgradiger  chronischer  Stauung  gänzlich  fehlt. 


202  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Dass  nach  chronischen  Entzündungen  lebhafte  Bindegewebs - 
Wucherung  eintritt,  ist  bekannt,  und  zwar  wissen  wir  das  besonders 
vom  chronischen  Unterschenkelgeschwür  her,  wo  hochgradigste 
Blutstauung  mit  Entzündung  Hand  in  Hand  geht. 

Ferner  wissen  wir,  dass  chronische  Blutstauung,  allerdings  noch 
viel  häufiger  Lymphstauung  und  chronische  oder  oft  hintereinander 
eintretende  Entzündungen  zu  Verdickung  der  Haut,  der  soge- 
nannten Elephantiasis,  führen  können. 

Ganz  unbestritten  ist  der  Einfluss  der  passiven  Hyperämie 
auf  das  Längen-  und  Dickenwachstum  der  Knochen.  Stanley^) 
und  Pag  et  2)  machten  die  ersten  dahin  gehörigen  Beobachtungen, 
V.  Bergmann^)  fasste  das  damals  bekannte  Beobachtungsmaterial 
in  einer  Arbeit  zusammen  und  fügte  demselben  zwei  neue  Fälle 
zu.  Es  ging  aus  diesen  Erfahrungen  hervor,  dass  ein  Röhren- 
knochen länger  und  dicker  wird,  wenn  sich  in  ihm  längere  Zeit 
entzündliche  Vorgänge  abspielen.  Die  hierher  gehörigen  Beobach- 
tungen vermehrten  sich  bald  ausserordentlich,  und  in  einer  aus- 
führlichen Arbeit  wies  Helfer  ich*)  an  einer  grossen  Anzahl  von 
Fällen  nach,  dass  die  Verlängerung  des  Knochens  infolge  von 
Nekrose  (diese  gibt  meist  die  Entzündungsursache  ab)  sehr  häufig 
ist  und  schon  verhältnismässig  schnell  nach  Ausbruch  der  Er- 
krankung auftreten  kann.  Heute  ist  diese  Tatsache  so  bekannt, 
dass  sie  jeder  Arzt  weiss,  und  es  gibt  wohl  keinen  Chirurgen, 
welcher  solche  Fälle  nicht  schon  in  grösserer  Anzahl  gesehen 
hätte.  Es  ist  deshalb  nicht  nötig,  sich  ausführlicher  darüber  zu 
verbreiten. 

Schon  die  ersten  Beobachter  führten  diese  Hypertrophie  auf  die 
durch  die  Entzündung  verursachte  Hj^erämie  zurück,  v.  Langen- 
beck^)  fasste  im  Jahre  1869  seine  Erfahrungen  in  folgenden  drei 
Sätzen  zusammen: 

1.  ,, Krankheitsursachen,  welche  Reizung  und  Hyperämie  des 


1)  Stanley,  Treatise  on  diseases  of  the  bones.     London  1849. 

2)  Paget,   Lectures  on  surgical  pathol.     London  1853.     1.  Bd. 

3)  V.  Bergmann,  Über  die  pathologische  Längenzunahme  der  Knochen. 
St.  Petersburger  med.  Zeitschr.     14.  Bd.   S.  65.     1868. 

4)  Helferich,  Über  die  nach  Nekrose  von  der  Diaphyse  der  langen 
Extremitätenknochen  auftretenden  Störungen  im  Längenwachstum  derselben. 
Devitsche  Zeitschr.  f.  Chirurgie.     10.  Bd.     1878.    S.  324. 

5)  Langenbeck,  Über  krankhaftes  Längenwachstum  der  Rölirenknochen 
in  seiner  Verwertung  für  die  chirurgische  Praxis.  Berl.  klin.  Wochenschr.  1869. 
S.  265. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  203 

Knochengewebes  veranlassen,  haben,  solange  das  Knochenwachstum 
dauert,  eine  Zunahme  in  der  Länge  wie  in  der  Dicke  des  Knochens 
zur  Folge. 

2.  Die  Steigerung  des  Längenwachstums  betrifft  zunächst  den 
erkrankten  Knochen,  kann  indessen  auch  an  einem  nicht  erkrankten 
Knochen  derselben  Extremität  beobachtet  werden. 

3.  Der  durch  vorschnelles  Wachstum  verlängerte  Knochen 
behält  seine  Dimensionen  das  ganze  Leben  über.  Eine  nachträg- 
liche Längenabnahme  durch  Resorption  findet  nicht  statt,  auch 
wenn  die  Ursache  derselben,  die  Knochenkrankheit,  lange  aufge- 
hört hat." 

Ollier^)  fand,  dass  man  durch  allerlei  Reizungen  der  Diaphyse 
eines  Röhrenknochens,  durch  Zerreissen,  Ausschneiden  und  Kau- 
terisationen des  Periostes,  durch  Anbohren  der  Markhöhle  oder 
Einführen  von  Fremdkörpern,  sofern  es  sich  um  junge,  wachsende 
Tiere  handelte,  und  der  Reiz  nur  lange  genug  wirkte,  Verlängerung 
der  Röhrenknochen  herbeiführen  kann. 

Seitdem  dann  im  Jahre  1868  Schneider^)  einen  Fall  be- 
schrieben hatte,  wo  bei  einem  17jährigen  jungen  Menschen  im 
Anschluss  an  ein  chronisches  Unterschenkelgeschwür  Verlängerung 
der  Unterschenkelknochen  entstanden  war,  hat  man  diese  Erschei- 
nung häufig  bei  jugendlichen  Personen  wiedergefunden.  Dass  diese 
Geschwüre  nicht  selten  zu  Knochenverdickungen  und  sogar  zur  Ver- 
knöcherung des  Ligamentum  interosseum  führten,  war  schon  länger 
bekannt.  Auch  Schneider  führte  diese  Hypertrophie  auf  Ver- 
mehrung der  Blutzufuhr  infolge  der  chronischen  Entzündung  bei 
einem  jugendlichen  Menschen  zurück. 

War  es  nach  diesen  Beobachtungen  schon  sehr  wahrscheinlich, 
dass  die  venöse  Hyperämie,  welche  alle  jene  Entzündungen  beglei- 
tete, die  Ursache  des  Längen-  und  Dickenwachstums  der  Knochen 
war,  so  wurde  dies  durch  eine  Anzahl  von  Fällen  unwiderleglich 
bewiesen,  wo  eine  reine  venöse  Hjrperämie  die  gleichen  Folgezu- 
stände nach  sich  zog. 

Hierher  gehört  Broca's^)  in  der  Literatur  sehr  oft  erwähnte 
Beobachtung:   Ein  17 jähriger  Mann  litt  seit   2  Jahren  an  einer 


1)  Ollier,  Traite  experiment.  et  clinique  de  la  regeneration  des  os.    Paris 
1867.    T.  1. 

2)  Schneider,    Ein  Beitrag  zur  organischen   Plastik  behufs  Heilung  von 
Unterschenkelgeschwüren.    Archiv  f.  klin.  Chirurgie.     9.  Bd.     1868.     S.  919. 

3)  Das  Original:   Des  aneiorysmes.      Paris  1856,  war  mir  nicht  zugänglich. 


204:  Allgemeine  Wirkiingen  der  Hyperämie. 

dauernden  venösen  Hjrperämie  eines  Beines,  welche  durch  ein 
Aneurysma  arteriovenosum  unterhalb  des  Leistenbandes  hervor- 
gebracht wurde.  Dadurch  war  der  Oberschenkel  um  2,  der  Unter- 
schenkel um  1  cm  verlängert. 

Krause  1)  beschreibt  einen  Fall,  wo  sich  infolge  eines  in  der 
Jugend  erlittenen  Hundebisses  zahlreiche  sackförmige  Aneurysmen 
an  Vorderarm  und  Hand  und  sehr  starke  varicöse  Erweiterungen 
der  Venen  am  Rücken  der  Hand  und  des  Vorderarmes  gebildet 
hatten,  welche  eine  langjährige  venöse  Hyperämie  des  Gliedes  unter- 
halten und  zu  Geschwüren  an  den  Fingern  geführt  hatten.  Von 
Strohmeyer  wurde  der  Oberarm  amputiert.  Krause  stellte  fest, 
dass  der  Vorderarm  um  I14  Pariser  Zoll  verlängert  war. 

Einen  diesen  ganz  ähnhchen  Fall  beschreibt  Nicoladoni^). 
Auch  hier  hatte  ein  cirsoides  Aneurysma  mit  starker  Varicen- 
bildung  zu  einer  langdauernden  venösen  Hyperämie  des  Armes 
geführt,  welche  eine  Verlängerung  des  Vorderarmes  zur  Folge 
hatte.  Israel^)  beschreibt  einen  Unterschenkel,  der  infolge  venöser 
Hyperämie  durch  eine  angeborene  Angiektasie  um  5  cm,  Hitzig'i) 
einen  Arm  und  Penzo  ^)  2  Unterschenkel,  die  durch  venöse  Stauung 
aus  unbekannter  Ursache  um  mehrere  Zentimeter  verlängert  waren. 

Ich  selbst  sah  bei  einem  36  jährigen  Manne  Muskelhyper- 
trophie eines  Armes  und  Verlängerung  des  Oberarmes  von  2  cm, 
die  in  Folge  einer  venösen  Stauung  aus  unbekannter  Ursache 
aufgetreten  waren. 

Wahrscheinhch  gehören  auch  die  sogenannten  Trommelstock - 
finger,  welche  in  einer  Vergrösserung  des  Knochens  und  des  Nagels 
des  Endgliedes  der  Finger  und  zuweilen  auch  der  Zehen  bestehen, 
hierher.  Dieselben  beobachtet  man  bei  schweren,  meist  aus  frühester 
Kindheit  stammenden  Herzfehlern,  Emphysem,  Bronchiektasien 
und  schwerer  Phthise  der  Lungen,  also  bei  Krankheiten,  welche  zu 
chronischen  Stauungen  führen.     Bamberger  beschrieb  bei  den- 

1)  Krause,  Traiimatische  Angiektasie  des  linken  Armes.  Archiv  f.  klin. 
Chirurgie.     2.  Bd.     1862.     S.  142. 

2)  Nicoladoni,  Phlebektasie  der  rechten  oberen  Extremität.  Archiv  f. 
klin.  Chirurgie.     18.  Bd.   S.  252. 

3)  Israel,  Angiektasie  im  Stromgebiete  der  Arteria  tibialis  antica.  Archiv 
f.  klin.  Chirurgie.    21.  Bd.    S.  109. 

4)  Hitzig,  Über  einen  Fall  von  Hypertrophie  eines  Armes.  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1872.    S.  588. 

5)  Penzo,  Sulla  influenza  dell'  Iperemia  passiva  etc.  Atti  del  Reale 
Istituto  di  Scienze.     Lettere  ed  Arti  1904/5.     64.  Bd.     II.  Teil. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  205 

selben  Leiden  Verdickungen  der  Knochen  an  Unterschenkeln  und 
Unterarmen.  Fischeri)  glaubt  ihre  Entstehung  durch  Hyperämie 
dadurch  beweisen  zu  können,  dass  er  bei  solchen  Fällen  eine 
Steigerung  der  Hauttemperatur  in  den  Handtellern  gegenüber 
anderen  Körperteilen  um  PC  fand.  Es  scheint  mit  dies  nicht 
ohne  weiteres  beweisend,  da  die  Hauttemperatur  in  den  Handtellern 
in  der  Norm  etwas  höher  ist,  als  an  anderen  Teilen  der  Arme. 
Immerhin  ist  es  wahrscheinlich,  dass  sie  der  chronischen  Stauung 
ihre  Entstehung  verdanken  und  nicht,  wie  Bamberger  meint,  der 
Resorption  fauliger  Stoffe  aus  Bronchiektasien  und  Kavernen.  Denn 
gegen  die  letztere  Anschauung  spricht  ihr  Vorkommen  bei  Herz- 
fehlern und  ein  von  Eischeri)  beschriebener  Fall,  wo  ein  kachek- 
tisches  Kind  infolge  von  Craniotabes  häufige  Erstickungsanfälle, 
dadurch  Stauungen  und  Trommelstockfinger  bekam. 

Es  besteht  also  gar  kein  Zweifel,  dass  eine  dauernde  venöse 
Hyperämie  Hypertrophie  der  Bindesubstanzen,  und  zwar  in  erster 
Linie  der  Knochen,  und  ferner  Hypertrophie  epithelialer  Gebilde, 
vor  allem  der  Haare,  hervorruft.  Indessen  ist  meines  Wissens,  da 
die  oben  beschriebenen  Fälle  von  Muskelhypertrophie  infolge  von 
venöser  Stauung  zum  mindesten  höchst  unsicher  sind,  kein  Fall 
bekannt,  wo  Körperteile  oder  Organe  mit  aktiven  Funktionen  in 
gleicherweise  dadurch  hypertrophiert  wären,  ja  die  Beobachtungen, 
welche  man  bei  Stauungseingeweiden  gemacht  hat,  sprechen  eher 
für  das  Gegenteil. 

Nachdem  man  erkannt  hatte,  dass  Blutüberfluss  unter  gewissen 
Umständen  Hypertrophie  hervorrufe,  hat  man  schon  sehr  frühzeitig 
angefangen,  von  dieser  Erfahrung  praktischen  Gebrauch  zu  machen, 
und  hat  versucht,  durch  künstliche  Hyperämisierung  in  ihrem 
Dicken-  oder  Längenwachstum  zurückgebUebene  Teile  des  Körpers 
zum  vermehrten  Wachstum  anzuregen.  In  seiner  oben  erwähnten 
Arbeit  empfiehlt  v.  Langenbeck  im  Jahre  1869  auf  Grund  eines 
gelungenen  Tierexperiments,  an  verkürzten  Gliedern  der  Menschen 
(z.  B.  nach  Kniegelenksresektion)  Elfenbeinzapfen  in  den  Knochen 
einzuschlagen,  um  so  einen  künstlichen  Entzündungsreiz  zu  schaffen, 
ein  Vorschlag,  der  in  der  Folgezeit  mehrfach  praktisch  ausge- 
führt ist. 

Olli  er  2)  empfiehlt  zur  Steigerung  des  Längenwachstums  der 

1)  H.  Fischer,  Der  Riesenwuchs.  Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie. 
12.  Bd.  S.  43. 

2)  Ollier,   Des  moyens  d'augmenter  la  longueur  des  os  et  d'arreter  leur 


206  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Knochen  Reizungen  des  Periostes  in  der  Mitte  der  Diaphyse  durch 
öfters  wiederholte  Kauterisationen  und  andere  ätzende  Mittel,  und 
es  gelang  ihm,  durch  Ätzpaste  das  verkürzte  Schienbein  eines  jungen 
Mädchens  um  1  cm  zu  verlängern. 

Den  reinen  Versuch,  das  physiologische  Knochenwachstum 
durch  Hyperämie  zu  fördern,  machte  Helferich^)  mit  künstlicher 
Stauungshyperämie.  Er  teilte  folgende  Fälle  mit,  in  denen  er 
Hypertrophie  mehrerer  Gewebe  eines  Beines  durch  Hyperämie  ein- 
treten sah: 

1.  Ein  Knabe  wurde  jahrelang  wegen  kongenitaler  Luxation 
mit  einem  Apparate  behandelt,  welcher  eine  Stauungshyperämie 
im  kranken  Beine  hervorbrachte.  Infolge  davon  wurden  Haut  und 
Muskeln  dicker,  und  es  trat  vermehrtes  Längenwachstum  der 
Knochen  auf. 

2.  Ein  16  jähriges  Mädchen  hatte  durch  ein  chronisches  Geschwür 
eine  Verlängerung  des  kranken  Unterschenkels  um  3  cm  bekommen. 
Durch  Stauungshyperämie  gelang  es  Helferich,  das  gesunde  Bein 
um  2  cm  zu  verlängern.  Ebenso  trat  eine  wahre  Verdickung  der 
Haut  als  Folge  der  künstlichen  Hyperämie  auf. 

3.  Bei  einem  10  jährigen  Knaben,  dessen  Bein  durch  einen 
Oberschenkelbruch  um  314  cm  verkürzt  war,  verlängerte  die 
Stauungshj^erämie  das  Glied  um  1^  cm. 

4.  Bei  einem  9  jährigen  Mädchen,  welches  eine  geringe  Lähmung 
eines  Beines  hatte,  entstand  nach  viermonatlichem  Gebrauche  der 
Stauungsh3rperämie  eine  geringe  Verlängerung  der  Tibia,  Verdickung 
der  Haut  und  gesteigertes  Haarwachstum. 

Helferich  teilt  mit,  dass  er  noch  in  5  Fällen  von  Kinder- 
lähmung die  künstliche  H3rperämie  angewandt  hat,  doch  war  er 
nicht  lange  genug  in  der  Lage,  die  Wirkung  zu  kontrollieren. 

Von  Interesse  ist  Helferich's  Bemerkung,  dass  er  nach 
länger  angewandter  Stauungshjrperämie  regelmässig  Verdickung  der 
Haut  ohne  Ödem,  d.  h.  also  eine  wahre  H5^ertropliie  der  Haut, 
gesehen  habe. 

Die  Beobachtungen  Helferich's  über  die  günstige  Beein- 
flussung der  KaUusbildung  durch  Stauungshyperämie  woUen  wir  an 
anderer  Stelle  behandeln,  hier  aber  noch  über  seine  Versuche  be- 


accroissement ;  application  des  donnees  experimentales  ä  la  Chirurgie.     Comptes 
rendues  hebdomadaires  des  seances  de  Tacademie  des  sciences.      Paris  1873. 

1)  Helferich,     Über    künstliche     Vermehrung     der     Knochenneubildung. 
Archiv  f.  klin.  Chirurgie.     36.  Bd.   S.  783.     1887. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  207 

richten,  die  mangelhafte  Bildung  der  Sequesterlade  durch  Stauungs- 
h5rperärQie  zu  verbessern.  Es  gelang  ihm  in  Fällen  von  Spontan- 
fraktur durch  Totalnekrosen,  welche  nicht  zu  genügender  Laden- 
bildung geführt  hatten,  diese  erheblich  zu  vermehren.  Ebenso 
verwandte  Helferich  eine  leichte  Stauungshyperämie  mit  gutem 
Erfolge,  um  eine  schnellere  Ausbildung  der  Totenlade  vor  Lösung 
des  Sequesters  herbeizuführen. 

Schülleri)  wiederholte  Helferich's  Versuche,  mit  künstlicher 
Stauungshyperämie  Knochenverkürzungen  und  Atrophien  zu  be- 
handeln, er  fügte  aber  ausserdem  noch  Massage,  Einreibungen  und 
Seebäder  hinzu,  sodass  die  Ergebnisse  seiner  Behandlung  nicht  rein 
sind.  Ausserdem  leitete  er  eine  diätetische  Behandlung  ein,  welche 
in  kräftiger  Nahrung  mit  ausgiebiger  Zufuhr  von  Kalksalzen  und 
Einschränkung  der  Aufnahme  von  Milchsäure  aus  den  Nahrungs- 
mitteln bestand. 

Er  erzielte  mehrere  Erfolge  mit  dieser  Behandlung  in  Fällen  von 
spinaler  Kinderlähmung,  die  zu  Verkürzungen  und  Muskelatrophien 
geführt  hatten.  Er  vermochte  durch  eine  mehrmonatliche  Behand- 
lung nicht  nur  die  Knochen  Verkürzung  auszugleichen,  sondern 
auch  die  Muskelatrophie  ganz  wesentlich  zu  bessern. 

In  3  Fällen  schickte  Sc  hüll  er  der  oben  geschilderten  Be- 
handlungsweise  Einschlagen  von  vernickelten  Stahlstiften  in  den 
Knochen  voraus.  Dieselben  blieben  5 — 9  Tage  liegen  und  wurden 
dann  entfernt.  Nach  2  Wochen  wurde  Stauungshyperämie  usw. 
eingeleitet. 

Der  erste  dieser  Fälle  ist  so  auffallend  gebessert,  dass  er  eine 
kurze  Wiedergabe  verdient:  Ein  16 jähriges  Mädchen  hatte  nach 
einer  spinalen  Kinderlähmung,  von  der  es  im  Alter  von  2%  Jahren 
befallen  wurde,  eine  Verkürzung  des  rechten  Unterschenkels  um 
3  cm,  eine  erhebliche  Verkleinerung  des  rechten  Fusses,  starke 
Atrophie  der  Wade,  völlige  Lähmung  der  Zehen  und  Blaufärbung 
und  Kälte  der  Haut  des  Fusses  zurückbehalten.  Durch  die  be- 
schriebene Behandlung,  welche  etwa  8  Monate  durchgeführt  wurde, 
ist  nicht  nur  der  Längenunterschied  der  beiden  Beine  so  gut  wie 
gänzlich  ausgeglichen  und  der  Fuss  erheblich  gewachsen,  sondern 
auch  ,,die  Wade,  welche  früher  fast  ganz  geschwunden  war,  hat 
wieder  Fülle  bekommen".   Ebenso  können  die  Zehen,  welche  früher 


1)   Schüiler,    Mitteilung    über    die    künstliche    Steigerung    des    Knochen- 
wachstums beim  Menschen.     Berliner  klin.  Wochenschr.  1889.     Nr.  21  u.  50. 


2  08  Allgemeine  Wirkiongen  der  Hyperämie. 

niemals  spontan  bewegt  wurden,  jetzt  aktiv  ebenso  gebeugt  wie  ge- 
streckt werden.  DerFuss,  der  sonst  immer  blau  und  eiskalt  war  und 
keine  andere  Bewegung  zu  machen  vermochte,  wie  massige  Dorsal- 
flexion, wobei  er  überdies,  freigelassen,  regelmässig  ganz  nach 
aussen  umknickte,  hat  jetzt  natürliche  Farbe  und  Wärme  und  kann 
aktiv  ohne  auffällige  Abknickung  nicht  nur  dorsalwärts.  sondern 
auch  plantarwärts  bewegt  werden. 

Es  muss  zu  dieser  Krankengeschichte  hinzugefügt  werden,  dass 
Schüller  vorher  operative  Eingriffe  —  Arthrodese  am  Fusse  und 
Durchschneidung  der  Plantaraponeurose  —  gemacht,  sowie  neben 
dem  hyperämisierenden,  gymnastischen  und  diätetischen  Verfahren 
diesen  Fall  nebenbei  orthopädisch  behandelt  hat. 

Grundsätzlich  wichtig  ist  auch  die  Behauptung  Schüller's,dass 
er  durch  das  geschilderte  Verfahren  einseitige  Knochenneubildung 
erzeugt  habe.  Er  schlug  nämlich  bei  einem  Falle  von  sehr  starken 
Genua  valga  infolge  von  Rachitis  auf  der  Aussenseite  beider  Ober- 
schenkel zwei  Finger  breit  oberhalb  der  Epiphysenlinie  vernickelte 
Stahlnägel  ein  und  entfernte  dieselben  nach  5  Tagen.  2  Wochen 
später  wurde  das  geschilderte  Verfahren  —  Stauungshyperämie, 
Massage,  Gymnastik  —  eingeleitet  und  das  Kind  gleichzeitig  an  die 
Ostsee  geschickt.  4%  Monate  später  war  das  schlimmere  Genu 
valgum  vollständig  geschwunden,  das  andere  bedeutend  gebessert. 
Diesen  Unterschied  führt  Schüller  darauf  zurück,  dass  der  Stahl- 
stift links  tiefer  eingetrieben  war,  als  rechts.  Ferner  waren  die 
Beine  beträchtlich  gewachsen,  und  zwar  kam  die  Verlängerung  in 
erster  Linie  auf  Rechnung  der  Oberschenkel,  was  Schüller  auch 
auf  seine  Behandlung  zurückführt. 

Seitdem  wir  wissen,  dass  Genua  valga  rhachitica  bei  einer  zweck- 
mässigen hygienischen  Behandlung,  die  ja  nebenbei  hier  ausgeführt 
wurde,  häufig  von  selbst  verschwinden,  dürfte  dieser  Fall  wesentHch 
an  Beweiskraft  eingebüsst  haben. 

So  zahlreich  nun  die  Beobachtungen  über  den  hypertrophieren- 
den  Einfluss  der  passiven  Hyperämie  sind,  so  spärlich  sind  sie  über 
den  der  aktiven. 

Ich  erwähnte  schon,  dass  diese  letztere  ebenfalls  zu  einer  Ver- 
mehrung des  Haarwachstums  führt. 

Bidderi)  entfernte  einem  jungen  Kaninchen  ein  1,5  cm  langes 
Stück   aus   dem   einen   Sympathicus   und   brachte   dadurch   eine 

1)  Bidder,  Hypertrophie  des  Ohres  nach  Excision  eines  Stückes  vom 
Halssympathicus  des  Kaninchens.     Centralbl.  f.  Chiriirgie.      1874.     S.  97. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  209 

arterielle  Hyperämie  der  betreffenden  Kopf  half  te  hervor.  Das  ent- 
sprechende Ohr  wurde  viel  breiter  und  länger,  als  das  der  gesun- 
den Seite. 

Denselben  Versuch  mit  gleichem  Erfolge  stellte  Stirlingi) 
an  mehreren  jungen  wachsenden  Kaninchen  und  Hunden  an. 

Penzo^)  machte  das  eine  der  Ohren  eines  wachsenden  Kanin- 
chens dadurch,  dass  er  es  den  grössten  Teil  des  Tages  in  einer 
Temperatur  von  +  37  —  38°  hielt,  dauernd  hyperämisch,  das  andere 
gleichzeitig  durch  eine  Temperatur  von  +  10 — 12°  anämisch. 
In  5  Versuchen,  welche  er  anstellte,  erzielte  er  stets  das  gleiche 
Ergebnis:  das  gewärmte  Ohr  wuchs  bedeutend  schneller.  Nach 
der  beigegebenen  Photographie  eines  Kopfes  von  einem  so 
behandelten  Kaninchen  war  der  Grössenunterschied  recht  be- 
deutend. 

Hierher  gehört  auch  der  oben  erwähnte  Versuch  I.  Hunter's, 
das  übermässige  Wachstum  eines  Hahnensporns,  welcher  auf  den 
blutreichen  Kamm  aufgepfropft  wurde. 

Im  Gegensatz  dazu  erwähnt  Virchow^),  dass  man  (wahr- 
scheinlich bei  erwachsenen  Tieren)  mittels  Durchschneidung  des 
Sympathicus  wochen-  und  monatelang  Hyperämie  der  ganzen  Kopf - 
hälfte  erhalten  könne,  ohne  dass  die  geringste  Änderung  in  der  Er- 
nährung vor  sich  gehe,  und  Cohnheim*)  behauptet  dasselbe  sogar 
von  jungen  wachsenden  Tieren. 

Man  hat  nach  arterieller  Hyperämie  infolge  von  Nervendurch- 
schneidung sogar  Atrophie  eintreten  sehen;  so  Schiff  Atrophie 
des  Kehllappens  beim  Truthahn,  Legros  Atrophie  des  Kammes 
bei  einem  jungen  Hahn  auf  der  entsprechenden  Seite,  nachdem  er 
ihm  das  oberste  Ganglion  des  Sympathicus  entfernt,  und  Brown- 
Sequard  und  Vulpian  Atrophie  der  zugehörigen  Gehirnhälfte 
beim  Meerschweinchen,  nachdem  sie  den  Sympathicus  durch- 
schnitten hatten  5). 

Es  beweisen  also  diese  Versuche,  dass  die  künstHche  arterielle 

1)  Stirling,  Note  on  the  effects  of  division  of  the  sympathetic  nerve  of 
the  neck  in  young  animals.  Jovtrnal  of  anatomy  and  physiology.  10.  Bd. 
1876.    S.  511. 

2)  Penzo,  Über  den  Einfluss  der  Temperatxor  auf  die  Regeneration  der 
Zellen,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Heilung  der  Wunden.  Moleschott's 
Untersuchungen  zur  Naturlehre.     1893.     15.  Bd.     S.  117—125. 

3)  Virchow,  Die  Cellularpathologie.    Berlin  1858.     S.  113. 

4)  Cohnheim,  Allgemeine   Pathologie.     1.  Bd. 

5)  Zitiert  nach  Roux,  Der  Kampf  der  Teile  im  Organismus.     Leipzig  1881. 
Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  14 


210  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Hyperämie,  welche  man  mittels  Durchschneidung  vasomotorischer 
Nerven  erzeugt,  zwar  häufig  Hypertrophie  macht,  aber  sie  keines- 
wegs zu  machen  braucht.  Ich  habe  schon  bei  früherer  Gelegen- 
heit geltend  gemacht,  dass  folgende  Erfahrungen  des  täglichen 
Lebens  gegen  die  hypertrophierende  Wirkung  der  arteriellen  Hyper- 
ämie unter  natürhchen  Verhältnissen  sprechen:  Leute,  die  den 
grössten  Teil  des  Tages  über  ihre  Haut  und  besonders  die  des  Ge- 
sichtes sehr  erheblicher  Hitze  aussetzen  und  dieselbe  damit  aktiv 
hyperämisieren,  wie  Glasbläser,  Metallgiesser,  Hetzer,  Bäcker,  haben 
keineswegs  eine  hypertrophische  Haut,  sondern  im  Gegenteil,  die- 
selbe zeichnet  sich  durch  Zartheit  und,  wenn  diese  Leute  nicht 
gerade  vor  dem  Feuer  stehen,  durch  Blässe  aus. 

Meine  eigenen  Hände  und  Vorderarme  sind,  seit  ich  Chirurg 
bin,  infolge  des  vielfachen  Waschens  in  einem  dauernden  Zustande 
von  Hyperämie,  welche,  der  Farbe  nach  zu  urteilen,  eine  arterielle 
Hyperämie  ist;  die  Haut  dieser  Teile  ist  aber  keineswegs  hyper- 
trophisch, sondern  viel  eher  atrophisch  geworden. 

Unter  vielen  Hunderten  von  Fällen,  welche  ich  mit  aktiver 
Hyperämie  durch  heisse  Luft  behandelte,  habe  ich  nicht  einen  Fall 
gesehen,  wo  dieses  Mittel  eine  Erhöhung  der  Ernährung  des  be- 
handelten Körperteiles  hervorgebracht  hätte,  welche  nicht  durch 
die  Besserung  des  Grundleidens  völlig  erklärt  wäre. 

Ausser  den  Beobachtungen  Helferich's  und  Schüller's  habe 
ich  nirgends  in  der  Literatur  Angaben  gefunden,  welche  über  Ver- 
suche, durch  reine  Stauungshyperämie  beim  Menschen  das  physio- 
logische Wachstum  zu  beschleunigen  und  vorhandene  Atrophien 
zu  beseitigen,  berichten. 

Denselben  Zweck  durch  aktive  Hyperämie  zu  erreichen,  ist 
meines  Wissens  überhaupt  früher  noch  nicht  versucht.  Dies,  liegt 
wohl  in  erster  Linie  daran,  dass  die  Beobachtungen  von  H3rper- 
trophie  infolge  von  Blutfülle,  welche  man  zufällig  machte,  fast 
lediglich  die  venöse  Hyperämie  betrafen.  Es  kam  hinzu,  dass  man 
vor  meiner  Empfehlung  hoher  Hitzegrade  zur  Erzielung  einer 
aktiven  Hyperämie  ein  unschädliches  Mittel,  diese  herbeizuführen, 
überhaupt  nicht  kannte,  da  man  doch  unmöglich  Lähmungen  vaso- 
motorischer Nerven  beim  Menschen  erzeugen  konnte.  Ich  halte  es 
deshalb  für  wichtig,  einige  Beobachtungen,  welche  ich  im  Anfange 
meiner  Versuche  mit  Hyperämie  machte,  und  über  die  ich  bereits 
früher  berichtet  habe,  hier  mitzuteilen. 

Ich  versuchte  in  3  Fällen  von  spinaler  Kinderlähmung  der  Beine^ 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  211 

die  starke  Muskelatrophie  und  die  Lähmung  durch  künstUche 
Hyperämie  zu  bessern.  Knochenverkürzungen  lagen  überhaupt 
nicht  vor:  ob  infolge  der  Behandlung  eine  Verlängerung  einge- 
treten ist,  kann  ich  nicht  sagen,  da  ich  leider  nicht  darauf  unter- 
sucht habe.  Ich  muss  mich  deshalb  darauf  beschränken,  die 
Wirkung,  welche  die  Hyperämie  auf  Muskeln  und  Haut  ausübte, 
zu  schildern. 

Ich  wandte  zuerst  in  allen  3  Fällen  2  Monate  lang  Stauungs- 
hyperämie  dauernd  an,  wobei  zweimal  täglich  die  stauende  Binde 
an  eine  andere  Stelle  gesetzt  wurde.  Ich  kann  die  Beobachtung 
Helferic h's  bestätigen,  dass  die  gelähmten  GHeder  das  Verfahren 
sehr  gut  vertrugen.  In  keinem  einzigen  Falle  konnte  ich  einen 
Erfolg  bemerken.  Darauf  wandte  ich  in  einem  Falle  2  Monate,  in 
den  beiden  anderen  je  1  Monat  künstliche  arterielle  Hyperämie, 
welche  ich  durch  heisse  Luft  erzeugte,  2 — 3  Stunden  lang  täglich 
an.  Auch  diese  wurde  gut  vertragen i).  Allerdings  war  ich  sehr 
vorsichtig  und  liess  die  Hitze  niemals  übermässig  hoch  steigen. 
Die  Hyperämie  trat  trotzdem  in  genügender  Stärke  ein.  In  dem 
einen  Fall  erzielte  ich  insofern  einen  befriedigenden  Erfolg,  als  das 
vorher  kalte  und  blaue  Glied  während  der  Dauer  der  Behandlung 
wärmer  und  die  blaue  Farbe  geringer  wurde.  Doch  verschwand 
dieser  Erfolg  bald  nach  Aussetzen  der  Behandlung  wieder.  Auf 
die  Ernährung  von  Haut  und  Muskeln  aber  hatte  die  arterielle 
Hyperämie  nicht  den  geringsten  Einfluss.  Ja,  in  einem  Falle  schien 
es  mir,  als  ob  die  atrophische  Haut  noch  viel  dünner  und  empfind- 
licher wurde,  als  sie  vorher  schon  war. 

Überblicken  wir  die  zahlreichen  Fälle  und  Beobachtungen, 
welche  man  eingeführt  hat,  um  zu  beweisen,  dass  Hyperämie  als 
solche  Hypertrophie  hervorruft,  so  ist  zweifellos  feststehend  nur, 
dass  infolge  chronischer  Hyperämie  das  Längen-  und  Dickenwachs- 
tum der  Knochen  häufig  zunimmt,  dass  die  Deckepithelien  dadurch 
wuchern  und  dass  das  Bindegewebe  sich  vermehren  kann,  ohne 
dass  das  letztere  die  durchgehende  Regel  ist. 

Dagegen  ist  es  schon  für  die  Muskeln  höchst  zweifelhaft,  ob 
sie  unter  dem  Einflüsse  chronischer  Hyperämie  hypertrophieren. 


1)  Ich  habe  schon  bei  früherer  Gelegenheit  (Virchow's  Archiv  153.  Bd. 
S.  332)  nachgewiesen,  dass  die  Gefässe  selbst  kalter  und  blauer  gelähmter 
Glieder  sehr  gut  auf  Mittel,  welche  aktive  Hyperämie  erzeugen,  reagieren,  da 
die  künstliche  Blutleere  an  ihnen  in  normaler  Weise  eine  sehr  lebhafte  reaktive 
Hyperämie  hervorriift. 

14* 


2]^  2  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Ja,  angenommen  selbst,  die  oben  mitgeteilten  Fälle  seien,  anatomisch 
betrachtet,  wahre  Hypertrophien,  so  sind  sie  physiologisch  zweifellos 
als  Entartungen  aufzufassen,  da  sie  zur  Muskelschwäche  führten. 
Damit  wäre  die  praktische  Verwertbarkeit  künsthcher  Hyperämie, 
um  Muskelhypertrophie  zu  erzeugen,  schon  ausgeschlossen,  um  so 
mehr,  als  sie  bei  so  hochgradigen  dauernden  Stauungen  beobachtet 
wurde,  wie  wir  sie  kaum  ohne  Schaden  für  den  Kranken  herstellen 
können.  Von  anderen  Geweben  aber  vollends  kennen  wir  kein  ein- 
wandfreies Beispiel,  dass  sie  durch  Hyperämie  sich  hätten  passiv  in 
einen  Zustand  von  Hypertrophie  versetzen  lassen,  im  Gegenteil, 
einige  Beobachtungen  sprechen  dafür,  dass  starke  dauernde 
Hyperämie  hier  sogar  Atrophie  hervorrufen  kann.  Für  sie  gilt  also 
das  Wort  Vir ch  o  w's,  dass  die  Zelle  sich  nicht  passiv  ernähren  lässt, 
sondern  sich  selbst  ernährt,  und  somit  ihr  im  Überschuss  gebotene 
Nahrung  verschmäht,  wenn  sie  nicht  gleichzeitig  die  in  ihrem  Wesen 
uns  noch  unbekannten  Reize  treffen,  die  sie  zum  Wachsen  und  zur 
Vermehrung  bringen. 

Für  die  Deckepithelien  und  das  Stützgewebe  (Knochen, 
Knorpel,  Bindegewebe)  müssen  wir  dagegen  zugestehen,  dass  die 
Möglichkeit  einer  passiven  Ernährung  durch  H3rperämie  besteht, 
obwohl  dieselbe  immerhin  auch  ausbleiben  kann,  wie  die  oben  er- 
wähnten Beobachtungen  zeigen. 

Ich  glaube  deshalb,  dass  Rouxi)  das  Richtige  getroffen  hat, 
wenn  er  annimmt,  dass  nur  die  Organe  mit  passiven  2)  Funktionen 
(Stützgewebe  und  DeckepitheUen),  niemals  aber  solche  mit  aktiven 
Funktionen  (Muskeln,  Nerven,  absondernde  Epithelien)  sich  nur 
durch  Vergrösserung  der  Nahrungszufuhr,  ohne  weitere  Reize,  zu 
vermehren  imstande  seien.  Ich  habe  früher,  ehe  ich  diesen  Aus- 
spruch Roux's  kannte,  diese  Dinge  so  unterschieden,  dass  ich 
sagte :  Nur  die  anspruchslosen  Gewebe,  welche  unter  der  kümmer- 
Hchsten  Ernährung  noch  fortkommen  und  lebendig  bleiben,  wie  das 
bei  den  Stützsubstanzen  und  den  Deckepithelien  der  Fall  ist,  lassen 


1)  Roux,  Der  Kampf  der  Teile  im  Organismus.     Leipzig  1881. 

2)  Rein  passiv  fvuxktionierende  Organe  gibt  es  wohl  gar  nicht.  Das 
Bindegewebe  enthält  die  Lymphknoten,  beteiligt  sich  also  an  der  Blutbereitung 
und  hat  vielleicht  noch  andere  ,, drüsige"  Funktionen.  Der  Knochen,  dessen 
Funktion,  Belastung  und  Muskelspannungen  auszuhalten,  scheinbar  ganz  passiv 
ist,  enthält  das  Mark,  welches  ebenfalls  für  die  Blutbereitung  tätig  ist.  Trotz- 
dem wird  das  Wort  ,, passiv"  hier  wohl  kaum  zu  Missverständnissen  Veran- 
lassung geben. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  213 

sich  durch  Hyperämie  passiv  ernähren,  die  höher  organisierten  da- 
gegen nicht. 

Dass  diese  Unterscheidung  zwischen  den  verschiedenen  Ge- 
weben berechtigt  ist,  zeigen  die  vielfachen  Beobachtungen  von 
Substitution  höher  entwickelten  Gewebes  durch  Bindegewebe,  die 
bei  Ernährungsstörungen  eintritt,  und  zwar  besonders  deutlich 
die  Erfahrungen,  welche  zahlreiche  Versucher  ^)  bei  künstlichen 
Kreislaufstörungen  an  der  Niere  gemacht  haben.  Unterbindet  man 
entweder  nur  die  Arteria  oder  diese  und  die  Vena  renalis  zusammen, 
so  ist  die  erste  Folge  dieser  Operation  eine  ungeheure  Anschoppung 
von  venösem  Blut,  sodass  die  Niere  sich  um  das  Zwei-  bis  Dreifache 
vergrössert.  Die  Anschoppung  kommt  dadurch  zustande,  dass  das 
leere  Gefässgebiet  der  Niere,  deren  Arterie  eine  ,, Endarterie"  im 
Cohnheim'schen  Sinne  darstellt,  in  erster  Linie  von  den  kapillären 
Anastomosen  der  Kapsel  aus,  voll  von  venösem  Blut  läuft.  Später 
nimmt  die  Hyperämie  ab  und  die  Niere  wird  sogar  anämisch  ge- 
funden. Nach  etwa  8  Tagen  hat  sie  ihre  alte  Grösse  wieder,  schrumpft 
dann  mehr  und  mehr,  um  schliesslich,  wenn  die  Blutzufuhr  der 
Niere  wirklich  wirksam  unterbrochen  wurde,  zu  einem  Häufchen 
Bindegewebe  zu  werden,  worin  nicht  selten  Verkalkung  auftritt. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  solcher  Nieren  zeigt,  dass  während 
des  Zustandes  der  venösen  Blutstockung  das  Epithel  mit  grosser 
Geschwindigkeit  abstirbt.  Schon  wenn  die  Unterbindung  nur  wenige 
Stunden  dauert,  ist  es  unrettbar  verloren.  Statt  dessen  aber  tritt 
eine  ausserordentlich  schnelle  Neubildung  von  Bindegewebe  ein, 
welches  anfangs  sehr  blutreich  ist  und  von  verschiedenen  Seiten  in 
die  Niere  vorwuchert,  um  schliesslich  sich  in  eine  schrumpfende 
Narbe  zu  verwandeln. 

Diese  Erfahrungen  zeigen  uns,  wie  vorsichtig  wir  sein  müssen, 
wenn  wir  Beobachtungen,  welche  Hypertrophie  einzelner  Gewebe 
durch  Hyperämie  zeigen,  auf  alle  Gewebe  verallgemeinern. 

So  muss  ich  denn  auch  an  meiner  schon  mehrfach  ausge- 
sprochenen Ansicht  festhalten,  dass  ich  die  Versuche,  ausgebildete 


1)  Vgl.  u.  a. :  Cohn,  Klinik  der  enibolischen  Gefässkrankheiten.  Talma,. 
Der  Verschluss  der  Nierenarterie  und  seine  Folgen.  Zeitschr.  f.  klin.  Medizin. 
2.  Bd.  S.  483.  —  Litten,  Über  den  Einfluss  arterieller  Anämie  auf  die  Gefäss- 
wände.  Virchow's  Archiv.  88.  Bd.,  und:  Untersuchungen  über  den  hämorrha- 
gischen Infarkt  nnd  über  die  Einwirktmg  arterieller  Anämie  auf  das  lebende 
Gewebe.  Zeitschr.  f.  klin.  Medizin.  1.  Bd.  S.  131.  —  Nicolai,  Über  die  Ligatur 
der  Nierengefässe.    Habilitationsschrift.     Kiel  1895. 


214  Allgemeine  Wirkungen  der  HA'perämie. 

und  fertige  Körperteile  durch  künstliche  Hyperämie  hypertrophisch 
machen  zu  wollen,  für  aussichtslos  halte.  Ich  glaube  auch  kaum, 
dass  es  gelingen  wird,  das  physiologische  Wachstum  durch  dieses 
Mittel  so  regelmässig  zu  befördern,  dass  man  hier  von  einem  Ver- 
fahren sprechen  kann,  welches  mit  einiger  Sicherheit  den  gewünsch- 
ten Zweck  erreichen  lässt,  womit  ich  nicht  bezweifeln  will,  dass  man 
künsthche  Verlängerung  wachsender  Knochen  unter  Umständen  mit 
jenem  Mittel  erreichen  kann.  Ich  muss  an  dieser  Ansicht  festhalten, 
trotz  der  gegenteiligen,  sehr  günstigen  Beobachtungen  Helf  erich's 
und  SchüUer's.  Denn  Helferich's  Fälle  waren  immerhin  sehr 
wenige.  Er  konnte  zwar  in  den  vier  Fällen,  wo  er  Stauungsh3rperämie 
anwandte,  verkürzte  wachsende  Knochen  verlängern,  in  den  5  Fällen 
von  gelähmten  Gliedern,  welche  er  ebenso  behandelte,  hat  er  keine 
Muskelhypertrophie  erzielt.  Was  die  Verdickung  der  Haut  anlangt, 
die  Helf  erich  regelmässig  bei  Anwendung  der  Stauungshyperämie 
sah,  so  möchte  ich  doch  aus  unten  näher  auszuführenden  Gründen 
annehmen,  dass  es  sich  hier  wesentlich  um  chronisches  Ödem  ge- 
handelt hat. 

Höchst  auffallend  sind  SchüUer's  Erfolge,  der  nicht  nur 
Knochenverlängerungen,  sondern  ganz  bedeutende  Hypertrophie 
gelähmter  Muskeln  erzielte.  Aber  einerseits  sind  seine  Versuche 
nicht  rein,  da  er  neben  der  Hyperämie  noch  alle  möglichen  andern 
Mittel  anwandte,  und  andererseits  ist  der  Fall,  wo  Muskeln,  welche 
13%  Jahre  völlig  gelähmt  waren,  nicht  nur  dicker  wurden,  sondern 
auch  ihre  Funktion  wiedererlangten,  so  auffallend,  und  steht  mit 
allen  unseren  Erfahrungen  über  die  Wiederherstellung  gelähmter 
Muskeln  in  solchem  Widerspruch,  dass  man  ihn  für  sich  allein 
schwerlich  als  beweiskräftig  wird  ansehen  können. 

Entscheidend  ist  aber  für  mich,  dass  jene  Beobachtungen  sich 
auf  sehr  spärliche  Fälle  beschränkten.  Ich  kann  aber  nur  wieder- 
holen, dass  ich  unter  den  vielen  Hunderten  von  Fällen,  welche  ich 
in  den  therapeutisch  zulässigen  Grenzen  mit  Stauungshyperämie, 
und  unter  den  vielen  Hunderten,  die  ich  mit  aktiver  Hyperämie 
behandelt  habe,  ausser  vermehrtem  Haarwachstum  und  vereinzelten 
geringen  Knochenverlängerungen  niemals  eine  reine  Hypertrophie 
an  Geweben  gesehen  habe,  die  auf  die  Hyperämie  hätte  zurück- 
geführt werden  müssen  und  sich  nicht  auf  viel  einfachere  Weise 
durch  Besserung  des  Grundleidens  erklärt  hätte.  Ich  gebe  dabei 
zu,  dass  auf  vermehrtes  Längenwachstum  der  Knochen  nicht  ge- 
nügend geachtet  ist,  und  dass  dies  möghcherweise  viel  häufiger 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  215 

eingetreten  ist,  als  wir  annahmen.  In  höherem  Grade  und  regel- 
mässig ist  dies  aber  keineswegs  der  Fall  gewesen,  sonst  hätte  es 
uns  nicht  entgehen  können.  Und  doch  habe  ich  in  manchen  Fällen 
die  hyperämisierende  Behandlung  jahrelang  angewandt. 

Nachdem  ich  dies  schon  niedergeschrieben  hatte,  machte  ich 
folgende  Beobachtung,  die  auf  den  ersten  Blick  geeignet  erscheint, 
diese  meine  Meinung  gründlich  zu  erschüttern: 

Ein  11  jähriger  Knabe,  dessen  Vater  an  Lungenschwindsucht  starb, 
erkrankte  im  März  1902  an  einer  Caries  sicca  tuberculosa  des  rechten 
Schviltergelenkes  und  wurde  am  13.  Mai  1902  in  die  Greif swalder  chirur- 
gische Klinik  aiifgenommen. 

Es  war  ein  kleiner,  schmächtiger,  muskelschwacher  Knabe.  Die"  ganze 
rechte  Schultergegend  war  sehr  stark  abgemagert.  Die  Abmagerung  be- 
traf besonders  den  Musculus  deltoides  und  die  Muskeln  der  Fossa  supra- 
mid  infraspinata,  so  dass  das  Akromion  vmd  die  Schulterblattgräte  sehr 
stark  vorsprangen.  Das  Gelenk  war  vollständig  versteift,  bei  jedem  Be- 
wegungsversuch ging  das  Schulterblatt  sofort  mit.  Der  Sulcus  intertuber- 
cularis  war  auf  Druck  stark  empfindlich,  der  rechte  Arm  um  2^  cm 
kürzer  als  der  linke.  Das  Röntgenbild  zeigte  eine  erhebliche  Zerstörung 
des  Schulterkopfes. 

Vom  15.  bis  29.  Mai  wurde  täglich  IQ — 12  Stvmden,  von  da  ab  bis 
zum  1.  August  täglich  2  Stunden  (morgens  und  nachmittags  je  1  Stunde) 
die  Schulterstauiing,  wie  sie  in  Figur  9  abgebildet  ist,  ausgeführt. 
Eine  Besserung  in  der  Beweglichkeit  wiu"de  nicht  erzielt.  Nach  der  bei  der 
Entlassung  vorgenommenen  Röntgenaufnahme  scheint  jetzt  eine  knöcherne 
Ankylose  im  Gelenk  zu  bestehen.  Im  übrigen  hatte  sich  das  Leiden  ge- 
bessert und  das  Allgemeinbefinden  sich  sehr  gehoben.  Bei  der  Entlassung 
am  2.  August  1902  war  die  rechte  Schulter,  welche  früher  stark  einge- 
sunken und  atrophisch  war,  mindestens  so  gewölbt  wie  die  linke,  eher 
stärker  als  schwächer.  Der  rechte  Oberarm  war  genau  so  lang  wie  der 
linke.  Die  Atrophie  der  Muskulatur  war  für  den  Anblick  vollständig  ge- 
schwunden; die  genaue  Messung  ergab,  dass  der  rechte  Oberarm  noch 
Yo  cm  in  Umfang  dünner  war  als  der  linke.  Die  frülier  erhebliche  Sclimerz- 
haftigkeit,  besonders  die  bei  Druck  auf  den  Sulcus  intertubercularis,  war 
vollkommen  beseitigt. 

Der  Befund  überraschte  mich  im  höchsten  Grade.  Es  war  im  Laufe 
von  2^  Monaten  nicht  nur  die  Verkürzung  von  2^  cm  ausgeglichen, 
sondern  die  atrophischen  Weichteile  waren,  trotzdem  das  Schulter gelenk 
wegen  der  Versteifung  nicht  gebraucht  werden  konnte,  so  weit  wieder  her- 
gestellt, dass  sie  für  den  blossen  Anblick  gerade  so  stark  erschienen,  wie 
die  der  gesunden  Seite.  Dass  es  in  der  Tat  zu  einer  Verlängerung  des 
I^ochens  gekommen  war,  imd  nicht  ein  Messungsfehler  vorlag,  beweist  der 
Vergleich  des  Röntgenbildes,  welches  bei  der  Aufnahme  des  Kranken  her- 
gestellt war,  mit  dem  bei  der  Entlassimg  unter  den  gleichen  Bedingiingen 
angefertigten.  Während  das  erstere  dem  gesunden  Arm  gegenüber 
Schwund  der  Epiphyse  nachweist,  findet  sich  bei  dem  letzteren  eine  massige 
Epiphyse,  welche  ebenso  wie  der  angrenzende  Teil  der  Diaphyse  erheblich 


2]_Q  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

breiter  ist  als  die  der  gesunden  Seite.  Allerdings  lässt  die  Messung  mit 
dem  Zirkel  erkennen  (es  sind  genau  gleich  grosse  Bilder),  dass  die  kranke 
Epipliyse  etwa  1  cm  niedriger  ist  als  die  gesunde,  aber  offenbar  ist  dies 
durch  ilire  grössere  Breite  und  das  vermehrte  Wachstum  der  Diaphyse 
ausgeglichen  worden. 

Man  sollte  meinen,  dies  wäre  ein  reiner  Fall  von  passiver  Er- 
nährung eines  atrophischen  Ghedes  durch  Hyperämie,  indessen 
glaube  ich  doch  nicht,  dass  der  Fall  so  aufzufassen  ist,  denn  neben 
dem  Verschwinden  der  anderen  Atrophien  verschwand  auch  die 
der  Muskeln  der  Fossa  supra-  und  infraspinata,  obwohl  sie  ausser- 
halb des  stauenden  Schlauches  sassen  und  gar  nicht  von  der  Hj/per- 
ämie  betroffen  wurden.  Also  auch  in  diesem  Falle  dürfte  das  Ver- 
schwinden der  Atrophie  mit  der  Besserung  des  Grundleidens  in 
Zusammenhang  stehen. 

Ich  habe  häufig  versucht,  in  einer  anderen  Weise  ernährend 
auf  den  ganzen  Menschen  einzuwirken.  Bekanntlich  wird  durch 
Blutentziehung  der  Körper  zur  vermehrten  Blutbildung  angeregt, 
und  die  Erfolge  des  Aderlasses  bei  der  Chlorose  erklärt  man  auf 
diese  Weise.  Ich  habe  nun  versucht,  grössere  Blutmengen  bei 
blutarmen  Leuten  durch  Stauungshyperämie  ausgedehnter  Körper- 
teile dem  Kreislauf  zu  entziehen,  um  so  den  blutärmer  gemachten 
übrigen  Körper  zur  Blutbildung  anzuregen.  Ich  habe  allerdings 
niemals  reine  Fälle  gehabt,  sondern  das  Verfahren  nur  angewandt, 
wenn  es  wegen  eines  anderen  Leidens  angezeigt  war.  So  wurde 
z.  B.,  wenn  ein  krankes  Fussgelenk  bei  einem  sehr  blutarmen 
Kranken  vorlag,  die  Stauungsbinde  hoch  oben  am  Oberschenkel 
angelegt,  ohne  dass  der  gesunde  Abschnitt  des  Beines  eingewickelt 
wurde.  Ich  habe  den  Eindruck  —  hier  kann  man  allerdings  nur 
von  Eindrücken  sprechen  — ■,  dass  mir  die  Besserung  und  Ver- 
mehrung des  Blutes  in  mehreren  Fällen  sehr  gut  gelungen  ist, 
und  es  dürfte  sich  lohnen,  hierauf  ferner  sein  Augenmerk  zu 
richten. 


Einfluss  der  Hyperämie  auf  die  Regeneration. 

Seit  den  Versuchen  Ambroise  Pare's,  v.  Dumreicher's, 
Nicoladoni's,  Helferich's  und  Thomas' wissen  wir,  dass  ver- 
zögerte KaUusbildung  durch  Einleitung  einer  künsthehen  venösen 
Hyperämie  ganz  bedeutend  befördert  und  verstärkt  wird.  Ja,  es 
scheint,  dass  man  den  mangelhaften  Reiz  zur  Knochenneubildung 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  217 

bei  ganz  ausbleibender  Kallusbildung  durch  die  Stauungshyperämie 
anfachen  kann.  Der  Einfluss  der  letzteren  auf  Heilung  von  Knochen- 
brüchen darf  wohl  jetzt  als  anerkannt  gelten. 

Ganz  ähnliche  Erfahrungen  habe  ich  gemacht  bei  entzündeten, 
und  zwar  besonders  bei  subakut  entzündeten  Gelenken.  Hier  ver- 
wandeln sich  unter  Stauungshyperämie  Entzündungsherde  häufig 
in  wenigen  Tagen  in  steinharte  Bindegewebsnarben.  Auch  bei 
tuberkulösen  Entzündungen  beobachtet  man  ein  Härterwerden  der 
weichen  tuberkulösen  Granulationsgeschwulst  und  ihre  Verwand- 
lung in  Narben,  doch  geht  dies  gewöhnlich  natürlich  sehr  langsam. 
Nur  in  sehr  vereinzelten,  noch  zu  erwähnenden  Fällen  von  Tuber- 
kulose erzeugt  die  Stauungshyperämie  eine  Art  von  akuter  Ent- 
zündung und  wandelt  ebenfalls  mit  unglaublicher  Schnelligkeit 
die  tuberkulösen  Granulationsmassen  in  derbes  schrumpfendes 
Bindegewebe  um.  Diese  Art  der  Regeneration  und  schnellen 
Ausbildung  von  fertigem  Bindegewebe  ist  wohl  im  Prinzip  der 
gleiche  Vorgang,  aber  meiner  Ansicht  nach  viel  sinnfälliger  und 
überzeugender,  als  die  Heilung  einer  Pseudarthrose.  Denn  wir 
sehen  das  Ganze  unter  unseren  Augen  in  wenigen  Tagen  vor  sich 
gehen  und  können  uns  durch  das  Gefühl  zu  jeder  Zeit  von  dem 
Fortschreiten  der  Vernarbung  überzeugen.  Diese  ausserordentlich 
schnelle  Vernarbung  erklärt  sich  wohl  aus  dem  Umstände,  dass 
bei  jenen  Entzündungen  das  erste  Stadium  der  Bindegewebvsbildung, 
kleinzellige  Infiltration  und  Granulation,  schon  vorhanden  ist. 

Die  Umwandlung  der  Entzündungsherde  in  Bindegewebsnarben 
dürfte  bei  der  Heilung  von  Infektionskrankheiten  eine  sehr  grosse 
Rolle  spielen.  Ich  halte  es  gar  nicht  für  nötig,  dass  in  allen  Fällen 
von  Heilung  infektiös  erkrankter  Gelenke  durch  Stauungshj^erämie 
wirklich  eine  Abtötung  der  Bakterien,  sei  es  nun  durch  Serum 
im  Sinne  Buchner's,  Phagocyten  im  Sinne  Metschnikoff's, 
Kohlensäure  im  Sinne  Hamburger' s  oder  infolge  anderer  noch 
unbekannter  bakterientötender  Blutbestandteile,  stattfindet,  son- 
dern glaube,  dass  eine  schnelle  Vernarbung  von  Entzündungs- 
herden Bakterien  einkapseln  und  unschädlich  machen  kann.  Dass 
die  Natur  sich  dieses  Mittels  nicht  selten  bedient,  wissen  wir  ja  aus 
zahlreichen  Erfahrungen. 

Man  hat  natürlich  den  Einfluss  der  Hyperämie  auf  die  Kallus- 
bildung experimentell  zu  erforschen  unternommen.  Ich  übergehe 
hier  die  zahlreichen  Versuche,  welche  mittels  Durchschneidung  von 
gemischten  Nerven  angestellt  sind,  wobei  neben  der  sensiblen  und 


218  Allgemeine  Wirkiongen  der  Hyperämie. 

motorischen  Lähmung  wegen  der  Zerstörung  vasomotorischer 
Fasern  auch  eine  arterielle  Hjrperämie  erzeugt  wird.  Ich  glaube, 
dass  diese  Versuche  für  die  Entscheidung  unserer  Frage  nur  be- 
schränkten Wert  haben.  Denn  neben  der  Hyperämie  werden  eine 
solche  Menge  unabsehbarer  Veränderungen  geschaffen,  welche  die 
Heilung  beeinflussen,  dass  schwerlich  zu  sagen  ist,  ob  die  H3rper- 
ämie  als  solche  einen  Einfluss  auf  die  Heilung  der  Knochenwunde 
ausübt  oder  nicht.  Dies  macht  sich  auch  in  den  Ergebnissen  dieser 
Versuche  bemerkbar  i) ;  die  einen  Untersucher  fanden,  dass  Nerven- 
durchschneidung die  Kallusbildung  befördere,  die  andern,  dass  sie 
dieselbe  beeinträchtige,  wieder  andere,  dass  sie  ohne  jeden  Einfluss 
auf  den  Verlauf  der  Heilung  sei.  Aus  demselben  Grunde  habe  ich 
im  ersten  Abschnitte  dieses  Kapitels  die  vielerwähnte  Arbeit 
Nasse's'^)  über  den  Einfluss  der  Nervendurchschneidung  auf  die 
Ernährung  des  Knochens  nicht  in  Betracht  gezogen. 

Dass  diese  Versuche  für  unsere  Fragen  nicht  zu  brauchen  sind, 
liegt  auf  der  Hand.  Zum  Überflusse  hat  Samuel^)  noch  den  ein- 
leuchtenden experimentellen  Beweis  dafür  geliefert,  dass  hier  für 
die  Regeneration  ganz  unnatürhche  Verhältnisse  geschaffen  werden : 
Durchschnitt  er  an  Taubenflügeln  den  Plexus  axillaris,  so  trat  nicht 
nur  eine  lebhafte  Hyperämie,  sondern  eine  mehrere  Monate  dauernde 
Neubildung  eines  grossen  und  stets  wachsenden  Gefässnetzes  an 
der  Bildungsstätte  der  Federn  in  den  gelähmten  Flügeln  auf.  Die 
Folge  war  aber  nicht  eine  Vermehrung,  sondern  eine  Verminderung 
des  Wachstums  sich  neu  bildender  Federn,  die  um  so  mehr  in  die 
Erscheinung  trat,  je  länger  die  Lähmung  dauerte.  Unterband 
Samuel  dagegen  an  einem  sonst  gesunden  Flügel  die  Arteria 
axillaris,  so  trat  zwar  für  den  Augenblick  eine  Verzögerung  des 
Federwachstums  ein,  das  aber  sehr  bald  mit  der  Ausbildung  des 
KoUateralkreislaufs  wieder  zunahm. 

1)  Eine  Übersicht  der  betreffenden  Ansichten  findet  man  in  den  neueren 
Arbeiten  von  Kapsammer:  Das  Verhalten  der  Knochen  nach  Ischiadicus- 
durchschneidung.  Archiv  f.  klin.  Chirurgie.  56.  Bd.  S.  348.  1898,  und:  Musca- 
tello  imd  Damascelli,  Über  den  Einfluss  der  Nervendurchschneidung  auf 
die  Heilung  von  Knochenbrüchen.  Archiv  für  klinische  Chirurgie.  58.  Band. 
S.  937.     1899. 

2)  Nasse,  Über  den  Einfluss  der  Nervendurchschneidung  auf  die  Er- 
nälirmig,  insbesondere  auf  die  Form  und  die  Zusammensetzung  der  Kjiochen. 
Pflüger's  Archiv.     23.  Bd.   S.  361.     1880. 

3)  Samuel,  Das  Gewebswachstum  bei  Störungen  der  Innervation.  Virchow's 
Archiv.     113.  Bd.  S.  272.     1888. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  219 

Die  einzigen  für  unseren  Zweck  brauchbaren  Arbeiten  sind 
die  von  A.  Bumi)  und  von  R.  Penzo,  die  dieselbe  Form  der 
Stauungshyperämie  bei  ihren  Versuchstieren  anwandten,  die  wir 
beim  Menschen  benutzen. 

B  u  m  untersuchte  die  Wirkung  der  Stauungshyperämie  auf  die 
Heilung  der  Knochenbrüche.  Da  sich  Kaninchen  für  das  Ver- 
fahren nicht  eigneten,  benutzte  er  junge  Hunde,  denen  er  in  der 
Diaphyse  beider  Tibiae  Knochenbrüche  erzeugte.  Die  Glieder  wur- 
den bei  gestrecktem  Fuss-  und  Kniegelenk  eingegipst.  Vom  näch- 
sten Tage  an  wurde  am  Oberschenkel  der  einen  Seite  täglich  für 
die  Dauer  von  ly^  Stunden  eine  Stauungsbinde  angelegt.  Unter 
Ausscheidung  aller  Versuche,  welche  eine  zweifelhafte  Deutung 
zulassen,  kommt  B  u  m  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  Kallusbildung  an 
der  Seite,  wo  Stauungsh3rperämie  angewandt  wurde,  zweifellos  vor- 
geschrittener zu  sein  schien.  Vor  allem  war  der  periostale  Kallus 
ausgebildeter,  der  Markkallus  nur  in  manchen  Fällen.  Ob  der 
intermediäre  Kallus  durch  die  Stauung  eine  Förderung  erfahren 
hatte,  konnte  nicht  entschieden  werden.  Die  Ablagerung  von  Kalk- 
salzen in  dem  Kallus  schien  durch  die  Hyperämie  vermehrt  zu 
sein.  Dagegen  fand  Bum,  dass  nur  bei  Neigung  zu  guter  Kallus- 
bildung ein  nennenswerter  Erfolg  der  Stauungshyperämie  bemerkt 
werden  konnte. 

R.  Penzo  2)  studierte  in  neuester  Zeit  an  Kaninchen  den  Ein- 
fluss  der  Stauungshyperämie  auf  die  Regeneration.  Er  kommt  zu 
folgendem  Schlüsse:  ,,1.  Eine  massige  venöse  Hyperämie,  charak- 
terisiert durch  Cyanose,  Ödem  und  Temperaturerhöhung  des  Glie- 
des begünstigt  die  physiologischen  Prozesse  der  Regeneration  der 
Zellen,  die  Vermehrung  der  Gewebe  beim  Tiere  und  die  Heilung 
jeglicher  Wunden.  Aber  sie  allein  genügt  nicht  zur  Wieder- 
erweckung der  regenerativen  Tätigkeit  von  Geweben,  deren  ausge- 
bildete Zellenelemente  diese  regenerative  Tätigkeit  nicht  mehr  haben. 

2.  Zu  starke  Hyperämie,  charakterisiert  durch  Cyanose,  Ödem 
und  Abkühlung,  führt  zu  entgegengesetzten  Resultaten." 


1)  Bum,  Die  Entwicklung  des  Knochencallus  unter  dem  Einflüsse  der 
Stauung.  Archiv  f.  klin.  Chirurgie.  67.  Bd.  S.  652.  1902,  und:  Experimentelle 
Untersuchungen  über  den  Einfluss  der  Stauung  auf  die  EntwickKmg  des 
Knochencallus.     Centralbl.  f.  Chirurgie  1901.    Nr.  47. 

■  2)  R.  Penzo,  Sulla  Influenza  dell'  iperemia  passiva  nella  rigenerazione 
cellulare  etc.  Atti  del  Reale  Instituto  Veneto  di  Scienze.  64.  Bd.  II.  Teil. 
Venezia  1905. 


220  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Penzo's  experimentelle  Arbeit  liefert  eine  Bestätigung  meiner 
auf  Grund  klinischer  Erfahrungen  seit  langem  ausgesprochenen 
Ansichten. 

Ausser  B  u  m  und  P  e  n  z  o  hat  meines  Wissens  nur  noch  S  a  m  u  e  1 1 ) 
die  Einwirkung  der  Stauungshyperämie  auf  die  Regeneration,  und 
zwar  auf  die  der  Federn,  experimentell  geprüft.  Aber  auch  seine 
Versuche  sind  nicht  zu  verwerten,  weil  er  so  hohe  Grade  von 
Stauung  verwandte,  wie  wir  sie  zu  Heilzwecken  niemals  gebrauchen 
dürfen,  und  die  das  genaue  Gegenteil  von  dem  zu  erzeugen  pflegen, 
was  geringere  Grade  desselben  Mittels,  die  wir  allein  praktisch 
verwerten  können,  bewirken.  Er  fand,  dass  ein  Stauungsband, 
welches  er  um  den  Vorderarm  von  Tauben  legte,  eine  zwar  nur 
geringe,  aber  doch  deutliche  Wachstumsverzögerung  der  sich  neu- 
bildenden Federn  hervorbrachte.  Aber  er  legte  das  Band  so  fest 
an,  dass  er  häufig  Brand  des  ganzen  Flügels,  im  besten  Falle 
aber  noch  Eiterblasen  und  Schorfe  an  der  Haut  hervorrief,  und 
liess  dieses  Band  dauernd  liegen.  Er  verursachte  also  eine  Er- 
nährungsstörung allerschwerster  Art,  und  man  muss  sich  nur  wun- 
dern, dass  dadurch  das  Federnwachstum  nicht  mehr  aufgehalten 
wurde. 

Sehr  alt  und  zahlreich  sind  die  Versuche,  welche  man  zur  Er- 
kenntnis des  Einflusses  arterieller  Hyperämie  auf  Regenerations- 
vorgänge  angestellt  hat.  Ich  will  auch  hier  die  Versuche  ^)  über- 
gehen, wo  man  mittels  Durchschneidung  gemischter  Nerven  an 
den  Gliedmassen  die  arterielle  Hyperämie  neben,  allen  möglichen 
anderen  schweren  Veränderungen  der  Gewebe  herstellte.  Viel  be- 
weisender sind  die  Versuche,  wo  man  mittels  Durchschneidung 
oder  Resektion  des  Halssympathikus  arterielle  Hyperämie  einer 
Kopf  half  te  beim  Tiere  herstellte.  Mit  diesem  Verfahren  haben 
auch  die  weitaus  meisten  der  Untersucher  gearbeitet,  sind  aber  zu 
sehr  widersprechenden  Ergebnissen  gekommen. 


1)  Samuel,  Gewebswachstum  bei  Störungen  der  Blutzirkulation.  Virchow's 
Archiv.     108.  Bd.   S.  1. 

2)  Beck,  Histologische  und  physiologische  Untersuchungen  über  den 
Heilungsprozess  der  Wunden,  über  die  Bildung  und  Umwandlung  der  Exsudate 
und  ihrer  mikroskopischen  Formelemente;  Untersuchungen  imd  Studien  auf 
dem  Gebiete  der  Anatomie,  Physiologie  und  Chirurgie.  Karlsruhe  1852,  und: 
Joseph,  Über  den  Einfluss  der  Nerven  auf  Ernährung  und  Neubildung.  Archiv 
f.  Anatomie,  Physiologie  u.  wissenschaftliche  Medizin.  1872.  S.  206  (Experimente 
an  Fröschen). 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  221 

Virchowi)  brachte  bei  Hunden  und  Kaninchen,  welchen  er 
auf  einer  Seite  den  Sympathikus  durchschnitten  hatte,  Entzündungs- 
reize an  möghchst  gleichen  Stellen  und  in  möglichst  gleicher  Stärke 
auf  beiden  Seiten  an,  konnte  aber  im  Verlaufe  der  Entzündungen 
keinerlei  Unterschied  wahrnehmen.  Er  schloss  hieraus  und  aus 
anderen  Beobachtungen,  ,,dass  die  grössere  oder  geringere  Zufuhr 
von  Blut  zu  einem  Teile  nicht  von  dem  bestimmenden  Werte  für 
die  Ernährung  der  einzelnen  Elemente  ist,  wie  man  oft  annahm". 

Im  Gegenteil  dazu  fand  Snellen^),  dass  die  Durchschneidung 
des  Sympathikus  den  Entzündungsprozess,  die  Resorption  von  Ex- 
sudaten, die  Heilung  und  Vernarbung  von  Wunden  der  betreffenden 
Kopf  half  te  beschleunigte. 

0.  Web  er  3)  bestätigt  die  Versuche  Snellen's:  ,,  Bringt  man  an 
dem  gelähmten  Ohre  und  gleichzeitig  an  dem  gesunden  eine  ganz 
gleiche  Verletzung  an  —  mag  diese  nun  im  Einlegen  einer  Erbse, 
einer  Glasperle  in  eine  Schnittwunde  oder  in  einer  Schnittwunde, 
die  man,  wie  ich  es  vielfach  getan,  mit  einem  Locheisen  hervor- 
gebracht hat,  oder  in  einem  durchgezogenen  Haarseile  von  gleicher 
Länge,  oder  in  der  Applikation  ganz  gleicher  Kügelchen  von  Ätz- 
kali  bestehen — immer  wird  man  die  Reaktion  an  dem  vasomotorisch 
gelähmten  Teile  energischer,  lebhafter  als  am  gesunden  Teile  finden. 
Die  Heilung  erfolgt  am  ersteren  stets  rascher,  indem  namentlich 
die  Zellen-  und  Gefässbildung  viel  schneller  vonstatten  geht." 

Diese  Untersuchungen  haben  dann  geruht,  bis  sie  im  Jahre  1871 
Sinitzin*)  wieder  in  Fluss  brachte.  Seit  diesem  Jahre  bis  auf 
die  neueste  Zeit  sind  dann  eine  ganze  Reihe  von  Untersuchungen 
über  diese  Frage  mitgeteilt,  ohne  dass  eine  Einigung  erzielt  wäre. 
Sinitzin  behauptet,  dass  die  der  Ausreissung  des  obersten  Sym- 
pathikusganglions folgende  Hyperämie  der  operierten  Seite  eine 
bedeutend  grössere  Widerstandsfähigkeit  für  fremde  und  neutrale 


1)  Virchow,  Handbuch  der  speziellen  Pathologie  und  Therapie.  1.  Bd. 
S.  274.    Erlangen  1854, 

2)  Snellen,  Archiv  für  holländische  Beiträge.  1857.  I.  Das  Original 
war  mir  nicht  zugänglich.  Zitiert  nach  Samuel,  Virchow's  Archiv.  22.  Bd. 
S.  405. 

3)  O.  Weber,  Die  Gewebserkrankungen  im  allgemeinen  und  ihre  Rück- 
wirkung auf  den  Gesamtorganismus.  Pitha-Billroth's  Handb.  d.  Chirurgie.  1.  Bd. 
S.  404.     1865. 

4)  Sinitzin,  Zur  Frage  über  den  Einfluss  des  Nervus  sympathicus  auf 
das  Gesichtsorgan.  Centralblatt  für  die  med.  Wissenschaften.  9.  Jahrgang. 
1871.     S.   161. 


222  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

Stoffe  verleihe.  Während  feine  Glasfäden,  welche  er  an  symme- 
trischen Stellen  beider  Hornhäute  einsenkte,  auf  der  gesunden 
Seite  die  heftigsten  Entzündungen  der  Bindehaut,  Hornhaut  und 
Iris  bis  zu  Geschwürsbildung  und  drohender  Panophthalmie  her- 
vorriefen, entstand  auf  der  operierten  Seite  meist  gar  keine,  in  den 
anderen  Fällen  eine  nur  geringe  Reaktion.  Durchschnitt  Sinitzin 
den  Trigeminus  in  der  Schädelhöhle,  so  traten  die  bekannten  Er- 
nährungsstörungen an  der  operierten  Seite  —  neuroparalytische 
Keratitis,  Geschwüre  an  Augenlid-  und  Mundschleimhaiit  —  nicht 
auf,  wenn  kurz  vor  oder  unmittelbar  nach  dieser  Operation  das 
oberste  Halsganglion  des  Sympathikus  entfernt  war.  Ja,  bereits 
eingetretene  Ernährungsstörungen  können,  wenn  die  letztere  Opera- 
tion noch  nachträglich  ausgeführt  wird,  wieder  heilen  oder  sich 
wenigstens  bessern,  selbst  wenn  sie  schon  weit  vorgeschritten  sind. 
Die  günstige  Wirkung  der  Ausrottung  des  oberen  Sympathikus - 
ganglions  trat  ein,  obwohl  nicht  die  geringsten  Schutzvorrichtungen 
für  die  operierte  Kopfseite  getroffen  wurden,  sie  blieb  aus,  wenn 
auf  derselben  Seite  die  Carotis  unterbunden  und  so  die  Hjrperämie 
unmöglich  gemacht  wurde. 

Die  Richtigkeit  dieser  Versuchsergebnisse  Sinitzin' s  ist  sehr 
lebhaft  bestritten.  Eckhard^)  und  Senftleben^)  prüften  die 
Versuche  nach  und  beide  fanden,  dass  die  Ausrottung  des  oberen 
Sympathikusganglions  auf  das  Zustandekommen  und  den  Verlauf 
der  nach  Trigeminusdurchschneidung  auftretenden  Ernährungsstör- 
ungen gar  keinen  Einfluss  ausübe. 

Der  nächste  Untersucher  Danilewski^)  verursachte  Entzünd- 
ungen am  Kaninchenohre,  schnitt  mit  dem  Locheisen  Stücke  aus 
demselben  heraus  und  machte,  wenn  er  1 — 2  Tage  später  den  Sym- 
pathikus durchschnitt,  folgende  Beobachtungen: 

,,Die  durch  Krotonöl  hervorgerufene  reaktive  Hyperämie  gleicht 
sich  rascher  auf  der  Seite  aus,  wo  infolge  der  Durchschneidung 
des  Nerven  grösserer  Blutzufluss  stattfand,  nachdem  in  den  ersten 

1)  Eckhard,  Bemerkungen  zu  dem  Avifsatz  des  Herrn  Sinitzin:  Zur 
Frage  über  den  Nerveneinfluss  des  Nervus  sympathicus  auf  das  Gesichtsorgan. 
Centralbl.  f.  d.  med.  Wissenschaften.     11.  Jahrg.  1873.     S.  547. 

2)  Senftleben,  Über  die  Ursachen  und  das  Wesen  der  nach  der  Durch- 
schneidung des  Trigeminus  auftretenden  Hornhautaffektion.  Virchow's  Archiv. 
65.  Bd.   S.  69.     1875. 

3)  Danilewski,  Zur  Frage  über  den  Einfluss  der  aktiven  Hyperämie  auf 
Entzündungsprozesse  (russisch).  Nach  dem  ausführlichen  Referate  von  Anton 
Schmidt  im  Centralbl.  f.  Chin.irgie.     1883.     S.  214. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  223 

24  Stunden  die  entzündete  Stelle  sich  durch  besonders  intensive 
Färbung  von  der  Umgebung  ausgezeichnet  hatte. 

Kommt  es  zur  Blasenbildung  mit  durchsichtigem  oder  eitrigem 
Inhalt,  so  verläuft  die  Entzündung  auf  der  neurotomierten  Seite 
lebhafter  und  heftiger,  die  Blutansammlung  ist  grösser,  die  Granu- 
lationen sind  entwickelter  und  blutreicher. 

Der  Entzündungsprozess  läuft  auf  der  neurotomierten  Seite 
noch  einmal  so  rasch  ab,  als  auf  der  entgegengesetzten. 

Die  Verheilung  erfolgt  auf  der  operierten  Seite  häufig  ohne 
Substanzverlust,  bisweilen  selbst  mit  hyperplastischer  Gew;ebs- 
wucherung  in  Form  von  Neubildung.  Auf  der  entgegengesetz- 
ten Seite  schhesst  die  Entzündung  in  der  Regel  ab  mit  nicht 
vollständiger  Regeneration  oder  grösserem  oder  geringerem  Sub- 
stanzverlust. 

Die  Eiterung  ist  auf  der  neurotomierten  Seite  stets  ernstlicher, 
und  der  Eiter  hat  die  Eigentümlichkeiten  des  Pus  bonum  et  lauda- 
bile,  während  er  auf  der  nichtoperierten  Seite  gräulich,  wässerig, 
halb  durchsichtig  und  flockig  ist.  .         , 

Nekrose  nach  sehr  heftigen  Reizen  erfolgt  ausschliesslich  auf 
der  Seite,  wo  der  Sympathikus  erhalten  ist." 

Rief  Danilewski  die  Entzündung  erst  1 — 2  Tage  nach  Durch- 
schneidung des  Sympathikus  hervor,  so  trat  auf  der  operierten  Seite 
eine  viel  heftigere  entzündliche  Reaktion  auf,  die  H3rperämie  wurde 
grösser,  die  Eiterung  reichlicher  und  die  Granulationsbildung  stärker. 

Blutergüsse  waren  auf  der  operierten  Seite  leichter  hervor- 
zurufen, wurden  aber  auch  schneller  wieder  aufgesogen. 

Die  mit  dem  Locheisen  erzeugten  Wunden  heilten  auf  der 
operierten  Seite  doppelt  so  rasch  als  auf  der  anderen,  die  Regene- 
ration der  Gewebe  war  vollständiger,  heftige  Reize  führten  weniger 
zu  Nekrose. 

Während  somit  Danilewski  die  Versuche  Snellen's. 
O.  Weber's  und  Sinitzin's  bestätigte,  kam  Samueli)  wieder  zu 
ganz  anderen  Ergebnissen: 

,, Gewiss  ist,  dass  arterielle  Hyperämie  nach  Durchschneidung 
von  Nervenstämmen  oder  in  unmittelbarer  Umgebung  von  Ent- 
zündungsherden ebensowenig  wie  venöse  Hyperämie  Neuwachstum 
veranlasst." 


1)   Samuel,    Die    histogenetische    Energie    und    Symmetrie    des    Gewebs- 
wachstums.     Virchow's  Archiv.     101.  Bd.   S.  389. 


224  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

In  einer  späteren  Arbeit  behauptet  Samuel^),  dass  die  seiner 
Ansicht  widersprechenden  Beobachtungen  der  oben  genannten 
Ärzte  nichts  beweisen,  weil  sie  alle  das  andere  anscheinend  ge- 
sunde Ohr  des  Versuchstieres  zum  Vergleiche  herangezogen  haben. 
Dieses  Ohr  sei  aber  gar  nicht  normal,  sondern  es  werde  nach  der 
auf  der  anderen  Seite  vorgenommenen  Operation  kühl  und  anämisch. 
Samuel  glaubt,  dass  die  operierte  Seite  das  Blut  der  anderen 
mitverbrauche  und  so  die  Anämie  erzeugt  werde.  Dagegen  kann 
man  mit  Recht  einwenden,  dass  die  Ansicht,  dass  vollständig  ört- 
liche Blutüberfüllungen  auf  längere  Zeit  auf  mechanische  Weise 
der  Nachbarschaft  das  Blut  entzögen,  jetzt  wohl  als  widerlegt  zu 
gelten  hat.  Aber  da  Samuel,  dieser  so  ausserordentlich  zuver- 
lässige Beobachter  makroskopisch  wahrnehmbarer  pathologischer 
Vorgänge,  langdauernde  Temperaturerniedrigungen  auf  der  an- 
scheinend gesunden  Seite  nachwies  und  sich  auf  eine  Reihe  älterer 
Untersucher,  welche  die  gleichen  Befunde,  wie  er  machten,  beruft, 
so  kann  an  der  Tatsache  wohl  kein  Zweifel  sein,  und  wahrschein- 
lich sind  es  reflektorische  Einflüsse,  welche  diese  Anämie  der  an- 
scheinend gesunden  Seite  hervorrufen.  Gebrauchte  Samuel  ganz 
gesunde  Kontrolltiere,  so  fand  er,  dass  die  Entzündungserschein- 
ungen bei  Sympathikuslähmung  viel  rascher  und  stärker  auftreten, 
als  bei  einem  gesunden  Tiere,  dass  sie  aber  auch  viel  heftiger  sind 
und  lange  dauern. 

Allerdings  hat  Samuel  mit  dieser  Beweisführung  die  Befunde 
derjenigen  früheren  Untersucher  nicht  widerlegt,  die  das  obere 
Halsganglion  des  Sympathikus  mitentfernten,  denn  Sinitzin  be- 
hauptet, dass  Anämie  und  Kälte  auf  der  nichtoperierten  Seite 
eines  Versuchstieres  nicht  entstehen,  wenn  man  die  Entfernung  des 
obersten  Ganglions  hinzufügt. 

Die  neueste  Arbeit  auf  diesem  Gebiete  von  Liek^)  brachte 
wieder  eine  vollständige  Bestätigung  der  Befunde  Snellen's, 
O.  Weber's,  Sinitzin's  und  Danilewski's.  Liek  zeigte  noch 
durch  eine  Reihe  von  Kontrollversuchen,  dass  Samuel's  oben  er- 
wähnter Einwurf  gegen  die  Deutung  der  Heilungen  nach  Sympathi- 
kusresektion nicht  in  Betracht  kommt.  Er  fand,  dass  flächenhafte, 
ebenso  wie  Lochwunden  des  Kaninchenohres  sehr  viel  schneller 

1)  Samuel,  Über  anämische,  hyperämische  und  neurotische  Entzündungen. 
Vü-chow's  Archiv.     121.  Bd.  S.  396.     1890. 

2)  Liek,  Über  den  Einfluss  der  arteriellen  Hyperämie  auf  die  Regeneration. 
Archiv  f.  klin.  Chirurgie.     67.  Bd.   S.  229. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  225 

heilten,  wenn  der  Sympathikus  durchschnitten  oder  das  oberste  Hals- 
ganglion gleichzeitig  fortgenommen  war.  Und  zwar  ging  die  Re- 
generation durchaus  parallel  dem  Grade  der  erzeugten  Hyperämie. 

Die  Arbeit  Liek's  ist  deshalb  die  beweisendste  von  allen,  weil 
ihr  eine  sehr  grosse  Menge  von  Versuchen  zugrunde  liegen  und 
trotz  dieser  grossen  Reihe  die  Ergebnisse  sehr  eindeutig  waren, 
und  weil  die  Einwände,  welche  man  gegen  die  Beweiskraft  der 
Versuche  machen  kann,  ebenfalls  genau  gewürdigt  und  zurückge- 
wiesen sind. 

In  einer  neuen  Weise  erwies  Penzoi)  den  günstigen  Einfluss 
der  Hyperämie  auf  die  Regeneration  in  seiner  schon  im  vorigen 
Abschnitte  erwähnten  Abhandlung.  Er  verfertigte  einen  sinnreichen 
Apparat,  in  welchem  er  das  eine  Ohr  oder  Glied  eines  Kaninchens 
fast  dauernd  auf  etwa  +38"  erwärmen,  das  andere  auf  +  10"  ab- 
kühlen konnte.  Nur  einige  Stunden  täglich  wurden  die  Tiere  dem 
Apparate  entnommen.  Es  ergab  sich,  dass  die  durch  die  Wärme 
erzeugte  Hyperämie  die  Regeneration  bei  offenen  und  subkutanen 
Wunden  erheblich  beschleunigte,  die  durch  Kälte  erzeugte  Anämie 
sie  verlangsamte.  Unter  anderem  prüfte. Penzo  auch  den  Einfluss 
dieser  Mittel  auf  die  Heilung  von  Knochenbrüchen  an  der  Ulna 
vom  Kaninchen.  Hier  war  der  Unterschied  ausserordentlich  gross. 
Während  nach  7 — 8  Tagen  an  der  abgekühlten  Seite  kaum  der  Be- 
ginn eines  Regenerationsvorganges  zu  bemerken  war,  war  der 
Knochenbruch  an  der  gewärmten  Seite  bereits  durch  den  Kallus 
fest  vereinigt,  der,  wie  die  mikroskopische  Prüfung  zeigte,  schon 
fast  vollkommen  ausgebildet  war. 

Wir  sehen  also,  dass  die  überwiegende  Ansicht  der  Unter- 
sucher dahin  geht,  dass  künstliche  aktive  Hyperämie  die  Regene- 
ration erheblich  beschleunigt.  Und  wenn  wir  bedenken,  dass  gerade 
die  Arbeiten,  welche  sich  auf  eine  grosse  Reihe  von  Versuchen 
stützen,  mit  grosser  Einhelligkeit  in  allen  Eällen  zu  diesem  Ergeb- 
nis gekommen  sind,  so  müssen  wir  dies  als  Tatsache  anerkennen 
und  können  den  Satz  aussprechen:  Während  der  fördernde 
Einfluss  der  Hyperämie  auf  physiologisches  Wachstum  der  Organe 
und  auf  die  Ernährung  fertiger  Gewebe  nur  für  die  Stützgewebe 


1)  Penzo,  Über  den  Einfluss  der  Temperatur  auf  die  Regeneration  der 
Zellen,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Heilung  der  Wunden.  Moleschot t's 
Untersuchungen  zur  Naturlehre  des  Menschen  und  der  Tiere.  15.  Bd. 
S.  107.     1895. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  15 


226  Allgemeine  Wirkungen  der  Hypez'ämie. 

und  die  Deckepithelien  und  hier  lange  nicht  für  alle  Fälle  erwiesen, 
für  andere  Gewebe  aber  mindestens  höchst  unsicher  ist,  so  lässt 
sich  nicht  bezweifeln,  dass  die  Regeneration  durch  Hyperämie, 
und  zwar  durch  aktive  wie  passive  Hyperämie,  beträchtlich  ge- 
fördert wird. 

Ich  will  aber  diese  Untersuchungen  nicht  verlassen,  ohne  dar- 
auf hinzuweisen,  dass  auch  bei  der  Regeneration  diese  Förderung 
durch  Hyperämie,  gerade  so  wie  bei  den  fertigen  Geweben,  ledig- 
lich bewiesen  ist  für  die  Gewebe  mit  passiven  Funktionen,  Deck- 
epithelien und  Stützgewebe,  denn  aus  diesen  bestehen  die  Narben. 
Der  Umstand,  dass  Gefässe  und  Nerven  sich  in  der  Narbe  aus- 
bilden, spricht  nicht  dagegen,  denn  ohne  diese  ist  ein  Neuwachs- 
tum überhaupt  nicht  zu  denken,  und  dass  sie  in  der  Narbe  nicht 
im  Übermass  vorhanden  sind,  und  besonders  ihre  Funktion  darin 
meist  sehr  viel  zu  wünschen  übrig  lässt,  wissen  wir.  Es  kommt 
hinzu,  dass  die  Gefässe  entwicklungsgeschichtlich  zu  den  Stützge- 
weben gehören. 

Von  der  regenerationsfördernden  Wirkung  hyperämisierender 
Mittel  hat  man  seit  langem  Gebrauch  gemacht.  So  hat  man  die 
Wärme,  in  Form  von  feuchtwarmen  Umschlägen,  Breiumschlägen 
usw.,  zur  Beförderung  schwächlicher  Granulationen  benutzt.  Dem- 
selben Zwecke  dienen  zahlreiche  chemische  Reizmittel,  z.  B.  Terpen- 
tinsalben, Kampferwein,  Perubalsam,  Argentum  nitricum. 

An  die  Versuche  Penzo's  erinnern  die  Brutöfen  Guyot'si). 
Dieser  Arzt  brachte  verwundete  Glieder  in  ein  Gefäss,  dessen  Luft 
auf  36'^  erwärmt  wurde.  Die  Temperatur  soll  nicht  über  40^^  steigen 
und  nicht  unter  20*^  fallen. 

Auch  die  von  Ritt  er  2)  vorgeschlagene  Behandlung  der  Er- 
frierungen durch  Hyperämie  gehört  hierher .  Ritter  fand  vor  allem 
wirksam  die  aktive  Hjrperämie  durch  heisse  Luft.  Man  hätte  dar- 
aus schliessen  können,  dass  die  bei  der  Erfrierung  angenommene 
Gefässlähmung  und  venöse  Stockung  dadurch  beseitigt  würde.  Aber 
diese  Annahme  wird  hinfällig  durch  die  Beobachtung  Ritter's, 
dass  man  mit  der  künstlichen  Stauungshyperämie  ebenfalls  sehr 
gute  Erfolge  bei  Erfrierungen  erzielt.    Ritter  nimmt  deshalb  an, 


1)  Guyot,  De  l'emploi  de  la  chaleur.      Paris  1842.      Zitiert  nach  Barde- 
leben,   Lehrbuch  der  Chirurgie.     5.  Aufl.  1866.     I.  Bd.   S.  113. 

2)  Ritter,    Die   Behandlung   der    Erfrierungen.      Deutsche   Zeitschrift   für 
Chirurgie.    58.  Bd.   S.  172. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  227 

dass  die  künstliche  Hyperämie  die  Regeneration  der  durch  die  Er- 
frierung geschädigten  oder  vernichteten  Zellen  bewirkt,  und  sieht 
nicht,  wie  das  üblich  ist,  in  der  Erfrierungshyperämie  etwas  Schäd- 
liches, das  bekämpft  werden  müsse,  sondern  im  Gegenteil  die 
natürliche  und  nützliche  Reaktion  des  Körpers  auf  die  Schädigung, 
die  man  in  den  meisten  Fällen  noch  künstlich  unterstützen  soU. 
Dass  beide  Formen  der  Hyperämie  in  der  Tat  sehr  günstig  auf  die 
Heilung  von  Erfrierungen  einwirken,  davon  habe  ich  mich  in 
Ritter's  Fällen  überzeugt. 

Ich  selbst  habe  schon  vom  Beginne  meiner  Versuche  mit 
Hyperämie  an  mehrfach  Geschwüre,  welche  nicht  verheilen  wollten, 
mit  heisser  Luft  behandelt,  und  ich  glaube,  dass  Ullmann's 
früher  erwähnten  günstigen  Erfolge  bei  infektiösen  Geschwüren 
mehr  durch  diese  Wirkung  der  a.ktiven  Hyperämie  als,  wie 
Uli  mann  glaubt,  durch  bakterientötende  Einflüsse  derselben  er- 
zielt sind. 

Zum  Schluss  hätten  wir  noch  die  Frage  zu  erörtern,  welche 
Hyperämie  unterstützt  am  besten  den  Aufbau  und  die  Regeneration 
der  Gewebe  ?  Ich  glaube,  die  Mehrzahl  der  Ärzte  wird  darauf  ohne 
Besinnen  antworten :  selbstverständhch  die  aktive  arterielle  Hj^per- 
ämie,  und  in  zahllosen  Arbeiten  liest  man,  dass  eine  ,, Verbesserung 
des  Kreislaufs"  und  Beseitigung  von  Blutstockungen  natürlich 
günstig  auf  die  Ernährung  einwirke.  Die  Beobachtung,  dass  die 
funktionelle  Hyperämie,  welche  ausnahmslos  die  Tätigkeit  der 
Organe  begleitet,  aktiv  ist,  scheint  diese  Annahme  zu  unterstützen. 
In  Wirklichkeit  ist  diese  Ansicht  gänzlich  unbewiesen,  und  lassen 
wir  hier  einmal  wieder  unsere  Lehrmeisterin  Natur  sprechen  und 
sehen  ihre  Einrichtungen  für  die  zweckmässigsten  an,  so  werden 
wir  zu  der  genau  entgegengesetzten  Meinung  kommen.  Man  hat 
oft  betont,  dass  man  am  Menschen  nirgends  eine  lebhaftere 
Regeneration  sieht,  als  bei  der  Entzündung,  ja,  dass  diese  ent- 
zündliche Regeneration,  wie  Weigert  fand,  meist  über  das  Ziel 
hinausschiesst  und  in  kurzer  Zeit  an  Stelle  des  geschädigten  Ge- 
webes ein  Übermass  von  neuem  hervorbringt,  so  dass  man  gerade- 
zu von  einer  entzündlichen  Hypertrophie  sprechen  kann.  Die  ent- 
zündliche Hyperämie  ist  aber  nicht  aktiv,  sondern  passiv.  Und 
bedeuten  denn  die  unzähligen  neugebildeten  kleinen  Gefässschlingen, 
die  wir  bei  der  Wundheilung,  der  neben  der  entzündlichen  ener- 
gischsten Regeneration,  die  wir  nach  der  Geburt  beobachten,  etwas 
anderes,  als  eine  gewaltige  Verbreiterung  des  Strombettes  mit  Ver- 
ls* 


228  Allgemeine  ^^'irkungen  der  Hyperämie. 

mehrung  der  Widerstände  und  damit  Verlangsamung  des  Blut- 
stromes ? 

Wenden  wir  uns  nun  gar  zu  dem  weitaus  mächtigsten  Gewebs- 
aufbau, welchen  wir  überhaupt  kennen,  der  Entwicklung  des  be- 
fruchteten Eies  zum  Embryo  und  des  Embryos  zum  geburtsreifen 
Kinde,  so  bemerken  wir  hier,  wie  uns  Bonnefs^)  schöne  Unter- 
suchungen gezeigt  haben,  die  grossartigste  Stauungshyperämie, 
welche  wir  irgendwo  am  menschlichen  Körper  zu  sehen  bekommen. 
Der  Blutstrom  wird  in  den  weiten  Bluträumen  der  Placenta  der- 
massen  verlangsamt,  dass  starkes  Odem  und  ausgedehnte  Blutungen 
in  das  Gewebe  der  Placenta  entstehen.  Aus  dem  langsam  sich  be- 
wegenden Blute,  ja  besonders  aus  dem  Odem  und  den  ausgetretenen, 
sich  zersetzenden  Blutergüssen  zieht  der  Embryo  nach  Bonnet's 
Ansicht  zum  grössten  Teile  seine  Nahrung.  Aber  auch  den  Rest 
muss  ihm  das  gestaute  Blut  durch  Auflösung  von  mütterlichen 
Gewebsbestandteilen  verschaffen. 

Bei  der  Funktion  der  Gewebe  handelt  es  sich  um  ganz  andere 
Vorgänge.  Die  Arbeit  wird  im  wesentlichen  durch  Oxydation 
geleistet,  und  dazu  gehört  ein  lebhafter  Blutstrom,  welcher 
immer  neues  sauerstoffhaltiges  Blut  zuführt.  Ausserdem  setzt  die 
ungestörte  Arbeitsleistung  voraus,  dass  fortwährend  die  Verbren- 
nungsprodukte, welche  giftig  und  lähmend  auf  das  tätige  Organ 
wirken,  fortgeschwemmt  werden,  und  auch  dies  besorgt  am  besten 
ein  schnellfliessender,  mächtiger  Blutstrom. 

Ich  glaube  deshalb,  wir  können  mit  Recht  folgenden  Satz 
aufstellen:  Die  funktionelle  H3rperämie  ist  aktiv,  die  dem  Aufbau 
der  Gewebe  dienende  wahrscheinhch  vorwiegend  passiv.  Damit 
soll  nicht  gesagt  werden,  dass  die  Zelle,  welche  infolge  eines 
unbekannten  Reizes  sich  zu  vergrössern  oder  zu  vermehren 
trachtet,  nicht  aus  einem  schnellfhessenden  Biutstrome  die  notwen- 
dige Nahrung  entnehmen  könnte.  Es  scheint  ja  dafür  zu  sprechen, 
dass  die  Funktion,  welche  von  aktiver  Hyperämie  begleitet  wird, 
zur  Vergrösserung  der  tätigen  Teile  führt,  und  dass  einige  der 
oben  angeführten  Versuche  und  Beobachtungen  zeigen,  dass  auch 
aktive  Hyperämie  die  Regeneration  befördert.     Aber  einmal  geht 


1)  Bonnet,  a)  Über  Enibryotrophe.  Deutsche  med.  Wochenschr.  189P. 
Nr.  45;  b)  Weitere  Mitteilungen  üb.  Embryotrophe.  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1902.  Nr.  30;  c)  Beiträge  zur  Embryologie  des  Hundes.  Merkel  und  Bonnet's 
anatomische  Hefte.    Band  20.    Heft  64/65. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  229 

der  Aufbau  der  Gewebe,  welcher  zur  funktionellen  Hypertrophie 
führt,  so  langsam  vor  sich,  dass  er  sich  mit  der  grossen  Schnellig- 
keit der  entzündlichen  und  embryonalen  Regeneration  nicht  im  ent- 
ferntesten messen  kann,  und  dann  wissen  wir  gar  nicht  einmal,  ob 
wirklich  in  jenen  Fällen  die  fressende  Zelle  ihre  Nahrung  einem 
beschleunigten  Saftstrome  entnimmt.  Denn  auch  die  entzündliche 
Hyperämie  ist  ursprünglich  aktiv,  und  erst  der  Entzündungsreiz  ver- 
wandelt den  ursprünglich  schnelleren  in  einen  langsameren  Blut- 
strom. Es  ist  mir  durchaus  nicht  unwahrscheinlich,  dass  der  un- 
bekannte Wachstumsreiz  dieselbe  Fähigkeit  besitzt. 

Die  funktionelle  Hypertrophie  zeigt  nun  eine  sehr  grosse  Ana- 
logie mit  der  entzündlichen.  Hier  wie  dort  geht  der  Vermehrung 
und  Vergrösserung  der  Gewebszellen  eine  Schädigung  voraus,  welche 
erst  ihrerseits  die  Hypertrophie  veranlasst.  Und  so  hat  denn 
schon  Weigert^),  der  Entdecker  der  entzündlichen  Gewebshyper- 
trophie,  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  auch  die  Übungshyper- 
trophie  eine  indirekte  Folge  der  Funktion  sei,  insofern  als  die 
letztere  erst  die  Zellschädigung  und  diese  die  Hypertrophie  ver- 
anlasse. 

Der  Umstand,  dass  die  Arbeit  der  Gewebe  zur  aktiven  Hyper- 
ämie führt,  spricht  nun  durchaus  nicht  dafür,  dass  die  letztere  auch 
für  die  folgende  Gewebsneubildung  nötig  ist.  Im  Gegenteil  wird 
wahrscheinlich  auch  diese  ihre  Nahrungsstoffe  einem  verlangsamten 
Blutstrome  entnehmen.  Denn  wir  wissen  jetzt,  dass  auch  der  Zer- 
fall des  eigenen  Körpergewebes  entzündliche  Erscheinungen  hervor- 
ruft. Man  denke  nur  an  die  subkutanen  Blutergüsse,  welche 
Hyperämie  und  starkes  Ödem  erzeugen,  an  das  Fieber  und  die 
Albuminurie,  welche  man  bei  der  Aufsaugung  derselben,  ebenso  wie 
nach  starken  Anstrengungen,  die  zu  einem  hochgradigen  Zerfall 
von  Körpergewebe  führten,  beobachtet  hat.  Die  Hypertrophie  aber 
entsteht  nicht  während  der  Arbeit,  sondern  in  den  Ruhepausen 
nach  derselben,  und  das  starke  Ermüdungsgefühl  lässt  uns  sogar 
nach  grösseren  Anstrengungen  weitere  Arbeit  vermeiden.  Es  ist 
mir  deshalb  sehr  wahrscheinhch,  dass  bei  der  grossen  Ver- 
wandtschaft    beider    Vorgänge     die     funktionelle     Hypertrophie 


1)  Weigert,  Neue  Fragestellungen  in  der  pathologischen  Anatomie.  Ge- 
sellschaft deutscher  Naturforscher  vmd  Ärzte.  Verhandlungen  1896.  Allge- 
meiner Teil. 


230  Allgemeine  Wirkiingen  der  Hyperämie. 

ebenso  wie  die  entzündliche  mit  einer  passiven  Hyperämie  ver- 
bunden ist. 

Ich  verstehe  nicht,  wie  man  trotz  alledem,  besonders  in  der  prak- 
tischen Medizin,  von  wenig  Ausnahmen  abgesehen,  allgemein  auf  den 
Gedanken  kommen  konnte,  dass  ein  lebhafter  Fluss  von  arteriellem 
Blute  für  die  Ernährung  notwendig  und  nützhch  sei.  Ich  glaube, 
dass  man  hier  gedankenlos,  weil  man  sah,  dass  die  Funktion  der 
Gewebe  einen  beschleunigten  arteriellen  Blutstrom  erzeugt,  Arbeit 
und  Aufbau  verwechselt  hat.  Es  ist  mir  nicht  bekannt,  ob  schon 
einmal  jemand  folgende  einfache  und  naheliegende  logische  Be- 
trachtung angestellt  hat,  die  ich  vorbringe,  obwohl  ich  weiss,  dass 
es  misslich  ist,  solche  Dinge  einfach  theoretisch  zu  behandeln. 
Aber  die  Annahme,  die  ich  widerlegen  will,  ist  eine  durch  nichts 
gestützte,  als  selbstverständlich  angenommene  Theorie.  Und  da 
dürfte  es  wohl  erlaubt  sein,  einmal  nachzuweisen,  auf  wie  schwachen 
Füssen  diese  Theorie  steht. 

Zur  Arbeit  gehört  Sauerstoff,  der  durch  Oxydation  organischen 
Materiales  chemische  Spannkraft  in  Wärme  und  andere  Energie- 
formen umsetzt.  Da  hierbei  hochmolekulare  sauerstoffarme  Ver- 
bindungen in  die  letzten  Endprodukte  der  Oxydation  überführt 
werden,  so  muss  der  Sauerstoff  ungemein  reichlich  vorhanden  sein. 
Ferner  gehört  dazu  ein  sehr  lebhafter  Blutstrom,  weil  er  immer 
neuen  Sauerstoff  zuführen  und  Kohlensäure  und  andere  Umsatz - 
produkte  abführen  muss. 

Allerdings  muss  bei  dem  Aufbau  der  Gewebe  ein  gewisses 
Mass  von  Energie  verbraucht  werden,  die  wahrscheinlich,  da  ja  die 
Oxydation  für  den  menschhchen  Körper  die  einzige  stärkere 
Energiequelle  darstellt,  auch  durch  diese  geliefert  wird.  Aber  die 
Nahrungsmittel,  aus  denen  sich  die  Gewebe  aufbauen,  stellen 
bereits  eine  so  hohe  synthetische  Stufe  dar,  dass  die  Energiemenge, 
die  zu  ihrer  vollen  Assimilation  nötig  ist,  nur  ganz  ausserordentlich 
gering  sein  kann. 

Nun  findet  ja  bei  jeder  Ernährung,  besonders  aber  bei  der 
gesteigerten  Ernährung  der  bakteriellen  Entzündung,  neben  Auf- 
bau auch  ein  erhebhcher  Abbau  von  Körpergewebe  statt ;  denn  es 
gibt  wohl  überhaupt  keine  bakterielle  Krankheit  mit  Entzündung 
im  Gefolge,  die  nicht  zu  einer  Nekrose,  und  zwar  in  den  leichtesten 
Fällen  zu  einer  geringen,  nicht  einmal  mikroskopisch  erkennbaren 
Nekrose  im  Inneren  des  ZeUeibes  führte.  Hat  doch  die  Entzündung 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  231 

wahrscheinlich  nur  den  Zweck,  den  angerichteten  Schaden  wieder 
auszubessern,  und  wird  ledigKch  durch  ihn  hervorgerufen.  Die  Zer- 
setzung dieser  nekrotischen  Teile,  die  sie  erst  zur  Resorption  und 
Ausstossung  oder  zu  anderweitiger  Verwendung  im  Körper  geeignet 
macht,  findet  aber  nach  all  unseren  Erfahrungen  nicht  durch  oxy- 
dative,  sondern  durch  fermentative  Spaltung  statt.  Damit  ist  nicht 
gesagt,  dass  nicht  auch  diese  Fermentwirkung  unter  Sauerstoff- 
aufnahme vor  sich  gehen  könne,  wie  das  z.  B.  bei  der  Gärung 
der  Fall  ist.  Aber  wiederum  handelt  es  sich  bei  der  Zer- 
trümmerung und  Überführung  dieser  nekrotischen  Massen  in 
lösliche  Bestandteile  nicht  um  eine  weitgehende  Oxydation, 
sondern  nur  um  eine  Zerlegung  in  hochorganisierte  Verbindungen 
(Eiweisskörper,  Fette  usw.),  wozu  nur  eine  ungefähr  ebenso  ge- 
ringe Oxydation  nötig  ist,  wie  wir  sie  oben  für  den  Aufbau 
schilderten. 

Vielleicht  kompensieren  sich  hier  auch  die  bei  dem  Aufbau 
und  Abbau  in  Wirksamkeit  tretenden  Energiemengen  in  giückhcher 
Weise;  denn  die  Energie,  die  beim  letzteren  frei  wird,  kann  für 
den  ersteren  verwandt  werden. 

Alles  in  allem  aber  geht  aus  diesen  Beobachtungen  hervor, 
dass  zu  den  Veränderungen,  welche  die  ernährende  Hyperämie  zu 
leisten  hat,  durchaus  keine  erheblichen  Sauerstoffmengen  not- 
wendig sind;  sie  dürften  selbst  in  einem  venösen  Blute  noch  ge- 
nügend vorhanden  sein. 

Ich  habe  bei  dieser  ganzen  Betrachtung  die  Frage  unberührt 
gelassen,  ob  nicht  auch  der  menschliche  Körper,  ähnlich  wie  die 
Pflanze,  aus  einfachen  Verbindungen  die  komplizierten  darstellen 
kann.  Wäre  dies  der  Fall,  benützte  er  z.  B.  die  Kohlensäure  des 
Blutes  mit  zum  Aufbau,  so  würden  sogar  erhebliche  Sauerstoff- 
mengen bei  dieser  Synthese  frei  werden.  Aber,  wenn  überhaupt, 
findet  dieser  Vorgang  nur  in  so  geringem  Umfange  statt,  dass  wir 
mit  ihm  nicht  rechnen  können.  Immerhin  kann  man  sich  theo- 
retisch wohl  vorstellen,  dass  selbst  ein  ziemlich  venöses  Blut  im- 
stande ist,  vielleicht  sogar  noch  viel  besser  als  hocharterielles,  die 
Ernährung  zu  besorgen.  Beziehen  sich  doch  die  meisten  Fälle,  in 
denen  man  Hypertrophie  von  Körperteilen  durch  chronische  Hyper- 
ämien sah,  wie  ich  soeben  entwickelt  habe,  auf  solche  venöser  und 
nicht  arterieller  Natur. 

In  Wirklichkeit  kommt  es  aber  auf  etwas  mehr  venösen  oder 
arteriellen  Charakter  des  Blutes  bei  der  Ernährung  wohl  gar  nicht 


232  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

an,  sondern  vielmehr  in  erster  Linie  auf  die  Stromverlangsamung 
und  ihre  Folgezustände,  welche  alle  Gewebsteile  in  viel  innigeren 
Zusammenhang  (seröse  Durchtränkung,  Leukocytenauswanderung 
usw.)  mit  den  Blutbestandteilen  bringt,  als  der  schnellf liessende 
arterielle  Strom. 

Ich  verweise  auch  hier  wiederum  auf  den  Embryo,  der  wenig 
Arbeit  leistet,  aber  einen  ungeheueren  Gewebsaufbau  zeigt.  Der 
Embryo  aber  muss  sich  infolge  seiner  eigentümlichen  Kreislauf- 
verhältnisse mit  einem  weit  Sauerstoff  ärmeren  und  kohlensaure - 
reicheren  Blute  begnügen  als  der  geborene  Mensch. 

Diese  Erörterungen  halte  ich  besonders  den  Ärzten  entgegen, 
die  allenfalls  eine  künstliche  aktive  Hyperämie  gelten  lassen,  aber, 
wie  das  von  mehreren  meiner  engeren  Fachgenossen  geschehen  ist, 
meine  Bestrebungen,  durch  künstliche  passive  Hyperämie  bei  den 
verschiedensten  Krankheiten  heilend  zu  wirken,  als  die  Ausgeburt 
einer  tollen  Phantasie  ansehen,  indessen  nichts  anderes  dagegen 
einzuwenden  wissen,  als  dass  ,, selbstverständlich"  die  passive 
Hjrperämie  eine  schwere  Ernährungsstörung  darstelle. 

In  diesem  Kapitel  ist  oft  vom  ,, Reize"  die  Rede  gewesen, 
ohne  den  kein  Wachstum  und  keine  Regeneration  erfolgt.  Welches 
ist  nun  dieser  rätselhafte  Reiz?  Ich  glaube,  wir  müssen  nach  un- 
seren heutigen  Kenntnissen  darauf  verzichten,  den  Reiz  der  Ent- 
wicklung und  des  Körperwachstums  zu  erforschen;  denn  das  ist 
schliesslich  ein  grosses  Stück  vom  ewigen  Problem  des  Lebens,  an 
dessen  Ergründung  sich  die  grössten  Geister  aller  Zeiten  ver- 
geblich abgemüht  haben.  Wir  wollen  uns  deshalb  bescheiden,  eine 
besondere  Art  des  Wachstums,  die  Regeneration  nach  Ver- 
letzungen, die  zur  Heilung  des  Schadens  führt,  einer  Betrachtung 
zu  unterziehen. 

Zunächst  ist,  im  Sinne  der  überall  in  der  lebendigen  Natur 
wirkenden  Selbstregulierung,  die  Gewebsdurchtrennung  und  die 
Gewebsschädigung  an  sich  der  Reiz  für  die  Regeneration.  Aber 
das  ist  schliesslich  nur  eine  Umschreibung  der  Tatsachen.  Ausser- 
dem wissen  wir  nicht,  ob  neben  der  Verletzung  nicht  noch  andere 
Wachstumsreize  wirken,  die  man  vielleicht  künstlich  ersetzen  oder 
verstärken  könnte.  Ich  habe  mich  vielfach  mit  dieser  hochinteres- 
santen biologischen  Frage  beschäftigt,  und  viele  Betrachtungen  und 
vergebliche  Versuche  haben  mich  zu  der  Überzeugung  gebracht, 
dass  es  ausser  der  Verletzung  an  sich  einen  einheitlichen  Reiz  für 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  233 

alle  Gewebe  nicht  gibt.  Ich  wandte  mich  deshalb  einem  bestimmten 
Gewebe  zu,  und  zwar  dem,  wie  aus  diesem  Kapitel  hervorgeht, 
klinisch  beststudierten  von  allen,  dem  Knochengewebe.  Scheint 
doch  die  ärztliche  Beobachtung  bei  der  Behandlung  der  Pseudar- 
throse  und  der  verzögerten  Kallusbildung  längst  erwiesen  zu  haben, 
dass  man  den  rätselhaften  Wachstumsreiz  durch  einfache  che- 
mische und  physikalische  Reize  ersetzen  könne.  Der  oft  nicht  zu 
verkennende  Erfolg  der  Einspritzung  von  Alkohol,  Milchsäure, 
Jodtinktur,  Terpentinöl,  ferner  der  Anwendung  von  mechanischen 
Mitteln  —  Reiben  oder  Beklopfen  der  Bruchenden,  Einschlagen 
von  Elfenbeinstiften  —  bei  mangelhafter  Kallusbildung  spricht  für 
diese  Ansicht. 

Bei  genauerer  Betrachtung  aber  erkennt  man,  dass  dieser 
Schluss  unsicher  ist,  denn  alle  diese  Dinge  wirken  vielleicht  erst 
mittelbar.  Sie  alle  rufen  einesteils  eine  neue  Verletzung  oder 
Schädigung  der  Bruchstelle  hervor,  und  wir  sind  insofern  wieder 
auf  dem  Punkte  angelangt,  von  dem  wir  ausgingen,  dass  die  Ver- 
letzung und  Schädigung  selbst  den  Rei:^  für  die  Regeneration  ab- 
gibt. Andern  teils  aber  haben  alle  diese  Massnahmen  eine  Ent- 
zündung zur  Folge,  d.  h.  also  eine  vermehrte  Zufuhr  von  Nahrungs- 
stoffen —  zu  vergleichen  der  schon  beschriebenen  künstlichen 
Hyperämie  bei  der  Behandlung  von  Knochenbrüchen  —  und  eine 
entzündliche  Hypertrophie  im  Sinne  Weigert's. 

Zahlreiche  Gründe  und  Erfahrungen  haben  mich  schliesshch 
veranlasst,  als  den  vornehmsten  Reiz  für  die  Knochenneubildung 
und  wahrscheinlich  auch  als  ein  vortreffliches  Ernährungsmittel 
für  den  jugendlichen  Kallus  den  Bluterguss  anzusehen,  nämlich: 

Es  ist  eine  Eigentümlichkeit  des  subkutanen  Knochenbruches, 
sehr  grosse  Blutergüsse  zu  verursachen.  Man  kann  das  ja  als  eine 
unter  allen  Umständen  schädliche  Eigenschaft  des  Knochen- 
bruches ansehen  und  tut  dies  wirklich.  Beweise  hat  man  aller- 
dings nicht  dafür  gebracht;  es  ist  eins  der  vielen  Lehrbuch - 
dogmen,  die  jeder  selbstverständlich  findet,  die  aber  nicht  selten 
falsch  sind  und  einer  vorurteilslosen  Betrachtung  häufig  nicht 
standzuhalten  pflegen. 

Ebensogut  kann  der  Bluterguss  nützlich  für  die  Heilung  der 
Knochenbrüche  sein,  denn  sie  erfolgt  ja  immer  unter  dem  Einflüsse 
ausserordentlich  grosser,  zwischen  und  um  den  Bruch  ergossener 
Blutmengen.  Diese  stellen  also  die  natürlichen  Verhältnisse  für 
die  Heilung  eines  Knochenbruches  dar. 


234  Allgemeine  Wirkimgen  der  Hyperämie. 

Ich  machte,  wie  zahkeiche  andere  Chirurgen,  die  Erfahrung, 
dass  frische  Knochenbrüche  im  Bereiche  der  Diaphysen,  welche 
ich  wegen  schlechter  Stellung  genäht  hatte,  viel  längere  Zeit  zur 
Heilung  brauchten,  als  subkutane.  Man  hat  zur  Erklärung  dieser 
auffallenden  Tatsache  behauptet,  die  genaue  Aneinanderfügung 
der  Bruchenden  verzögere  die  Kallusbildung.  Seitdem  wir  aber 
unter  Kontrolle  der  Röntgenbilder  jetzt  auch  die  Enden  subkutaner 
Knochenbrüche  viel  besser  zusammenstellen  als  früher,  und  wir 
dabei  keineswegs  eine  Verzögerung  der  Kallusbildung  sehen,  ist 
dieser  Grund  hinfällig,  zumal  Bardenheuer  —  der,  allen  anderen 
Chirurgen  auf  diesem  Gebiete  voran,  schon  lange  eine  möglichst 
genaue  Aneinanderfügung  der  Bruchenden  erzielte  —  berichtet, 
unter  seinem  ungeheuren  Material  nicht  eine  einzige  Pseudarthrose 
beobachtet  zu  haben. 

Der  Grund  für  die  verzögerte  Kallusbildung  in  diesen  Fällen 
ist  mir  jetzt  klar:  wir  räumten  die  Blutergüsse  aus  und  stillten 
sorgfältig  die  Blutung. 

Ähnlich  verhält  es  sich  bei  den  komplizierten  Knochenbrüchen, 
die  ebenfalls  schlecht  heilen,  selbst,  wenn  sie  von  Infektionen 
verschont  bleiben.  Der  Bluterguss  läuft  durch  die  Weichteil- 
wunde ab. 

Eine  Reihe  von  Massnahmen,  die  man  zur  Heilung  von  Pseudar- 
throsen  getroffen  hat,  machen  geringe  Blutergüsse  zwischen  den 
Bruchenden  und  um  sie  herum,  so  das  gewaltsame  Reiben  in  Nar- 
kose und  das  Beklopfen.  Es  fiel  mir  das  besonders  auf,  als  ich 
in  einigen  verzweifelten  Fällen  von  Pseudarthrose  das  ziemlich 
eingreifende  Verfahren  von  Thomas,  die  sogenannte  Perkussion, 
mit  Glück  anwandte. 

Nicht  selten  sehen  wir,  dass  ein  Knochen  (besonders  das 
Schienbein),  wenn  er  einen  Stoss  erhielt,  der  zu  einem  Bluterguss 
führte,  später  starke  Knochenverdickung  aufweist. 

Knochenbrüche,  die  zu  aussergewöhnhch  grossen  Blutergüssen 
Veranlassung  geben,  heilen  häufig  mit  sehr  starker  Kallusbildung. 
Umgekehrt  sah  ich  bei  mehreren  Knochenbrüchen  mit  geringem 
Bluterguss  die  Festigung  sehr  lange  ausbleiben. 

Aus  Blutergüssen  in  die  Muskeln  entstehen  die  Exerzier-  und 
Reitknochen. 

Grosse  Blutergüsse  bewirken  auch  bei  anderen  Bindesubstanzen 
erhebliche  Neubildung  und  Wucherung.    Sie  führen  dort  zu  mäch- 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  235 

tigen  Schwielenbildungen,  weshalb  man  mit  Recht  Gewicht  darauf 
legt,  den  Bluterguss  möglichst  bald  zu  beseitigen,  um  diese  Schwie- 
len zu  vermeiden. 

Also  überall  lehrt  die  Beobachtung:  wo  ein  grosser  Bluterguss 
vorhanden  ist,  entsteht  erhebliche  Knochen-  und  Bindegewebsneu- 
bildung. 

Auf  die  Richtigkeit  dieser  theoretischen  Erwägungen  habe  ich 
die  praktische  Probe  angestellt.  Ich  konnte  mitteilen i),  dass  ich 
eine  ganze  Reihe  von  Knochenbrüchen,  die  sich  nicht  festigen 
woUten,  durch  Einspritzung  von  Blut  desselben  Menschen,  das  ich 
einer  seiner  Armvenen  entnahm,  schnell  zur  Heilung  brachte. 
Meinen  damals  mitgeteilten  Fällen  könnte  ich  jetzt  noch  eine 
Reihe  neuer  hinzufügen. 

Ich  glaube  dadurch  nicht  nur  das  natürlichste,  sondern  auch 
das  wirksamste  Mittel  gegen  die  lästige,  verzögerte  Kallusbildung 
in  die  Praxis  eingeführt  zu  haben. 

Das  Blut  ruft  bald  nach  der  Einspritzung  eine  Entzündung 
hervor.  Die  Gegend  der  Bruchstelle  schwillt  ödematös  an,  wird 
auf  Druck  schmerzhaft,  rötet  sich,  und  besonders  ist  mit  empfind- 
lichen Messapparaten  noch  viele  Tage  lang  eine  beträchtliche  Er- 
höhung der  Hauttemperatur  nachzuweisen,  was  man  übrigens  auch 
schon  mit  der  blossen  Hand  fühlen  kann. 

Wenn  wir  so  den  Bluterguss  als  den  natürlichen  Wachstums - 
reiz  für  den  Kallus  betrachten,  so  sehen  wir  gleichzeitig,  dass  er 
durch  Hervorrufen  einer  Entzündung  auch  eine  gesteigerte  Er- 
nährung bewirkt. 

Ich  halte  es  aber  für  möglich,  dass  der  Bluterguss  nicht  nur 
indirekt,  sondern  auch  direkt  ernährend  wirkt,  weil  ihn  die  jungen 
Zellen  des  Kallus  vielleicht  auffressen  und  ihn  mit  zum  Auf- 
bau verwenden. 

Man  sagt,  dass  die  Gewebszellen  bei  der  Regeneration  wieder 
embryonalen  Charakter  annehmen.  Nun  hat  Bonnet  in  seinen 
schon  erwähnten  Arbeiten  nachgewiesen,  dass  bei  den  Deciduaten 
der  Embryo  einen  grossen  Teil  seiner  Nahrung  aus  den  mütter- 


1)  Bier,  Die  Bedeutung  des  Blutergusses  für  die  Heilung  des  Knochen- 
bruches.  Heilung  von  Pseudarthrosen  und  verspäteter  Kallusbildung  durch 
Bluteinspritzung.    Medizinische  Klinik  1905.    Nr.  1  u.  2. 


236  Allgemeine  Wirkungen  der  Hyperämie. 

liehen  Blutergüssen  der  Placenta  zieht,  und  Kolsteri)  fand,  dass 
an  der  sogenannten  ,, Uterinmilch"  der  Indeciduaten,  welche  man 
dort  als  das  Nahrungsmaterial  für  den  Embryo  ansieht,  aus  den 
mütterlichen  Gefässen  ergossenes  Blut  in  erheblicher  Weise  be- 
teiligt ist.  Schreibt  man  nun  den  Zellen  des  jungen  Kallus  embryo- 
nale Eigenschaften  zu,  so  dürfte  auch  die  Annahme  wahrschein- 
lich sein,  dass  sie,  wie  die  wahren  embryonalen  Zellen,  die  ihnen 
im  Blutergusse  gebotene  Nahrung  auf  dem  Wege  der  Osmose  und 
Phagocytose  aufnehmen  und  verarbeiten.  Ähnliche  Verhältnisse 
dürften  vorliegen,  wenn  nach  der  Tenotomie  ein  neues  Binde- 
gewebsstück  an  Stelle  des  die  beiden  Sehnenstümpfe  verbindenden 
Blutgerinnsels  tritt. 

Es  wäre  aber  weit  gefehlt,  wollte  man  diese  Anschauungen 
auf  alle  Gewebe  ausdehnen.  Die  Heilung  des  Knochenbruches 
nimmt  bis  zu  einem  gewissen  Grade  eine  Sonderstellung  ein:  sie 
erfolgt  durch  ein  später  grösstenteils  wieder  verschwindendes  Ge- 
webe, den  Kallus.  Zur  prima  intentio  im  strengen  Sinne  des 
Wortes  eignet  sich  diese  Verletzung  ganz  und  gar  nicht,  der  ver- 
letzte Knochen  bedarf  bei  seiner  starken  Inanspruchnahme  einer 
provisorischen  schützenden  Kallusmasse,  die  ihn  so  lange  stützt  und 
zur  Wiederaufnahme  seiner  Funktion  befähigt,  bis  seine  innere 
Festigkeit  soweit  gediehen  ist,  dass  er  die  vorläufige  Verkittung 
entbehren  kann.     Dann  erfolgt  die  Aufsaugung  des  Kallus. 

Bei  der  grossen  Mehrzahl  der  Gewebe  soll  aber  eine  Ver- 
letzung womöghch  per  primam  intentionem  heilen,  und  diese  ver- 
nichten grössere  Blutergüsse  unter  allen  Umständen.  Sie  führen 
dort  ferner,  wie  ich  schon  entwickelte,  zur  Ausbildung  eines  dem 
Knochenkallus  zu  vergleichenden  schwieligen  Bindegewebes,  das 
hier  für  ihre  Funktion  ebenso  schädlich  ist,  wie  der  Kallus  für  die 
des  Knochens  nützhch.  Deshalb  bleibt  es  im  allgemeinen  richtig, 
Blutergüsse  in  die  Gewebe  nach  Möglichkeit  zu  beseitigen. 

Diese  Erwägungen  waren  für  mich  der  Hauptgrund  zu  der 
Annahme,  dass,  abgesehen  von  der  Verletzung  selbst,  die  natür- 
lichen Reize  für  die  Regeneration  bei  verschiedenen  Geweben  nicht 
gleich  zu  sein  brauchen. 

Ich  weiss,  dass  ich  das  eigentliche  Wesen  des  Wachstums- 
reizes für  den  Knochenkallus  mit  diesem  kleinen  Beitrag  keines- 


1)  Kolster,   Die  Embryo trophe  plazentarer   Säuger.      Merkel  u.   Bonnet's 
anatomische  Hefte.     20.  Bd.  Heft  59. 


Ernährende  Wirkung  der  Hyperämie.  237 

wegs  ergründet  habe.  Denn,  wenn  ich  sage:  der  Bluterguss  ist 
Reiz  und  indirekt  (und  vielleicht  auch  direkt)  Nahrungsmaterial 
für  die  Bildung  des  Kallus,  so  ist  das  auch  wieder  nur  eine  Um- 
schreibung der  Tatsachen,  ebenso  wie  die  Behauptung,  dass  die 
Gewebsdurchtrennung  als  solche  die  Regeneration  einleite.  Aber 
schliesslich  sind  ja  fast  alle  unsere  medizinischen  und  naturwissen- 
schaftlichen ,,  Erklärungen  "dieser  Art,  und  auf  einem  so  dunk- 
len Gebiete,  wie  dem  in  Rede  stehenden,  ist  auch  jede  solche  um- 
schreibende Erklärung,  wenn  sie  uns  nur  dem  Verständnisse  der 
Dinge  näher  bringt,  ein  erheblicher  Fortschritt. 


Anhang. 


Die  Beeinflussung  des  Gesamtblutes  zu  Heilzwecken. 

Bisher  haben  wir  nur  die  Frage  behandelt,  wie  wir  das  uns 
vom  Kranken  zur  Verfügung  gestellte  Blut  zu  Heilzwecken  be- 
nutzen können,  ohne  uns  um  die  Qualität  desselben  zu  kümmern. 
Natürhch  sind  die  Gewebe  und  besonders  das  Blut  des  Kranken 
häufig  schlecht  und  krank ;  denn  wären  sie  vollkommen  gesund,  so 
hätten  ihn  Krankheiten,  wie  Tuberkulose,  chronischer  Rheumatis- 
mus, auch  zahheiche  akute  Infektionen,  wahrscheinhch  überhaupt 
nicht  befallen.  Es  wäre  deshalb  von  ungeheuerer  Wichtigkeit, 
wenn  wir  Mittel  in  der  Hand  hätten,  das  Gesamtblut  so  zu  ver- 
bessern, dass  jene  Leiden  unmöglich  würden  oder,  wenn  sie  ein- 
mal ausgebrochen  sind,  zur  iVusheilung  kämen. 

Offenbar  muss  mit  jeder  Verbesserung  des  Körpers  eine  solche 
des  Blutes  Hand  in  Hand  gehen.  Denn  jede  Zelle  erhält  vom 
Blute  ihre  Nahrung,  und  ohne  gesundes  Blut  wird  nie  ein  gesunder 
Körper  vorhanden  sein,  wenn  wir  auch  nicht  sagen  können,  dass 
die  Verbesserung  des  Blutes  der  des  Körpers  immer  vorangehen 
muss.  Denn  im  menschlichen  Leibe  hängt  immer  das  eine  vom 
andern  ab,  und  ohne  die  nötige  Erregung  der  blutbildenden  Or- 
gane gibt  es  schliesslich  auch  keine  Blutverbesserung. 

Immerhin  ist  die  Richtigkeit  der  alten  Anschauung  von  dem 
entscheidenden  Einfluss  der  Blutbeschaffenheit  auf  den  Verlauf  von 
Krankheiten,  insbesondere  von  Infektions-  und  Stoffwechselkrank- 
heiten, durch  die  moderne  Forschung  glänzend  bestätigt  worden. 

Rein  theoretisch  gedacht,  ist  ja  eine  Behandlung,  die  den 
ganzen  Körper  und  in  erster  Linie  das  Blut  so  in  seiner  Wider- 
stands- und  Angriffskraft  stärkt,  dass  es  befähigt  ist,  die  feind- 
liche Krankheit  zu  überwinden,  bei  all  den  Leiden,  die  gewöhnlich 
nicht  rein  lokal  verlaufen,  wie  die  Tuberkulose,  oder  die  offenbar 
inneren  Ursachen  ihre  Entstehung  verdanken,  wie  die  Gicht  und 
der  chronische  Gelenkrheumatismus,  das  Ideal  eines  Heilverfahrens. 

Es  kommt  hinzu,  dass  eine  solche  Blutverbesserung  uns  in  den 
Stand  setzen  würde,  mit  viel  mehr  Aussicht  auf  Erfolg  unsere 


Die  Beeinflussung  des  Gesamtblutes  zu  Heilzwecken.  239 

lokalen  hyperämisierenden  Methoden  anzuwenden.  Nur  insofern 
gehört  ja  dieses  Kapitel  in  dieses  Buch. 

Der  Gedanke,  das  Blut  zu  verbessern,  ist  nun  so  alt,  wie 
die  Medizin  überhaupt.  Er  ist  eigentlich  erst  in  der  letzten  Zeit 
mehr  in  den  Hintergrund  getreten,  als  Virchow's  Lehre  von  der 
Lokalisation  der  Krankheit  den  Arzt  zu  rein  lokaler  Behandlung 
drängte,  und  als  hu  moralpathologische  Anschauungen  ebenfalls  in 
erster  Linie  unter  dem  Einflüsse  Virchow's  mehr  und  mehr  in 
Misskredit  kamen. 

Neuerdings  aber  fängt  die  Virchow'sche  Cellularpathologie 
an,  ihre  Alleinherrschaft  allmählich  zu  verlieren,  und  man  müsste 
blind  sein,  wenn  man  nicht  sähe,  dass  viele  von  uns  sich  wieder 
in  humoralpathologischen  Anschauungen  bewegen,  wenn  auch  in 
ganz  anderem  Sinne,  als  in  jenen  alten  Tagen,  wo  die  Humoral - 
pathologie  ebenso  unbeschränkt  herrschte,  wie  in  der  uns  zunächst 
liegenden  Zeit  die  Cellularpathologie.  Dieser  Umschwung  tut 
der  Lehre  und  dem  Ruhme  des  wahrhaft  grossen  Virchow  kei- 
nerlei Abbruch.  Die  Cellularpathologie  in  dem  Dogmatismus  und 
in  der  Einseitigkeit,  wie  sie  vielfach  gelehrt  wurde,  war  für  ihre 
Zeit  eine  notwendige  und  nützliche  Theorie,  die  sich  für  die  Me- 
dizin so  fruchtbar  erwiesen  und  so  viel  Aberglauben  und  falsche 
Anschauungen  beseitigt  hat,  wie  nur  wenige  andere  Lehren  zuvor. 
Ihre  Grundpfeiler  stehen  auch  heute  noch  unerschüttert.  Das  darf 
uns  aber  nicht  verleiten,  in  starrer  Orthodoxie  auf  die  Cellular- 
pathologie als  die  allein  wahre  Lehre  zu  schwören  und  die  richtigen 
Gedanken  ihrer  älteren  Schwestertheorie  —  denn  Theorien  sind 
sie  schhesslich  beide  —  zu  verkennen. 

Ich  bin  sehr  häufig  auf  Grund  meiner  von  vielen  für  humoralpatho- 
logisch  gehaltenen  Arbeiten  gefragt  worden,  ob  ich  mich  als  Humoral- 
oder  Cellularpathologe  bekenne.  Darauf  antworte  ich:  Nach  meinem 
naturwissenschaftlichen  Standpunkte  unbedingt  als  Cellularpathologe 
und  Cellularphysiologe.  Denn  nach  unseren  heutigen  Kenntnissen  ist  iind 
bleibt  die  Zelle  das  einzig  Lebendige  im  menschlichen  Körper,  an  die  sich 
somit  alle  Lebensäusserungen  knüpfen,  und  die  auch  die  Zusammensetzung 
der  Säfte  im  Körper  bestimmt  und  reguliert.  Dabei  braucht  man  die 
Bedeutung  der  Säfte  keineswegs  zu  unterschätzen.  Das  ist  Virchow  auch 
nie  in  den  Sinn  gekommen;  hält  er  es  doch  selbst  für  möglich,  dass  sogar 
bei  der  Entstehung  der  zelligen  Geschwülste  die  Säfte  eine  Rolle 
spielen!  (Vergleiche  Virchow,  Die  krankhaften  Geschwülste.  Berlin  186.3. 
I.  Bd.  S.  59,   87  u.  88.) 

Aber  es  ist  die  Frage,  ob  man  einen  solchen  rein  wissenschaftlichen 
Standpunkt  ohne  weiteres  dogmatisch  auf  seine  praktische  Tätigkeit  an- 
wenden darf.     Ich  meinerseits  halte  es  für  eine  arge  Spitzfindigkeit,  wenn 


240  Anliang. 

man  behaupten  wollte,  die  Beeinflussung  der  Zusammensetzung  der  Körper- 
säfte z.  B.  durch  v.  Behring'sches  Heilserum  oder  durch  Diätkuren  sei 
rein  cellularpathologisch  aufzufassen.  Oder  gar  die  von  mir  in  diesem 
Buche  beschriebenen  Heilverfaliren  seien  reine  Cellularpathologie  oder 
Cellularphysiologie,  weil  das  Blut  ein  Gewebe  sei.  WissenschaftUch  mag 
sich  das  verteidigen  lassen,  der  natürHche  praktische  Menschenverstand 
aber  sagt  sieh,  dass  das  Blut  trotz  seiner  vielen  Zellen  zu  den  Säften 
gehört,  und  dass  wir  bei  seiner  Benutziing  zu  Heilzwecken  weder  rein 
hiunoral-  noch  rein  cellularpathologisch,  sondern,  wenn  nvm  einmal  ein 
Wort  nötig  sein  soll,  hämoiDathologisch  handeln. 

Zweifellos  hat  die  Übertragimg  der  naturwissenschaftlich  auch 
heute  noch  iinerschüttert  dastehenden  Vir chow 'sehen  Cellularpathologie 
auf  unser  praktisches  ärztliches  Handeln  einen  grossen  Fortscliritt  bedeutet . 
Aber  diese  Richtung  ist  gänzlich  ausgebaut,  hat  zu  einem  Stülstand  ge- 
führt und  sich  meines  Erachtens  deshalb  in  letzter  Zeit  für  die  prak- 
tische Medizin  als  ziemlich  unfruchtbar  erwiesen.  Also,  weshalb  sollen 
wir  da  nicht  einmal  eine  Zeitlang  wieder  humoralpathologisch  denken,  so 
lange  uns  diese  Geistesrichtung  vorwärts  bringt?  Und  wenn  dann  später 
vielleicht  jemand  als  iSTeuropathologe  uns  neue  Ausblicke  eröffnen  und 
neue  Fortscliritte  anbahnen  sollte,  meinetwegen  nicht  auch  einmal  neuro- 
pathologisch  ?  Vir  chow  selbst  (Cellularpathologie)  sagt  von  der  Humoral- 
pathologie:  ,,In  der  Entwicklung,  welche  die  Medizin  bis  in  die  letzte 
Zeit  genommen  hat,  finden  wir  den  Streit  zwischen  den  humoralen  und 
sohdaren  Schulen  der  alten  Zeit  immer  noch  erhalten:  Die  humoralen 
Schulen  haben  im  allgemeinen  das  meiste  Glück  gehabt,  weil  sie  die  be- 
quemste Erklärung  und  in  der  Tat  die  plausibelste  Deutung  der  Ivranlv- 
heitsvorgänge  gebracht  haben.  ]Man  kann  sagen,  dass  fast  alle  glücklichen 
Praktiker  und  bedeutenden  Kliniker  melir  oder  weniger  humoralpatho- 
logische  Tendenzen  gehabt  haben."  Vir  chow  sagt  dann  weiter:  ,, Meiner 
Auffassung  nach  ist  der  Standpunkt  beider  Lehren  ein  unvollständiger; 
ich  sage  nicht  ein  falscher,  weil  er  eben  nur  falsch  ist  in  seiner  Ex- 
klusion; er  muss  zm-ückgeführt  werden  auf  gewisse  Grenzen,  und  man 
muss  sich  erinnern,  dass  neben  Gefässen  und  Blut,  neben  Nerven  und 
Zentralapparaten  noch  andere  Dinge  existieren,  die  nicht  ein  blosses  Sub- 
strat der  Einwirkimgen  von  Nerven  und  Blut  sind,  auf  welchem  diese 
ihr  Wesen  treiben." 

In  neuerer  Zeit  schenkt  man  denn  auch  unter  den  Ärzten 
der  Allgemembehandlung  wieder  mehr  Aufmerksamkeit.  Von  sehr 
vielen  ist  sie  niemals  vernachlässigt;  ich  nenne  hier  in  erster  Linie 
die  Namen  Brehmer,  Dettweiler,  Winternitz,  Örtel.  Mehr 
noch  haben  die  Vertreter  der  sogen.  Naturheilkunde  (Sohwen- 
ninger,  Lahmann)  stets  scharf  und  vieKach  in  übertriebener 
Weise  den  Standpunkt  vertreten,  dass  in  der  Behandlung  der 
Krankheiten,  auch  einem  grossen  Teile  der  sogenannten  ,, lokalen", 
die  Beeinflussung  des  Gesamtkörpers  in  erster  Linie  stehen  solle. 

Vollends  in  der  Volksmedizin  hat  man  nie  aufgehört,  an  die 


Die  Beeinflussung  des  Gesamtblutes  zu  Heilzwecken.  241 

allheilende  Wirkung  der  allgemeinen  Blutverbesserung  zu  glauben. 
Daher  stehen  im  Volke  noch  heute  sogenannte  ,, blutreinigende" 
und  „blutverbessernde"  Mittel  im  höchsten  Ansehen. 

Es  gibt  jetzt  wohl  keinen  Arzt,  der  nicht  die  allgemeinen 
hygienischen  Verhältnisse,  Licht,  gute  Luft,  Ernährung  für  die  Er- 
haltung und  Wiedergewinnung  der  Gesundheit  mit  in  erste  Reihe 
stellte.  Das  wichtigste  von  diesen  drei  Dingen  ist  die  Ernährung, 
qualitativ  und  quantitativ.  Weiss  doch  jeder  Viehzüchter,  dass, 
nächst  der  richtigen  Auswahl  der  Eltern,  die  Leistungsfähigkeit  und 
Verbesserung  der  Tierrassen  vor  allem  eine  Ernährungsfrage  ist. 

Aber  mit  der  sogenannten  ,, guten"  Ernährung  ist  es  bei  den 
Krankheiten  nicht  getan.  Hier  hat  die  Erfahrung  gelehrt,  dass 
für  bestimmte  Leiden  bestimmte  Diätformen  am  Platze  sind.  Uns 
interessieren  besonders  solche,  die  in  erster  Linie  auf  die  Zu- 
sammensetzung des  Blutes  wirken.  Hier  kommen  die  verschie- 
denen Entziehungskuren  in  Betracht,  vor  allem  die  Schroth'sche 
Kur,  die  sich  gerade  bei  solchen  Krankheiten,  die  auch  durch 
lokale  hyperämisierende  Mittel  günstig  beeinflusst  werden,  beim 
chronischen  Rheumatismus  und  bei  der  fistulösen  Knochentuber- 
kulose eines  grossen  Rufes  erfreut. 

Mein  Freund  Dr.  Dittrich  in  Schönberg  i.  H.  teilte  mir  mit, 
dass  er  bei  diesen  Krankheiten  von  einer  Verbindung  der  Schroth- 
schen  Kur  mit  hyperämisierenden  Mitteln  ganz  vortreffhche  Erfolge 
erzielt  habe,  und  erklärt  diese  dadurch,  dass  er  ein  durch  die  ge- 
nannte Kur  verändertes  und  verbessertes  Blut  an  der  kranken  Stelle 
anhäuft.  Ich  habe  nicht  Erfahrung  genug,  um  über  den  V7ert 
dieser  Kur  zu  urteilen. 

Alte  zu  den  ,, blutverbessernden  Mitteln"  gezählte  Verfahren 
sind  das  blutige  Schröpfen  und  der  Aderlass,  die  heutzutage  in  der 
wissenschaftlichen  Medizin,  wenigstens  als  blutverbessernd  völlig  in 
den  Hintergrund  getreten  sind.  Einen  sehr  eifrigen  Verfechter  hat 
noch  heute  in  dieser  Beziehung  der  Aderlass  in  dem  Kreisarzt 
Bachmanni)in  Harburg,  dessen  Erfolge  mit  Entziehungen  kleiner 
Blutmengen  mir  sehr  beachtenswert  erscheinen.  Ich  selbst  habe 
den  Aderlass  zuweilen  mit  offenbarem  Erfolge  gebraucht,  habe  aber 


1)  Bachmann,  a)  Der  Dyes'sche  Aderlass  in  Theorie  u.  Praxis.  Deutsche 
Medizinalz.  1898.  Nr.  17 — 21.  —  b)  Weitere  Erfahrungen  mit  dem  Dyes'schen 
Aderlass.  Ebd.  1898.  Nr.  96—98.  —  c)  Eine  dritte  Serie  von  Aderlassfällen  nach 
Dyes'scher  Methode.  Ebd.  1900.  Nr.  43. — d)  Heilgn.  v.  Unterschenkel-Geschwüren 
und  -Ekzemen  durch  den  Dyes'schen  Aderlass.  Therap.  Monatsh.  1900.  April. 
Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  16 


242  Anhang. 

nicht  Erfahrung  genug,  um  ein  begründetes  Urteil  zu  fällen.  Im 
allgemeinen  bin  ich  der  Ansicht,  dass  in  allen  Mitteln  von  allge- 
meiner Verbreitung,  die  im  Laufe  der  Jahrhunderte  und  Jahr- 
tausende nicht  auszurotten  sind,  ein  guter  Kern  steckt. 

Wahrscheinlich  wirken  auch  zahheiche  andere  allgemeine 
Mittel,  einige  Arzneien,  besonders  aber  Badekuren,  Luft-,  Licht- 
und  Sonnenbäder,  Klimawechsel  usw.  auf  das  Blut  und  durch  dieses 
wieder  auf  lokale  Leiden  ein.  Die  Praxis  hat  ja  ihren  heilsamen 
Einfluss  unzweifelhaft  bewiesen.  Man  braucht  nur  einmal  zu  sehen, 
wie  ein  mit  tuberkulösen  Knochenfisteln  behafteter,  herunter  ge- 
kommener Tuberkulöser  nach  einer  Seebadekur  nicht  nur  aufblüht, 
sondern  auch  sein  Lokalleiden  verliert,  um  von  der  Wirkung  über- 
zeugt zu  sein. 

Freihch  an  einer  genügenden  Erklärung  und  einer  festen 
wissenschaftlichen  Grundlage  für  diese  Dinge  fehlt  es  uns  noch 
gänzHch.  Deshalb  wollen  wir  uns  zu  neueren  Versuchen  wenden, 
die  mit  der  bestimmten  Absicht  unternommen  wurden,  das  Blut 
oder  bestimmte  Bestandteile  desselben  zu  verändern  und  dadurch 
heilend  zu  wirken.  Ich  sehe  hier  ab  von  den  Methoden,  die 
spezifisch  wirkende  Mittel  dem  Blute  einverleiben,  wie  die  intra- 
venöse Einspritzung  von  Sublimat  gegen  Syphihs  und  die  subkutane 
Einverleibung  von  spezifischem  Serum,  Tuberkulin  usw. 

Hier  sind  zunächst  Landerer's^)  bekannte  Versuche  zu  er- 
wähnen, durch  intravenöse  Einspritzung  von  Zimtsäure  die  Tuber- 
kulose zu  heilen.  Landerer  glaubte,  dass  das  Mittel  durch  Hervor- 
rufen einer  Leukocytose  wirke.  Die  Leukocyten  sammeln  sich  um 
die  Tuberkelherde  und  bilden  um  die  infizierte  Stehe  einen  dichten 
Wall;  es  entstehen  Granulationen  und  Blutgefässe,  die  tuberku- 
lösen Massen  werden  resorbiert,  an  ihre  Stelle  tritt  Bindegewebe. 
Landerer  glaubte,  dass  das  Wesen  der  Zimtsäureeinspritzung  in 


1)  Zahlreiche  Abhandlungen,  von  denen  ich  folgende  erwähne: 

Landerer,  a)  Die  Behandlung  der  Tuberkulose  mit  Zimtsäure.  Leipzig. 
F.  C.  W.  Vogel  1892;  b)  Weitere  Mitteilimgen  über  die  Behandlung  d.  Tuber- 
kulose mit  Zimtsäure.  Deutsche  med.  Wochensclir.  1893.  Nr.  9  u.  10;  c)  Der 
gegenwärtige  Stand  der  Hetol-(Zimtsäure-)Behandl.  der  Tuberkulose.  Berliner 
Klinik  1901.    Heft  153. 

Richter,  Histologische  Untersuchungen  über  die  Einwirkung  der  Zimt- 
säure auf  tuberkulöse  Kaninchen.    Virchow's  Archiv.     1893.     133.  Bd. 

Landerer,  Neuere  Erfahrungen  über  Hetol  und  Hetokresol.  Biebrich. 
Kalle  u.  Co.  1892. 


Die  Beeinflussung  des  Gesamtblutes  zu  Heilzwecken.  243 

einer  Leukocytose  und  Hervorrufung  einer  akuten  Entzündung  um 
die  tuberkulösen  Massen  bestehe. 

Die  Idee  Landerer' s  hat  zahlreiche  Nachfolger  gefunden,  von 
denen  ich  nur  einige  nenne.  Löwy  und  Richter^)  spritzten  leuko- 
taktische  Mittel,  Pilokarpin  und  albumoseähnliche  Körper,  be- 
sonders Spermin,  intravenös  Versuchstieren  ein  und  sahen  deren 
günstigen  Einfluss  auf  den  Ablauf  künstlicher  Infektion. 

Hahn 2)  stellte  fest,  dass  Blut  von  Versuchstieren  und  Men- 
schen, bei  denen  durch  Einspritzen  leukotaktischer  Mittel  eine 
Hyperleukocytose  erzielt  war,  stärker  bakterientötende  Eigenschaf- 
ten hatte  als  das  normale  Blut. 

Da  es  nach  diesen  Untersuchungen  schien,  dass  die  Hyper- 
leukocytose nicht  nur,  wie  Landerer  bezweckte,  auf  die  Tuber- 
kulose, sondern  auch  auf  alle  möglichen  anderen  bakteriellen  In- 
fektionen heilend  einwirkte,  so  verwandte  sie  von  Mikulicz^) 
praktisch,  um  den  Menschen  gegen  septische  Infektionen  nach  gefähr- 
lichen Operationen,  besonders  nach  Laparotomien,  zu  schützen.  Als 
leukotaktisches  Mittel,  das  einige  Zeit  vor  der  Operation  eingespritzt 
wurde,  verwandte  er  Nucleinsäure.  Er  glaubt  Günstiges  von  diesem 
Mittel  gesehen  zu  haben,  insofern  schwere,  die  Gefahr  der  Infektion 
in  sich  schliessende  Bauchoperationen  auffallend  günstig  verliefen. 

Man  hat  auf  die  leukocytenvermehrenden  Mittel  nach  diesen 
angeblichen  Erfolgen  am  Menschen  und  im  Tierexperiment  die 
grössten  Hoffnungen  gesetzt.  Allerdings  fehlt  es  auch  nicht  an 
entgegengesetzten  Stimmen.  Goldscheider  und  Jacob*),  die 
ähnliche  Versuche  wie  Löwy  und  Richter  angestellt  haben,  kom- 
men zu  dem  Schlüsse,  ,,dass  die  künstUche  Erzeugung  von  Hj^er- 
leukocytose  für  die  menschhche  Therapie  kaum  etwas  Erspriess- 
liches  leisten  wird".  Auch  halten  sie  die  künstliche  Veränderung 
der  Leukocytenverhältnisse  nicht  für  ganz  unbedenkHch.  Jedenfalls 
handelt  es  sich  hier  noch  um  reine  Versuche,  die  bisher  noch  nichts 
Sicheres  für  die  Heilung  menschlicher  Krankheiten  geleistet  haben. 

1)  Löwy  u.  Richter,  Über  den  Einfluss  von  Fieber  xind  Leukocytose 
a.  d.  Verlauf  v.  Infektionskrankheit.     Deutsche  med.  Wochenschr.  1895.     Nr.  15. 

2)  Hahn,  Über  die  Steigerting  der  natürlichen  Widerstandskraft  durch 
Erzeugung  von  Hyperleukocytose.     Archiv  für  Hygiene.     Bd.  28.   S.  312.      1897. 

3)  von  Mikulicz,  Versuche  über  Resistenzvermelirung  des  Peritoneiims 
gegen  Infektion  bei  Magen-  u.  Darmoperation.  Verhandlungen  der  D.  Ges. 
für  Chirurgie.    33.  Kongress  1904.    II.  Bd.   S.  26. 

4)  Goldscheider  und  Jacob,  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Phagocytose. 
Fortschritte  der  Medizin.    XIII.  Jahrgang.     1895.    Nachtrag  S.  357. 

16* 


244  Anhang. 

Es  ist  sehr  interessant,  dass  auch  auf  diesem  Gebiete  wieder 
die  Praxis  der  Theorie,  wie  es  scheint,  vorausgeeilt  ist,  insofern 
als  uralte  Mittel,  die  sogenannten  Revulsiva,  offenbar  in  ganz 
gleicher  Weise  gewirkt  haben.  Zweifellos  machten  das  Haarseil, 
die  Fontanelle,  das  Glüheisen  und  andere  ähnliche  Dinge,  nicht 
nur  an  der  Stelle  ihrer  Anwendung  Entzündung  und  Eiterung, 
sondern  auch  im  ganzen  Kreislauf  Hyperleukocytose,  genau  so, 
vielleicht  sogar  noch  viel  energischer  als  die  oben  erwähnten 
modernen  Mittel.  Auf  diese  Weise  können  wir  uns  immerhin  eine  Vor- 
stellung von  der  unerklärlichen  Fernwirkung  dieser  Mittel  machen, 
—  das  Revulsivum  wurde  im  Gegensatz  zum  Derivans  fern  vom 
Krankheitsherde  angelegt  —  die  Veranlassung  wurde,  sie  als  un- 
wirksam zu  verwerfen.  Freilich,  dass  diese  Mittel  nur  durch  Hyper- 
leukocytose und  nicht  auch  durch  andere  Dinge  wirken,  ist  keines- 
wegs bewiesen.  Man  ist  heutzutage  nur  allzusehr  geneigt,  einseitige 
mikroskopische  und  bakteriologische  Forschungsresultate,  die  häufig 
alle  Merkmale  der  Stubengelehrsamkeit  tragen,  zu  verherrlichen 
und  zu  verallgemeinern,  wie  uns  das  schon  öfters  in  dieser  Ab- 
handlung aufgestossen  ist. 

Unsere  heutige  Forschung  hat  ein  kurzes  Gedächtnis.  Sie 
erwähnt,  soweit  meine  Literaturkenntnis  reicht,  diese  Methoden 
nicht,  wenn  von  Erzeugung  der  allgemeinen  Hyperleukocytose  die 
Rede  ist.  Ich  veranlasste  Plaskuda^)  und  Göbel^),  eine  Ehren- 
rettung dieser  alten  Heilmittel  vorzunehmen. 

Sollte  sich  die  Auffassung  von  der  heilsamen  Wirkung  der 
Hyperleukocytose  bestätigen,  so  sieht  man  auch  hier  wieder: 
Der  Arzt  sollte  die  Mittel  ehren,  die  die  Jahrtausende  über- 
dauerten. 

Von  neuen  Gesichtspunkten  glaubt  Heile 3)  die  Wirkung  der 
Leukocytose  verstärken  zu  können  dadurch,  dass  er  Versuchs- 
tiere mit  Röntgenlicht  bestrahlte.  Die  Leukocyten  zerfallen  dar- 
nach, wie  aus  den  schon  erwähnten  Versuchen  Heineke's  hervor- 
geht, und  die  an  sie  gebundenen  Enzyme  werden  dabei  nach  Heile's 
Ansicht  frei  und  führen  zur  Abtötung  von  Bakterien. 

Nun  sehen  wir,  dass  bei  den  ausgebrochenen  akuten  Infektions- 


1)  Plaskuda,  Einige  alte  Behandlungsmethoden  in  moderner  Beleuchtung. 
Inauguraldissertation.    Greifswald  1903. 

2)  Göbel,    Über    die    hyperleukocy toseerregende    Wirkung    hautreizender 
Mittel.    Med.  Klinik.     1906.    Nr.  1. 

3)  1.  c. 


Die  Beeinflussung  des  Gesamtblutes  zu  Heilzwecken.  245 

krankheiten  sich  der  Körper  der  eingedrungenen  Schädlinge  durch 
eine  gewaltige  Kraftleistung  entledigt,  deren  einzelne  Erscheinungen 
wir  unter  dem  Sammelnamen  Fieber  zusammenfassen. 

Seitdem  man  sich  wieder  auf  die  alte  Anschauung  besonnen 
hatte,  im  Fieber  einen  nützHchen  Reaktions Vorgang  des  Körpers 
gegen  eingedrungene  Schädlichkeiten  zu  sehen,  hat  man  folge- 
richtig sich  bemüht,  ein  künstliches  sogenanntes  ,, Heilfieber"  gegen 
Krankheiten  zu  benutzen.  Die  ersten  Versuche  litten  an  dem  Fehler, 
dass  sie  eine  Teilerscheinung  des  Fiebers,  die  Temperaturerhöhung 
nachahmten.  An  Versuchstieren  erzeugte  Büchner^)  wirkliches 
Fieber  durch  Einspritzen  einer  sterilisierten  Emulsion  von  Fried- 
1  an  der' sehen  Kapselbazillen  und  heilte  sie  dadurch  von  einer  sonst 
sicher  tödlichen  Milzbrandinfektion.  Ich  2)  glaube  der  erste  gewesen 
zu  sein,  der  am  kranken  Menschen  das  Fieber  mit  allen  seinen 
Teilerscheinungen  bewusst  verwandt  hat.  Ich  erzeugte  das  Fieber 
durch  intravenöse  Einspritzung  von  fremdartigem  Blut  (Hammel- 
blut). Ich  benutzte  dabei  die  Erfahrungen  der  alten  Tierbluttrans- 
fusion, die  in  der  irrigen  Absicht  unternommen  wurde,  das  Blut 
des  Menschen  durch  das  einer  fremden  Art  zu  ersetzen,  während 
wir  doch  jetzt  durch  Landois  und  Bordet  wissen,  dass  das  Blut 
des  Spenders  sofort  vom  Empfänger  zersetzt  wird.  Ich  vermied 
dabei  die  Fehler  der  alten  Transfusion,  dosierte  das  Blut  genau  und 
trug  bei  wiederholten  Einspritzungen  den  neugewonnenen  hämo- 
lytischen Eigenschaften  des  Empfängers  für  das  fremde  Blut  Rech- 
nung. Man  erzeugt  künstlich  mit  der  Tierbluttransfusion  eine  regel- 
rechte akut  fieberhafte  Infektionskrankheit,  die  alle  Einzelerschei- 
nungen des  natürlichen  Fiebers  zeigt,  nämlich:  1.  Schüttelfrost 
und  Temperaturerhöhung,  2.  vermehrten  Eiweisszerfall  und  ge- 
steigerten Stoffwechsel,  hervorgebracht  durch  eine  Zersetzung  des 
Blutes,  die  ihrerseits  wahrscheinlich  wieder  vernichtend  auf  Bak- 
terien wirkt,  3.  nach  Überstehen  der  Temperatursteigerung  ver- 
mehrten Appetit  und  gesteigerte  Nahrungsaufnahme.  Auch  sonst 
trägt  der  ganze  Vorgang  vollständig  den  Charakter  der  akuten 
Infektionskrankheit.  Es  bilden  sich  Agglutinine  und  Hämolysine 
für  die  fremden  Blutkörperchen  und  das  fremde  Blut,  es  entstehen 


1)  Buchner,  Über  Hemmung  der  Milzbrandinfektion  und  über  das  asep- 
tische Fieber.    Berliner  klin.  Wochenschr.  1890.    Nr.  10. 

2)  Bier,  Die  Transfusion  von  Blut,  insbesondere  von  fremdartigem  Blut, 
und  ihre  Verwendbarkeit  zu  Heilzwecken  von  neuen  Gesichtspvmkten  aus  be- 
trachtet.   Münchner  med.  Wochenschr.  1901.    Nr.  15. 


246  Anhang. 

akuter  Milztumor  und  bei  reichlicher  Verwendung  von  fremdem 
Blut  Albuminurie  und  Hämoglobinurie,  vor  allem  mächtige  Hyper- 
ämie in  den  erkrankten  (auch  chronisch  erkrankten)  Körperteilen. 
Gerade  diese  letzte  Erscheinung  ahmt  auch  die  akute  Infektions- 
krankheit nach ;  denn  bei  der  Pneumonie  ist  —  wenigstens  vor  der 
Hepatisation  —  die  Lunge,  bei  der  Peritonitis  das  Bauchfell,  bei 
Scharlach  und  Pocken  die  Haut  stark  hyperämisch. 

Nicht  einmal  die  lästigen  Begleiterscheinungen  mancher  akuter 
Infektionskrankheiten  fehlen.  Es  stellen  sich  häufig  Erbrechen, 
Schmerzen  im  Kreuz  und  Rücken,  Hautausschläge,  Herpes,  Durch- 
fälle ein. 

Lokal  in  die  Gewebe  eingespritzt  macht  das  fremdartige  Blut 
die  heftigsten  Entzündungen,  welche  ich  kenne.  Die  Entzündung 
pflegte  mit  jeder  folgenden  Einspritzung  stärker  zu  werden.  Da 
diese  künstlichen  Entzündungen  durch  fremdartiges  Blut  gleich- 
zeitig die  unschädlichsten  sind,  so  habe  ich  häufig  und  mit  gutem 
Erfolge  davon  Gebrauch  gemacht,  um  Krankheiten  günstig  zu 
beeinflussen.    Darüber  werde  ich  nächstens  ausführlich  berichten. 

Ich  habe  der  Bluttransfusion  ausser  zwei  Fällen  nur  Todes- 
kandidaten und  einige  Fälle  von  schlimmstem,  unheilbarem  Lupus 
unterworfen.  Ich  habe  bei  schwerster  Lungenphthise  die  auffallend- 
sten Besserungen  gesehen.  In  einem  FaUe  war  der  die  Kranken 
kontrollierende  innere  Kollege  im  höchsten  Grade  überrascht  über 
die  unglaubHche  Rückbildung  der  objektiv  nachweisbaren  schweren 
Veränderungen  der  Lunge  und  über  die  Hebung  des  Allgemein- 
befindens. Die  Lupusstellen  bedeckten  sich  mit  Krusten,  und  die 
Geschwüre  überhäuteten  sich  darunter,  so  dass  man  sie  für  geheilt 
halten  konnte.  Leider  ist  eine  dauernde  Heilung  des  Lupus  in 
keinem  Falle  gelungen.  Nach  Aussetzen  der  Behandlung  trat  schnell 
ein  Rezidiv  ein.     Allerdings  waren  es  trostlos  schwere  Fälle. 

Dehioi)  hat  später,  von  ganz  gleichen  Gesichtspunkten  wie 
ich  ausgehend,  ähnliche  Versuche  mit  anderen  Mitteln  angestellt. 
Er  wählte  als  fiebererregendes  Mittel  anfangs  Bakterienproteine, 
später  nach  dem  Vorgange  von  Matthes  und  Krehl  Albumosen. 
Er  spritzte  diese  Stoffe  subkutan  ein.  Er  beobachtete  ebenfalls 
die  günstige  Wirkung  der  künsthchen  fieberhaften  Infektionskrank- 
heit, die  nach  der  Beschreibung  der  durch  fremdes  Blut  erzeugten 

1)  Dehio,  Über  Heilwirkungen  des  künstlich  hervorgerufenen  Fiebers 
bei  verschiedenen  Krankheiten.  Therapeutische  Versuche.  Verhandlungen  des 
Kongresses  für  innere  Medizin.     21.  Kongress  1904.     S.  478. 


Die  Beeinflussung  des  Gesamtblutes  zu  Heilzwecken.  247 

sehr  ähnlich  ist,  auf  Lupus.  Er  heilte  von  14  Kranken  7,  schabte 
allerdings  die  Geschwüre  ausserdem  mit  dem  scharfen  Löffel  aus. 
Die  Versuche  sind  also  nicht  rein.  Dehio  berichtet  über  3  Fälle, 
die  seit  einem  halben  bis  einem  Jahre  gesund  waren.  Ich  fürchte 
nach  dieser  kurzen  Beobachtung,  dass  auch  bei  ihnen  das  Rezidiv 
nicht  ausgeblieben  ist,  genau  wie  es  in  meinen  Fällen  eintrat,  als 
ich  sie  schon  für  geheilt  hielt. 

Auch  bei  anderen  Infektionskrankheiten  konnte  Dehio  einen 
günstigen  Einfluss  der  Einspritzungen  nachweisen. 

Ich  bin  mir  wohl  bewusst,  dass  dieses  Kapitel  das  lücken- 
hafteste und  unvollkommenste  in  diesem  ganzen  Buche  ist.  Das 
ist  sehr  verständlich,  wenn  man  bedenkt,  dass  einerseits  ich  als 
Chirurg  nicht  die  nötige  Erfahrung  über  diese  Dinge  habe,  und 
andererseits  auf  diesem  Gebiete  unsere  Kenntnisse  äusserst  gering 
sind  und  fast  noch  alles  zu  tun  ist.  Die  Praxis  hat  zwar  die 
Wirksamkeit  der  allgemeinen,  das  Blut  verbessernden  Mittel  un- 
zweideutig gezeigt.  Die  theoretische  Forschung,  der  Tierversuch 
und  geringe  Erfahrungen  am  Menscheji  lassen  uns  hoffen,  dass 
wir  auch  mit  Massnahmen,  die  das  Blut  für  einen  bestimmten  Zweck 
verändern,  noch  gute  Erfolge  erzielen  werden.  Aber  wenn  ich  im 
Anfange  dieses  Kapitels  sagte,  dass  die  Allgemeinbehandlung  für 
gewisse  Krankheiten,  die  wir  jetzt  vorwiegend  lokal  in  Angriff 
nehmen,  theoretisch  das  Ideal  sei,  so  müssen  wir  bekennen,  dass 
dieses  Ideal  praktisch  noch  keineswegs  erreicht  ist.  Als  Beispiel 
dafür  wähle  ich  chirurgische  Tuberkulose.  Denn  die  glänzenden 
Erfolge,  die  wir  bei  dieser  Krankheit  mit  lokalen  Mitteln,  wie  ich 
in  einem  späteren  Abschnitte  noch  auseinandersetzen  werde,  auch 
unter  ungünstigen  äusseren  Verhältnissen  erzielen,  erreichen  wir 
mit  der  Allgemeinbehandlung,  und  wäre  sie  noch  so  geschickt  und 
sachkundig  geführt,  niemals  auch  nur  annähernd.  Und  doch  ist 
die  Tuberkulose  die  Krankheit,  für  die  man  gerade  in  neuerer  Zeit 
nach  dem  Vorgange  Brehmer's  die  Allgemeinbehandlung  in  den 
Vordergrund  gestellt  hat. 

Praktisch  soll  man  beide  Verfahren,  allgemeine  und  lokale 
Behandlung  nach  Möglichkeit  miteinander  verbinden. 


Spezieller  Teil. 

Behandlung  verschiedener  Krankheiten  mit 
Hyperämie. 

Vorbemerkungen. 

Ich  beabsichtige  im  folgenden,  wo  über  die  Behandlung  ver- 
schiedener Krankheiten  mit  künsthch  erzeugter  Hyperämie  die 
Rede  sein  soll,  nicht  alle  behandelten  Fälle  aufzuführen  und  zu 
beleuchten;  denn  sie  sind  so  zahlreich,  dass  sie  allein  einen  dicken 
Band  ausfüllen  würden. 

Es  kommt  mir  vielmehr  darauf  an,  für  die  Krankheiten,  welche 
in  erster  Linie  mit  Erfolg  durch  Hyperämie  behandelt  werden,  die 
Technik  zu  schildern,  und  ich  werde  Krankheitsfälle  im  wesent- 
lichen nur  da  anführen,  wo  die  Wirkung  der  Hyperämie  noch 
nicht  allgemein  anerkannt  ist. 

Ich  halte  es  auch  für  überflüssig,  über  eine  Reihe  von  Krank- 
heiten zu  berichten,  welche  wir  versuchsweise  mit  Hyperämie  be- 
handelt haben,  wo  aber  unsere  Erfahrung  noch  so  spärlich  oder 
mangelhaft  ist,  dass  sich  sichere  Schlüsse  daraus  nicht  ziehen  lassen. 
Ich  bemerke  aber,  dass  sich  das  Anwendungsgebiet  der  Hyperämie, 
dieses  grossen  allgemeinen  Heilsmittels,  von  Jahr  zu  Jahr  erweitert 
hat  und  sich  wahrscheinlich  noch  mehr  erweitern  wird. 

Vorausschicken  muss  ich  einige  allgemeine  Bemerkungen.  Jedes 
Mittel,  sei  es  nun  chemisch  oder  physikaHsch,  wirkt  durchaus  ver- 
schieden, je  nach  der  Höhe  der  Dosis,  in  welcher  es  angewandt 
wird.  Ein  Arzneimittel,  welches  in  einer  kleinen  Gabe  sehr  nütz- 
lich ist,  kann  in  einer  hohen  schädlich,  in  einer  sehr  hohen  töd- 
hch  sein.     H.  Schulz i)  hat  zuerst  darauf  hingewiesen,  dass  hier 


1)  H.  Schulz,   Pharmakotherapie,  im  Lehrbuch  der  allgemeinen  Therapie 
von  Enlenburg  und  Samuel. 


Behandlung  verschiedener  Krankheiten  mit  Hyperämie.  24:9 

eine  ganz  bestimmte  Gesetzmässigkeit  besteht.  Er  ging  aus  von 
dem  von  Arndt  für  normale  Verhältnisse  aufgestellten  biologischen 
Grundgesetze,  welches  auf  einer  Verallgemeinerung  des  Pflüger' - 
sehen  Zuckungsgesetzes  beruht  und  lautet:  „Kleine  Reize  fachen 
die  Lebenstätigkeit  an,  mittelstarke  fördern  sie,  starke  hemmen 
sie,  stärkste  heben  sie  auf."  Schulz  betont,  dass  dieses  Gesetz 
aueh  bei  der  Wirkung  von  Arzneien  und  Giften  seine  volle  Gültig- 
keit besitzt  und  dieselbe  behält,  wenn  man  es  auf  pathologische 
Zustände  anwendet.  Im  letzteren  Falle  muss  man  allerdings  im 
Auge  behalten,  dass  für  kranke  Organe  Reize  schon  stark  sein 
können,  welche  für  gesunde  kaum  als  solche  aufzufassen  sind. 

Diese  Verschiedenheit  der  Wirkung  auf  den  Körper  gilt  offen- 
bar auch  für  die  physikalischen  Mittel,  ja  für  diese  vielleicht  in  noch 
viel  höherem  Grade  als  für  die  nicht  gerade  sehr  stark  wirkenden 
unter  den  Arzneien.  Man  denke  nur  an  die  Anwendung  des  kalten 
Wassers,  wo  der  Erfolg  ganz  davon  abhängt,  wie  stark  und  wie 
lange  man  das  Mittel  anwendet,  und  wo  der  geringste  Fehler  die 
heilsame  Wirkung  in  eine  krankmachende  verwandeln  kann. 

Wenn  wir  unsere  beiden  in  dieser  Arbeit  in  erster  Linie  be- 
handelten Verfahren,  die  aktive  Hyperämie  durch  heisse  Luft  und 
die  passive  durch  Bindenstauung  oder  Saugapparate  betrachten, 
so  kommen  wir  zu  genau  demselben  Ergebnis.  Ich  habe  erwähnt, 
dass  die  erstere,  1  höchstens  2  Stunden  täglich  angewandt,  eines 
der  \^ichtigsten  resorbierenden  Mittel  ist,  und  diese  Wirkung 
unter  anderem  besonders  in  der  Aufsaugung  von  Ödemen  zeigt. 
LTmgekehrt  aber  habe  ich  schon  in  meiner  ersten  grösseren  Ar- 
beit im  Jahre  1893  mitgeteilt,  dass  heisse  Luft  von  100°,  7 — 10 
Stunden  täglich  auf  einen  Körperteil  angewandt,  starke  Ödeme 
hervorruft. 

Die  Stauungshyperämie  ist  in  mittlerer  Stärke  eins  der  besten 
schmerzstillenden  Mittel  bei  selir  verschiedenartigen  Leiden,  über- 
treibt man  sie  dagegen,  so  ruft  sie  im  Gegenteil  heftige  Schmerzen 
und  die  unangenehmsten  Empfindungen  hervor. 

Dasselbe  Verfahren  wirkt  wieder  in  mittlerer  Stärke  günstig 
auf  eine  ganze  Reihe  von  akuten  und  chronischen  örtlichen  In- 
fektionskrankheiten, wendet  man  es  aber  zu  stark  an,  so  schadet 
es  bei  genau  denselben  Leiden  oder  ruft  sie  sogar  hervor. 

Dies  müssen  wir,  wenn  wir  unsere  Mittel  gegen  Krankheiten 
anwenden,  stets  im  Auge  behalten  und  müssen  durch  die  Erfahrung 
festzustellen  suchen,  in  welchem  Grade  und  in  wie  langer  Dauer 


250  Spezieller  Teil. 

sie  bei  jeder  einzelnen  Krankheitsform  angewandt  werden  sollen 
und  dürfen. 

Auch  müssen  wir  bedenken,  dass  ebenso  wie  Arzneimittel 
auch  die  hier  in  Rede  stehenden  Verfahren  bei  verschiedenen 
Menschen  verschieden  starke  Reaktionen  hervorrufen,  und  dass  das, 
was  für  den  einen  ein  schwacher,  für  den  anderen  schon  ein  star- 
ker Reiz  ist. 


Behandlung  lokaler  Infektionskrankheiten  mit 
Hyperämie. 

Für  die  Behandlung  von  Infektionskrankheiten  kommt,  wie 
ich  schon  mehrfach  erwähnte,  in  erster  Linie  die  Stauungshyper- 
ämie in  Betracht.  Denn  sie  ist  mit  ihren  Folgen  die  treueste 
Nachahmung  des  natürlichen  Entzündungsvorganges.  Sie  vermehrt 
die  schon  vorhandene  Stromverlangsamung  und  Stromverbreiterung 
führt  zur  serösen  Durchtränkung  der  geschädigten  Gewebe,  zur 
Leukocytenauswanderung  usw. 

Dagegen  muss  man  bei  theoretischer  Betrachtung  befürchten, 
dass  die  aktive  Hyperämie,  die  das  Gegenteil  von  der  entzündlichen 
darstellt,  den  natürlichen  Heilungsprozess  störe  und  die  Krankheit 
verschlimmere.  Ganz  im  Gegensatz  dazu  aber  erfahren  wir,  dass  von 
den  ältesten  Zeiten  bis  auf  unsere  Tage  die  Wärme  gerade  gegen  lokale 
Infektionen  angewandt,  und,  wenn  sie  auch  in  der  wissenschaftlichen 
Medizin  hin  und  wieder  vernachlässigt  oder  gar  auf's  Heftigste  be- 
kämpft wurde,  immer  wieder  zu  Ehren  gekommen  und  insbesondere 
in  der  ärzthchen  Praxis  und  in  der  Volksmedizin  niemals  verlassen 
worden  ist.  Diese  wohltätige  Wirkung  der  Wärme,  die  ja  an  ge- 
sunden Körperteilen  zweifellos  ein  aktiv  hyperämisierendes  Mittel 
darstellt,  verstehenwir  aber  ohne  weiteres,  wenn  wir  bedenken,  dass 
entzündete  Körperteile  die  Fähigkeit  haben,  den  Blutstrom  auf 
bisher  noch  unaufgeklärte  Weise  zu  verlangsamen.  Jedes  Mittel 
also,  das  überhaupt  zu  einer  Gefässerweiterung  führt,  kommt 
schHesslich  dem  Entzündungsvorgang  zu  Hilfe.  Nur  darf  das  be- 
treffende Mittel  nicht  allzu  stark  aktiv  hyperämisieren,  wie  es  die 
heisse  Luft  tut,  die  in  neuester  Zeit,  wo  sie  sehr  in  Mode  ge- 
kommen ist,  auch  gegen  akute  Entzündungen  von  verschiedenen 
Seiten  empfohlen  ist.    Nun  glaube  ich,  der  erste  gewesen  zu  sein. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  251 

der  sie  gegen  entzündliche  Krankheiten  verwandt  hat,  bin  aber 
wenigstens  bei  den  wirklich  akuten  Entzündungen  gänzhch  davon 
zurückgekommen.  Will  man  bei  diesen  Wärme  anwenden,  so 
wähle  man  Heber  den  Priessnitz'schen  Umschlag,  Warmwasser- 
beutel, Thermophore,  Kataplasmen,  weil  sie  eine  viel  weniger  starke 
aktive  Hyperämie  hervorrufen,  wie  im  allgemeinen  Teile  bereits 
auseinandergesetzt  wurde. 

In  der  Tat  hat  mich  denn  auch  eine  vielseitige  Erfahrung  ge- 
lehrt, dass  gegen  alle  bakteriellen  Infektionen  und  besonders 
gegen  die  akuten  die  Stauungshyperämie  unendlich  viel  besser  und 
energischer  wirkt.  Man  kann  deshalb  im  allgemeinen  die  Regel 
aufstellen:  Gegen  bakterielle  Krankheiten  soll  man  im  all- 
gemeinen passive,  gegen  die  nicht  bakteriellen  im  allge- 
meinen aktive  Hyperämie  anwenden. 

NatürKch  ist  diese  Grenze  nicht  scharf  zu  ziehen.  Man  wird 
auch  bei  einigen  bakteriellen  Krankheiten  mit  mehr  Nutzen  aktive 
und  besonders,  wie  ich  noch  auseinandersetzen  werde,  bei  zahl- 
reichen nicht  bakteriellen  passive  Hyperämie  gebrauchen.  Es 
kommt  hinzu,  dass  wir  bei  einzelnen  Leiden,  die  mit  Hyperämie 
behandelt  werden,  z.  B.  bei  chronischem  Gelenkrheumatismus, 
nicht  einmal  wissen,  ob  sie  zu  den  Infektionskrankheiten  gehören 
oder  nicht.  Von  den  frischen  akuten  Infektionen  sind  indessen 
scharf  ihre  Folgezustände  zu  trennen.  So  kann  man  sehr  wohl  eine 
Nekrose,  die  nach  akuter  Osteomyelitis  oder  nach  Phlegmonen  auf- 
trat, oder  Versteifungen  von  Gelenken  nach  Tripperinfektion,  so- 
bald die  akuten  Erscheinungen  geschwunden  sind,  mit  heisser  Luft 
behandeln.  Sie  beschleunigt  hier  die  Demarkation  und  löst  die 
Versteifungen  in  ausgezeichneter  Weise. 


Behandlung   der  Tuberkulose. 

Ich  beginne  mit  der  Behandlung  der  Gelenktuberkulose,  weil 
sie  die  erste  Krankheit  war,  bei  welcher  ich  Hyperämie  an- 
wandte; meines  Erachtens  kommt  für  dieselbe  nur  die  passive 
Hyperämie  in  Betracht.  Ich  halte  starke  aktive  Hyperämie,  wie  ich 
schon  mehrfach  auseinandergesetzt  habe,  hier  für  direkt  schädlich; 
ich  habe  im  allgemeinen  nur  Verschlechterungen  nach  der  letzteren 
gesehen. 


252  Spezieller  Teil. 

Ich  kam  auf  den  Gedanken,  Hyperämie  gegen  Tuberkulose  an- 
zuwenden, durch  folgende  Beobachtungen  älterer  Ärzte:  Farre 
und  Travers  machten  im  Jahre  1815,  Louis  im  Jahre  1826  auf 
das  häufige  gleichzeitige  Auftreten  von  Pulmonalstenose  und 
Lungenschwindsucht  aufmerksam  und  erklärten  dasselbe  durch 
die  grosse  Anämie  der  Lungen,  welche  dieser  Herzfehler  hervor- 
bringt. Die  Beobachtungen  jener  Ärzte  sind  ausnahmslos  bestätigt, 
so  dass  Frerichsi)  den  Satz  aussprechen  konnte:  ,,I>ie  Lungen- 
tuberkulose ist,  mag  das  Verhältnis  dieses  Leidens  zur  Tuberkulose 
sich  im  übrigen  gestalten  wie  es  will,  das  gewöhnliche  Ende  bei 
Krankheiten  der  Pulmonalarterie".  Umgekehrt  stellte  Roki- 
tansky 2)  den  Satz  auf,  dass  die  mit  Blutüberfüllung  der  Lungen 
einhergehenden  Herzfehler  Immunität  gegen  Tuberkulose  ge- 
währen. Ich  lasse  seine  eigenen  Worte  hier  folgen:  ,,Ein  Ergebnis 
sehr  zahlreicher  Beobachtungen  ist  das  Verhalten  der  Hyper- 
trophie des  Herzens  zur  Tuberkelkrankheit.  Unter  einer  Anzahl 
von  143  hierher  gehörigen  FäUen  (einfacher  und  exzentrischer  so- 
wohl, als  konzentrischer  Hypertrophie)  finde  ich,  dass  in  15  Fällen 
eine  zurzeit  völlig  erloschene  Tuberkulose  der  Lungen,  in  sämt- 
lichen anderen  Fällen  —  Personen  verschiedenen  Alters,  Ge- 
schlechts, Gewerbes  usf.  —  aber  nie  ein  Tuberkel  vorhanden  ge- 
wesen, woraus  denn  gefolgert  werden  kann,  dass  beiderlei  krank- 
hafte Zustände  nicht  zu  gleicher  Zeit  in  einem  Individuum  neben- 
einander bestehen,  insbesondere  aber,  dass  sich  bei  dem  Vor- 
handensein der  genannten  Herzkrankheit  keine  Tuberkulose  und 
zumal  keine  Lungentuberkulose  entwickeln  dürfte." 

Dieselbe  Immunität  gegen  Tuberkulose  schrieb  Rokitansky 
Leuten  mit  Rückgratsverkrümmungen  zu,  bei  denen  sich  bekannt- 
lich ebenfalls  erhebliche  Stauungen  im  Lungenkreislaufe  entwickeln. 
Auch  hier  will  ich  Rokitansky^)  selbst  sprechen  lassen:  ,, Anfangs 
ist  uns  bei  den  Leichen  von  Personen  mit  verkrümmten  Rückgrate 
die  Abwesenheit  aller  Spur  der  vermuteten  Lungenphthise  wieder- 
holt aufgefallen;  nachdem  sich  aber  bis  zum  gegenwärtigen  Zeit- 
punkte diese  Beobachtungen  zu  einer  sehr  namhaften  Anzahl  ver- 


1)  Übersicht    über    die    Ergebnisse    der    med.  Klimk    zu  Breslau.      Wiener 
med.  Wochenschr.  1853.    Nr.  53.   S.  635. 

2)  Medizinische  Jahrbücher  des  k.  k.  österreichischen  Staates.     26.  Bd.  oder 
der  neuesten  Folge  17.  Bd.  Wien  1838.    S.  417. 

3)  1.  c.  S.  419. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  253 

mehrt  haben,  ergibt  sich  bei  der  mit  jedem  Einzelfalle  zunehmen- 
den Merkwürdigkeit  des  Befundes  das  Konstante  desselben  —  die 
Regel,  dass  bei  Verkrümmungen  des  Rückgrates  Tuberkulose  und 
insbesondere  Tuberkulose  der  Lungen  nicht  vorkommt." 

Rokitansky  gibt  hierfür  statistische  Zahlen;  er  fand  in  seinen 
Obduktionsprotokollen  unter  50  hierher  gehörigen  Fällen  nicht  mehr 
als  3,  bei  denen  Tuberkulose  gleichzeitig  vorhanden  war,  Fälle,  bei 
denen  noch  obendrein  bloss  unbeträchtliche  Verkrümmungen  und 
Missgestaltung  des  Brustkorbes  vorhanden  waren. 

Rokitansky's  Beobachtungen  sind  vielfach  bestätigt,  aber 
auch  sehr  häufig  angefochten  worden.  Ich  will  mich  hier  nicht  darauf 
einlassen,  aus  der  reichlichen  Literatur  über  diesen  Gegenstand 
Anhänger  und  Gegner  der  Rokitansky' sehen  Lehre  zu  Worte 
kommen  zu  lassen.  Ich  bemerke  nur,  dass  die  grosse  Mehrzahl 
der  Ärzte,  welche  sich  hierüber  geäussert  haben,  zwar  Rokitansky's 
Behauptungen  in  der  Allgemeinheit,  wie  er  sie  ausgesprochen  hat, 
nicht  gelten  lässt,  aber  immerhin  die  Richtigkeit  des  Grundprinzips 
anerkennt  und  eine  relative  Immunität  der  Stauungslungen  gegen 
Tuberkulose  zugiebt.  Denjenigen  Lesern,  welche  sich  für  diese 
Fragen  interessieren,  gebe  ich  einen  Teil  der  Literatur  in  der 
Fussnote  an*). 

Ich  kann  jene  Beobachtungen  hier  um  so  mehr  vernachlässigen, 
als  sie  für  mich  nur  der  Anstoss  zur  Hyperämiebehandlung  einer 

*)  1.  Lebert,  Über  den  Einfluss  der  Stenose  des  Conus  arteriosus,  des 
Ostium  pulmonale  und  der  Pulmonalarterie  auf  Entstehung  von  Tuberkulose. 
Berliner  klin.  Wochenschr.  1867.    Nr.  22  u.  23. 

2.  Eymann,  Über  die  Kombination  von  Phthise  und  Herzfehler.  Inaug.- 
Diss.    Würzburg  1886. 

3.  Frerichs,  1.  c. 

4.  B.  Schnitze,  Beitrag  zur  Statistik  der  Tuberkulose  verbunden  mit 
Herzklappenerkrankungen.    Inaug.-Diss.     Kiel  1891. 

5.  Frommolt,  Über  das  gleichzeitige  Vorkommen  von  Herzklappenfehlern 
und  Limgenschwindsucht.    Archiv  für  Heilkunde.     1875.    Nr.  12. 

6.  Bamberger,  Lehrbuch  der  Krankheiten  des  Herzens.  Wien  1857. 
S.   204. 

7.  Traube,  Gesammelte  Beiträge  zur  Pathologie  und  Physiologie.  2.  Bd. 
Nr.  47.  S.  748. 

8.  V.  Dusch,   Lehrbuch  der  Herzkrankheiten.     Leipzig  1868.    S.  185. 

9.  Rühle,  Die  Lungenschwindsucht,  v.  Ziemssen's  Handbuch  5.  Bd.  2.  Aufl. 
2.  Hälfte.    S.  35. 

10.  Stalherm,  Über  Kyphose  und  ihre  Beziehungen  zu  den  Verände- 
rungen der  inneren  Organe.    Inaug.-Diss.    Kiel  1892. 

11.  Rokitansky,  Lehrbuch  der  pathologischen  Anatomie  2.  Bd.    Wien  1856. 


254  Spezieller  Teil. 

einzelnen  Krankheit  waren.  Die  Erfahrungen,  die  ich  dabei  machte, 
Hessen  mich  sehr  bald  diese  Behandlung  auf  zahlreiche  Krankheiten 
verallgemeinern  und  spielten  die  ganze  Frage  auf  ein  anderes  Gebiet 
hinüber. 

Meine  erste  Mitteilung  über  Hyperämiebehandlung  der  Tuber- 
kulose habe  ich  im  Jahre  1892i)  gemacht.  Ausführlicher  beschrieb 
ich  dieselbe  in  grösseren  Abhandlungen,  welche  im  Jahre  18932) 
und  18943)  erschienen,  und  zum  letztenmal  habe  ich  darüber  — 
abgesehen  von  den  früheren  Auflagen  dieses  Buches  —  zusammen- 
hängend im  Jahre  1895^)  berichtet.  Ich  habe  seitdem  nichts  Aus- 
führhches  über  die  Tuberkulosebehandlung  veröffenthcht,  weil  wir 
fortwährend  noch  mit  Versuchen  beschäftigt  waren,  die  richtige 
Technik  der  Stauungshyperämie  gerade  für  die  in  Rede  stehende 
Krankheit  herauszufinden.  Denn  bei  keinem  einzigen  Leiden, 
welches  überhaupt  der  Behandlung  durch  Hyperämie  zugänglich  ist, 
hat  die  richtige  Ausarbeitung  der  Technik  uns  so  viele  Schwierig- 
keiten gemacht,  als  gerade  bei  der  Tuberkulose.  Besonders  fällt  hier 
ins  Gewicht,  dass  eine  unrichtige  Anwendung  der  Stauungshyperämie 
sehr  schädlich  wirken  kann.  Es  ist  deshalb  wichtig,  wenn  man 
wünscht,  dass  dieses  Mittel  dem  allgemeinen  Gebrauch  von  selten 
des  praktischen  Arztes  zugänglich  sein  soll,  dass  man  genaue, 
khpp  und  klare  Vorschriften  für  die  Anwendung  des  Verfahrens 
gibt  und  dasselbe  so  einrichtet,  dass  auch  der  Ungeübte  keinen 
Schaden  damit  zu  stiften  vermag.    Ich  glaube,  dass  wir  jetzt  nach 


12.  V.  Kryger,  Das  gleichzeitige  Vorkommen  von  Lungentuberkulose  und 
Klappenfehlern  des  linken  Herzens.    Inaug.-Diss.    München  1S89. 

13.  Otto,  Virchow's  Archiv.     144.  Bd. 

14.  Burwinkel,  Clironische  Herz-  und  Li.uigenleiden  in  iliren  Wechsel- 
beziehungen.   Deutsche  Medizinalzeitung.     1902.    Nr.  34. 

15.  Kuhn,  V.  Leyden,  Westenhöffer  im  Verein  für  innere  Medizin  in 
Berlin,  Sitzung  vom  11.  Juiü  1906.  Deutsche  med.  Wochensclirift.  1906.  Nr.  29. 
S.  1177. 

1)  Bier,  Über  ein  neues  Verfaluen  der  konservativen  Behandlung  von 
Gelenktuberkulose.  Verhandlungen  der  deutschen  Gresellschaft  für  Chirurgie. 
1892.     1.  Bd.   S.  91. 

2)  Behandlung  chirurgischer  Tuberkulose  der  Gliedmassen  mit  Stauungs- 
hyperämie.     v.  Esmarch's  Festschrift.     Kiel  u.   Leipzig  1893.     S.  54. 

3)  Weitere  Mitteilvmgen  über  die  Behandhuig  clürurgischer  Tuberkulose 
mit  Stauimgshj^erämie.  Verhandlungen  der  deutschen  Gesellschaft  für  Chirur- 
gie.    1894.     2.  Bd.   S.  94,  imd  Archiv  f.  klin.  Chirvugie.     1894. 

4)  Behandhxng  der  Gelenktuberkulose  mit  Stamuigshyperämie.  Berliner 
Klinik.    Xovember  1895. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  255 

langjälirigen  Versuchen  die  Technik  ausserordenthch  vervoll- 
kommnet, vereinfacht  und  so  gestaltet  haben,  dass  Unheil  durch 
das  Mittel  nicht  verursacht  werden  kann.  Ich  halte  es  für  nützlich, 
den  Gang  der  Entwicklung  der  Technik  hier  kurz  auseinander  zu 
setzen. 

Nachdem  ich  ganz  im  Anfange  nur  ein  oder  mehrere  Stunden 
lang  täglich  Stauungshyperämie  gegen  Tuberkulose  benutzt  hatte, 
ging  ich  bald  zu  einer  dauernden  Anwendung  über.  (Dem  Ver- 
fahren, welches  auf  Seite  68  u.  69  bereits  beschrieben  ist.)  Tag  und 
Nacht  wurde  die  Stauungsbinde  getragen,  nur  zweimal  täghch,  um 
Druck  zu  vermeiden,  wurde  sie  an  eine  andere  Stelle  gesetzt.  Ge- 
wöhnlich nur  einmal  wöchentlich  wurde  sie  entfernt.  Ich  liess  dann 
die  kranken  Teile,  welche  sich  im  Zustande  der  Anschwellung  und 
des  Ödems  befanden,  abschwellen,  um  die  Veränderung  am  kranken 
Gliede  nachweisen  und  kontrollieren  zu  können. 

Die  Ergebnisse  der  Behandlung  waren  sehr  wechselnd,  neben 
glänzenden  Erfolgen  zahlreiche  Misserfolge,  oder  solche  Fälle,  wo 
die  Stauungshyperämie  allein  nicht  ausreichte,  sondern  zu  anderen 
konservativen  oder  operativen  Mitteln  gegriffen  werden  musste. 
In  fast  allen  Fällen  fiel  die  unmittelbar  nach  Anwendung  des  Mit- 
tels auftretende  unzweifelhafte  Besserung  auf;  die  Schmerzen 
schwanden,  bestehende  Kontrakturen  wurden  gelöst,  die  Beweg- 
lichkeit kranker  Gelenke  besserte  sich  zusehends ;  Tuberkulöse,  die 
vorher  ihre  kranken  Glieder  zu  nichts  hatten  gebrauchen  können, 
waren  häufig  nach  wenigen  Tagen  imstande,  leichtere  Verrich- 
tungen damit  vorzunehmen. 

Aber  ich  musste  schon  auf  dem  Chirurgenkongresse  im  Jahre 
1894  über  unangenehme  und  gefährliche  Zufälle  berichten,  welche 
die  Stauungshyperämie  an  den  tuberkulösen  Ghedern  hervorrief. 
Der  häufigste  Zufall  war  das  Auftreten  kalter  Abscesse,  das  offen- 
bar durch  die  Stauungshjrperämie  in  hohem  Grade  gefördert  wurde. 
Nur  selten  traten  die  Abscesse  symptomlos  auf,  in  den  meisten  Fällen 
war  der  Verlauf  ganz  charakteristisch :  Nach  anfänghcher  bedeuten- 
der Besserung  des  tuberkulösen  Gelenkes  klagte  der  Kranke  plötz- 
lich über  Schmerzen,  die  an  einer  ganz  bestimmten  Stelle  auf- 
traten; Druck  auf  diese  Stehe  mit  dem  Finger  war  sehr  empfind- 
lich. Entfernte  man  die  Stauungsbinde  und  liess  Schwellung  und 
Odem  abziehen,  so  erkannte  man  häufig  bereits  den  beginnenden 
Abscess  an  der  deutlichen  Fluktuation.  Wurde  die  Stauungs- 
hyperämie   weiter   fortgesetzt,    so   wuchsen   häufig  unter   ihr   die 


256  Spezieller  Teil. 

Abscesse  mit  einer  Schnelligkeit  und  entstanden  in  so  vielfacher 
Anzahl,  wie  wir  das  sonst  nicht  zu  sehen  bekommen,  so  dass  kein 
Zweifel  bestand,  dass  sie  allein  durch  die  Stauungshyperämie  her- 
vorgerufen waren. 

Ich  habe  wohl  angenommen,  dass  dieses  an  sich  kein  ungünsti- 
ges Zeichen  sei.  Ich  glaubte  und  glaube  noch,  im  Auftreten  des 
Abscesses  das  Bestreben  der  Natur  sehen  zu  dürfen,  abgestorbenes, 
unbrauchbares  und  krankes  Gewebe  einzuschmelzen  und  nach 
aussen  zu  befördern.  Ich  gab  auch  Vorschriften  an,  wie  die  kal- 
ten Abscesse  zu  behandeln  seien,  und  empfahl  gegen  dieselben 
Punktion  und  nachfolgende  Füllung  mit  Jodoformglyzerin.  Ich 
meinte,  dass  beide  Mittel,  Stauungshyperämie  und  Jodoform,  sich 
in  glücklicher  Weise  ergänzten,  insofern  als  die  erstere  die  für 
die  Jodoformeinspritzung  unerreichbaren  Herde  teils  zur  Narben - 
Schrumpfung  führte,  teils  sie  in  kalte  Abscesse  verwandelte,  die  wir 
ja  erfolgreicher  als  irgendeine  andere  Erscheinung  der  Tuberku- 
lose mit  Jodoform  bekämpfen  können.  Aber  ich  habe  weiterhin 
eingesehen,  dass  das  Hervorrufen  so  gewaltiger  Abscesse,  wie  wir 
sie  unter  dieser  Form  der  Stauungshyperämie  sahen,  in  den  meisten 
Fällen  zweifellos  eine  Verschlimmerung  des  Leidens  bedeutet,  da 
sie  so  häufig  auftreten  und  so  schnell  wachsen,  dass  man  ihrer 
nicht  Herr  werden  kann,  und  ferner,  wie  ich  noch  erwähnen  werde, 
dass  die  Verbindung  von  Stauungshyperämie  und  Jodoformbehand- 
lung unglücklich  ist  und  zu  keinem  Ziele  führt. 

Die  zweite  üble  Erfahrung,  welche  wir  machten,  war  die  Ent- 
stehung grosser  wuchernder  Granulationsmassen,  die  meist  bei 
offenen  Geschwüren  undFisteln  aufgebrochener  Gelenktuberkulosen, 
aber  zuweilen  auch  bei  nicht  aufgebrochenen  unter  der  Haut  vor- 
kamen und  diese  schliesslich  durchbrachen.  Zuweilen  sah  ich  unter 
weiterer  Anwendung  des  Mittels  die  erwünschte  Schrumpfung  und 
Vernarbung  der  übermässigen  Granulationswucherung  eintreten, 
vielfach  aber  schritt  sie  unaufhaltsam  fort,  nötigte  das  Verfahren 
aufzugeben  und  blutige  Operationen  an  seine  Stelle  treten  zu  lassen. 

Das  Schhmmste  aber  war,  dass  an  aufgebrochenen  Gelenk- 
tuberkulosen, offenbar  unter  der  Einwirkung  des  Mittels,  die 
schwersten  akuten  Entzündungen  auftraten,  von  denen  wir  ja  auch 
sonst  wissen,  dass  sie  mit  Vorhebe  zu  den  chronischen  Ödemen 
hinzukommen.  Ich  musste  damals  berichten  über  heisse  Abscesse, 
Lymphgefäss-  und  Drüsenentzündungen,  über  Erysipel  und  erysipel- 
artige  Hauterkrankungen,   ja  sogar  über  einen  Fall,   bei  dem  die 


Behandlung  der  Tuberkulose.  257 

Vereiterung  eines  tuberkulösen  Fussgelenks  durch  Sepsis  zum  Tode 
führte.  Zwar  betrafen  diese  üblen  Zufälle  lediglich  schwere  Tuber- 
kulosen; ich  erlebte  sie  nur  im  Anschlüsse  an  grosse  tuberkulöse 
Geschwüre  und  besonders  an  grosse  buchtige  Gelenkhöhlen,  welche 
mit  Eiter  gefüllt  waren  und  mit  der  Aussenwelt  durch  eine  Fistel 
in  Verbindung  standen. 

Gewöhnlich  Hessen  sich  Fehler  in  der  Verbandtechnik  oder 
zu  leichtsinniger  Gebrauch  der  kranken  Glieder,  den  wir,  soweit 
die  Schmerzen  es  zuliessen,  gestatteten,  nachweisen.  Aber  bei  ob- 
jektiver Betrachtung  der  Fälle  konnten  wir  uns  der  Überzeugung 
nicht  verschliessen,  dass  das  angewandte  Mittel  daran  nicht  un- 
schuldig sei. 

Ich  gab  deshalb  damals  den  Rat,  aufgebrochene  Gelenktuber- 
kulosen, welche  mit  Stauungshjrperämie  behandelt  werden  sollten, 
sehr  gut  aseptisch  zu  verbinden  und  den  Gebrauch  der  Glieder 
nicht  oder  nur  in  ganz  geringen  Grenzen  zu  gestatten. 

Ferner  teilte  ich  mit,  dass  auch  in  den  günstiger  verlaufenden 
Fällen  häufig  die  Stauungshyperämie  allein  nicht  zum  Ziele 
führte.  Wir  mussten  öfters  andere  konservative  Mittel,  Streck - 
verbände,  Gipsverbände,  Jodoformeinspritzungen  zu  Hilfe  nehmen 
oder  gar  zu  mehr  oder  weniger  eingreifenden  Operationen  über- 
gehen. 

Nun  liegt  nichts  näher,  als  anzunehmen,  dass,  wenn  dasselbe 
Mittel  das  eine  Mal  zu  dem  glänzendsten  Frfolge,  das  andere  Mal 
zu  dem  schwersten  Misserfolge  führt,  es  im  ersten  Falle  richtig, 
im  zweiten  Falle  falsch  angewandt  ist.  Diesen  Schluss  habe  ich 
aus  den  damaligen  Erfahrungen  auch  gezogen.  Mir  war  aufge- 
fallen, dass  die  Stauungshyperämie  gute  Erfolge  erzielt  hatte  bei 
Schultertuberkulose,  wo  sie  doch  verhältnismässig  am  schwierigsten 
anzubringen  ist,  und  bei  einigen  Fällen  von  Hodentuberkulose. 
Bei  beiden  aber  gestattet  die  Örtlichkeit,  wie  ich  schon  oben  aus- 
einandergesetzt habe,  niemals  die  dauernde  Anwendung  der 
Hyperämie,  sie  kann  höchstens  für  12  Stunden  täglich  angCAvandt 
werden,  weil  die  Schnürstelle  des  stauenden  Schlauches  nicht  zu 
wechseln  ist,  und  derselbe  bei  längerem  Liegen  unangenehme  Druck- 
erscheinungen hervorrufen  würde.  Dann  fiel  es  bei  einer  später 
vorgenommenen  Vergleichung  der  Fälle  auf,  dass  gerade  die  zuerst 
behandelten  aus  dem  Jahre  1891  die  besten  Erfolge  aufwiesen. 
Damals  aber  wandte  ich  die  Stauungshyperämie  nur  wenige  Stunden 
täglich  an. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  17 


258  Spezieller  Teil. 

Ich  hatte  ferner  die  Beobachtung  gemacht,  dass  bei  längerer 
Anwendung  der  dauernden  Stauungshyperämie  das  Odem  in  den 
Vordergrund,  die  H3^erämie  aber  sehr  in  den  Hintergrund  trat. 
Es  hatte  sich  also  ein  chronisches  Ödem  gebildet,  welches  für  die 
Hervorrufung  andauernder  Hyperämie  geradezu  schädlich  war. 
Ich  verfuhr  deshalb  so,  dass  ich  nur  wenige  Tage  hindurch  die 
Stauungshyperämie  dauernd  anwandte,  dann  aber  Pausen  da- 
zwischen schob,  und  je  mehr  sich  die  Fälle  darunter  besserten, 
die  Pause  verlängerte,  so  dass  sie  schliesslich  nur  noch  eine  Stunde 
täglich  angewandt  wurde. 

Ferner  stellte  ich  fest,  dass  die  zu  schweren  Zirkulations- 
störungen führende  Stauungshyperämie,  welche  hochgradige  Blau- 
färbung und  Herabsetzung  der  Temperatur  an  der  Körperstelle 
hervorbrachte,  besonders  aber  jene  Stauung,  welche  zu  Schmerzen 
und  wirklichen  Unbequemlichkeiten  führt,  schädlich  sei. 

Ich  gab  deshalb  die  Vorschrift: 

1.  Die  Stauung  darf  niemals  Schmerzen  hervorrufen,  sonst  ist 
sie  falsch  angewandt,  oder  der  Fall  eignet  sich  nicht  für  das  Mittel 
und  muss  auf  andere  Weise  behandelt  werden. 

2.  Die  Stauung  darf  nicht  kalt  sein,  sie  darf  die  Temperatur 
der  Haut  nicht  so  herabsetzen,  dass  sich  diese  merklich  kälter 
anfühlt  als  die  Haut  des  anderen  Gliedes.  Es  ist  günstig  für  den 
Verlauf  der  Tuberkulose,  wenn  im  Gegenteil  die  Stauung  sich  so 
anwenden  lässt,  dass  die  Hauttemperatur  erhöht  ist,  und  die  dem 
Mittel  ausgesetzten  Körperstellen  den  Eindruck  einer  akuten  Ent- 
zündung machen. 

Nach  Einführung  dieser  Regel  verschwanden  die  gefährlichsten 
Zufälle,  die  schweren  akuten  Entzündungen.  Aber  während  die 
erste  Regel  leicht  zu  erreichen  ist,  da  man  dem  Kranken  nur  ein- 
zuschärfen braucht,  er  solle  Bescheid  sagen  oder  selbständig  die 
Binde  lockern,  sobald  er  die  geringsten  Schmerzen  oder  Parästhe- 
sieen  in  dem  Gliede  fühle,  so  ist  die  zweite  Regel  sehr  schwer  zu 
befolgen.  So  leicht  es  gelingt,  an  akut  oder  subakut  entzündeten 
Teilen  die  heisse  Stauung  zu  erreichen,  so  schwer  ist  es  bei  den 
chronischen  Tuberkulosen,  und  noch  viel  schwerer  ist  es,  sie  zu 
unterhalten.  So  bedurfte  denn  auch  die  Beaufsichtigung  der  mit 
Stauungshyperämie  behandelten  Gelenktuberkulosen  der  grössten 
Aufmerksamkeit,  und  wenn  sich  auch  die  Erfolge  darnach  besserten, 
so  blieb  doch  die  Bildung  sehr  grosser  kalter  Abscesse  darnach 
nicht  aus. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  259 

Wir  sind  dann  mit  der  Zeitdauer  der  täglich  angewandten 
Stauung  wieder  mehr  und  mehr  zurückgegangen,  besonders  unter 
dem  Einfluss  von  Nötzel's  oben  erwähnter  Arbeit,  die  den  experi- 
mentellen Beweis  erbrachte,  dass  das  chronische  Ödem,  welches 
bei  längerer  Stauung  entsteht,  ebenso  schädlich  ist  für  den  Verlauf 
von  infektiösen  Krankheiten,  wie  die  Veränderungen  durch  akute 
Stauung  nützlich  sind,  habe  ich  immer  kürzere  Zeit  das  Mittel 
angewandt,  z.  B.  in  folgender  Weise:  In  den  ersten  Tagen  wird 
7 — 12  Stunden  täglich  die  Stauung  eingeleitet,  bis  die  Schmerz - 
haftigkeit  der  Gelenke  wesenthch  herabgesetzt  ist.  Dann  wird  die 
Zeit  auf  die  Hälfte  ermässigt  und  immer  weiter  heruntergegangen, 
bis  nach  einigen  Wochen  oder  Monaten  nur  noch  eine  Stunde 
täglich  die  Stauungshyperämie  angewandt  wird. 

Als  Beispiel  für  diese  Art  der  Verwendung  führe  ich  folgende 
Fälle  an: 


1.  Ein  7 jähriges,  aus  tuberkulöser  Familie  stammendes  Kind  er- 
krankte im  Juni  1899  mit  Schmerzen  im  rechten  Handgelenke,  die  all- 
mählich zunahmen,  bis  im  Winter  1899  das  Gelenk  anschwoll  imd  ver- 
steifte. Von  einem  Arzte  vorgenommene  passive  Bewegungen  und  Massage 
verschlimmerten  das  Leiden. 

Ich  fand  am  20.  März  1900  das  rechte  Handgelenk  gleichmässig  ge- 
schwollen, es  mass  im  Umfang  1  ^  cm  melir  als  das  ünke.  Beugung  und 
Streckimg  waren  annähernd  aufgehoben,  die  Supination  leicht  beschränkt. 
Die  Finger  waren  leidlich  beweglich.  Der  rechte  Unterarm  war  abgemagert. 
An  2  Stellen  war  das  Handgelenk  auf  Druck  sehr  empfindlich.  Die  Rönt- 
gendurchleuchtung zeigte  völlig  verschwommene  Handwurzelknochen,  sodass 
ihre  Umrisse  nicht  zu  erkennen  waren. 

Ich  wandte  vom  20.  März  bis  1.  Oktober  1900  die  Stauung  mit 
mehreren  achttägigen  Zwischenpausen  täglich  7 — 12  Stunden  an.  Während 
die  Binde  abgenormnen  war,  wurde  das  Glied  mehrere  Stunden  hoch- 
gelagert. 

Vom  Oktober  1900  bis  März  1901  wurde  die  Hyperämie  2 — 3  Stunden 
täglich  angewandt.  Dann  wurde  die  Behandlung  ausgesetzt.  Das  Gelenk 
besserte  sich  schnell,  besonders  was  Beweglichkeit  und  Schmerzen  an- 
langte. Doch  war  im  Oktober  1900  die  Schwellung  noch  in  ungefähr 
alter  Weise  vorhanden,  und  die  Röntgendurchleuchtvmg  zeigte  immer  noch 
die  Handwurzelknochen  sehr  verschwommen,  wenn  man  auch  eine  deutliche 
Aufhellung  des  Bildes  erkennen  konnte. 

Am  8.  März  1902  habe  ich  das  Kind  zum  letzten  Male  untersucht. 
Ich  fand  volle  Beweglichkeit  des  rechten  Handgelenkes  \ind  volle  Funktion 
ohne  jede  Einschränkung.  Die  Messung  ergab,  dass  der  Umfang  beider 
Handgelenke  gleich  war.  Das  Kind  benutzte  entsprechend  seiner  Rechts- 
händigkeit den  rechten  Arm  wieder  mehr  als  den  linken,  deshalb  war  die 
früher  festgestellte  Abmagerung  des  rechten  Vorderarmes  nicht  nur  ver- 

17* 


260  Spezieller  Teil. 

schwunden,  sondern  derselbe  mass  an  der  dicksten  Stelle  sogar  ^^^  cm  mehr 
im  Umfange  als  der  linke.  Das  Kind  hat  wälxrend  der  ganzen  Behandlung, 
soweit  es  die  anfangs  vorhandenen  Schmerzen  zuliessen,  seine  Hand  gebraucht. 

Ein  am  18.  März  1902  aufgenommenes  Röntgenbild  zeigt  absolut  nor- 
male Knochen. 

2.  Ein  4 jähriges  Kind,  aus  tuberkulöser  Familie  stammend,  erkrankte 
im  Winter  1899  an  Tuberkulose  des  linken  Handgelenkes.  Es  entstanden 
mehrere  Abscesse,  welche  vom  Arzte  gespalten  wm-den. 

Am  12.  JuH  1901  sah  ich  das  Kind  zuerst  und  machte  folgenden 
Befund:  Das  unke  Handgelenk  ist  spindelförmig  geschwollen,  auf  dem 
Handrücken  bemerkt  man  ein  fünfpfennigstückgrosses  Geschwür  und 
mehrere  auf  rauhen  Knochen  führende  Fisteln.  Die  Hand  hängt  in  Beuge- 
kontraktur  und  subluxiert  herab:  die  Bewegungen  sind  sehr  stark  ein- 
geschränkt. 

Vom  12.  Juli  1901  bis  1.  April  1902  wurde  täglich  8—12  Stunden 
mit  zahlreichen  ein-  bis  mehrtägigen  Pausen,  vom  1.  April  bis  23.  August  1902 
täglich  1  Stunde  Stauungshyperämie  angewandt.  Das  Leiden  besserte  sich 
niu"  ganz  allmählich,  aber  es  war  ein  gleichmässiger  Fortschritt  zu  be- 
merken. 

Am  23.  August  1902  wurde  die  Behandlung  ausgesetzt,  weil  die 
Heilixng  vollkommen  erschien.  Ich  machte  folgenden  Befund:  Die  Hand 
ist  leicht  subluxiert,  das  Handgelenk  nicht  mehr  geschwollen.  Fisteln  und 
Geschwüre  sind  fest  vernarbt.  Im  Handgelenke  sind  trotz  der  Subluxa- 
tion alle  Bewegungen  im  vollen  Umfange  mögHch.  Das  Kind  gebraucht 
seine  linke  Hand  ebenso  wie  die  rechte.  Es  hat  sie  auch  während  der 
ganzen  Dauer  der  Behandliing,  so  gut  es  ging,  benutzt.  Das  Röntgenbild 
vom  12.  Juni  1900  zeigt  von  den  Handwurzelknochen  nur  ganz  schwache 
und  undeutliche,  das  vom  7.  Januar  1902  bereits  etwas  deutlichere  Um- 
risse. Säintliche  übrige  Knochen  von  Hand  land  Vorderarm  waren  sehr 
stark  atrophisch.  Das  Röntgenbild  vom  23.  August  1902  weist  scharfe 
Knochenumrisse,  aber  so  bedeutende  Zerstörungen  an  Handwurzel-  und 
Metakarpalknochen  nach,  dass  man  sich  über  die  trotzdem  so  gute  Fvmktion 
wundern  muss. 

Ödem  fand  sich  bei  dieser  Art  der  Behandlung  nur  in 
der  ersten  Zeit.  Es  wurde  in  der  Zwischenpause  nach  Mög- 
hchkeit  durch  Hochlagerung  des  Ghedes  zum  Verschwinden  ge- 
bracht. 

Seitdem  ich  in  dieser  Form  das  Mittel  anwandte,  glaubte 
ich  bemerkt  zu  haben,  dass  kalte  Abscesse  kaum  oder  wenigstens 
nicht  wesentlich  häufiger  auftreten,  als  man  sie  auch  sonst  bei 
Tuberkulosen  beobachtet.  Aber  eine  längere  Beobachtung  hat  mich 
gelehrt,  dass  sogar  die  jetzt  bei  uns  gebräuchliche,  sehr  kurze 
Stauung  die  Erweichung  tuberkulöser  Massen  und  die  Ausbildung 
kalter  Abscesse  immer  noch  begünstigt.  Aber  diese  Abscesse 
wachsen  nicht  so  überraschend  schnell,  wie  die  nach  der  dauernden 


Behandlung  der  Tuberkulose.  261 

Stauung,  sind  leicht  zu  behandeln  und  stören  den  Enderfolg  der 
Behandlung  nicht. 

Die  Erfolge  der  beschriebenen  Behandlung  waren  recht  zu- 
friedenstellend. Immerhin  ist  auch  sie  für  den  praktischen  Ge- 
brauch noch  zu  umständhch,  und  wir  verwenden  jetzt  fast  aus- 
schliesslich ein  Verfahren,  welches  Tilmann  zuerst  in  der  Greifs- 
walder  chirurgischen  Poliklinik  erprobt,  und  womit  er  vorzügHche 
Resultate  bei  rein  ambulanter  Behandlung  tuberkulöser  Gelenke  be- 
kommen hat.  Dabei  wird  nur  eine  Stunde  täglich  die  Stauung, 
wie  wir  sie  oben  auf  S.  69  (Fig.  8)  bereits  beschrieben  haben,,  an- 
gewandt. Man  darf  für  diese  Zeit  die  Hyperämie  sehr  stark  ein- 
wirken lassen,  nur  soll  die  Binde  nicht  so  fest  angelegt  sein,  dass 
sie  "wirkhche  Schmerzen  oder  Parästhesieen  in  dem  behandelten 
Gliede  hervorruft.  Auch  das  Auftreten  von  zahlreichen  der  oben 
beschriebenen  zinnoberroten  Flecken  halte  ich  nicht  für  nützKch. 
Indessen  muss  die  Hyperämie  stark  sein.  Nachweisbares  Ödem 
tritt  in  der  kurzen  Zeit  von  einer  Stunde  nicht  auf,  wohl  aber 
deutliche  Anschwellung  des  behandelten  Gliedabschnittes. 

Die  peripher  von  der  kranken  Körperstelle  hegenden  Teile 
werden  nicht  eingewickelt,  und  dadurch  wird  das  Verfahren  gegen 
früher  noch  ganz  erheblich  vereinfacht.  Es  ist  auch  nicht  nötig, 
dass  die  stauende  Binde  dicht  oberhalb  des  kranken  Gelenkes  an- 
gelegt wird,  sondern  man  kann  z.  B.  bei  Tuberkulosen  des  Hand- 
oder Fussgelenkes  ruhig  am  Oberarm  bezw.  Oberschenkel  die  Binde 
anlegen,  wenn  irgend  ein  Grund  vorhanden  ist,  der  dieses  erwünscht 
erscheinen  lässt.  Auch  dieses  Verfahren  wenden  wir  indessen  nicht 
rein  schematisch  an.  Wir  machten  die  Beobachtung,  dass  es  rebel- 
lische Tuberkulosen  gibt,  die  im  Anfange  täglich  eine  zwei-  bis 
dreistündige  Dauer  der  Stauungshyperämie  erfordern.  Längere 
Zeit  haben  wir  die  Binde  in  den  letzten  Jahren  nicht  liegen 
lassen. 

Lässt  sich  die  kräftige  Hyperämisierung  eines  tuberkulösen 
Gelenkes  schwer  erreichen,  so  lassen  wir  vorher  ein  langdauern- 
des heisses  Wasserbad  geben,  dann  pflegt  die  Binde  eine  stärkere 
Hyperämie  zu  erzeugen. 

Mit  dieser  Form  der  Anlegung  der  Stauungshyperämie  bei 
Tuberkulose  ist,  glaube  ich,  der  Vorwurf,  den  man  ihr  bisher 
machen  konnte,  dass  sie  schwierig  und  in  der  Hand  des  Ungeübten 
gefährlich  sei,  endgültig  gefallen.  Ich  empfehle  sie  deshalb  aus- 
schliesslich für  den  Gebrauch  des  praktischen  Arztes,  zumal  die 


262  Spezieller  Teil. 

Erfolge  bei  dieser  kurzen  Anwendung  sehr  gut  sind.     Ich  führe 
folgenden  Fall  dafür  an: 

3.  Ein  23jähriger  Arbeiter  litt  seit  4  Jahren  an  einer  tuberkulösen 
Entzündung  des  rechten  Fusses.  Seit  3  Wochen  vor  der  Aufnahme  war 
er  bettlägerig,  weil  der  rechte  Fuss  beim  Versuch  aufzutreten  stark 
schmerzte.  Auch  von  selbst  traten  die  Schmerzen  auf,  so  dass  der  Kranke 
häufig  des  Nachts  nicht  schlafen  konnte. 

Bei  der  Aufnahme  am  1.  April  1902  war  das  rechte  Fussgelenk  un- 
förmlich kugelig  und  spindelig  geschwollen.  Der  Umfang  desselben  über- 
traf den  des  linken  lun  9  cm.  Bewegungen  waren  sehr  schmerzhaft  und 
niir  im  geringen  Grade  möglich.  Der  Kranke  konnte  mit  Hilfe  von  2  Stöcken 
stark  hinkend  und  luiter  Schmerzen  gehen.  Das  Gelenk  war  auf  Druck 
überall  schmerzhaft. 

Auch  die  Gegend  des  Chopart'schen  Gelenkes  ist  angeschwollen, 
das  Talonaviculargelenk  schon  auf  leisen  Druck  sehr  stark  empfindlich. 
Vor  dem  äusseren  Knöchel  befindet  sich  eine  weiche,  Tindeutlich  fluktuierende 
Schwellung. 

Das  Röntgenbild  zeigt  eine  enorme  Zerstörung  des  Talus,  hochgradige 
Zerstörung  an  der  ünterschenkelgelenkfläche,  periostale  Wucherxingen  am 
Calcaneus  und  sehr  starke  Atrophie  aller  Knochen  des  Fusses  und  des 
Unterschenkels . 

Vom  8.  April  1902  wurde  täglich  1  Stunde  lang  Stauvmgshyperämie 
angewandt,  welche  die  Schmerzen  schnell  beseitigte  und  die  Bewegungs- 
fähigkeit des  kranken  Fusses  steigerte.  Die  weiche  Anschwellung  vor  dem 
äusseren  Knöchel  entwickelte  sich  zu  einem  kalten  Abscesse,  welcher  am 
22.  April  Tinter  Schleich'scher  Infiltrationsanästhesie  gespalten  wurde. 
Es  entleerte  sich  etwa  1  Teelöffel  Eiter.  Die  Stauungshyperämie  ^vurde 
weiter  fortgesetzt. 

Am  10.  Juni  bemerkte  man  an  der  Fistelmündung  die  Spitze  eines 
Sequesters;  derselbe  wurde  herausgezogen.  Er  hatte  die  Grösse  einer 
halben  weissen  Bohne  und  war  stark  zerfressen.  Ami  11.  und  17.  Juni 
stiess  sich  je  ein  weiterer  hanfkorngrosser  Sequester  ab. 

Am  5.  August  waren  die  kranken  Gelenke  überall  derb  und  hart 
geworden.  Aus  der  Fistel  vor  dem  äusseren  Knöchel  quollen  hochrote 
kräftige  Granulationen.  Die  Fistel  sonderte  nur  spärlichen  Eiter  ab. 
Sclimerzen  waren  weder  aixf  Druck  noch  bei  Bewegungen  vorhanden. 

Da  noch  Sequester  vermutet  wurden,  so  wiorde  die  Fistel  in  der  Aus- 
dehnung von  3  cm  unter  Schleich'scher  Infiltrationsanästhesie  gespalten, 
und  mit  einem  scharfen  Löffel  wurden  ein  knapp  erbsengrosser  und  4  kleinere 
Sequester  herausgeholt.  Die  Wunde  wurde  mit  aseptischer  Gaze  bedeckt. 
Der  erste  Verband  blieb  8  Tage  liegen.  Am  14.  August  stiess  sich  aus 
der  Fistel  noch  ein  kleiner  Sequester  ab.  Am  22.  August  war  die  Fistel 
fest  geschlossen.  Der  Kranke  ist  imstande,  ohne  Stock  und  ohne  Schmerzen 
zu  gehen,  die  Beweglichkeit  des  Fussgelenkes  ist  in  massigen  Grenzen 
vorhanden.    Der  Umfang  hat  um  5  cm  abgenommen. 

Es  kommt  zuweilen  vor,  dass  Sequester  sich  von  selbst  aus 
Fisteln  abstossen   (ich  beobachtete  das  im  ganzen  zweimal),   in 


Behandlung  der  Tuberkulose.  263 

anderen  Fällen  müssen  sie  nach  Ausheilung  oder  bedeutender 
Besserung  der  Tuberkulose  durch  schonende  Operationen  ent- 
fernt werden.  Indessen  ist  dies  sehr  selten  wirklich  nötig.  Häufiger 
fördert  das  von  uns  geübte  Ausdrücken  oder  das  Aussaugen  kalter 
Abscesse  mit  dem  Schröpf  köpfe  Sequester  zu  Tage.  Offenbar  heilen 
die  tuberkulösen  Sequester,  wie  wir  das  durch  unsere  Erfahrungen 
bei  orthopädischen  Resektionen  wissen,  gewöhnlich  ein,  wahr- 
scheinlich werden  sie  bei  ihrer  Porosität  und  infolge  der  auf- 
lösenden Wirkung  der  Stauungshyperämie  auch  zuweilen  auf- 
gesogen i). 

Nach  dieser  historischen  Einleitung  schildere  ich  das  Verfahren 
der  Stauungshyperämie  bei  Tuberkulose  nochmals  in  seiner  heutigen 
Anwendungsform.  Ich  weiss,  dass  ich  mich  dabei  wiederhole,  weiss 
aber  auch,  dass  dies  nötig  ist,  da  man  offenbar  fast  allgemein  das 
Verfahren  gänzlich  verkehrt  angewandt  hat.  Denn  sonst  wäre  es 
nicht  möglich,  dass  unsere  Erfolge  in  so  schreiendem  Gegensatz  zu 
denen  anderer  Chirurgen  stehen.  Sonst  wäre  es  ferner  unmöglich, 
dass  man  immer  noch  so  massenhaft  tuberkulöse  Menschen  durch 
die  Resektion  verstümmelt,  während  doch  unser  einfaches  Ver- 
fahren, wie  unsere  Erfolge  zeigen  —  wenigstens  beim  Hand-,  Ell- 
bogen-, Fuss-  und  Schultergelenke  —  diese  Operation  fast  voll- 
ständig, ja  in  vielen  Fällen,  wo  auch  diese  konservative  Ope- 
ration nicht  mehr  ausführbar  ist,  sogar  die  Amputation  unnötig 
macht. 

Oberhalb  des  tuberkulösen  Gelenkes  wird  in  mehreren  Gängen 
eine  geschmeidige  weiche  Gummibinde  so  fest  umgelegt,  dass 
peripher  von  ihr  und  somit  auch  im  Krankheitsherde  eine  starke 
venöse  Hjrperämie  entsteht.  Die  Binde  soll  unter  keinen  Um- 
ständen Schmerzen  bereiten,  im  Gegenteil,  sie  soll  schmerz- 
stillend wirken.  Es  ist  eine  vollständige  Verkennung  des  Ver- 
fahrens, wenn  von  zahlreichen  Ärzten  die  Binde  so  fest  angelegt 
wird,  dass  sie  Parästhesieen,  schmerzhafte  Empfindungen  und 
starke  Blaufärbung  hervorruft.  Stets  soll  das  behandelte  Glied 
warm  bleiben,  und  der  Puls  soll  peripher  von  der  Binde  deutlich  zu 
fühlen  sein.    Die  früher  geübte  Einwickelung  des  gesunden  Glied- 


1)  Deshalb  ist  Riedel  sehr  im  Irrtum,  wenn  er  aus  dem  häufigen  Vor- 
kommen von  Sequestern  in  tuberkulösen  Gelenken  den  Schluss  zieht,  dass 
dieser  Befund  den  Beweis  für  die  Unmöglichkeit  einer  erfolgreichen  konser- 
vativen Behandlung  luid  für  die  Notwendigkeit  der  Resektion  liefere.  Riedel, 
Centralblatt  für  Chirm-gie.     1893.    Nr.  7  u.  8. 


254  Spezieller  Teil. 

abschnittes  bis  an  das  kranke  Gelenk  machen  wir  nicht  mehr.  Das 
Verfahren  ist  somit  denkbar  einfach.  Die  Binde  wird  bei  Tuber- 
kulose eine  bis  höchstens  3  Stunden  täglich  getragen.  Lässt  man 
sie  länger  liegen,  so  entstehen  häufig  grosse  kalte  Abscesse,  die 
schliesslich  nicht  mehr  in  Schranken  zu  halten  sind  und  den  Er- 
folg verderben.  Auch  soll  man  bei  der  Tuberkulose  ein  chronisches 
Ödem  des  kranken  Gelenkes  vermeiden.  Tritt  es  auf,  so  muss  man 
es  in  den  Stauungspausen  durch  Hochlagerung  bekämpfen. 

Bei  aufgebrochener  Tuberkulose  wird  während  des  Liegens 
der  Gummibinde  der  Verband  gänzlich  entfernt  oder  sehr  locker 
angelegt.  Sonst  lässt  der  einschnürende  Verband  die  Hyperämie 
nicht  genügend  eintreten.  Meist  lagere  ich  die  mit  Fisteln  und 
Geschwüren  bedeckten  Gliedabschnitte  einfach  auf  untergelegter 
steriler  Watte. 

Komplizierte  Verbände  wende  ich  bei  aufgebrochener  Tuber- 
kulose nicht  an,  insbesondere  brauche  ich  niemals  Antiseptika. 
Schädlich  ist  die  Tamponade,  sie  wird  nie  angewandt.  Recht 
häufig  entstehen  kalte  Abscesse  unter  der  Stauungshyperämie.  Ich 
behandele  sie  niemals  mehr  mit  Jodoform,  sondern  spalte  sie  mit 
kleinen  Schnitten  und  drücke  sie  aus.  Diese  kleine  Operation 
wird  unter  strengster  Asepsis  ausgeführt.  Es  ist  eine  grobe  Ver- 
kennung meiner  Anschauungen  und  Vorschriften,  wenn  man  glaubt, 
wegen  der  später  noch  zu  erörternden,  alle  Arten  von  frischen  In- 
fektionen unterdrückenden  Eigenschaften  der  Stauungshyperämie 
die  Regeln  der  Asepsis  bei  Spaltung  der  kalten  Abscesse  ent- 
behren zu  können.  Ich  würde  dies  gar  nicht  betonen,  wenn  diese 
Ansicht  nicht  mehrfach  von  fremden,  die  hiesige  Khnik  besuchen- 
den Ärzten  geäussert  wäre.  Ebenso  soll  stets  der  kleine  Eingriff 
unter  Lokalanästhesie  —  gewöhnlich  genügt  der  Chloräthylspray  — 
ausgeführt  werden.  Der  Arzt  sollte  ängstlich  darauf  sehen,  auch 
die  kleinsten  operativen  Eingriffe  möghchst  schmerzlos  zu  gestalten. 
Die  Lokalanästhesie  nimmt  ihnen  die  nun  einmal  mit  jeder  schmerz- 
haften Operation  verbundene  Roheit  und  macht  die  kleine  Chirurgie 
des  praktischen  Arztes  so  ungemein  populär. 

In  letzter  Zeit  bedienen  wir  uns  der  Schröpfköpfe  und  schröpf- 
kopfähnlicher  Saugapparate,  um  Eiter  und  käsige  Granulations- 
massen aus  kleinen  Schnitten  und  aus  Fisteln  anzusaugen.  Dies 
Verfahren  ist  ausserordenthch  wirksam  und  bringt  sehr  häufig  den 
kalten  Abscess  oder  die  Fistel  zur  schnellen  Austrocknung.  Es 
wird  in  diesem  Kapitel  noch  ausführlich  beschrieben. 


Behandlung  der  Tuberkiilose.  265 

Wendet  man  den  Schröpf  köpf  nicht  an,  so  muss  man  dafür 
sorgen,  dass  der  kleine  Einschnitt  in  den  Abscess  nicht  verklebt, 
und  muss  den  Eiter,  sobald  er  sich  wieder  angesammelt  hat, 
nötigenfalls  durch  Ausdrücken  entfernen. 

Ich  enthalte  mich  dagegen  eingreifender  chirurgischer  Opera- 
tionen, vor  allen  Dingen  auch  der  gänzlich  nutzlosen  und  nur  zu 
Sekundärinfektionen  führenden  Ausschabung  der  Granulationen 
mit  dem  scharfen  Löffel.  Auch  Sondierungen  von  Fisteln  sind  zu 
vermeiden.  Die  kalten  Abscesse  müssen  frühzeitig  erkannt 
und  frühzeitig  gespalten  werden.  Es  ist  besser,  in  eine  fluk- 
tuierende oder  pseudofluktuierende  Stelle  einen  Schnitt  zu  machen, 
ohne  einen  Abscess  zu  finden,  als  einen  solchen  zu  verkennen  und 
zu  gross  werden  zu  lassen.  Meist  künden  sie  sich  durch  Schmerz - 
haftigkeit  und  grössere  Entzündungserscheinungen,  also  durch  eine 
scheinbare  Verschlimmerung  des  Leidens  an. 

Ich  mache  keinen  Unterschied  mehr  zwischen  geschlossener 
und  aufgebrochener  Tuberkulose  und  behandele  alle  Fälle,  wenn 
nicht  besondere  Kontraindikationen  vorliegen,  erst  einmal  kon- 
servativ. Als  Kontraindikationen  lasse  ich  gelten:  Beginnende 
Amyloidentartung  und  schwere  Lunge nphthise,  die  die  Amputation 
erfordern,  sehr  grosse,  die  ganze  Gelenkhöhle  ausfüllende  kalte  Ab- 
scesse, die  sehr  selten  und  fast  nur  beim  Kniegelenk  vorkommen, 
und  fehlerhafte  Stellungen  der  Gelenke,  die  im  günstigsten  Falle 
nach  der  Ausheilung  ein  schlechteres  Resultat  geben  würden  als 
die  operative  Behandlung.  Dies  trifft  besonders  beim  Knie- 
gelenk zu. 

Ich  glaube,  dass  es  in  der  Behandlung  der  Gelenktuberkulose 
keine  gefährlichere  Lehre  gibt,  als  die  schulmeisterliche  und  Schema - 
tische  Einteilung  in  konservativ  zu  behandelnde,  Resektions-  und 
Amputationsfälle.  Denn  ich  habe  gesehen,  dass  die  ersteren  zu- 
weilen trotz  von  Anfang  an  geübter  sorgfältiger  konservativer  Be- 
handlung unaufhaltsam  f ortschritten,  die  letzteren  mit  so  über- 
raschender Funktion  ausheilten,  wie  man  sie  bei  der  scheinbar  un- 
geheueren anatomischen  Zerstörung  aller  das  Gelenk  bildenden 
Teile  nicht  für  möglich  gehalten  hätte. 

Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  angeblich  prinzipiellen 
Unterschiede  zwischen  der  Gelenktuberkulose  der  Kinder  und  der 
Erwachsenen,  beziehungsweise  der  alten  Leute.  Ich  lasse  ihn  nicht 
gelten  und  behandele  Greise,  Erwachsene  und  Kinder  in  gleicher 
Weise  konservativ.   Habe  ich  doch  selbst  bei  gebrechlichen  Greisen 


266  Spezieller  Teil. 

zuweilen  schwere  aufgebrochene  Tuberkulose  sich  vortrefflich  bes- 
sern und  sogar  heilen  sehen. 

Ebenso  halte  ich  die  oft  gegebene  Regel  —  wenigstens  bei 
Anwendung  der  Stauungshyperämie  —  für  falsch,  die  konservative 
Behandlung  aufzugeben,  sobald  eine  Verschlimmerung  des  Leidens 
sich  einstellt.  Denn  was  ist  Verschlimmerung?  Unter  Stauungs- 
hyperämie erscheint  einem  zunächst  immer  als  solche  das  Auftreten 
des  kalten  Abscesses.  Er  macht  häufig  heftige  Schmerzen  und 
andere  Entzündungserscheinungen,  und  doch  ist  er  meist  nur  eine 
notwendige  Phase  im  Ablauf  der  Tuberkulose. 

Nicht  selten  entsteht  unter  der  Behandlung  ein  kalter  Abscess 
nach  dem  andern.  Hier  muss  man  immer  genau  aufpassen  und 
jeden  neu  auftretenden  Abscess  sofort  wieder  spalten  und  aus- 
drücken, oder  besser  mit  Schröpfköpfen  aussaugen.  Die  Stauungs- 
hyperämie wird  dadurch  nicht  unterbrochen. 

Gegen  die  Spaltung  der  kalten  Abscesse  sind  auf  dem  inter- 
nationalen Chirurgenkongresse  in  Brüssel  von  Qu  ervin  und  Garre 
Bedenken  ausgesprochen.  Sie  fürchteten,  dass  die  offenen  Tuber- 
kulosen sich  leicht  sekundär  infizierten  und  dass  sie  eine  Infektions- 
gefahr für  die  Angehörigen  darstellten.  Die  erste  Befürchtung 
habe  ich  lange  Zeit  geteilt  und  oft  ausgesprochen;  sie  ist  längst 
widerlegt  durch  unsere  jetzt  sehr  reichhche  Erfahrung.  Allerdings 
soll  man  die  ganz  nutzlose  Ausschabung  der  tuberkulösen  Granu- 
lationen und  andere  unvollkommene  Schnippeleien  unterlassen, 
sonst  hegt  die  Gefahr  der  Sekundärinfektion  vor. 

Schwerer  ist  die  Behauptung  zu  entkräften,  dass  die  Tuber- 
kulosen mit  gespaltenen  Abscessen  eine  Infektionsgefahr  darsteUten. 
Klapp  konnte  aber  beweisen,  dass  das  Sekret  mit  Schröpf  köpfen 
behandelter  Fisteln  sehr  wenig  infektiös  ist.  Meerschweinchen, 
denen  er  den  ausgezogenen  Inhalt  des  Schröpf  köpf  es  intraperitonial 
einverleibte,  blieben  am  Leben. 

Die  Jodoformbehandlung  in  Verbindung  mit  Stauungshyperämie 
habe  ich  gänzlich  aufgegeben,  weil  die  Kombination  dieser  beiden 
Mittel  mir  keine  guten  Erfolge  geliefert  hat.  Ich  wende  Jodoform 
ledighch  noch  an  beim  Hydrops  tuberculosus  und  beim  grossen. 
die  ganze  Gelenkhöhle  ausfüllenden  kalten  Abscess,  bei  dem  die 
Stauungshyperämie  nicht  angezeigt  ist.  Dagegen  ist  sie  wieder  am 
Platze  zur  Nachbehandlung,  wenn  der  Erguss  unter  Jodoform- 
behandlung geschwunden  ist. 

Ebenso  verzichte  ich  im  allgemeinen  auf  die  Ruhigstellung 


Behandlung  der  Tuberkulose.  267 

der  kranken  Gelenke,  trotzdem  sie  sich  als  so  vortreffliches  Mittel 
anerkanntermassen  bewährt  hat.  Denn  sie  hat  den  grossen  Nach- 
teil, dass  sie  der  Versteifung  Vorschub  leistet.  Ich  beabsichtige 
aber,  womöglich  bewegliche  und  gut  funktionierende  Gelenke  zu  er- 
zielen, und  halte  es  für  einen  schlechten  Erfolg  einer  langwierigen 
und  mühevollen  konservativen  Behandlung,  wenn  sie  mit  der  Ver- 
nichtung eines  physiologisch  so  wichtigen  Apparates,  wie  ihn  das 
Gelenk  darstellt,  endet.  Die  Stauungshyperämie  gestattet  nun,  wie 
mich  jetzt  eine  lange  Erfahrung  gelehrt  hat,  auf  die  Ruhigstellung 
zu  verzichten.  Deshalb  lasse  ich  die  kranken  Hand-,  Ellbogen- 
und  Schultergelenke,  soweit  es  die  Schmerzhaftigkeit  gestattet, 
ruhig  zu  den  kleinen  Handleistungen  des  täglichen  Lebens  ge- 
brauchen, ja,  ich  lasse  vorsichtig  passive  und  aktive  Bewegungen 
damit  vornehmen.  Insonderheit  soll  man  ängstlich  die  Versteifung 
der  gesunden  Finger  bei  Handgelenkstuberkulose  durch  diese  Mittel 
vermeiden.  Die  unter  Stauungshyperämie  schnell  sich  einstellende 
Schmerzlinderung  gestattet  diese  Massnahmen. 

Indessen  bin  ich  gänzlich  miss verstanden  worden,  wenn  man 
behauptet,  ich  behandele  die  Gelenktuberkulose  mit  Gymnastik. 
Ich  denke  nicht  daran;  meine  ganze  Behandlung  zeichnet  sich  im 
Gegenteil  dadurch  aus,  dass  sie  vom  Anfang  bis  zum  Ende  scho- 
nend ist. 

Man  beherzige  auch  den  in  Deutschland  noch  viel  zu  wenig 
beachteten  Rat  des  vortrefflichen  und  erfindungsreichen  ehemahgen 
Liverpooler  Orthopäden  Thomas,  beim  Handgelenk  mehr  auf 
die  Möglichkeit  der  Dorsal-  als  der  Volarflexion  zu  achten.  Der 
einfache  Versuch  überzeugt  jeden  sofort  von  der  Richtigkeit  dieser 
Vorschrift :  schon  die  normale  Hand  greift  in  Dorsalflexion  viel  ge- 
schickter und  kräftiger  als  in  Volarflexion.  Die  Gründe  für  diese 
Tatsache  liegen  so  klar  zu  Tage,  dass  man  sich  nicht  dabei  auf- 
zuhalten braucht. 

Eine  Ausnahme  mache  ich  bei  den  meisten  Knie-  und  Fuss- 
gelenken.  Hier  hegt  die  Gefahr  vor,  dass  die  kranken  und  weichen 
Knochen  beim  Gehen  unter  der  Körperlast  sich  in  verkehrte  Stel- 
lungen (Genu  valgum,  Plattfuss  usw.)  begeben.  Deshalb  bekommen 
die  Kranken  einen  Gipsverband,  der  in  zwei  Schalen  zerschnitten 
und  dadurch  abnehmbar  gemacht  wird,  oder  wenn  sie  den  wohl- 
habenden Klassen  angehören,  entlastende  Apparate.  Diese  werden 
getragen,  sobald  der  Kranke  aufsteht  und  das  Bein  gebraucht. 
Sobald   er   aber   sich    hinlegt,    wird    der    Gipsverband    oder    der 


268  Spezieller  Teil. 

Apparat  entfernt,  und  es  werden  methodisch  passive  und  aktive 
Bewegungen  in  den  kranken  Gelenken  vorgenommen,  soweit  es 
die  Schmerzhaftigkeit  gestattet. 

Wer  Hessing'sche  und  ähnhche  Apparate^)  gebrauchen  will, 
kann  sehr  wohl  die  Stauungshyperämie  damit  verbinden.  Übrigens 
lasse  ich  das  Auftreten  im  Verbände  nur  ganz  allmählich  wieder 
vornehmen,  wenn  die  Leute  durch  die  Krankheit  von  den  Beinen 
gekommen  sind.  Sie  benutzen  zuerst  Laufstühle  oder  Krücken, 
dann  Stöcke  und  treten  erst  voll  auf,  wenn  es  ohne  Schmerzen 
möglich  ist. 

Menschen,  die  an  Gelenktuberkulose  leiden,  sollen  sich  ängst- 
lich vor  Verletzungen  der  Gelenke  hüten,  weil  danach  regelmässig 
eine  Verschlimmerung  erfolgt.  Vor  allem  sollen  Kinder,  die  an 
Knie-  und  Fussgelenktuberkulose  leiden,  nicht  fallen. 

Die  schwersten  Fusstuberkulosen  werden  zunächst  im  Bett 
behandelt.  Hier  soll  man  darauf  achten,  dass  kein  Spitzfuss 
entsteht ,  teils  durch  übergestülpte  Reifenbahnen ,  teils  durch 
Schienen.  Aber  auch  in  diesen  Fällen  wird  nie  auf  Bewegungen 
verzichtet. 

Von  der  Regel,  die  Gelenke  der  oberen  Gliedmassen  nicht  fest- 
zustellen, werden  in  besonderen  Fällen  (Subluxationen,  sehr  heftige 
Schmerzhaftigkeit)  hin  und  wieder  vorübergehend  Ausnahmen  ge- 
macht, wie  man  überhaupt  keine  Behandlung  rein  nach  der  Schab- 
lone durchführen  soll.  Ebenso  gebrauche  ich  vorübergehend  Streck- 
verbände und  andere  Hilfsmittel,  um  Kontrakturen  in  ungünstiger 
Stellung  zu  beseitigen.  Niemals  aber  bleiben  diese  Verbände  so 
dauernd  liegen,  dass  sie  zu  einer  schweren  Versteifung  führen. 

Einen  sehr  ausgiebigen  Gebrauch  machen  wir  von  der  poli- 
klinischen Behandlung  der  Gelenktuberkulose.  Das 
Krankenhaus  ist  sicherhch  kein  besonders  günstiger  Aufenthaltsort 
für  Tuberkulöse.  Ferner  sind  wenigstens  die  meisten  grossen 
Krankenhäuser,  besonders  die  Universitätskliniken,  auf  einen 
schnellen  Wechsel  ihrer  Kranken  angewiesen  und  können  ihre  be- 
schränkten Plätze  nicht  für  die  so  ungemein  chronisch  verlaufende 
Tuberkulose  zur  Verfügung  stellen. 


1)  Alle  derartigen  Apparate  machen  übrigens  an  sich  schon  Staxiungs- 
hyperämie  in  den  kranken  Gelenken,  wovon  man  sich  leicht  überzeugen  kann. 
Ich  halte  es  für  sehr  wahrscheinlich,  dass  in  dieser  Eigenschaft  ein  grosser 
Teil  ihrer  Erfolge  beruht. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  269 

Es  ist  ferner  sehr  natürlich,  dass  der  behandelnde  Assistent 
häufig  nur  wenig  Interesse  an  dem  langweiligen  konservativen 
Heilverfahren  hat.  Er  sähe  viel  lieber,  wenn  das  Bett  des  Tuber- 
kulösen von  einem  Kranken  belegt  wäre,  den  er  in  den  nächsten 
Tagen  womöglich  selbst  operieren  könnte,  oder  an  dessen  Operation 
er  wenigstens  Anteil  hätte. 

Deshalb  behandeln  wir  fast  sämtliche  aus  Bonn  und  Um- 
gegend zu  uns  kommenden,  an  chronischer  Tuberkulose  leidenden 
Kranken  ambulant.  Besonders  wichtig  ist  diese  ambulante  Be- 
handlung für  den  praktischen  Arzt.  Er  kann  sich  täglich  die 
Patienten  in  die  Sprechstunde  bestellen,  die  Stauungsbinde  selbst 
anlegen  und  den  richtigen  Grad  der  Stauung  überwachen,  bis  die 
Kranken  oder  ihre  Angehörigen  das  Verfahren  selbst  erlernt  haben. 
Sind  die  Leute  zuverlässig,  so  kann  er  ihnen  die  weitere  Behand- 
lung in  die  Hand  geben  und  braucht  nur  von  Zeit  zu  Zeit  sich 
selbst  von  dem  Verlaufe  zu  überzeugen.  Insbesondere  soll  er  den 
Leuten  einschärfen,  dass  sie  sofort  zu  ihm  kommen,  sobald  eine 
Verschlimmerung  des  Leidens  eintritt.  Es  handelt  sich  dann  ge- 
wöhnlich um  entstehende  kalte  Absces'se,  die  möglichst  bald  ge- 
spalten und  ausgesogen  werden  sollen. 

Genau  so  verfahren  wir  in  der  hiesigen  Poliklinik.  Die  ersten 
Wochen  wird  die  Stauungsbinde  unter  der  Aufsicht  des  Leiters 
der  Poliklinik  angelegt.  Der  Kranke  bleibt  mit  umgelegter  Binde 
eine  Stunde  im  Wartezimmer  sitzen  und  wird  beobachtet,  ob  die 
Stauung  auch  richtig  eintritt.  Später  lernt  er  oder  seine  Ange- 
hörigen das  Verfahren  selbst.  An  den  Beinen  legt  er  sich  selbst 
die  Binde  an,  an  den  Armen  tut  dies  ein  anderer,  während  der 
Kranke  angibt,  ob  die  Binde  richtig  sitzt. 

Bei  Kindern  müssen  die  sie  begleitenden  Angehörigen  minde- 
stens mehrere  Tage  die  Stauungsbinde  unter  Aufsicht  des  Arztes 
anlegen,  ehe  sie  entlassen  werden. 

Sogar  Schröpfköpfe  zum  Aussaugen  von  Fisteln  und  ge- 
spaltenen Abscessen  haben  wir  zuverlässigen  Menschen  mit  nach 
Hause  gegeben  und  gesehen,  dass  sie  mit  Erfolg  angewandt 
wurden. 

Ich  soUte  nun  eine  Übersicht  der  Fälle  von  Gelenktuberkulose 
geben,  welche  ich  mit  Stauungshyperämie  behandelt  habe.  Wollte 
ich  alle  aufführen,  die  in  Kiel,  Greifswald  und  Bonn  im  Laufe 
von  reichlich  16  Jahren  dem  Verfahren  unterworfen  wurden,  so 
würde  eine  sehr  stattliche  Anzahl  herauskommen.  Aber  die  meisten 


270.  Spezieller  Teil. 

dieser  Fälle  sind  anders  behandelt,  als  ich  es  jetzt  für  richtig 
ansehe,  und  eine  sehr  grosse  Anzahl  ist  nicht  mit  Stauungshyper- 
ämie allein,  sondern  nebenher  noch  mit  anderen  konservativen 
Mitteln  behandelt,  die  wir  später  als  überflüssig  oder  schädHch 
aufgegeben  haben,  so  dass  die  Beobachtungen  nicht  rein  sind.  Ich 
gestehe  auch  offen  ein,  dass  die  Statistik  keineswegs  über  be- 
sonders hervorragende  Resultate  berichten  würde,  wenn  sie  sich 
auf  jeden  Fall  mit  bezöge,  der  einmal  mit  Stauungshyperämie  be- 
handelt wurde.  Sie  würde  neben  glänzenden  Erfolgen  auch  viele 
Misserfolge  nachweisen,  denn  wir  haben  durch  mannigfache  Er- 
fahrungen erst  lernen  müssen,  und  ich  wiederhole,  was  ich  schon 
früher  ausgesprochen  habe :  bei  keiner  der  zahlreichen  Krankheiten, 
bei  welcher  Hyperämie  und  insbesondere  Stauungshyperämie  mit 
Nutzen  verwandt  wird,  hat  uns  die  richtige  Ausbildung  der  Technik 
so  viel  Mühe  gemacht,  als  gerade  bei  der  Tuberkulose.  Dafür  ist 
sie  aber  auch  jetzt  so  ausgebildet,  dass  man  das  Verfahren  unbe- 
denklich jedem  praktischen  Arzte  in  die  Hand  geben  kann,  voraus- 
gesetzt, dass  er  sich  der  Mühe  unterzieht,  die  Beschreibung  der 
Technik  einmal  aufmerksam  durchzulesen,  was  wohl  von  vielen,  die 
das  Mittel  angewandt  haben,  nicht  geschehen  ist.  Denn  sonst 
könnte  es  nicht  passieren,  dass,  wie  mir  vor  kurzem  zu  Ohren  ge- 
kommen ist,  ein  Arzt  die  Stauungsbinde  so  fest  anzieht,  dass  Brand 
der  Zehen  entsteht,  und  er  auf  das  Gejammer  des  Kranken  über 
Schmerzen  antwortet,  das  müsse  so  sein.  Ich  kann  doch  nicht 
mehr  tun,  als  immer  und  immer  wieder  betonen,  dass  die  Stauungs- 
hyperämie niemals  Schmerzen  machen  soll.  In  den  Händen  von 
unwissenden,  nachlässigen  oder  mit  natürlichem  Ungeschick  be- 
gabten Leuten  ist  eben  jedes  Mittel  gefährlich,  z.  B.  auch  der 
Gipsverband. 

Nicht  ganz  so  töricht  handelte  ein  anderer  Arzt,  der  einem 
Kinde  mittels  einer  v.  Esmarch'schen  Binde  künstliche  Blutleere 
anlegte,  sie  so  lange  unterhielt,  als  es  wegen  der  Schmerzen  mög- 
lich war,  und  sie  dann  lockerte  und  dies  Verfahren  die  Eltern 
lehrte.  Er  trieb  die  Abschnürung  doch  nicht  so  weit,  dass  Er- 
nährungsstörungen an  dem  Gliede  entstanden,  und  erzeugte  wenig- 
stens die  kurzdauernde  nach  der  Abschnürung  entstehende  aktive 
Hyperämie,  mit  der  wir  vorübergehend  auch  einmal  Versuche  an- 
gestellt haben. 

Dagegen  halte  ich  es  für  angebracht,  einen  Bericht  über  unsere 
in  Bonn  vom  1.  April  1903,  dem  Beginn  meiner  hiesigen  Tätigkeit, 


Behandlung  der  Tuberkulose.  271 

bis  zum  1.  August  1904  nach  unseren  neuesten  Grundsätzen  be- 
handelten Tuberkulosen  zu  geben.  Ich  schliesse  mit  dem  1.  August 
1904  ab,  um  eine  genügend  lange  Beobachtungszeit  zu  haben,  und 
führe  nur  solche  Fälle  an,  wo  die  Behandlung  im  Bedarfsfalle 
mindestens  9  Monate  lang  durchgeführt  ist.  Die  Statistik  ist 
deshalb  nicht  so  sehr  reichaltig  ausgefallen,  weil  anfangs  die 
Zahl  unserer  an  tuberkulösen  Gelenken  erkrankten  Patienten 
ziemlich  gering  war.  Jetzt  ist  das  Behandlungsverfahren  mit  der 
Stauungsbinde  und  mit  schröpfkopfartigen  Saugapparaten  bei  uns 
so  populär  geworden,  dass  wir  bald  mit  ganz  andern  Zahlen  auf- 
warten können,  eine  Tatsache,  die  sehr  für  die  Güte  des  Verfahrens 
spricht. 

Die  aufgeführten  Fälle  sind  sämtlich  lediglich  mit  der  Stau- 
ungsbinde behandelt,  abgesehen  davon,  dass  die  schwer  erkrankten 
unteren  Gliedmassen  mit  den  erwähnten  Stützapparaten  beim  Gehen 
versehen  wurden.  Es  sind  also  ganz  reine  Fälle.  Ebenso  sind  sie 
mit  Ausnahme  der  noch  zu  erörternden  Kniegelenkstuberkulosen 
nicht  ausgesucht.  Es  finden  sich  unter  ihnen  die  schwersten  auf- 
gebrochenen Tuberkulosen  ebensogut  wie  beginnende,  Greise  wie 
Kinder.  Unter  9  Monaten  darf  die  Behandlung  nur  ausnahmsweise 
abgebrochen  werden.  In  kürzerer  Zeit  erfolgte  die  Heilung  nur  in 
13  Fällen  von  Gelenktuberkulose  und  zwar  bei  6  Hand-,  4  Ell- 
bogen-, 1  Fuss-  und  2  Kniegelenken.  Natürlich  haben  viele  Kranke 
die  Geduld  verloren,  sind  fortgeblieben  oder  haben  sich  in  andere 
Behandlung  begeben,  wo  sie  operativ  behandelt  wurden. 

In  folgenden  Fällen,  die  mindestens  9  Monate  ausgehalten 
haben,  hat  Herr  Dr.  Schwalbe,  dem  ich  diese  Zusammenstellung 
verdanke  1),  die  Nachuntersuchung  ausgeführt.  Ich  selbst  habe  mich 
ebenfalls  in  fast  allen  Fällen  von  dem  Erfolge  persönhch  überzeugt. 

1,  Handgelenkstuberkulose.  Behandelt  wurden  17  Fälle, 
davon  hatten  von  Anfang  an  Fisteln  und  Geschwüre  4  Fälle.  In 
5  Fällen  mussten  während  der  Behandlung  Abscesse  gespalten 
werden.  Es  heilten  15  und  zwar  alle  mit  befriedigender,  3  mit 
voller  Beweglichkeit  ohne  jede  Einschränkung,  trotz  schwerer 
anatomischer  Zerstörung,  Subluxationsstellung  und  gänzKcher 
Fingerversteifung  in  einigen  Fällen.  Gebessert  wurden  2  Fälle, 
darunter  ein  fistulöser  und  eine  schwere  Handgelenkstuberkulose, 
bei    der   wegen   kalter   Abscesse    mehrfach    Einschnitte   gemacht 


1)  Diese  Statistik  ist  Ende  August  1905  abgeschlossen. 


272  Spezieller  Teil. 

werden  mussten.    Die  durchschnittliche  Behandlungsdauer  betrug 
12  Monate. 

2.  Ellbogengelenkstuberkulose.  Behandelt  wurden 
11  Fälle.  Davon  waren  von  Anfang  an  fistulös  5  Fälle.  Abscesse 
mussten  in  8  Fällen  gespalten  werden.  8  Fälle  heilten,  darunter  2 
fistulöse.  Ganz  normale  Beweglichkeit  wurde  in  keinem  Falle,  da- 
gegen in  allen  befriedigende  Beweglichkeit  erzielt.  Der  schlechteste 
Fall  zeigte  noch  einen  Bewegungsausschlag  von  50° — llS"".  Auch 
dieser  aber  wird  wahrscheinlich  mit  der  Zeit  noch  beweghcher 
werden.  Gebessert  wurden  3  —  alles  fistulöse  —  Fälle.  Die  durch- 
schnittliche Behandlungsdauer  betrug  9  Monate. 

3.  Fusstuberkulose.  (Tuberkulose  des  Sprung-,  Chopart- 
schen,  Lisfranc'schen  Gelenkes  oder  mehrerer  dieser  Gelenke 
zugleich.) 

Behandelt  wurden  13  Fälle,  davon  waren  von  Anfang  an  8 
fistulös.  Abscessspaltungen  mussten  während  der  Behandlung  in 
6  Fällen  gemacht  werden.  8  Fälle,  darunter  4  fistulöse,  wurden 
geheilt,  3  gebessert,  1  Fall  blieb  unbeeinflusst,  1  wurde  später 
ausserhalb  der  Klinik  amputiert.  Die  durchschnittliche  Behand- 
lungsdauer betrug  10  Monate.  Volle  Beweglichkeit  wurde  in  3  der 
geheilten  Fälle,  zufriedenstellende  in  den  übrigen  erreicht. 

4.  Kniegelenkstuberkulose.  Behandelt  wurden  5  Fälle, 
darunter  2  beginnende  und  1  fistulöser.  Geheilt  wurden  3  Fälle, 
darunter  2  mit  voller  Beweglichkeit,  1  mit  Versteifung  in  guter 
Stellung,  gebessert  wurden  2  Fälle,  beide  versteiften  stark. 

In  weiteren  8  Fällen  wurde  nach  kurzem  Versuche  mit  Stau- 
ungshyperämie die  Resektion  ausgeführt. 

5.  Schultergelenkstuberkulose.  1  Fall;  er  heilte  mit 
voller  Beweglichkeit. 

In  dieser  kleinen  Übersicht  fällt  besonders  die  grosse  Anzahl  der 
Resektionen  bei  Kniegelenkstuberkulose  auf.  Während  wir  in  jener 
Zeit  bei  keinem  anderen  Gelenke  wegen  Tuberkulose  eine  Resektion 
ausführten,  resezierten  wir  von  13  Kniegelenkstuberkulosen  8.  Dies 
hat  seinen  Grund  in  folgendem :  Seitdem  ich  überhaupt  Tuberkulose 
mit  Stauungshyperämie  behandele,  habe  ich  beim  Kniegelenk  aus 
nicht  weiter  erkennbaren  Gründen  die  schlechtesten  Erfolge  gehabt 
und  zwar  besonders  bei  den  vorgeschrittenen  Kapselfungen.  Vor 
allem  aber  liess  auch  bei  den  geheilten  Kniegelenkstuberkulosen 
nicht  selten  die  Funktion  sehr  viel  zu  wünschen  übrig,  sie  ver- 
steiften häufig  und  in  schlechter  Stellung.    Eine  gute  Funktion 


Jieliandlung  dci-  'J'uherkulose.  278 

ist  aber  für  micli  das  hauptsächlichste  Ziel  der  kouser- 
vativen  Behandlung.  Sehe  ich,  dass  die  Funktion  durch  eine 
schneller  zum  Ziele  führende  Operation  mindestens  so  gut  oder 
gar  wahrscheinlich  besser  wird,  so  halte  ich  mich  nicht  mit  lang- 
weiligen konservativen  Mitteln  auf. 

Bei  fast  allen  anderen  der  Behandlung  mit  Stauungshyperämie 
zugänglichen  Gelenktuberkulosen  haben  wir  nach  der  Ausheilung 
so  vortreffliche  Funktionen  erzielt,  wie  sie  die  schonendste  Operation 
niemals  erreichen  kann.  Ich  verfüge  über  eine  grosse  Anzahl  von 
Fällen,  wo  auch  der  geschickteste  und  sorgfältigste  Untersucher 
bei  der  Vergleichung  der  symmetrischen  Gelenke  ausser  stände  ist, 
anzugeben,  welches  Gelenk  tuberkulös  erkrankt  gewesen  ist.  Dass 
man  mit  der  Stauungshyperämie  wirklich  Dauererfolge  erzielt, 
mögen  folgende  3  Fälle  aus  dem  Jahre  1891  und   1892  beweisen. 


4.  Ein  8jähi"iger  Knabe  erkrankte  2  Jahre  vor  der  Aufnahme  in  die 
chirurgische  Khnik  in  Kiel  an  Kniegelenkstuberkulose,  welche  mit  See- 
bädern und  Lederschutzverband  mit  nur  vorübergehendem  Erfolge  behandelt 
^vurde.  Bei  der  Aufnahme  fand  man  einen  Tumor  albus  des  linken  Knie- 
gelenkes mit  Subluxation  des  Unterschenkels  nach  hinten  und  geringer 
Beugekontraktur.  Die  Schmerzhaftigkeit  war  gering,  doch  war  der  Kranke 
unfähig  zu  gehen.  Ich  behandelte  das  kranke  Knie  zuerst  mit  Jodoform- 
einspritzungen ohne  jeden  Erfolg;  dann  vom  29.  November  1891  bis  zum 
25.  Januar  1892  mit  heisser  Luft,  ebenfalls  ohne  Erfolg. 

Vom  14.  Mai  bis  zum  27.  Juni  1892  wurde  dauernd  von  da  ab 
längere  Zeit  nur  Nachts  und  schliesslich  stundenweise  Stauungshyperämie 
angewandt.  Danach  besserte  sich  das  Leiden.  Nach  reichlich  10  Jahren 
teilte  mir  der  junge  Mann,  welcher  sich  in  der  Kaufsmannslehre  befand, 
mit,  dass  beide  Knie  gleich  beweglich,  gleich  dick  und  stark  sind,  dass  er 
den  ganzen  Tag  stehen  und  gehen  kann  und  nur  nach  anstrengenden  Fuss- 
märschen  etwas  mit  dem  linken  Beine  hinkt. 

5.  Im  Jahre  1892  behandelte  ich  in  Kiel  einen  17jährigen  Schneider- 
lehrling, welcher  an  Tuberkulose  des  rechten  Handgelenkes  seit  2  Jahren 
litt.  Es  fand  sich  eine  spindelförmige  Anschwellung  des  rechten  Hand- 
gelenkes. Drehung  und  Streckung  waren  ganz  aiifgehoben,  Beugung  in 
geringem  Grade  möglich.  Bei  jedem  Bewegiuigs versuche  entstanden  starke 
Sclimerzen.    Die  Hand  war  unbrauchbar. 

Vom  15.  Juni  bis  25.  August  1892  wurde  dauernd,  von  da  ab  bis 
zum  24.  Oktober  Nachts  Stauungshyperämie  angewandt.  Wie  lange  er 
noch  später  das  Mittel  stundenweise  gebraucht  hat,  ist  nicht  mehr  festziT- 
stellen. 

Der  Vater  des  jungen  Mannes  teilte  mir   10  Jahre  später  mit,   dass 

die  rechte  Hand  etwas  kleiner  und  der  rechte  Arm  etwas  dünner  geblieben 

ist  als  der  linke,   das   Leiden  aber  so  ausgeheilt  ist,   dass  sein  Sohn  das 

Schneiderhandwerk    aufgab    und  Reitknecht    wurde,  wo  er  die  schwers  ■  c 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  18 


274  Spezieller  Teil. 

Arbeit   mit   der   krank   gewesenen   Hand   ohne    Sehaden  verrichten   kann. 
Dieselbe  ist  in  vollem  Umfange  gebrauchsfähig. 

6.  Ein  11  jähriges  Mädchen,  welches  an  Ellbogengelenkstuberkulose 
litt,  bot  folgenden  Befund:  Das  rechte  Ellbogengelenk  war  spindelförmig- 
geschwollen  und  stand  im  rechten  Winkel  fest.  Bewegungen  waren  fast 
aufgehoben.  Das  Gelenk  war  auf  Druck  empfindlich.  Vom  15.  März  bis 
26.  April  1892  wurde  Stauungshyperämie  dauernd,  vom  27.  April  bis 
26.  Juni  nur  Nachts  angewandt.  In  den  letzten  beiden  Monaten  wurde 
am  Tage  das  Gelenk  vorsichtig  massiert  i)  und  passiv  bewegt.  Am  27.  Juni 
wurde  das  Kind  entlassen.  Die  Stauungshyperämie  wurde  zu  Hause  des 
Nachts  und  später  stundenweise  fortgesetzt. 

Das  Mädchen  ist  jetzt  erwachsen.  Ihr  Gelenk  ist  in  vollem  Umfange 
beweglich  und  kann  zu  jeder  Arbeit  gebraucht  werden.  Nur  nach  sehr 
schweren  Anstrengungen  tritt  auch  jetzt  ein  Gefühl  von  Lahmheit  in  dem 
rechten  Arm  ein,  das  bald  verschwindet,  wenn  das  Mädchen  für  kurze  Zeit 
Stauungshyperämie  anwendet. 

Dass  eine  ideale  Ausheilung  der  Tuberkulose  nicht  nur  in 
„leichten"  Fällen  eintritt,  zeigen  folgende  beiden  Beobachtungen: 

7.  Im  Jahre  1893  und  1894  behandelte  ich  einen  damals  10  Jahre 
alten  Knaben  an  schwerer  aufgebrochener  Tuberkulose  des  Kniegelenkes, 
welche  schon  seit  3^  Jahren  bestand.  Im  Jahre  1903  wurde  der  junge 
Mann  zum  Militär  ausgehoben.  Seine  BehaujDtung,  dass  er  an  Kniegelenks- 
tuberkulose gelitten,  wurde  ihm  wegen  der  vollkommenen  Ausheilung  trotz 
der  Fistelnarben  nicht  geglaubt.  Erst  auf  eine  Bescheinigung  von  meiner 
Seite,  dass  zweifellos  eine  schwere  fistulöse  Kniegelenkstuberkulose  vorge- 
legen habe,  wiu'de  er  vom  Militärdienste  befreit. 

8.  Ein  21jäliriger  junger  Mann  wurde  wegen  Fussgelenkstuberkulose 
in  hiesiger  Klinik  im  Jahre  1904  mit  Stauimgshyperämie  behandelt.  Das 
linke  Fussgelenk  war  stark  spindelförmig  geschwollen  und  fast  unbeweg- 
lich, es  mass  an  verschiedenen  Stellen  1^4  bis  5%  cm  mehr  als  das 
rechte.  Ein  kalter  Abscess  wurde  gespalten.  Am  1.  August  1904  wurde 
der  Mann  geheilt  entlassen.  Die  Umfange  beider  Gelenke  waren  gleich, 
der  kalte  Abscess  und  seine  Fistel  ausgeheilt.  Das  linke  Fussgelenk  war 
nach  allen  Richtungen  hin  beweglich.  Im  Frühjahr  1905  wtirde  der  Mann 
als  diensttauglich  zum  Militär  ausgemustert,  wird  aber  voraussichtlich  auf 
ein  Attest  der  Klinik  hin  wieder  davon  befreit  sein. 

Weitaus  am  besten  sind  die  Erfolge  der  Stauungshyperämie 
bei  der  Tuberkulose  des  Hand-  und  Ellbogengelenkes  und  der 
Fussgelenke  gewesen.     Von    unseren    obenerwähnten  Fällen,  die 

1)  Massage  habe  ich  ganz  vorübergehend  auch  bei  tuberkulösen  Gelenken, 
welche  ixiit  Stauungshyperämie  behandelt  wurden,  gebraucht.  Ich  habe  sie  hier 
gänzlich  verlassen,  bei  anderen  Gelenkerkrankungen  aber,  wie  mehrfach  erwähnt, 
beibehalten. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  275 

sich  einer  mindestens  neunmonatlichen  Behandlung  unterzogen 
hatten,  heilten  aus: 

das  Handgelenk  in  88%, 

das  Ellbogengelenk  in  72,7%, 

die  Fussgelenke  in  61,5%  der  Fälle. 

Dabei  sei  nochmals  ausdrücklich  erwähnt,  dass  diese  Fälle  nicht 
ausgesucht  waren,  wie  schon  die  grosse  Zahl  der  aufgebrochenen 
Tuberkulosen  beweist,  und  dass  wir  in  der  ganzen  Zeit  an  diesen 
Gelenken  nicht  eine  einzige  Resektion  ausgeführt  haben. 

Natürlich  leidet  ja  diese  kleine  Statistik,  wie  alle  anderen,  an 
erheblichen  Mängeln,  zumal  schwer  zu  sagen  ist,  was  Heilung  bei 
Tuberkulose  bedeutet,  und  wir  nicht  wissen  können,  ob  nicht  in 
dem  einen  oder  anderen  Falle  ein  Rezidiv  auftritt.  Davor  schützt 
aber  keine  einzige  Behandlungsmethode,  und  wie  mich  über  ein 
Jahrzehnt  bestehende  Heilungen  belehrt  haben,  führt  die  Stauungs- 
hyperämie tatsächlich  zu  Dauerresultaten.  Rezidive  werden  wieder 
mit  Stauungshyperämie  behandelt. 

Zuweilen  halten  mit  der  Besserung  der  Funktion  und  der  Ab- 
nahme der  Schmerzen  die  objektiven  Veränderungen  am  Gelenk 
nicht  gleichen  Schritt.  Insbesondere  ist  die  Schwellung  zuweilen 
noch  im  ganzen  Umfange  vorhanden,  während  die  Glieder  schon 
ohne  Beschwerden  gebraucht  werden,  nur  unterscheidet  sie  sich 
von  der  ursprünglichen  Anschwellung  in  der  Regel  durch  ihre 
grössere  Härte.  Die  Rückkehr  zur  normalen  Gelenkform  geht  also 
gewöhnlich  ganz  allmählich  vor  sich. 

Das  Hartwerden  weicher  tuberkulöser  Wucherungen  ist  das 
beste  Zeichen  für  die  Ausheilung. 

Neben  diesen  nur  sehr  langsam  heilenden  Fällen  aber  habe 
ich  Tuberkulosen  gesehen,  die  mit  unglaublicher  Schnelligkeit 
unter  Stauungshyperämie  sich  besserten,  so  dass  sie  bald  gänzlich 
den  Charakter  der  tuberkulösen  Erkrankung  verloren.  Die  Fälle 
sind  so  auffallend,  dass  ich  immer  wieder  die  grössten  Bedenken 
hatte,  dieselben  wirklich  zu  den  Tuberkulosen  zu  zählen,  und  an- 
nahm, es  könnten  Fehldiagnosen  vorliegen,  insofern  als  ein  osteo- 
myelitisch, gonorrhoisch  oder  anderweitig  erkranktes  Gelenk  einmal 
einen  chronischen  Verlauf  zeigte  und  fälschlich  für  eine  Tuber- 
kulose gehalten  würde.  Aber  trotzdem  habe  ich  solcher  Fälle 
jetzt  doch  im  ganzen  vier  bis  fünf  gesehen,  wo  an  der  Richtigkeit 
der  Diagnose  wohl  kein  Zweifel  obwalten  konnte. 

18* 


276  Spezieller  Teil. 

Alle  diese,  unter  Stauungshyperämie  schnell  ihren  Charakter 
verändernden  Tuberkulosen  zeichnen  sich  ausnahmslos  dadurch  aus, 
dass  unter  der  Stauungsbinde,  häufig  sogar  bei  nur  geringer  Ab- 
schnürung, eine  gewaltige  Reaktion  eintritt.  Das  kranke  Gelenk 
färbt  sich  feurigrot  und  fühlt  sich  heiss  an.  Zuweilen  treten  Blasen 
oder  akute  Ekzeme  auf,  so  dass  jemand,  dem  die  Stauungsbinde 
verborgen  bliebe  und  der  das  Glied  sähe,  annehmen  würde,  hier 
handle  es  sich  um  eine  hochakute  Entzündung.  Nach  wenigen 
Wochen  kann  man  auf  jedes  weitere  Mittel  verzichten,  die  Tuber- 
kulose heilt  von  selbst  mit  steinharter  Bindegewebsbildung  am 
kranken  Gelenk  aus.  Leider  sind  diese  Fälle  ausserordentlich 
selten. 

Schliesslich  hätte  ich  noch  die  Beobachtungen,  welche  andere 
mit  der  Stauungshyperämie,  die  mit  der  Gummibinde  hervorge- 
rufen wird,  gemacht  haben,  zu  erwähnen.  Aber  die  Literatur 
darüber  ist,  trotzdem  meine  erste  Mitteilung  über  dies  Verfahren 
jetzt  15  Jahre  her  ist,  so  spärlich,  dass  es  sich  nicht  lohnt,  aus- 
führlich darauf  einzugehen.  Über  verhältnismässig  gute  Erfolge 
sind  aus  der  v.  Mikulicz' sehen  Klinik  von  Henlei)  und  ausser- 
dem von  Habs  2),  M  annig  er  ^)  und  Kirch  hoff*)  berichtet. 
Aber  obwohl  man  in  der  Literatur  nur  wenig  darüber  findet,  so 
weiss  ich  doch,  dass  man  vorwiegend  schlechte  Erfahrungen  mit 
der  Anwendung  der  Stauungshyperämie  bei  Tuberkulose  gemacht 
hat.  An  den  meisten  Stellen  hat  man  das  Verfahren  als  gefährlich, 
unsicher  oder  unwirksam  aufgegeben. 

Dadurch  lasse  ich  mich  keineswegs  entmutigen.  Ich  weiss 
zwar  sehr  wohl,  dass  es  nicht  nur  unehrlich,  sondern  auch  dumm 
ist,  einen  als  verloren  erkannten  Posten  halten  zu  wollen.  Aber 
ich  weiche  hier  auch  nicht  einen  Schritt  zurück,  sondern  im  Gegen- 
teil, ich  tue  einen  vorwärts  und  behaupte,  dass  der  weitaus  grösste 
Teil  der  Misserfolge  nicht  auf  das  Verfahren,  sondern  auf  seine 
Anwendung  zurückzuführen  ist,  wovon  gleich  die  Rede  sein  soll. 

1)  Henle,  Die  Behandlung  der  tuberkulösen  Gelenkerkrankungen  und 
der  kalten  Abscesse  an  der  chirurgischen  Klinik  in  Breslau  in  den  Jahren 
1890—1896.    Beiträge  zur  klinischen  Chiriu-gie.     20.  Bd.    3.  Heft. 

2)  Habs,  Über  die  Bier'sche  Stauung.  Münchner  med.  Wochenschrift 
1903.    Nr.  22. 

3)  Manniger,  Die  Heilung  lokaler  Infektionen  mittels  Hyperämie.  Würz- 
burger Abhandlungen.     VI.  Band.     6.  Heft. 

4)  Kirchhoff,  Über  Behandlung  der  Tuberkulose  nach  Bier.  Inaugural- 
dissertation München  1906. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  277 

Und  während  ich  früher  für  die  Stauungshyperämie  in  Anspruch 
nahm,  dass  sie  ein  gutes  Verfahren  gegen  Gelenktuberkulose  sei, 
welches  neben  den  anderen  einen  hervorragenden  Platz  behaupte, 
so  erkläre  ich  sie  jetzt  für  das  weitaus  beste  konservative  Mittel, 
das  wir  besitzen,  welches  mit  den  geringsten  Gefahren  am  ein- 
fachsten und  am  billigsten  Erfolge  erreicht,  besonders  was  die 
Funktion  der  kranken  Gelenke  anlangt,  mit  denen  sich  keins  der 
andern  auch  nur  annähernd  messen  kann.  Es  kommt  hinzu,  dass 
es  zugleich  das  angenehmste  von  allen  ist,  welches  dem  Kranken 
seine  Schmerzen  benimmt,  ohne  ihm  neue  zu  machen,  und  ihm  am 
vollkommensten  den  Gebrauch  seines  Gliedes  lässt. 

Dass  damit  die  verstümmelnden  Operationen  gänzlich  aus  der 
Welt  geschafft  werden,  will  ich  keineswegs  behaupten,  denn  auch 
dieses  Mittel  versagt  zuweilen,  es  ist  durchaus  nicht  unfehlbar,  um 
so  mehr,  als  es  ein  hochgradig  individuelles  Mittel  ist,  denn  es 
kommt  immer  darauf  an,  welcher  Art  das  Blut  ist,  das  uns  der 
Kranke  gegen  das  Leiden  zur  Verfügung  stellt.  Aber  ich  bin 
fest  überzeugt,  dass  mit  der  fortschreitenden  Erfahrung  auf  diesem 
Gebiete,  und  mit  noch  besserer  Ausbildung  der  Technik  für  jeden 
einzelnen  Fall,  die  Erfolge  noch  weit  günstiger  und  die  Operationen 
noch  mehr  zurückgedrängt  werden. 

Der  merkwürdige  Unterschied  zwischen  den  Erfolgen  anderer 
Ärzte  und  den  meinigen  bedarf  der  Erklärung.  Zunächst  haben  die 
meisten  eine  fehlerhafte  Technik  angewandt.  Denn  ich  weiss  sowohl 
aus  mündlichen  Berichten,  als  auch  aus  kurzen  schriftlichen  Mittei- 
lungen, die  die  Stauungshyperämie  verwerfen,  dass  sehr  viele  das 
Verfahren  wegen  zu  grosser  Schmerzhaftigkeit  aufgegeben  haben. 
Die  haben  es  sicher  grundfalsch  angewandt  und  seinen 
Sinn  gänzlich  missverstanden,  ich  brauche  wohl  nicht  noch- 
mals die  Beweise  dafür  zu  wiederholen.  Der  zweite  Grund  ist 
darin  zu  suchen,  dass  bei  der  zuerst  mangelhaften  Technik,  deren 
Ausbildung  viel  Zeit  und  Mühe  kostete,  anfangs  in  der  Tat  Ver- 
schlimmerungen der  Tuberkulose  durch  Stauungshyperämie  vor- 
kamen, von  denen  die  häufigste  und  lästigste  die  sehr  grossen  und 
schnell  wachsenden  Abscesse  waren,  die  die  übertrieben  lange  an- 
gewandte Stauung  hervorbrachte. 

Es  kommt  hinzu,  dass  wohl  alle  Chirurgen  die  Entstehung  des 
kalten  Abscesses,  auch  wenn  er  sich  allmählich  entwickelte,  als 
eine  Verschlimmerung  betrachteten.  Ich  selbst  gab  zuerst  den 
verkehrten   Rat,   möglichst   ihre   Eröffnung   zu  verhüten,   sie   zu 


278  Spezieller  Teil. 

punktieren  und  mit  Jodoform  zu  behandeln  und  diese  Behandlung 
mit  der  Stauungshyperämie  zu  verbinden.  Brach  der  Abscess  dann 
durch,  so  hielt  man  wegen  der  törichten  oben  erwähnten  Unter- 
scheidung der  einzelnen  Fälle  in  konservativ  und  operativ  zu  be- 
handelnde die  Resektion  für  nötig.  Der  kalte  Abscess,  der 
unter  der  Stauungshyperämie  entsteht,  bedeutet  aber 
durchaus  keine  Verschlimmerung  der  Tuberkulose,  wenn 
er  frühzeitig  erkannt  und  richtig  behandelt  wird.  Eben- 
sowenig bietet  die  fistelnde  Tuberkulose  einen  Gegengrund  gegen 
die  konservative  Behandlung.  Ich  kann  versichern,  dass  diese 
Fälle  oft  viel  schneller  und  besser  heilen,  als  die  trockenen,  ge- 
schlossenen und  geschlossen  bleibenden  Tuberkulosen.  Man  hat 
also  vielfach  als  Verschlimmerungen  gedeutet,  was  keine  waren. 
Den  dritten  Grund  für  die  Verwerfung  der  Stauungshyperämie 
bei  Tuberkulose  sehe  ich  darin,  dass  man  zu  schnelle  Erfolge  da- 
von erwartet  hatte.  Wie  erwähnt,  höre  ich  nur  selten  mit  der  Be- 
handlung vor  9  Monaten  auf,  häufig  aber  gebrauche  ich  viel  längere 
Zeit.  Aber  ist  nicht  die  Behandlung  der  Tuberkulose  mit  anderen 
Mitteln  auch  langweilig?  Und  wir  werden  für  die  lange  Dauer 
durch  die  viel  besseren  funktionellen  Erfolge  entschädigt.  Es  kommt 
hinzu,  dass  der  grösste  Teil  der  Tuberkulösen  seine  kranken  Ge- 
lenke während  der  Behandlung  gebraucht,  was  doch  bei  den  ope- 
rativen Methoden  gänzlich  ausgeschlossen  ist. 


In  neuerer  Zeit  haben  wir  nun,  wie  es  scheint,  wieder  einen 
grossen  Schritt  vorwärts  in  der  Behandlung  der  fistelnden  und  mit 
Abscessen  einhergehenden  Tuberkulosen  gemacht,  indem  Klapp  in 
der  hiesigen  Poliklinik  meine  vor  etwa  10  Jahren  häufig  geübte  Be- 
handlung tuberkulöser  Erkrankungen  mittels  des  Schröpfkopfs  mit 
verbesserter  Technik  und  besserem  Erfolge  wieder  aufgenommen 
hat.  Ich  erwähnte  schon  oben,  dass  wir  jetzt  bei  der  in  Rede 
stehenden  Form  der  Tuberkulose  gewöhnlich  Abscesse  und  Fisteln 
neben  der  Bindenstauung  mit  dem  Schröpfkopfe  aussaugen,  dadurch 
den  Eiter  und  käsige  Granulationen  herausbefördern  und  gleich- 
zeitig hyperämisieren.  Klapp  hat  nun  versucht  —  nur  bei  absce- 
dierenden  und  fistelnden  Fällen  —  die  Behandlung  lediglich  mit 
dem  Schröpf  köpfe  auszuführen. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  279 

Dies  erscheint  deshalb  aussichtsvoll,  weil,  wie  schon  erwähnt, 
der  Schröpf  köpf  offenbar  bis  in  grosse  Tiefen  hinein  hyperämisiert 
und  bei  den  Gelenken  Fisteln  und  Abscesse  regelmässig  direkt  über 
dem  tuberkulösen  Herde  und  nicht  wie  bei  der  Wirbelkaries  oft 
weit  davon  entfernt  liegen. 

Folgendes  ist  die  Technik  dieser  Behandlung: 

Die  hier  zur  Verwendung  kommenden  Formen  der  Schröpf- 
gläser sind  auf  Seite  81  ff.  beschrieben.  Sie  sind  die  gleichen  wie 
die  bei  der  Behandlung  akuter,  oberflächlicher  Entzündungen  ge- 
bräuchlichen. Da  die  Schwellung  der  tuberkulösen  Gelenke  oft  nicht 
so  stark  ist  wie  bei  akuten  Entzündungen,  bei  denen  das  Ansetzen 
der  Schröpfköpfe  eben  durch  die  Schwellung  und  Verstreichung 
der  Furchen  ganz  besonders  leicht  ist,  so  müssen  Gläser  Ver- 
wendung finden,  welche  sich  der  Körperform  besonders  gut  an- 
passen, z.  B.  solche  mit  Rändern,  welche  nicht  in  einer  Ebene  ab- 
geschnitten, sondern  hohl,  den  Gelenkformen  entsprechend,  aus- 
geschnitten sind  (s.  Fig.  lle).  Die  letzteren  können  da  noch  gut 
angesetzt  werden,  wo  die  ersteren  versagen. 

Im  allgemeinen  kann  man  die  Mannigfaltigkeit  der  Gläser  oft 
durch  persönliche  Geschicklichkeit  ausgleichen. 

Die  Vorbereitung  der  Schröpfgläser  zum  Gebrauch  erfordert 
ganz  besondere  Aufmerksamkeit.  Die  mechanische  Reinigung,  das 
Auskochen  und  die  Aufbewahrung  in  Sublimat  1 :  1000  hat  sich 
uns  am  besten  bewährt,  bedarf  aber,  wenn  sie  vom  Wartepersonal 
ausgeführt  wird,  einer  beständigen  Kontrolle.  Darauf  weise  ich 
wiederholt  hin,  damit  der  Einführung  dieser  Saugbehandlung  nicht 
der  Vorwurf  der  Schmutzerei,  der  Gefahr  der  Überimpfung  usw. 
gemacht  werden  kann. 

Die  Vorbereitung  ist  zeitraubend  und  umständlich.  Man  wird 
sich  aber,  wenn  diese  Behandlung  der  Zeit  und  Kritik  standhält, 
ebenso  daran  gewöhnen  wie  zum  Beispiel  an  unsere  recht  lang- 
weiligen aseptischen  Massnahmen. 

Die  Behandlung  mit  Schröpfköpfen  wird  fast  ausschliesshch 
bei  der  zur  Erweichung  neigenden  Form  der  Tuberkulose  ver- 
wandt, und  nur  für  diese  soll  sie,  wenigstens  vorläufig,  empfohlen 
werden. 

Es  macht  dabei  keinen  Unterschied,  ob  es  sich  um  Knochen-, 
Drüsen-  oder  sonstige  Tuberkulosen  handelt.  Die  mit  Abscedierung 
und  Fistelbildung  einhergehende  Tuberkulose  dieser  Organe  reagiert 
gleich  günstig  auf  den  Schröpfkopf. 


280  Spezieller  Teil. 

Der  letztere  wird  bei  allen,  bis  dahin  nicht  behandelten  auf- 
gebrochenen und  fistulösen  Tuberkulosen  anfangs  täglich  %  Stunde 
angewandt.  Die  für  die  akuten  Entzündungen  gegebenen 
Regeln,  dass  man  den  Schröpfkopf  nach  etwa  5  Minuten  langem 
Saugen  für  3  Minuten  abnehmen  muss,  gelten  auch  hier.  Die 
Kranken  werden  nur  so  lange  täglich  behandelt,  bis  die  schlaffen 
und  blassen  tuberkulösen  Granulationen  sich  in  rote  und  harte 
umwandeln  und  auch  die  nächste  Umgebung  der  Fistel  allmählich 
hart  wird.  Dann  ist  es  an  der  Zeit,  die  Pausen  zwischen  den  bis- 
her täglichen  Sitzungen  zu  vergrössern;  die  Sitzungen  finden  dann 
anfangs  alle  2,  später  alle  3,  schliesslich  nur  alle  8  Tage  statt. 

Sind  kalte  Abscesse  vorhanden,  so  werden  diese  unter  sorg- 
fältiger aseptischer  Vorbereitung  mit  einem  Stich  geöffnet  und  so- 
fort mit  dem  Schröpfkopf  ausgesogen.  Zuerst  bildet  sich  bis  zum 
nächsten  Tag  schon  der  Abscess  wieder.  Wird  aber  täglich  so 
lange  ausgesogen,  bis  sich  nur  blutiges  Serum  entleert,  so  hört  die 
Eiterung  bald  auf.  Ist  dies  erreicht  und  werden  die  Granulationen 
gleichzeitig  derb  und  rot,  so  werden  die  längeren  Pausen  ein- 
geschaltet. 

Man  soll  nur  ja  nicht  denken,  dass  man  desto  mehr  erreiche, 
je  mehr  man  schröpfe.  Man  kann  auch  zuviel  des  Guten  tun,  und 
der  Übereifer  schadet,  wie  bei  jedem  wirksamen  Mittel,  so  auch  hier. 

Während  das  Saugen  bei  akuten  lokalen  Entzündungen,  wie 
Furunkeln,  Karbunkeln,  heissen  Abscessen,  stets  nur  so  gering  be- 
messen werden  darf,  dass  der  Patient  bei  diesen  schmerzhaften 
Leiden  nicht  klagt,  kann  es  bei  tuberkulösen  Fisteln  und  Abscessen 
etwas  stärker  sein. 

Ins  Praktische  übersetzt  heisst  das  für  jeden,  der  die  Behand- 
lung noch  nicht  kennt:  Bei  akuten  Entzündungen  soll  in 
den  Gummiball,  welcher  die  Luftverdünnung  besorgt, 
nur  eine  leichte,  bei  Tuberkulosen  eine  tiefere  Delle  beim 
Ansetzen  gedrückt  werden. 

Diese  Behandlung  für  sich  allein  ergibt  bei  den  fistelnden 
und  abscedierenden  Tuberkulosen  gute  Resultate.  Es  ist  aber 
besser  sie  mit  der  Bindenstauung  zu  verbinden. 

In  der  Nachbarschaft  mit  dem  Schröpf  köpf  behandelter 
fistulöser  Tuberkulose  sieht  man  nicht  selten  Geschwüre  auf- 
treten, die  als  Impftuberkulosen  aufzufassen  sind.  Klapp  rät, 
um  dies  zu  vermeiden,  zu  folgendem  Verfahren:  Nach  Abnahme 
des  Verbandes   und   vor   dem    Saugen    wird   die   Umgebung    mit 


Behandlung  der  Tuberkulose.  281 

Benzin  gereinigt  und  im  weiten  Umkreise  mit  Fett  (Lanolin  + 
Vaseline  aa)  bestrichen.  Nach  dem  Saugen  wird  das  alte  Fett 
mit  Benzin  entfernt  und  neues  auf  gestrichen. 

Die  Behandlung  mit  dem  Schröpfkopf  scheint  mir  schon  des- 
halb von  grosser  Bedeutung,  weil  sie  eine  lange  nicht  so  sorgfältige 
Technik  erfordert  wie  die  Bindenstauung.  Aber  auch  jene  kann 
man  unrichtig  anwenden.  Das  geht  schon  daraus  hervor,  dass  ich 
mit  meinen  ausgedehnten,  vor  etwa  10  Jahren  mit  dem  Schröpf - 
köpf  gemachten  Versuchen  keine  so  guten  Erfolge  erzielte,  wie 
jetzt  Klapp,  und  deshalb  dieses  Verfahren  mehr  in  den  Hinter- 
grund treten  liess.  Es  lag  dies  wohl  in  erster  Linie  daran,  dass 
ich  den  Schröpfkopf  viel  zu  lange,  ohne  Pausen  und  zu  stark 
wirken  liess.  Wir  machten  denn  auch  bald  bei  den  schon  beschrie- 
benen grossen  Saugapparaten  die  Erfahrung,  dass  in  jeder  Sitzung 
zwischen  den  einzelnen  Hyperämisierungen  Pausen  eingeschoben 
werden  müssen.  Durch  Übertragung  dieser  Erfahrung  auf  die 
Schröpf  köpfe  ist  Klapp  wohl  in  erster  Linie  glücklicher  gewesen. 

Auch  bei  dieser  Behandlung  werden  weder  Granulationen  ge- 
schabt, noch  wird  tamponiert,  drainiert  oder  sondiert.  Stich- 
öffnungen, Fisteln  und  Geschwüre  werden  nur  mit  einem  asepti- 
schen Verbände  bedeckt. 

Die  Besserung  des  tuberkulösen  Gelenkes  macht  sich  auch 
bei  der  Schröpfkopfbehandlung  dadurch  kenntlich,  dass  die  weichen 
fungösen  Wucherungen  hart  werden  und  die  Spindelform  den 
normalen  Umrissen  Platz  macht. 

Interessante  Beobachtungen  über  die  Einwirkung  des  Schröpf - 
köpf  s  auf  tuberkulöses  Gewebe  machte  Hofmann^).  Bei  der  histo  - 
logischen  Untersuchung  von  vor  und  nach  der  Saugung  entnom- 
menen Granulationen  ergab  sich,  dass  die  mit  Leukocyten  voll- 
gepfropften verengten  Gefässe  sich  sehr  stark  unter  dem  Einfluss 
des  Schröpfkopfs  erweiterten,  die  Leukocyten  aus  ihnen  sowie  aus 
dem  Gewebe  verschwanden  und  förmlich  ausgewaschen  wurden. 
Die  letzteren  finden  sich  mit  zahlreichen  Bakterien  im  Schröpf- 
kopf wieder.  Es  zeigte  sich  sogar,  dass  die  Leukocyten  mit  grosser 
Gewalt  bis  in  die  obersten  Schichten  der  Epidermis  hineingezogen 
werden.  Hof  mann  konnte  auch  meine  früher  durch  klinische 
Beobachtungen  gewonnene  Ansicht,  dass  die  zuerst  leicht  bluten- 

1)  Hofmann,  Veränderungen  im  Granulationsgewebe  fistulöser  fungöser 
Herde  durch  Hyperämisierung  mittels  Saugapparate.  Münchner  med.  Wochen- 
schrift 1905.    Nr.  39. 


282  Spezieller  Teil. 

den  kleinen  Gefässe  bei  mehrmaliger  Anwendung  des  Saugapparates 
erstarken,  durch  die  histologische  Untersuchung  bestätigen.  Er 
fand,  dass  die  bindegewebigen  Elemente  der  Gefässwand  sich  ver- 
mehrten und  die  einfache  Endothelschicht  sich  in  eine  mehr- 
schichtige verwandelte.  Zahlreiche  neu  auftretende  Gefässsprossen 
machen  es  wahrscheinlich,  dass  die  Saugung  auch  die  Gefäss- 
neubildung  begünstigt. 

Auch  mit  den  auf  S.  89ff.  beschriebenen  grossen  Saugapparaten, 
die  ich  schon  in  der  ersten  Zeit  meiner  Versuche  mit  Hyperämie 
in  unvollkommener  Form  anwandte,  habe  ich  vor  6  Jahren  eine  An- 
zahl geschlossener  und  offener  Tuberkulosen  behandelt. 

Bringt  man  ein  tuberkulöses  Gelenk  in  diesen  Apparat  hinein 
und  verdünnt  die  Luft,  so  pflegt  eine  ganz  gewaltige  Hyperämie 
und  Schwellung  des  kranken  Teiles  einzutreten.  Zuweilen  ist  die- 
selbe in  den  ersten  Tagen  nur  gering,  tritt  aber  nach  2 — 4  maligem 
Gebrauch  des  Apparats  regelmässig  mit  grösster  Stärke  auf.  Aus 
Fisteln  und  Geschwüren  ergiesst  sich  dabei  blutig  gefärbtes  Serum 
und  Eiter,  die  Granulationen  quellen  stark  hervor,  sie  werden  ge- 
wissermassen  aus  der  Tiefe  herausgesogen.  Häufig  tritt  in  der 
ersten  Zeit  bei  Fisteln  und  Geschwüren  eine  Blutung  auf,  doch  bei 
weiterem  Gebrauch  des  Apparates  werden  die  Granulationen  wider- 
standsfähiger und  bluten  nicht  mehr.  Bei  täglicher  Anwendung 
bleibt  Ödem  bestehen,  welches  die  höchsten  Grade  erreichen  und 
selbst,  wenn  man  nur  jeden  zweiten  Tag  den  Apparat  anwendet, 
chronisch  werden  kann. 

Die  Wirkungen  des  Apparates  auf  den  Verlauf  der  Tuber- 
kulose waren,  wenn  wir  ihn  täglich  anwandten,  im  höchsten  Grade 
verschieden.  In  den  einen  Fällen  erzielte  er  die  schnellsten  und 
auffallendsten  Besserungen,  in  den  anderen  zweifellos  ebenso  schnell 
eintretende  Verschlimmerungen,  im  ganzen  genau  dieselben,  wie  bei 
der  früher  angewandten  übertriebenen  Bindenstauung,  nämlich  kalte 
Abscesse,  Durchbruch  derselben  und  Verwandlung  in  Geschwüre, 
Wucherungen  von  Granulationsmassen  und  Entstehen  fressender 
Geschwüre  mit  weit  unterminierten,  verdünnten  Hauträndern,  nur 
dass  der  ganze  Vorgang,  entsprechend  der  bedeutend  energischeren 
Wirkung  des  Apparates,  sich  viel  schneller  abspielte.  Ausserdem 
sahen  wir  auch  hier  zweimal  eine  akute  Infektion  hinzutreten  (Fall 
11  und  12).  Ebenso  aber  hatten  wir  mit  demselben  Mittel  auch  die 
besten  Erfolge  selbst  in  sehr  schweren  Fällen  zu  verzeichnen.  Für 
beides  will  ich  Beispiele  angeben: 


Behandlung  der  Tuberkulose.  283 

9.  Eine  51jährige  Frau  fiel  im  Februar  1901  während  eines  Schwindel- 
anfalles zu  Boden,  einige  Tage  später  traten  Schmerzen  im  Kniegelenke 
auf,  die  sich  erheblich  verschlimmerten  und  in  der  letzten  Zeit  so  stark 
wurden,  dass  die  Kranke  nxw  unter  starken  Schmerzen  und  hinkend  gehen 
konnte  und  des  Nachts  häufig  durch  Schmerzen  aufwachte.  Sie  wurde  am 
15.  Februar  1902  in  die  Greif swalder  chirurgische  Klinik  aufgenommen. 

Das  linke  Kniegelenk  ist  spindelförmig  geschwollen  und  misst  2^/4  cm 
mehr  im  Umfange  als  das  rechte,  es  steht  in  Beugekontraktur,  lässt  sich 
nicht  strecken  und  aktiv  nicht  ganz  bis  zu  einem  rechten  Winkel  beugen. 
Beim  Beugen  des  Knies  springen  seitlich  und  vmterhalb  der  Kniescheibe 
starke  pseudofluktuierende  Beulen  vor. 

Vom  20.  Februar  bis  8.  April  wurde  jeden  Tag  20  Minuten  lang  der 
Saugapparat  angewandt.  Eine  starke  Hyperämie  trat  erst  bei  der  dritten 
Anwendung  und  von  da  ab  regelmässig  auf.      ödem  bildete  sich  nicht. 

Am  14.  März  hatte  die  Kranke  alle  ihre  Schmerzen  verloren,  ging 
ohne  zu  hinken  und  schmerzfrei,  fühlte  sich  vollkommen  gesund  und  konnte 
sogar  laufen.  Am  9.  April  wurde  sie  entlassen  mit  folgendem  Befunde: 
Das  Knie  kann  vollkommen  gestreckt  und  bis  zu  einem  Winkel  von  70° 
aktiv  gebeugt  werden.  Der  Umfang  des  linken  Knies  misst  an  seiner 
stärksten  Stelle  1  cm  mehr  als  der  des  rechten.  Die  Kranke  kann  den 
ganzen  Tag  ohne  die  geringsten  Beschwerden  ihr  Knie  gebrauchen. 


Der  nächste  Fall  möge  ein  Beispiel  für  die  Ausheilung  einer 
sehr  schweren  und  weit  vorgeschrittenen  Gelenktuberkulose  unter 
Hyperämie  durch  den  Sauga^pparat  abgeben: 


10.  Ein  13 jähriger  Knabe  erkrankte  im  August  1900  an  einer  Tuber- 
kulose des  linken  Ellbogengelenkes.  Er  wurde  zuerst  am  12.  Juni  1901 
in  die  Klinik  aufgenommen  mit  einer  spindelförmigen  Anschwellung  des 
linken  Ellbogengelenkes,  die  zu  grossen  kalten  Abscessen  gefülirt  hatte. 
Das  Röntgenbild  wies  scheinbar  einen  Sequester  im  Olecranon  nach.  Das 
Ellbogengelenk  stand  in  einem  Winkel  von  105°  fest.  Bewegungen  waren 
aktiv  gar  nicht,  passiv  nur  in  geringsten  Grenzen  ausführbar. 

Da  es  sich  um  eine  stark  abscedierende  Tuberkulose  handelte,  wurden 
die  Abscesse  gespalten,  ausgeräumt  und  nach  Billroth  wieder  vernäht, 
nachdem  sie  mit  Jodoformglycerin  ausgefüllt  waren:  der  vermutete  Sequester 
im  Olecranon  wurde  nicht  gefunden.  Es  trat  fast  völlige  Heilung  per 
primam  ein,  und  der  Kranke  wurde  am  12.  Juli  1901  in  die  Behandlung 
seines  Hausarztes  entlassen. 

Der  Knabe  wurde  am  21.  Februar  1902  mit  einer  sehr  schweren 
Tuberkulose  des  Ellbogengelenkes  wieder  aufgenommen.  Dasselbe  war  un- 
förmlich spindelig  angeschwollen  mid  ringsherum  mit  zahlreichen  und 
grossen  Geschwüren  besetzt,  welche  mit  schwamiuigen,  grauen  Granula- 
tionen bedeckt  waren,  unterminierte  Hautränder  hatten,  aus  denen  Fisteln 
in  die  Tiefe  führten.  Das  ausgedehnteste  dieser  Geschwüre  hatte  die 
Grösse  eines  Fünfniarkstückes.     Die  Geschwüre  und  Fisteln  eiterten  stark. 


284  Spezieller  Teil. 

Die  Sonde  kam  auf  raulien  Knochen.  Die  Haut  war  so  stark  unter- 
miniert, dass  die  in  eine  Fistel  eingeführte  Sonde  aus  einer  zweiten,  7  cm 
davon  entfernten  Fistelmündving  wieder  herauskam.  Das  Ellbogen- 
gelenk war  auf  Druck  sehr  schmerzhaft,  der  linke  Oberarm  sehr  stark 
atrophisch. 

Vom  25.  Februar  ab  wurde  der  Kranke  mit  dem  SaugapjDarate  be^ 
handelt,  welcher  täglich  20  Minuten  lang  angewandt  wurde.  Die  Gelenk- 
gegend wurde  dabei  dunkelblau,  aus  den  Fisteln  entleerten  sich  blutiges 
Serum,  Eiter,  Blut  und  schwammige  Granulationsmassen.  Noch  stunden- 
lang nach  Anwendung  des  Apparates  fühlte  sich  die  Gegend  des  kranken 
Ellbogengelenkes  heiss  an.  Schon  nach  14tägiger  Anwendung  nahm  die 
Absondeiamg  der  Geschwüre  und  Fisteln  erhebhch  ab,  die  Granulationen 
gewannen  ein  dunkelrotes  Aussehen,  die  unterminierte  Haut  fing  an,  axd 
der  Unterlage  fest  zu  heilen.  Nach  weiteren  14  Tagen  bemerkte  man,  dass 
die  früher  weiche  Schwellung  sehr  derb  wurde.  Am  1.  Mai  wurde  fest- 
gestellt, dass  die  Fisteln  kavmi  noch  absonderten,  die  Haut  überall  auf- 
geheilt war,  und  die  Geschwüre  sich  mit  einer  Borke  bedeckten,  welche 
ich  ruhig  sitzen  Hess.  Im  Mai  wurde  eine  14tägige  Pause  eingeschoben 
und  dann  die  Behandlung  mit  dem  Saugapparat,  die  jetzt  nur  jeden  2.  Tag 
ausgeführt  wurde,  wieder  begonnen.  Am  1.  August  1902  wurde  der  Kranke 
mit  folgenden  Befunde  entlassen:  Alle  Geschwüre  und  Fisteln  sind  über- 
häutet und  ausgeheilt,  das  Gelenk  sieht  schlank  aus  und  hat  die  Spindel- 
form vollkommen  verloren,  es  fühlt  sich  ringsherum  steinhart  an.  Die 
Beweglichkeit  hat  nicht  zugenommen.  Dem  Kranken  ist  vor  seiner  Ent- 
lassiuig  noch  die  Bindenstauiing  gelehrt  worden,  welche  er  zu  Hause  noch 
täglich  eine  Stunde  lang  anwenden  sollte. 

Sehr  interessante  Befunde  ergab  das  Röntgenbild.  Das  bei  der  Auf- 
nahme des  Kranken  hergestellte  Bild  zeigte  die  Gelenkenden  der  Knochen 
verschwommen  und  nicht  auseinander  zu  halten.  Die  Knochen  waren  stark 
atrophisch.  Mit  der  fortschreitenden  Besserung  wurden  die  Knochen 
deutlicher,  waren  bei  der  Entlassung  sehr  scharf,  zeigten  in  der  Gegend 
der  frülieren  Erkrankung  einen  sehr  deutlich  dunkleren  Schatten  als  die 
entfernten  nicht  erkrankten  Teile  und  waren  stark  aufgetrieben.  Wie  es 
nach  dem  Bilde  scheint,  besteht  eine  knöcherne  Ankylose  zwischen  den 
Gelenkenden.  In  den  Weichteilen  mn  das  Gelenk  sieht  man  strangförmige 
dunkle  Schatten,  welche  Avahrscheinlich  derben  Bindegewebszügen  ent- 
sprechen, die  sich  aus  den  Granulationen  entwickelt  haben  und  beim  An- 
fühlen dem  Gelenk  die  Steinhärte  verleihen. 

Diesen  vortrefflichen  Erfolgen  gegenüber,  die  ich  noch  durch 
eine  Anzahl  andere  vermehren  könnte,  haben  wir  unter  dem  Ein- 
fluss  des  Saugapparates  erhebliche  VerschHmmerungen  von  Gelenk- 
tuberkulosen bemerkt,  von  denen  ich  die  beiden  schlimmsten  hier 
anführen  will. 

11.  Ein  53 jähriger  Tischlermeister  erkrankte  angeblich  am  23.  Februar 
1901  infolge  einer  Verstauchung  beim  Häckselschneiden  am  rechten  Hand- 


Behandliing  der  Tuberkulose.  285 

gelenk.  Dasselbe  M'urde  schmerzhaft  und  schwoll  an.  Die  Erscheiniingen 
verschlinamerten    sich    allmählich,    und    der   Kranke   wurde    deshalb    am 

22.  Nov.  1901  in  die  Klinik  aufgenommen. 

Er  litt  an  ausgebreiteter,  doppelseitiger  Lungentuberkulose.  Das 
rechte  Handgelenk  mass  im  Umfange  3^2  cm  mehr  als  das  linke.  Es  war 
fast  vollständig  versteift,  ebenso  die  Finger.  Die  Rotation  war  ebenfalls 
stark  beschränkt. 

Seit  dem  24.  November  1901  wurde  das  kranke  Glied  täglich  zwei- 
mal Y2  Stunde  mit  dem  Saugapparate  behandelt.  Es  trat  sehr  starke 
Hyperämie  luid  nach  mehrmaliger  Anwendung  chronisches  ödem  auf.    Axa 

23.  Januar  1902  fand  sich,  nachdem  vorher  die  Beweglichkeit  der  Finger 
und  des  kranken  Handgelenkes  sich  erheblich  gebessert  hatte,  ein  kalter 
Abscess  an  der  Ulnarseite  der  Hand,  welcher  punktiert  wurde  ohne  nach- 
folgende Jodoformeinspritzung.  Die  Behandlung  mit  dem  Saugapparate 
wurde  darnach  für  einige  Tage  ausgesetzt,  dann  wieder  begonnen.  Seit  dem 
14.  Februar  wnrde  der  Apparat  nur  alle  zwei  Tage  20  Minuten  lang  an- 
gewandt. Am  20.  Februar  brach  der  Abscess  von  selbst  dxirch  und  musste, 
da  sich  Eiterverhaltvmg  einstellte,  gespalten  werden.  Es  trat  eine  Misch- 
infektion mit  hohen  Fiebererscheinungen  ein,  so  dass  am  23.  April  die 
Resektion  des  Handgelenkes  und  am  27.  Mai  wegen  fortschreitender  Eiterimg 
die  Amputation  des  Vorderarmes  besonders  mit  Rücksicht  auf  die  schwere 
Lungenphthise  ausgeführt  werden  musste. 

12.  Ein  3 jähriger,  stark  ski'ophulöser  Knabe'  litt  an  aufgebrochener 
schwerer  Tuberkulose  des  rechten  Handgelenkes;  er  wrirde  vom  10.  bis 
25.  März  1902  täglich  20  Minuten  lang  im  Schröpf apparate  behandelt. 
Der  Apparat  brachte  eine  selir  starke  Hyperämie  und  ein  ausgedehntes 
chronisches  ödem  hervor.  Am  26.  März  entstand  eine  akute  Entzündung 
des  kranken  Handgelenkes  mit  Rötung  der  Haut  bis  auf  den  Oberarm  hin- 
auf, die  dazu  zwang,  die  Behandlung  auszusetzen.  Die  Entzündung  ver- 
schwand nach  Verlauf  einiger  Tage,  aber  unterdessen  machte  die  Tuber- 
kulose des  Handgelenkes  erhebliche  Fortschritte.  Die  Verschlimmerung 
bestand  im  Auftreten  mehrerer  neuer  Geschwüre  mit  stark  wuchernder 
Granulation  und  imterminierten  Hauträndern.  Vom  25.  Juni  ab  wiirde 
dann  täglich  1  Stunde  lang  die  Bindenstauung  eingefülirt,  welche  eine 
langsame,  aber  deutliche  Besserung  hervorbrachte. 

Deshalb  schrieb  ich  in  der  ersten  Auflage  dieses  Buches: 
,,Wir  haben  also  bei  der  Behandlung  mit  dem  Schröpf  apparate 
neben  sehr  guten  Erfolgen  dieselben  Misserfolge  gehabt,  welche 
wir  früher  bei  der  sehr  starken  und  dauernden  Bindenstauung  ge- 
sehen haben,  und  daraus  den  Schluss  gezogen,  dass  wir  den  Saug- 
apparat zu  lange  und  zu  kräftig  angewandt  haben.  Wir  haben 
dann  nach  diesen  Vorversuchen  seine  Anwendung  bedeutend  herab- 
gesetzt und  benutzen  ihn  jetzt  so,  dass  er  keine  chronischen  Ödeme 
erzeugt.  Er  wird  deshalb  niemals  mehr  täglich,  sondern  je  nach 
der  Reaktion,  die  er  hervorruft,  alle  zwei  bis  vier  Tage  einmal 
20  Minuten  lang  angewandt,  und  es  wird  dafür  gesorgt,  dass  er 


286  Spezieller  Teil. 

nicht  von  neuem  gebraucht  wird,  bevor  nicht  entstandenes  Ödem 
verschwunden  ist.  Wir  haben  seitdem  jene  Misserfolge  nicht  mehr 
erlebt,  aber  noch  nicht  Erfahrung  genug,  um  ein  Urteil  über  den 
Wert  des  Verfahrens  gegen  Gelenktuberkulose  abgeben  zu  können. 
Ich  empfehle  deshalb  einstweilen  dem  praktischen  Arzte  zur  Be- 
handlung der  Gelenktuberkulose  lediglich  täghch  eine  Stunde  lang 
mit  der  Binde  hervorgerufene  Stauungshyperämie  und  rate  dem 
Ungeübten  von  dem  Gebrauch  des  Saugapparates,  bis  weitere  Er- 
fahrungen über  die  Vorsichtsmassregeln,  die  dabei  anzuwenden, 
und  über  seine  Wirkung  gesammelt  sind,  ab." 

Leider  habe  ich  diese  Erfahrungen  auch  jetzt  noch  nicht  ge- 
sammelt, da  ich  versäumt  habe,  mit  den  grossen  Saugapparaten 
weitere  Versuche  in  der  Behandlung  der  Gelenktuberkulose  anzu- 
stellen. Das  Gebiet,  das  der  hyperämisierenden  Behandlung  zu- 
gänglich ist,  ist  eben  so  gross,  dass  es  die  Kräfte  einer  einzelnen 
Klinik  übersteigt,  alles  auf  einmal  genügend  auszuprobieren. 

In  der  ersten  Auflage  beschrieb  ich,  dass  wir  bei  Verwendung 
der  Saugapparate,  gerade  wie  jetzt  bei  der  der  Schröpfköpfe,  nie- 
mals dauernd  in  einer  Sitzung  hyperämisieren,  sondern  immer  nach 
einigen  Minuten  eine  Pause  von  20  Sekunden  bis  1  Minute  ein- 
schieben. Nach  unseren  neuesten  Erfahrungen  mit  den  Schröpf- 
köpfen empfiehlt  es  sich  vielleicht,  diese  Pausen  noch  länger  zu 
gestalten. 

Inzwischen  hat  Klapp  in  der  hiesigen  Poliklinik  mit  sehr 
befriedigendem  Erfolge  die  Spina  ventosa  mit  dem  Saug- 
apparate behandelt.  Die  Behandlung  dieser  Krankheit  liegt  noch 
sehr  im  Argen.  Die  Bindenstauung  leistete  hier,  wenigstens  bei 
vorgeschrittenen  Fällen,  wenig,  Jodoformeinspritzungen  und  andere 
konservative  Mittel  noch  weniger,  und  die  chirurgischen  Eingriffe 
ergäben  ebenfalls  sehr  massige  Erfolge,  zumal  sie  gewöhnlich  zu 
einer  Verstümmelung  des  betreffenden  GKedabschnittes  führen. 
Klapp  richtete  den  Saugapparat  für  derartige  Fälle  sehr  einfach 
her.  Er  versah  einen  v.  Esmarch'schen  gläsernen  Irrigator  an 
seinem  offenen  Ende  mit  einer  weiten  Paragummimanschette,  die  er 
mit  Leder  daran  befestigte.  Die  weite  Manschette  ermöglicht  es, 
eine  Kinderhand  mit  aufgebrochener  Spina  ventosa  in  das  Gefäss 
zu  bringen,  ohne  dass  die  Wunde  den  Gummi  streift.  Die  weite 
schmiegsame  Manschette  wird  mit  einer  Gummibinde  an  den  Arm 
des  kranken  Kindes  gewickelt.  Die  Luft  wird  in  gewöhnhcher 
Weise  mit  einer  Saugpumpe  verdünnt. 


Behandlung  der  Tuberkulose.  287 

In  der  ersten  Zeit  wird  der  Apparat  täglich  etwa  45  Minuten 
angewandt.  Mit  der  fortschreitenden  Besserung  schiebt  man  immer 
grössere  Pausen  ein,  bis  man  ihn  schhesshch  nur  alle  8  Tage 
einmal  %.  Stunden  gebraucht. 

Kalte  Abscesse  werden  mit  kleinem  Schnitt  gespalten.  Auch 
unter  der  Behandlung  neu  entstehende  müssen  frühzeitig  geöffnet 
werden. 

Die  Erfolge  dieser  Behandlung  der  Spina  ventosa  sind  ausge- 
zeichnet.   Ich  führe  als  Beispiel  folgenden  Fall  an: 

13.  Ein  Sjähriges  Kind  erkrankte  im  Frühjahr  1905  an  einer- Spina 
ventosa  am  1.  Metacarpus  der  linken  Hand.  Am  15.  Mai  trat  es  in  die 
Behandlung  der  Bonner  Poliklinik.  Auf  dem  linken  Handrücken  fand  sich 
ein  taubeneigrosser  kalter  Abscess  über  dem  1.  Metacarpus.  Nach  Stich- 
incision  entleerte  sich  eine  Menge  dünnflüssigen  Eiters.  Die  Saugbehand- 
lung begann  sofort  und  wvu'de  anfangs  einen  Monat  täglich  fortgeführt. 
Am  22.  Juni  waren  vorübergehend  heftigere  Schmerzen  vorhanden,  welche 
durch  Stichincision  eines  neugebildeten  Abscesses  beseitigt  wurden.  Nach- 
dem an  den  3  nächsten  Tagen  täglich  geschröpft  war,  konnte  die  Saug- 
behandlung auf  2  mal  wöchentlich  beschränkt  werden. 

24.  Juli.  Das  Kind  sieht  sehr  wohl  aus  und  hat  so  guten  Appetit, 
wie  es  ihn  seit  langer  Zeit  nicht  gekannt  hat.  Die  fungöse  Schwellung 
ist  ganz  verschwunden.  Der  Handrücken  ist  ganz  schlank  und  fühlt  sich 
gleichmässig  dick  und  hart  an.      Die  kleine  Stichincision  ist  geschlossen. 

Die  Kraft  der  Hand  ist  völlig  wieder  hergestellt. 


Behandlung  anderer  Tuberkulosen. 

Neben  der  Tuberkulose  der  Gelenke  habe  ich  am  häufigsten 
die  des  Hodens  mittels  Stauungshyperämie  behandelt,  welche  hier 
in  folgender  Weise  angewandt  wird: 

Sind  beide  Hoden  erkrankt,  so  zieht  man  sie  stark  nach  ab- 
wärts und  legt  um  die  Wurzel  des  Hodensackes  einen  weichen 
Gummischlauch,  der,  mit  Watte  unterfüttert,  so  fest  angezogen 
wird,  dass  er  eine  starke  Stauungshyperämie  hervorruft ;  die  Enden 
des  Schlauches  werden  mit  einer  Klammer  geschlossen. 

Ist  nur  ein  Hoden  erkrankt,  so  zieht  man  diesen  herab  und 
drängt  gleichzeitig  den  gesunden  nach  oben,  während  der  Schlauch 
in  derselben  Weise  angelegt  wird. 

Die  Hoden  werden  in  ein  geräumiges  Suspensorium  gelagert. 
Der  Schlauch  wird  1 — 3  Stunden  täglich  getragen. 


288  Spezieller  Teil. 

Es  gelingt  leicht,  auf  diese  Weise  eine  starke  Stauungshyper- 
ämie im  Hoden  hervorzurufen,  und  ich  habe  sie  besonders  bei  ge- 
schwürigen und  fistulösen  Fällen  mit  Nutzen  angewandt,  insbeson- 
dere grosse  tuberkulöse  Geschwüre  am  Hoden  darnach  ausheilen 
sehen.  Weniger  erfolgreich  war  das  Mittel  bei  den  tuberkulösen 
Verhärtungen  des  Nebenhodens,  wie  man  sie  im  Anfange  des 
Leidens  findet.  Auch  hier  werden  etwa  auftretende  kalte  Abscesse 
mit  kleinem  Schnitt  gespalten. 

Ausserdem  habe  ich  Tuberkulose  der  Knochen,  der  Sehnen- 
scheiden, Drüsen,  der  Haut  und  des  Unterhautzellgewebes  und 
ferner  Hautlupus  mit  Stauungshjrperämie  behandelt.  Ich  hatte 
früher  nur  über  dürftige  Erfahrungen  bei  Sehnenscheidentuber- 
kulose zu  berichten.  Ich  sah  sie  sich  unter  Stauungshyperämie  er- 
heblich bessern,  aber  niemals  vollständig  heilen.  Ich  gab  deshalb 
den  Rat,  sich  bei  dieser  Krankheit  nicht  lange  mit  der  konserva- 
tiven Behandlung  aufzuhalten,  sondern  die  tuberkulösen  Wuche- 
rungen zu  exstirpieren,  da  dies  schneller  zum  Ziele  führe  und  gute 
funktionelle  Erfolge  gäbe.  Hierin  habe  ich  meine  Ansicht  voll- 
ständig geändert,  seitdem  ich  in  letzter  Zeit  die  schwersten  Sehnen- 
scheidentuberkulosen durch  Stauungshyperämie  im  idealsten  Sinne 
des  Wortes  geheilt  habe.  Ich  verfahre  jetzt  in  folgender  W^eise: 
Das  tuberkulöse  Hygrom  der  Beugesehnen  wird  an  einer  Stelle,  am 
besten  oberhalb  des  Handgelenkes,  wo  ja  in  der  Regel  ein  Teil 
des  tuberkulösen  Sehnenscheidenzwerchsacks  sitzt,  durch  einen 
kleinen  Schnitt  gespalten.  Nun  drückt  man  von  der  Peripherie 
her  streichend  aus  dieser  Öffnung  die  Flüssigkeit  und  die  Reis- 
körner des  tuberkulösen  Sehnenscheidensackes  sehr  sorgfältig 
heraus.  Man  soll  nicht  eher  ruhen,  als  bis  auch  die  letzten  Reis- 
körner herausbefördert  sind,  was  oft  erhebhche  Zeit  in  Anspruch 
nimmt.  Die  kleine  Wunde  wird  aseptisch  verbunden  und  für 
1 — 2  Stunden  täghch  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Unsere  Er- 
folge sind  vortrefflich.  Ich  will  die  Krankengeschichte  eines 
schweren  Falles  mitteilen: 

14.  Ein  16 jähriger  Gymnasiast  litt  seit  etwas  nielu'  als  einem  Jahre 
an  Tuberkulose  der  Beugesehnenscheiden  der  rechten  Hand.  Einige  Tage 
vor  meiner  Behandlung  hatte  sich  oberhalb  des  rechten  Handgelenkes  eine 
feine  Fistel  gebildet,  die  spärliche  wässerige  Flüssigkeit  entleerte. 

Ich  machte  folgenden  Befvmd:  Der  ganze  Handteller  war  verstrichen 
und  von  einer  kugeligen  Geschwulst  eingenommen.  Eine  zweite  ebensolche 
Geschwulst  sass  oberhalb  des  Ligamentum  carpi  transversum.     Beide  Ge- 


Behandlung   der  Tuberkulose.  289 

schwülste  fluktuierten,  die  Fluktuation  erstreckte  sich  von  der  einen  auf 
die  andere.  Im  ganzen  Verlaufe  der  Beugesehnen  des  kleinen  Fingers 
fühlte  man  sehr  grosse  derbe  Knoten,  die  bei  Beugungen  des  Fingers  mit- 
gingen. Ebensolche  Knoten  fühlte  man  in  der  Gegend  der  peripheren 
Beugesehnenscheiden  des  3.  und  4.  Fingers  und  in  der  Hohlhand.  Die 
3  letzten  Finger  waren  sehr  stark  versteift.  Sie  blieben  beim  Versuche, 
eine  Faust  zu  machen,  weit  zurück.  Oberhalb  des  Handgelenkes  fand  sich 
eine  verklebte  Fistelmündung.  Nach  Fortnahme  der  verschliessenden  Borke 
entleerte  ich  bei  Druck  auf  die  beschriebenen  Geschwülste  serös-eitrige 
Flüssigkeit  und  Reiskörner. 

Ich  erweiterte  die  Fistel  und  entleerte  aus  ihr  eine  grosse  Menge 
Reiskörner  und  Flüssigkeit  durch  Ausstreichen  von  der  Hohlhand  her.  Es 
nahm  mehrere  Tage  in  Anspruch,  bis  die  Entleerung  vollständig  gelungen  war. 

Am  20.  Februar  1904  legte  ich  eine  Stauungsbinde  an,  die  täghch 
1  Stiinde,  im  ganzen  etwas  über  ein  Jahr  lang,  getragen  wurde.  Das 
Leiden  besserte  sich  sehr  schnell  Tind  heilte  im  Laufe  eines  Jahres  voll- 
ständig aus.  Am  längsten  blieben  die  Knoten  in  der  Sehnenscheide  des 
kleinen  Fingers  und  in  den  peripheren  Sehnenscheiden  des  3.  und  4.  Fingers 
bestehen. 

Am  6.  August  1905  habe  ich  den  jungen  Mann  zum  letzten  Male 
untersucht.  Ein  unbefangener  Untersucher  würde  wohl  kaum  feststellen 
können,  welche  Hand  die  kranke  gewesen  ist.  Nur  beim  genauen  Zufühlen 
bemerkt  man  an  den  Sehnen  des  4.  und  5;  Fingers  noch  eine  geringe 
Anschwellung  in  der  Gegend  des  zweiten  Gliedes.  Die  Hand  ist  ohne  jede 
Einschränkung  funktionsfähig.  Der  jiuige  Mann  ist  ein  eifriger  und  ge- 
schickter Klavierspieler  und  erklärt,  dass  er  im  Greifen  der  Tasten  mit 
den  Fingern  der  rechten  Hand  nicht  im  mindesten  gehindert  sei. 

In  derselben  Weise  werden  die  tuberkulösen  Hygrome  des 
Handrückens  behandelt.  Nur  wenn  sie  klein  sind,  bleiben  sie  un- 
eröffnet,  sonst  werden  sie  gleichfalls  mit  kleinem  Schnitt  gespalten 
und  der  Inhalt  wird  herausgedrückt.  Dann  erst  wird  die  Stauungs- 
binde  angelegt. 

Diese  gewöhnlich  kleineren  Hygrome  eignen  sich  auch  für  die 
Behandlung  mit  den  Schröpfköpfen,  die  man  der  Form  des  Hand- 
rückens entsprechend  ausschneiden  lässt. 

Bei  reiner  Knochentuberkulose  vollführe  ich  in  der  Regel  die 
operative  Entfernung  des  Herdes,  wenn  vorauszusehen  ist,  dass  die 
Funktion  der  betreffenden  Glieder  nicht  durch  die  Operation  ge- 
schädigt wird.  Doch  hat  Klapp  neuerdings,  wie  schon  erwähnt, 
für  die  Spina  ventosa  die  Saugbehandlung  mit  Erfolg  verwandt. 

Von  den  Drüsentuberkulosen  passt  nur  die  der  Cubitaldrüse 
für  die  Behandlung  mit  der  Stauungsbinde.  Diese  hat  natürlich 
nur  beschränkte  praktische  Wichtigkeit,  ich  will  mich  deshalb 
nicht  dabei  aufhalten,  sondern  nur  bemerken,  dass  die  mit  Stauungs- 
hyperämie behandelten  tuberkulösen  Drüsen  noch  viel  mehr  als  die 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  19 


290  Spezieller  Teil. 

Gelenke  zur  Erweichung  und  zur  Bildung  von  kalten  Abscessen 
neigen.  Solche  mit  Abscessen  und  Fisteln  einhergehende  Drüsen- 
tuberkulosen eignen  sich  nun,  nachdem  die  Abscesse  durch  einen 
kleinen  Schnitt  gespalten  sind,  vortrefflich  zur  Behandlung  mit 
dem  Schröpf  köpfe.  Ich  habe  vor  einer  Reihe  von  Jahren  eine 
grosse  Anzahl  von  Fällen  mit  sehr  wechselnden  Resultaten  so  be- 
handelt. In  neuerer  Zeit  hat  Klapp  mit  viel  besseren  Erfolgen 
diese  Behandlung  wieder  aufgenommen. 

Auch  der  Schröpfkopf  erweicht  die  aufgebrochene  tuberkulöse 
Drüse  in  auffälliger  Weise.  So  kann  man  ganze  Drüsenpakete 
allmählich  zur  Abscedierung  bringen  und  aus  Fisteln  und  Schnitt- 
wunden heraussaugen.  Ich  führe  folgenden  Fall,  den  Klapp  in 
der  hiesigen  Poliklinik  behandelte,  als  Beispiel  an: 

15.  Am  23.  Januar  1905  kam  in  die  hiesige  Poliklinik  ein  junger 
Mann  mit  einem  grossen  tuberkulösen  Drüsenpakete,  über  dem  ein  grosser 
kalter  Abscess  lagerte.  Um  einen  Beweis  der  Grösse  des  ganzen  Gebildes 
zu  geben,  sei  angeführt,  dass  das  Niveau  desselben  bis  über  das  Ohr  nach 
aussen  reichte. 

Der  kalte  Abscess  wvirde  durch  einen  Stich  geöffnet.  Es  entleerte  sich 
eine  Menge  Eiter  von  selbst  und  bei  sofortigem  Aufsetzen  des  Schröpf  köpf  es. 

Der  Abscess  füllte  sich  die  nächsten  Tage  wieder  an,  wurde  täglich 
ausgesaugt,  bis  nur  noch  eine  blutig-seröse  Flüssigkeit  kam.  Nach  etwa 
8  Tagen  war  der  Abscess  verschwunden,  das  Drüsenpaket  lag  trocken 
vor.  Mit  der  bestimmten  Absicht,  eine  weitere  Erweichung  des  Drüsen- 
paketes zu  versuchen,  wurde  die  tägliche  Schröpfbehandlung  fortgesetzt. 

Bald  zeigte  sich  eine  weitere  starke  Erweichiing,  welche  wieder  durch 
Stich  entleert  und  wie  das  erste  Mal  ausgesogen  wurde.  Das  Drüsen- 
paket, welches  vorübergehend  durch  den  Abscess  diffus  anzufülilen  ge- 
wesen war,  erschien  jetzt  wieder  trocken  und  in  seinen  einzelnen  Drüsen 
abtastbar;  schon  jetzt  zeigte  sich  aber,  dass  das  ganze  Paket  an  Grösse 
stark  eingebüsst  hatte. 

In  gleicher  Weise  wurde  die  Behandlung  im  ganzen  5  Wochen  lang 
durchgeführt.  Noch  mehrere  Male  erschienen  bei  fortgesetztem  Saugen 
Erweichimgen,  die  entleert  wvu?den. 

Schliesslich  war  nur  noch  eine  flache  diffuse  Schwellimg  vorhanden. 

Auf  Wunsch  des  Patienten  wurde  Klapp  veranlasst,  das  vermeintlich 
noch  bestehende  geringe  Drüsenpaket  zu  exstirpieren. 

Bei  der  Operation  fand  sich  nun  an  seiner  Stelle  nur  eine  etwa  finger- 
dicke derbe  Schwarte.     Von  Drüsen  war  nichts  mehr  zu  finden. 

Die  anatomische  Untersuchung  der  Schwiele  wurde  im  hiesigen  patho- 
logischen Institute  ausgeführt.  Der  Bericht  des  letzteren  lautet:  ,,In  der 
Schwiele  finden  sich  viele  Tuberkel  in  fibröser  Entartung  und  eine  sehr 
erhebliche  Wucheriing  des  zwischen  den  Tuberkeln  und  in  deren  nächster 
Nähe  befindlichen  Bindegewebes,  eine  Tatsache,  die  wohl  sicher  als  Heilimgs- 
vorgang  zu  deuten  ist.  Im  ganzen  machte  überhaupt  das  tuberkulöse 
Granulationsgewebe  einen  sehr  viel  weniger  zelLreichen  Eindruck,  als  man 


Behandlung  der  Tuberkulose.  291 

gewöhnlich  findet.  Dieser  Eindruck  wurde  hervorgerufen  wiederum  durch  ziem- 
lich starke  Neubildung  von  Bindgewebe  innerhalb  der  Granulationsmassen. 

Die  kleinen  Gefässe  sind  durchweg  stark  erweitert.  Auch  finden  sich 
kleine  Hämorrhagien  in  beschränkter  Anzahl.  Die  grösseren  Arterien 
zeigen  gewucherte  Intima  bis  zu  erheblicher  Einengung  des  Lumens,  also 
einen  Vorgang,  den  man  ebenfalls  als  Heilungsreaktion  bei  der  Tuber- 
kulose aufzufassen  pflegt. 

Die  Fistel  der  Haut  bietet  mutatis  mutandis  dasselbe  Bild  der  fibrös 
indurierten,  tuberkulösen  Granulation.  Nekrosen  sind  im  ganzen  Präparate 
nur  in  äusserst  beschränktem  Masse  zu  finden." 

Klapp  hat  viel  bessere  Erfolge  mit  der  Schröpf  köpf  behandlung 
der  fistelnden  und  abscedierenden  Drüsentuberkulose  erzielt,  als  ich 
früher.  Der  Grund  dafür  ist  mir  jetzt  klar.  Ich  liess  die  Schröpf- 
köpfe früher  viel  längere  Zeit  in  einem  Stück  sitzen  und  wandte 
sehr  grosse  Instrumente  an,  weil  ich  mir  von  ihnen  die  stärkste 
Hyperämie  und  die  beste  Wirkung  versprach.  Wir  machten  aber 
zuerst  am  grossen  Saugapparat  die  Erfahrung,  dass  das  lange  starke 
Hyperämisieren  in  einer  Sitzung  ohne  Pausen  häufig  die  Tuber- 
kulose verschlimmerte.  Klapp  übertrug  diese  Erfahrung  auch  auf 
die  Schröpf  köpf  behandlung.  Er  fing,  gerade  wie  bei  den  fistelnden 
Gelenken,  mit  Sitzungen  von  45  Minuten  an,  liess  aber  dabei  immer 
nur  5  Minuten  den  Schröpf  köpf  sitzen,  nahm  ihn  dann  3  Minuten 
ab,  setzte  ihn  wieder  5  Minuten  auf,  usw.  Ferner  sind  die  kleineren 
Schröpfköpfe  besser,  wie  meine  früheren  grossen,  die  ich  z.  B. 
einer  ganzen  Halsseite  angepasst  arbeiten  liess,  denn  das  kleine 
Instrument  saugt  viel  besser  Eiter  und  nekrotische  Massen  aus  den 
Fisteln  heraus,  zum  grossen  Teil  wohl  deshalb,  weil,  wie  Rübe 
zeigte,  in  kleineren  Schröpf  köpfen  die  Luft  Verdünnung  viel  stärker 
und  dabei  schonender  für  den  Kranken  herzustellen  ist,  als  in  grossen. 

Nach  den  sehr  günstigen  Erfahrungen,  die  wir  in  der  letzten 
Zeit  mit  der  Schröpfkopfbehandlung  bei  den  verschiedensten  Krank- 
heiten erzielt  haben,  lohnt  es  sich  wohl  auch,  meine  alte  Lupus- 
behandlung vermittels  dieses  Instrumentes  wieder  aufzunehmen. 
Ich  habe  mehrmals  geschwürigen  Lupus  der  Wange  mit  Schröpf- 
köpfen geheilt.  So  hatte  ich  im  Jahre  1897i)  Gelegenheit,  zwei 
Lupusfälle  zu  sehen,  die  auf  diese  Weise  von  mir  behandelt  waren 
und  von  denen  der  eine  nach  3^^,  der  andere  nach  reichlich 
2  Jahren  noch  ohne  Rezidiv  waren.  Die  Narben  waren  kaum  noch 
zu  sehen.  Trotzdem  erklärte  ich  in  der  ersten  Auflage  dieses  Buches, 
dass  diese  Behandlung  des  Lupus  ohne  grosse  praktische  Bedeutung 

1)  Bier,  Heilwirkung  der  Hyperämie.     Münchner  med.  W.  1897.     Nr.   32. 

19* 


292  Spezieller  Teil. 

sei,  da  sich  ausgedehnter,  die  Nase  und  den  Mund  umgebender 
Lupus  nicht  auf  diese  Weise  behandeln  lasse  und  weil  man  besser 
täte,  den  der  Behandlung  mit  Schröpfköpfen  zugänglichen  Wangen- 
lupus auszuschneiden  und  die  Wundränder  zu  nähen.  Auch  glaubte 
ich,  dass  das  Verfahren  durch  die  Einsen' sehe  Lichtbehandlung 
überholt  sei.  Vielleicht  aber  macht  eine  verbesserte  Technik  der 
Saugapparate  es  doch  noch  möglich,  auch  den  grossen  Gesichts- 
lupus auf  diese  Weise  zu  behandeln. 

Unter  der  Bindenstauung  habe  ich  gar  keine  Erfolge  oder  nur 
vorübergehende  Besserungen  bei  geschwürigem  Lupus  der  Glied- 
massen gesehen. 

Den  Versuch,  Lungentuberkulose  durch  Hyperämie  zu  be- 
handeln, hat  Jacobyi)  gemacht.  Er  folgt  ganz  meinem  Gedanken- 
gange, welcher  mich  zur  Behandlung  der  chirurgischen  Tuberkulose 
führte,  und  arbeitet  im  Prinzip  mit  denselben  Mitteln,  mit  denen  ich 
anfangs  Tuberkulose  behandelte.  Er  lagert  die  Lungenspitzen  tief 
und  lässt  ein  Heisswasserbad  auf  die  Brust  einwirken.  Obwohl 
ich  mehrfach  erwähnt  habe,  dass  ich  die  aktive  Hyperämie  durch 
Hitze  für  ungeeignet  zur  Behandlung  von  Tuberkulose  halte,  so  will 
ich  nicht  behaupten,  dass  hier  das  heisse  Wasser  nicht  ganz  günstig 
wirken  könne.  Denn,  wie  ich  ebenfalls  schon  sagte,  gehört  das 
heisse  Wasser  zu  den  weniger  stark  aktiv  hyperämisierenden 
Mitteln.  Dazu  kommt,  dass  die  tiefliegenden  tuberkulösen  Herde 
durch  den  eigentümlichen  ,, Entzündungsreiz"  wohl  imstande  sind, 
einen  massig  schnell  fliessenden  Blutstrom  zu  verlangsamen. 

Ich  erklärte  schon  früher,  dass  ich  ein  einfacheres  Mittel 
wüsste,  die  Lungen  für  eine  gewisse  Zeit  zu  hyperämisieren,  nämlich 
die  Einatmung  verdünnter  Luft.  Dies  könnte  man  sehr  leicht  mit 
Apparaten  bewerkstelligen,  am  einfachsten  aber  dürfte  es  sein, 
durch  die  halb  oder  noch  mehr  mit  den  Fingern  zugeklemmte  Nase 
den  Kranken  tief  ein-  und  durch  den  Mund  ausatmen  zu  lassen, 
so  dass  er  gerade  noch  erträgliche  Atemnot  bekommt.  Diesen  meinen 
Vorschlag  hat  neuerdings  Wasser mann^)  praktisch  ausgeführt. 
In  vollkommenerer  Weise  hat  Kuhn^)  durch  eine  eigene  Saugmaske, 


1)  Jacoby,     Müncliner    med.    Wochenschr.  1897.      Nr.  8   u.    9,   und:    Ver- 
handlungen des  Kongresses  für  innere  Medizin. 

2)  Wassermann,    Die    Verwendung   passiver    Hyperämie    der    Liinge    bei 
Limgenschwindsucht.    Zeitschrift  für  diät,  und  physik.  Therapie.    8.  Bd.    II.  Heft. 

3)  Kuhn,   Eine  Lungensaugixiaske  zur  Erzeugung  von  Stauiongshyperämie 
in   den  Lungen.      Deutsche  med.  Wochensclir.    1906. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      293 

die  auf  demselben  Prinzipe  beruht,  die  Hyperämisierung  der 
Lungen  erzielt. 

Linki)  suchte  die  Hyperämie  bei  einseitiger  Lungenspitzen- 
tuberkulose einfach  durch  Lagerung  auf  die  kranke  Seite  zu  er- 
reichen. 

In  neuerer  Zeit  hat  Leo^)  meine  etwa  10  Jahre  lang  zurück- 
liegenden Versuche  wieder  aufgenommen,  die  kranken  Lungenteile 
mit  grossen  Saugapparaten  zu  hyperämisieren.  Den  Einwand, 
dass  die  Saugung  hier  nichts  nützen  könne,  weil  die  Lunge  ein 
eigenes  von  den  äusseren  Körperteilen  unabhängiges  Gefässsystem 
habe,  lasse  ich  nicht  gelten,  um  so  mehr  als  bei  tuberkulösen 
Lungenspitzen,  um  die  es  sich  hier  handelt,  meist  Verwachsungen 
vorhanden  sind. 

Ob  bei  all'  diesen  Versuchen  etwas  herausgekommen  oder  zu 
erwarten  ist,  kann  ich  nicht  beurteilen.  Die  Erfahrung  muss  es 
lehren. 


Behandlung  akuter  Entzündungen  und  akuter  Eite- 
rungen an  den  Gliedern  mit  der  Stauungs binde. 

Schon  im  Jahre  1893  habe  ich  angefangen,  akute  Entzündungen 
mit  Stauungshyperämie  zu  behandeln.  Ich  begann  mit  gonorrhoi- 
schen Gelenken  und  mit  ausgesuchten  Fällen  von  ganz  frischer 
akuter  Osteomyelitis.  Besonders  aber  übte  ich  diese  Behandlung 
auch  bei  allen  möglichen  Fällen  von  ganz  frischen  akuten  Infek- 
tionen (z.  B.  Lymphangioitis,  frisch  infizierten  Wunden,  frischer 
Sehnenscheidenphlegmone)  und  bei  milden  Formen  der  rezidivieren- 
den akuten  Osteomyelitis.  Erst  allmählich  ging  ich  dazu  über,  grund- 
sätzlich alle  unserem  Mittel  zugänglichen  Eiterungen,  auch  die 
schwersten,  der  Stauungshyperämie  zu  unterwerfen.  Diese  langsame 
Entwicklung  und  Verallgemeinerung  des  Verfahrens  für  schwere 
akute  Eiterungen  wird  man  verstehen,  wenn  man  bedenkt,  mit 
was  für  einem  ungeheuren  Wust  von  Vorurteilen  ich  brechen 
musste,  um  diesen  Schritt  zu  tun.  Gab  doch  jeder  Chirurg,  selbst 
wenn  er  theoretisch  davon  überzeugt  gewesen  wäre,  dass  die  Ent- 

1)  Link,  Vorschlag  ztir  Behandlung  einseitiger  tuberkulöser  Liuigen- 
affektionen  vermittels  Lagerung  der  Kranken.  Zeitschrift  für  Tuberkulose  und 
Heilstättenwesen.    3.  Bd.   6.  Heft.     1902. 

2)  Leo,  Über  Hyperämiebehandlung  der  Lungentuberkulose.  Berliner  klin. 
Wochenschr.    1906.    Nr.  27. 


294  Spezieller  Teil. 

Zündung  einen  nützlichen  Abwehrvorgang  darstellt  und  er  deshalb 
den  ganzen  Apparat  der  Antiphlogose  nicht  in  Bewegung  setzte, 
zum  mindesten  den  Rat,  akut  entzündete  und  mit  starker  Hyper- 
ämie einhergehende  Körperstellen  hochzulegen,  um  die  schädliche 
entzündliche  Stauung  zu  beseitigen.  Die  Erfahrung  hatte  angeblich 
die  Richtigkeit  dieses  Grundsatzes  aufs  glänzendste  bewiesen. 

Technik  der  Bindenstauung  bei  akuten  Entzündungen 

und  Eiterungen. 

Die  Stauungshyperämie  wird  bei  akuten  Infektionen  und  ihren 
Folgen  im  Gegensatz  zur  Tuberkulose  gewöhnlich  20 — 22  Stunden 
täglich  unterhalten,  während  der  übrigbleibenden  2 — 4  Stunden 
wird  das  Glied  hochgelagert,  um  das  gewaltige  Ödem, 
das  die  Stauungsbinde  erzeugt  hat,  zu  vermindern.  Es 
ganz  fortzuschaffen,  gelingt  in  dieser  kurzen  Zeit  nicht.  Joseph i) 
hat  durch  direkte  Messung  bewiesen,  dass  trotz  Hochlagerung  das 
Ödem  grösstenteils  bestehen  bleibt.  Nach  der  2  bis  4 stündigen 
Pause  wird  die  Binde  wieder  angelegt,  um  neues  Ödem  an  Stelle 
des  abgezogenen  treten  zu  lassen.  Nur  selten  wenden  wir  das 
Verfahren  kürzere  Zeit  und  mit  längeren  Pausen  an.  Unter  8  bis 
10  Stunden  täglich  gehen  wir  nur  ganz  ausnahmsweise,  weil  uns 
die  Erfahrung  gezeigt  hat,  dass  eine  kürzere  Zeit  nicht  genügt  2). 

Die  kurzdauernde  Stauung  wird  überall  da  verwandt,  wo  die 
Örtlichkeit  uns  zwingt,  die  abschnürende  Binde,  beziehungsweise 
besonders  den  abschnürenden  Schlauch  immer  an  derselben  Stelle 
anzubringen,  wie  das  z.  B.  beim  Schultergelenke  der  Fall  ist.  Hier 
lässt  man,  wenn  lästige  Druckerscheinungen  auftreten,  den  Schlauch 
nicht  8 — 10  Stunden  in  einem  Stücke  liegen,  sondern  man  macht 
auch  zw^ischendurch  kurze  Pausen  und  wäscht  die  Stelle,  welche 
Druckspuren  trägt,  mit  Spiritus  ab. 

Aber  auch  sonst  gibt  es  Fälle,  wo  man  aus  besonderen  Gründen 
das  Normalverfahren  der  20 — 22  stündigen  Stauung  nicht  durch- 
führen kann.  Man  muss  eben  bei  diesem  Verfahren,  wie  bei  allen 
anderen,  zu  individualisieren  verstehen. 

1)  Joseph,    Einige    Wirkungen    des    natürlichen    Ödems    und    der    künst 
liehen  Ödenaisierung.    Münchner  med.  Wochenschr.  1905.    Nr.  40. 

2)  Vor  kurzem  hat  Frommer  (Wiener  klin.  Wochenschr.  1906.  Nr.  8)  kürzere 
Stauungsperioden  empfohlen,  womit  er  gute  Erfolge  hatte.  Ich  fing  auch  mit 
kurzdauernden  Stauiuigen  bei  akuten  Entzündungen  an,  fand  sie  aber  ungenügend. 
Ich  gebe  indessen  zu,  dass  neue  Versuche  hier  angezeigt  sind,  zumal  es  einen 
Fortschritt  bedeuten  würde,  wenn  man  mit  kürzeren  Staiivmgsperioden  auskäme. 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      295 

Auch  bei  akuten  Entzündungen  erfordert  die  Stauungshyper- 
ämie eine  sehr  sorgfältige  Technik,  wenn  auch  lange  nicht  in 
dem  Masse,  wie  die  früher  von  uns  geübte  lange  Stauung  bei  Tuber- 
kulose. Auch  hier  soll  das  Verfahren  niemals  dem  Kranken  er- 
hebliche Unannehmlichkeiten  bereiten.  Im  Gegenteil,  die  Binde 
soll  bei  den  meist  schmerzhaften  Entzündungen  die  Schmerzhaftig- 
keit  lindern.  Abgesehen  vom  Schmerz  aber  soll  die  Stauungsbinde 
bei  den  wirklich  akuten  Fällen  eine  Vermehrung  der  Entzündung 
hervorbringen,  die  ich  für  den  natürlichen  Heilungsvorgang  halte, 
und  deren  Verstärkung,  nicht  aber  Verminderung  angezeigt  ist. 
Deshalb  nehmen  auch  während  des  Liegens  der  Binde  von  den 
Entzündungserscheinungen  Röte,  Odem  und  Schwellung  bedeutend 
zu,  lymphangitische  Stränge  röten  sich  stärker,  ja,  zuweilen  wird 
das  ganze  Glied  bis  an  die  Binde  heran  rot.  Mit  der  fortschrei- 
tenden Heilung  vermindern  sich  diese  Entzündungssymptome  ein- 
schliesslich der  Schwellung,  selbst  wenn  die  Binde  unverändert 
weiter  getragen  wird.  Es  ist  das  ein  Zeichen  dafür,  dass  die 
Schädlichkeit,  die  den  ,, Entzündungsreiz"  abgibt,  überwunden  ist, 
d.  h.  also  mit  anderen  Worten  ein  Zeichen  der  Besserung  oder 
Heilung  des  Leidens.  Nehmen  dagegen  die  Entzündungserschei- 
nungen dauernd  zu  oder  bleiben  sie  bestehen,  so  liegt  ein  Abscess 
vor,  der  gespalten  werden  muss. 

Bessert  sich  das  Leiden  unter  der  Behandlung,  so  geht  man 
mit  der  Dauer  der  Stauung  mehr  und  mehr  herunter,  bis  die  Binde 
schliesslich  nur  eine  bis  mehrere  Stunden  täglich  getragen  wird. 
Man  soll  sie  nicht  zu  früh  ablegen,  weil  wir  es  häufig  erlebt  haben, 
dass  dann  das  Leiden  sich  wieder  verschlimmerte,  eine  Erfahrung, 
die  von  anderer  Seite  (Habs,  Stich)  bestätigt  ist. 

Die  Stauungshyperämie  soll  keine  Störung,  sondern  eine  Ver- 
besserung der  Ernährung  sein.  Das  geht  schon  daraus  hervor,  dass 
sie  häufig  Nekrosen  in  Fällen  vermeidet,  wo  sie  bei  unserer  anti- 
phlogistischen Behandlung  die  durchgehende  Regel  waren.  Das 
Verfahren  soll  also  nur  den  venösen  Rückfluss,  nicht  aber  den 
arteriellen  Zufluss  behindern.  Bei  akuten  Entzündungen  soll  also 
das  Glied  keine  stärkere  Blaufärbung  zeigen,  es  muss  warm  bleiben 
und  der  Puls  stets  gut  zu  fühlen  sein. 

Ich  möchte  in  dieser  Beziehung  den  Blutstrom  vergleichen  mit 
einem  Bach,  der  eine  Wiese  durchfliesst  und  zahlreiche  Bewässe- 
rungsgräben in  die  Wiese  abgibt.  Bringt  der  Landmann  ein  Wehr 
unterhalb  der  Wiese  im  Bache  an,  so  hört  anfangs  der  Abfluss  des 


296  Spezieller  Teil. 

Wassers  auf  und  die  Wiese  wird  überschwemmt.  Ist  dies  aber  ge- 
schehen, so  fhesst  gerade  soviel  Wasser  zu  und  ab  wie  vordem, 
trotzdem  aber  bleibt  die  Wiese  überschwemmt.  Das  Wehr,  das  wir 
bei  akuten  Entzündungen  im  ableitenden  Teile  des  Blutstromes 
anbringen,  ist  die  Stauungsbinde.  Zufluss  und  Abfluss  bleiben  sich 
schliesslich  gleich  oder  annähernd  gleich,  nichtsdestoweniger  aber 
überschwemmen  wir  die  Gewebe  mit  Blut,  beziehungsweise  mit 
Blutbestandteilen. 

Hin  und  wieder  treten  Blasen  an  den  der  Stauungshyperämie 
unterworfenen  entzündeten  Teilen  auf.  Dann  ist  gewöhnlich  die 
Binde  zu  fest  angezogen,  oder  es  ist  ein  Abscess  vorhanden,  der 
gespalten  werden  muss. 

Ich  habe  mich  nie  gescheut,  die  Stauungsbinde  über  lymph- 
angitische  Stränge  zu  legen;  gewöhnlich  bessert  sich  die  Lymph- 
angitis  und  Lymphadenitis  auch  zentralwärts  von  der  Binde,  weil 
sie  das  Grundleiden  günstig  beeinflusst  und  ausserdem  die  Resorp- 
tion der  Bakterien  und  ihrer  Gifte  vermindert. 

Die  Binde  wird  womöglich  nicht  zu  nahe  am  Entzündungs- 
herde angelegt,  z.  B.  ist  es  fehlerhaft,  sie  bei  Entzündungen  der 
Finger  an  der  Wurzel  des  Fingers  anzulegen,  sie  wird  am  Unter- 
oder besser  noch  am  Oberarm  angebracht.  Ferner  soll  bei  schweren 
akuten  Krankheiten  unter  allen  Umständen  Bettruhe  beobachtet 
werden. 

Der  peripher  vom  Entzündungsherde  liegende  Gliedabschnitt 
wird  nicht  eingewickelt.  Das  ganze  Verfahren  besteht  also  im  ein- 
fachen Umlegen  einer  Gummibinde. 

Jedesmal,  nachdem  die  Binde  10 — 11  Stunden  gelegen  hat, 
wird  sie  an  eine  andere  Stelle  gesetzt,  damit  sie  nicht  Druck  her- 
vorruft. Legt  man  sie  tiefer  an,  so  muss  sie  häufig  nach  einiger 
Zeit  fester  gezogen  werden,  weil  sie  sich  durch  Wegrücken  des 
Stauungsödems  sonst  lockert.  Bei  zarter  Haut  unterfüttert  man 
sie  mit  einigen  Gängen  einer  weichen  Mullbinde,  sonst  entstehen 
zuweilen  Blasen  am  Rande  der  Gummibinde.  In  solchen  Fällen 
wandten  wir  mit  Nutzen  den  im  allgemeinen  Teil  beschriebenen 
Henle'schen  Schlauch  an,  der  mit  Luft  aufgeblasen  wird  und 
schonender  ist  als  die  Binde. 

Sehr  wichtig  ist  es  gerade  bei  akuten  Eiterungen,  alle  Ver- 
bände während  der  Stauung  sehr  locker  anzulegen;  denn 
schon  ein  geringer  Bindendruck  genügt,  um  das  Eintreten  der 
Hyperämie  und  der  Schwellung  am  Infektionsorte  zu  verhindern. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an   d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      297 

An  den  Gliedern  bedienen  wir  uns  zum  Befestigen  der 
Verbandstoffe  meist  locker  umgelegter  Handtücher,  die 
mitNadeln  zusammengesteckt  werden.  Sie  sind  nach  allen 
Richtungen  hin  viel  praktischer  als  Bindenverbände,  er- 
lauben die  stärkste  Anschwellung  der  gestauten  Glieder 
und  lassen  sich  schonend  und  ohne  Schmerzen  anlegen 
und  abnehmen. 

In  der  nächsten  Zeit  nach  dem  Anlegen  der  Binde  muss  man 
mehrmals  nachsehen,  ob  sie  weder  zu  fest  noch  zu  lose  sitzt,  und 
ob  man  den  richtigen  Grad  der  Stauung  herausbekommen  hat. 
Nach  einigen  Tagen  geben  die  Patienten  selbst  an,  ob  die  Binde 
richtig  angezogen  ist.  Es  ist  die  Schwäche  des  Verfahrens,  dass 
die  Stauungshyperämie  auf  das  sorgfältigste  dosiert  werden  muss; 
zu  schwach  angewandt,  nützt  sie  nichts,  zu  stark,  schadet  sie. 
Deshalb  soll  sie  auf  das  peinlichste  überwacht  werden.  Die  grösste 
Aufmerksamkeit  ist  in  den  ersten  Tagen  nötig.  Denn  ich  habe  die 
Überzeugung,  dass  das  Schicksal  der  Entzündungen  und  Eiterungen 
vor  allem  in  den  ersten  Tagen  durch  die  Stauungsbinde  ent- 
schieden wird.     Zum  Beweise  dafür  führe  ich  folgenden  Fall  an: 

16.  Ein  Sjähriger  Knabe  erkrankte  am  23.  Februar  1904  plötzlich 
mit  einer  heftigen  Entzündung  in  der  Gegend  des  rechten  Schultergelenks. 
Am  1.  März  wurde  er  aufgenommen.  Der  ganze  rechte  Arm  war  ödematös 
geschwollen,  besonders  die  Schultergelenksgegend.  Das  Gelenk  war  gänz- 
lich steif,  bei  allen  Bewegungsversuchen,  die  sehr  schmerzhaft  waren, 
ging  das  Schulterblatt  mit.  An  der  Vorderseite  des  Gelenks  und  dem 
obersten  Teil  des  Oberarms  war  Fluktuation  zu  fühlen.  Dort  wurde  ein 
2  cm  langer  Einschnitt  gemacht.  Es  entleerten  sich  30 — 40  ccm  Eiter. 
In  der  Höhle  lag  rauher  Knochen  vor,  der  an  der  vorderen  und  inneren 
Seite  vom  Periost  entblösst  war.  Das  Schulter gelenk  war  offen,  bei  Be- 
wegungen entleerte  sich  sehr  reichlicher  Eiter  aus  ihm.  Auch  von  unten 
her  entleerten  sich  beim  Streichen  nach  der  Wunde  zu.  noch  etwa  20  ccm 
Eiter.  Es  wurde  nach  Möglichkeit  mit  Kochsalzlösung  aus- 
gespült, und  die  kleine  Wunde  wurde  durch  eine  Silberdraht 
naht  geschlossen.  Es  wurde  ein  Stauungsschlauch  ober- 
halb des  Schultergelenks  angelegt.  Er  wurde  täglich 
10  Stunden  getragen.  Leider  musste  die  Stauungshyperämie 
schon  nach  3  Tagen  ausgesetzt  werden,  weil  der  Schlauch 
in  der  Achselhöhle  einen  breiten  Dekubitus  der  Haut  ver-  Tafel  I. 

tirsacht  hatte.  Im  übrigen  hatte  die  in  stärkster  Form  auf- 
tretende Stauungshyperämie  trotz  der  kurzen  Anwendung  und  obwohl 
die  grosse  Eiterhöhle  durch  Naht  wieder  geschlossen  war,  sofort  das 
ganze  Krankheitsbild  geändert.  Das  Fieber  war  und  blieb  schon  36  Stunden 
nach  der  Einleitung  des  Verfahrens  geschwunden  (siehe  Tafel  I),  ebenso 
Hessen  die  vorher  heftigen  Schmerzen  sofort  nach.     Der  Knabe  musste  aus 


298  Spezieller  Teil. 

äusseren  Gründen  mit  noch  nicht  verheilter  Dekvibitus wunde  entlassen  werden. 
An  Stelle  der  Schnittwunde  hatte  sich  eine  Fistel  gebildet,  2  andere  Fisteln 
waren  in  die  Achselhöhle  durchbrochen;  alle  3  entleerten  spärlichen  Eiter. 

Am  18.  Juli  wurde  der  Knabe  wieder  aufgenommen,  weil  die  Fisteln 
noch  bestanden  und  der  Dekubitus  nicht  heilen  wollte.  Die  Fisteln  wurden 
in  Narkose  verfolgt.  Sie  führten  auf  den  Knochen,  der  vom  Periost  be- 
deckt war  und  nirgends  eine  Nekrose  zeigte.  Sie  wurden  ausgeschabt  und 
heilten  schnell.  Der  Dekubitus  aber  heilte  nicht  aus,  hauptsächlich  wohl, 
weil  dauernd  mit  dem  Schultergelenke,  welches  zu  versteifen  drohte,  passive 
Bewegungen  vorgenommen  wurden.  Deshalb  wurde  das  Dekubitusgeschwür 
am  23.  November  herausgeschnitten,  und  die  Wundränder  wurden  durch 
die  Naht  vereinigt.    Die  Wunde  heilte  per  primam. 

Der  Knochen  ist  ohne  Nekrose,  das  Gelenk  mit  voller  Beweglichkeit 
ausgeheilt. 

Obwohl  hier  wegen  des  Dekubitus  die  Stauungshyperämie  nur  3  Tage 
angewandt  werden  konnte,  brachte  sie  doch  eine  sehr  vollständige  Heilung 
ohne  Knochennekrose  und  ohne  Gelenkversteifung  hervor,  weil  sie  während 
der  kurzen  Zeit  ihrer  Anwendimg  eine  gewaltige  entzimdliche  Schwellung 
und  Rötung  verursacht  hatte. 

Ich  mache  bei  Anwendung  der  Stauungshyperämie  immer  wie- 
der die  Erfahrung,  dass  sich  die  Resultate  mit  dem  Wechsel  des 
Assistenten,  ja  der  Schwester  ändern.  Deshalb  soll  man  für  ein 
so  delikates  Verfahren  nur  sehr  zuverlässiges  Personal  auswählen. 
Vor  allem  rate  ich  den  mit  dem  Verfahren  noch  nicht  vertrauten 
Ärzten,  anfangs  nur  die  prognostisch  besseren  Fälle,  nämlich: 
1.  alle  ganz  frischen  akuten  Entzündungen  jederart,  2.  sub- 
akute  und  milde  entzündliche  Erkrankungen,  auch  wenn  sie  schon 
länger  bestehen,  3.  gonorrhoisch,  pyämisch  und  akut  vereiterte 
Gelenke  in  Angriff  zu  nehmen,  bevor  sie  zu  den  schwerer  zu  be- 
handelnden vorgeschritteneren  Sehnenscheidenphlegmonen  und 
Osteomyelitiden  übergehen.  Wagt  man  sich,  ungenügend  technisch 
vorgebildet,  gleich  an  diese  schwierigen  Fälle,  so  werden  Misserfolge 
und_  Verschlimmerungen  wohl  kaum  ausbleiben,  die  man  dann  dem 
Verfahren  zuschreibt,  während  in  Wirklichkeit  doch  die  eigene  Un- 
kenntnis schuld  war.  Besonders  lebensgefährliche  vorgeschrittene 
Eiterungen  sollte  der  Unkundige,  bevor  er  sich  von  der  Richtigkeit 
und  der  gesunden  Logik  des  Prinzips  nicht  überzeugt  hat,  nicht 
damit  behandeln.  Denn  ich  weiss,  mit  welchem  Widerwillen  und 
mit  welchem  Vorurteil  die  meisten  Fachgenossen  an  die  Stauungs- 
hyperämie  herangehen,  und  ich  fürchte,  man  wird  geneigt  sein, 
üble  Ausgänge,  die  in  der  Natur  der  Sache  liegen  können,  dem 
Verfahren  aufzubürden.  Denn  selbstverständlich  wird  es  schwere 
akute  Infektionen  immer  geben,  die  zu  Amputationen  der  Glieder 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      299 

und  zum  Tode  führen,  trotz  Stauungshyperämie.  Es  ist  unbillig, 
von  einem  Mittel  zu  verlangen,  dass  es  alles  heilt;  deren  gibt  es 
keins  und  wird  es  keins  geben. 

Deshalb  betonte  ich  in  meinen  früheren  Veröffentlichungen  über 
diesen  Gegenstand,  dass  das  Verfahren  einstweilen,  bevor  nicht  eine 
reichliche  Erfahrung  gesammelt  sei,  sich  nicht  für  die  allgemeine  ärzt- 
liche Praxis  eigne,  sondern  vorderhand  lediglich  von  Kollegen  nach- 
geprüft werden  sollte,  welche  ein  Krankenhaus  zur  Verfügung  haben. 

Inzwischen  aber  sind  mir  gerade  aus  dem  Kreise  der  prakti- 
schen Ärzte  so  begeisterte  schriftliche  und  mündliche  Mitteilungen 
über  glänzende  Erfolge  bei  Sehnenscheidenphlegmonen  und  ver- 
eiterten Gelenken  zugegangen,  dass  ich  diese  Forderung  nicht  mehr 
streng  aufrecht  erhalten,  sondern  lediglich  den  Rat  geben  möchte, 
dass  nur  chirurgisch  erfahrene  Ärzte  das  Verfahren  ausüben  sollten 
und  diese  auch  nur  dann,  wenn  sie  den  Kranken  dauernd  im  Auge 
behalten  können. 

So  haben  wir  denn  auch,  ebenso  wieDanielsen  und  Jeru- 
salem gute  Erfolge  bei  ambulanter  Behandlung  gehabt,  die  aller- 
dings mit  grosser  Vorsicht  ausgeführt  werden  muss.  Schwere 
Fälle  lassen  wir  immer  in's  Krankenhaus  aufnehmen. 

Gerade  bei  den  akuten  Entzündungen  und  Eiterungen  haben 
wir  in  der  Schmerzlinderung,  die  fast  regelmässig  und  gewöhnlich 
sehr  schnell  auftritt,  einen  guten  Massstab  für  die  Richtigkeit  des 
Verfahrens.  Am  auffallendsten  beobachtet  man  dies  bei  den  sehr 
schmerzhaften,  akut  vereiterten  Gelenken  und  bei  Sehnenscheiden- 
phlegmonen. Wer  in  antiphlogistischen  Anschauungen  befangen 
ist  und  sich  nicht  mit  der  Logik  unseres  Verfahrens  vertraut  ge- 
macht hat,  kann  einen  Schrecken  bekommen,  wenn  er  das  mächtig 
angeschwollene  und  feurig  entzündete,  gestaute  Glied  sieht.  Der 
Kranke  aber  ist  in  der  Regel  sehr  zufrieden  mit  dem  Mittel,  weil 
es  ihm  die  Schmerzen  beseitigt.  Ganz  gewöhnlich  erklären  die 
Kranken,  dass  sogar  in  den  kurzen  Zwischenpausen,  wo  die  Binde 
entfernt  wird,  sich  die  Schmerzen,  wenn  auch  in  viel  geringerem 
Grade,  wieder  einstellen. 

Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  es  nicht  seltene  Fälle  gibt, 
die  diesen  Nachlass  der  Schmerzen  nicht  sofort  zeigen,  sondern 
im  Gegenteil  zunächst  eine  Steigerung  derselben  aufweisen.  Das 
findet  man  bei  den  verschiedensten  Krankheiten,  besonders  aber 
bei  gonorrhoischen  Gelenkentzündungen.  Wie  dem  zu  begegnen 
ist,  werde  ich  bei  Gelegenheit  der  Besprechung  der  letzteren  aus- 


300  Spezieller  Teil. 

einandersetzen.  Ganz  verkehrtistindessen  der  Rat  Arnsperger'si), 
nach  2  Stunden  die  Stauung  als  erfolglos  aufzugeben,  wenn  sie  nicht 
die  Schmerzen  in  dieser  Zeit  beseitigt  oder  gemildert  hätte.  Wären 
wir  diesem  Grundsatze  gefolgt,  so  wäre  uns  mancher  gute  Erfolg 
vereitelt.  Es  ist  dies  ein  Rat,  den  ich  früher  für  die  Behandlung 
gonorrhoischer  Gelenke  gab,  den  ich  aber  längst  als  falsch  auf- 
gegeben habe. 

Bei  akut  entzündeten  Gelenken  und  bei  Sehnenschei- 
denphlegmonen  werden  grundsätzlich  Bewegungen  vor- 
genommen, sobald  das  Schwinden  der  Schmerzen  dieses  gestattet, 
um  eine  gute  Funktion  der  erkrankten  Glieder  herbeizuführen. 
Ich  werde  das  bei  den  betreffenden  Krankheiten  noch  genauer 
schildern.  Unsere  bisherigen  chirurgischen  Eingriffe  nahmen  auf 
diesen  Punkt  viel  zu  wenig  Rücksicht.  Im  Vordergrunde  stand 
die  Sorge  um  die  Erhaltung  des  Gliedes  und  des  Lebens. 

Ich  will  dies  Kapitel  über  die  Technik  der  Stauungshyperämje 
bei  akuten  Entzündungen  nicht  verlassen,  ohne  nochmals  darauf 
hinzuweisen,  dass  sie  ganz  anders  ist,  als  bei  der  Tuberkulose, 
nämlich : 

Bei  der  Tuberkulose  soll  kurz  dauernde  Stauung  an- 
gewandt werden  und  kein  Odem  entstehen,  bei  der  akuten 
Entzündung  gerade  umgekehrt.  Hier  wünschen  wir  ein  mög- 
lichst starkes  feuriges  Ödem.  Nur  vergesse  man  nicht,  in  den 
Stauungspausen  die  Glieder  hochzulegen,  damit  ein  Teil 
des  Ödems  abzieht.  Denn  wir  wünschen  einen  Wechsel  des 
Ödems,  wir  wollen  nachher  frisches  an  Stelle  des  alten  treten 
lassen.  Es  wirklich  ganz  in  den  kurzen  Stauungspausen  zum  Ver- 
schwinden zu  bringen,  gelingt  allerdings  nie  und  ist  auch  nicht 
nötig.  Zieht  sich  die  Krankheit  sehr  lange  hin,  und  ist  man 
deshalb  gezwungen  Wochen  lang  die  Dauerstauung  in  der  be- 
schriebenen Weise  fortzusetzen  (ein  seltener  Fall!),  so  muss  man 
hin  und  wieder  durch  halb-  bis  ganztägige  steile  Hochlagerung 
für  das  gänzliche  Abschwellen  der  Glieder  Sorge  tragen  und  erst 
dann  die  Stauungshyperämie  wieder  anwenden. 

Ödem  tritt  in  viel  beschränkterem  Maasse  ein,  wenn  grössere 
Wunden  vorhanden  sind.  Es  fliesst  alsdann  nach  aussen  ab. 
Diese  Verhältnisse  finden  sich  besonders,  wenn  wir  die  später 
noch    zu    erwähnende   prophylaktische    Stauung    bei    infektions- 

1)  Arnsperger ,  Erfahrungen  mit  Bier'scher  Stauung  bei  akuten  Eiterungen. 
Münchner  med.  Wochenschr.  1905.     S.  2540. 


Behandl.  aktit.  Entzünd.  ti.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      301 

verdächtigen  Wunden  ausführen.  In  solchen  Fällen  kann  man 
die  Gummibinde  häufig  mehrere  Tage  ohne  Unterbrechung  liegen 
lassen.  Das  ist  aber  nur  dann  gestattet,  wenn  der  Kranke  sich 
dabei  durchaus  behaglich  fühlt i). 

Unterdrückung  beginnender  Eiterungen  durch  Stauungs- 
hyperämie. 

In  früheren  Arbeiten  von  mir,  ebenso  wie  unter  den  weiter 
unten  aufgeführten  Krankengeschichten  wird  man  Fälle  von  Unter- 
drückungen beginnender  Eiterungen  durch  Stauungshyperämie 
finden.  Ich  führe  als  weitere  Beispiele  5  Fälle  von  ganz  frischen 
pyämischen  Metastasen  an,  die  ich  unter  meinen  Augen  entstehen 
sah.  Ich  bemerke  vorweg,  dass  es  sich  in  allen  Krankengeschichten, 
sofern  es  nicht  ausdrücklich  anders  bemerkt  ist,  bei  Angabe  der 
Temperaturen  um  Achselhöhlenmessungen  handelt. 

17.  Bei  einer  60jährigen  Frau  hatte  ich  am  4.  Februar  1904  ein 
fast  inoperables  Mastdarnikarzinom  reseziert.  Die  Wunde  eiterte  stark 
und  lange.  Am  3.  April  stellte  sich  unter  Schüttelfrost  und  Temperatur- 
steigerung auf  39,4°  eine  pyämische  Metastase  im  linken  Handgelenk  ein. 
Das  Gelenk  war  stark  gerötet,  geschwollen  und  äusserst  rjjy  g  9  10  11  12 
empfindlich.  Es  wiu-de  sofort  Stauungshyperämie  an- 
gewandt \ind  20  Stunden  täglich  unterhalten.  Die 
Schmerzhaftigkeit  liess  schnell  nach,  und  am  11.  April 
bereits  war  die  Krankheit  spiirlos  verschwmiden,  die 
Temperatur  zur  Norm  gesunken  und  die  Stauungs- 
hyperämie wm-de  ausgesetzt.  Die  in  Betracht  kommende 
Temi^eratvir  gibt  Tafel  II  wieder. 

18.  Eine  42  jährige  Frau  wurde  am  30.  Juni  1903 
der  IvUnik  mit  einer  schweren  Phlegmone  der  linken 
Hand  und  des  linken  Vorderarmes  eingeliefert,  die  am 
3.  Juli  die  Amputation  des  Armes  notwendig  machte,  weil  das  Allgemein- 
befinden schwer  gestört  war,  die  Eiterung  trotzausgiebiger  Spaltungen  vor- 
wärts ging,  septische  Durchfälle  sich  einstellten  und  eine  pyämische 
Metastase  im  Phalangometakarpalgelenk  des  rechten  Daumens  unter  sehr 
starken  Entzündungserscheinungen  entstand.  Es  WTirde  sofort  gegen  die 
letztere  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Schon  am  7.  Juli  war  die  Meta- 
stase fast  vollständig  zurückgebildet  und  nach  6tägiger  Anwendung  des 
Mittels  spurlos  verschwunden.  Die  hohe  Temperatvu'  und  ihr  Abfall  war 
natürlich  in  erster  Linie  abhängig  von  der  schweren  Phlegmone  des 
linken  Armes  und  dessen  Amputation,  so  dass  sie  sich  für  unsere  Zwecke 
nicht  verwerten  lässt. 


Tafel  IL 


1)  Die    Behandlung    akuter  Eiterungen    mit  Stauungshyperämie    von    mir 
beschrieben  in  Münchner  med.  Wochenschr.  1905.    Nr.  5,  6  u.  7. 


302  Spezieller  Teil. 

19.  Ein  24jähriger  Lederarbeiter  wurde  am  19.  Dezember  1904  mit 
einem  tiefen  Abscesse  in  der  Gegend  des  Hüftgelenks  liochfiebernd  und 
in  sehr  elendem  Zustande  aufgenommen.  Am  Morgen  des  20.  Dezember 
klagte  er  über  plötzlich  entstandene  Schmerzen  im  linken  Ellbogengelenk, 
die  tagsüber  zunahmen.  Gleichzeitig  erfolgte  eine  noch  höhere  Steigerung 
der  Temperatur.  Am  Naclimittag  war  das  Gelenk  leicht  geschwollen  und 
rechtwinklig  gebeugt.  Der  leiseste  Versuch,  das  Gelenk  aus  dieser  Stellung 
zu  bringen,  verursachte  die  heftigsten  Schmerzen.  Des  Abends  um  7  Uhr 
wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Es  trat  eine  so  mächtige  Schwellung 
der  ganzen  Gelenkgegend  ein,  wie  man  sie  nur  bei  sehr  akut  entzünd- 
lichen Krankheiten  beobachtet.  Am  anderen  Morgen,  nachdein  die  Binde 
13  Stunden  lang  gelegen  hatte,  war  das  Leiden  des  Ellbogengelenks  so 
gut  wie  beseitigt.  Aktive  Bewegungen  führte  der  Kranke  in  annähernd 
normalen  Grenzen  ohne  jede  Eixipfindlichkeit  aus;  äusserste  passive 
Streckung  und  Beugung  verursacht  noch  geringe  Schmerzen.  Die  Stauimgs- 
hyperämie  wtu'de  noch  bis  zum  23.  Dezember  angewandt.  Am  21.  Dezember 
wurde  im  Ätherrausch  der  Abscess  der  Hüfte  gespalten.  Er  entleerte 
etwa  %  Liter  blutig  gefärbten  Eiter.  Ziuii  Schluss  wurde  ein  finger- 
langer, gabiig  geteilter  Thrombus  zutage  gefördert,  der  erweicht  und 
teilweise  eitrig  eingeschmolzen  war.  Die  Entleerung  des  Thrombus  war 
von  einer  starken  venösen  Blutung  gefolgt,  die  auf  Tamponade  stand. 

Der  Fieberverlauf  ist  für  unseren  Zweck  ohne  Interesse,  weil  er  in 
erster  Linie  von  dem  schweren  Grundleiden  beeinflusst  ist. 

20.  Ein  35 jähriger  Bäcker  suchte  am  5.  Mai  1904  die  chirurgische 
Klinik  auf  wegen  einer  schweren  Eiterung  sämtlicher  Nebenhöhlen  der  Nase, 
wegen  der  er  schon  38  mal  ohne  Erfolg  operiert  war.  Am  14.  Mai  wurde 
er  von  neuem  nach  Kill i an  operiert.  Nach  der  Operation  trat  schwere 
Eiterung  ein,  und  der  Kranke  fieberte.  In  der  Nacht  vom  23.  zum  24.  Mai 
entstand  plötzlich  unter  sehr  heftigen  Schmerzen  und  unter  Steigerung  der 
Temperatur  —  die  in  den  vorhergehenden  Tagen  zwischen  38,6°  und  38,9° 
geschwankt  hatte  —  auf  39,5°  eine  pyämische  Metastase  im  linken  Ell- 
bogengelenk, die  sich  iinter  9  Tage  lang  unterhaltener  Stauungshyperämie 
vollständig  zurückbildete.  Auch  hier  ist  für  vmsere  Zwecke  der  Verlauf 
der  Temperatur  nicht  zu  verwerten,  weil  sie  ausserdem  durch  die  primäre 
Eiterung  beeinflusst  wm-de. 

In  diesen  vier  Fällen  von  sehr  schmerzhaften  pyämischen  Ge- 
lenkmetastasen fiel  das  sofortige  Nachlassen  der  Schmerzen  und 
die  schnelle  Unterdrückung  aller  übrigen  Entzündungserscheinungen 
nach  kurzer  gewaltiger  Steigerung  derselben  durch  die  Stauungs- 
hjrperämie  sehr  in  die  Augen.  Alle  4  Gelenke  sind  so  vollständig 
geheilt,  dass  auch  der  sorgfältigste  Untersucher  nicht  die  geringste 
Spur  von  der  überstandenen  Krankheit  nachzuweisen  imstande  ge- 
wesen wäre.  Die  längste  Zeit,  um  die  volle  Funktion  ohne  jede 
Einschränkung  wieder  herzustellen,  betrug  (im  Falle  20)  9  Tage. 

Nicht  ganz  so  glücklich  waren  wir  in  dem  folgenden  Falle. 
Hier  gelang  es  uns  nicht,  die  Eiterung  zu  unterdrücken.     Nichts- 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      303 

destoweniger  war  der  Verlauf  der  Krankheit  ganz  auffallend  schnell 
und  günstig: 

21.  Ein  16  jähriger  Knabe  erhielt  am  1.  August  1904  einen  Schuss  in 
den  Bauch,  der  die  Laparatomie  und  Darnmaht  nötig  machte.  Es  entstand 
eine  Kotfistel,  und  es  schloss  sich  eine  schwere  Infektion  an.  Am  5.  August 
bekam  der  Knabe  eine  schwere  Entzündung  der  linken,  am  6.  eine  eben- 
solche der  rechten  Parotis  mit  sehr  starker  Schwellung  und  Schmerzhaftig- 
keit  und  vmter  hoher  Temperatvirsteigerung.  Es  traten  mehrfach  Schüttel- 
fröste auf.  Vom  6.  August  ab  wurde  eine  Stauungsbinde  um  den  Hals 
gelegt  und  tagsüber  getragen,  des  Nachts  entfernt.  Am  8.  August  brach 
auf  beiden  Seiten  ein  Abscess  in  den  äusseren  Gehörgang  durch.  Vor 
beiden  Ohren  bildete  sich  noch  ein  Parotisabscess.  Am  17.  August  brach 
der  rechte  von  selbst  durch,  der  linke,  welcher  dicht  vor  dem  Diirch- 
bruch  stand,  wurde  durch  einen  kleinen  Einstich  entleert.  Beide  heilten 
in  weiteren  14  Tagen  spurlos  aus.  Von  der  ganzen  Krankheit  ist  nicht 
die  geringste  Entstellung  zurückgeblieben.  Nur  mit  Mühe  ist  die  kleine 
Narbe  aufzufinden,  die  von  dem  erwähnten  Einstiche  herrührte.  Einen 
ganz  gleich  verlaufenden  Fall  beobachtete  ich  vor  kvirzem. 

Die  Unterdrückung  solcher  beginnender,  akut  ent- 
zündlicher Infektionsherde  wird  wohl  immer  das  dank- 
barste Feld  für  die  Stauungshyperämie  bleiben.  Sie  ist, 
wie  mich  zahlreiche  Fälle  in  jetzt  mehr  als  11jährigen  Erfahrungen 
gelehrt  haben,  dafür  ein  geradezu  wunderbares  Mittel. 

Je  früher  die  Stauungshyperämie  bei  akut  entzündlichen 
Krankheiten  eingeleitet  wird,  um  so  besser  sind  die  Erfolge.  Leider 
bekommen  wir  die  Fälle  meist  zu  spät  in  Behandlung,  wenn  die 
Bakteriengifte  bereits  Nekrosen  gemacht  haben,  die  dann  natürlich 
nicht  mehr  wegzuschaffen  sind.  Ich  glaube,  dass  die  Stauungs- 
hyperämie in  Militärlazaretten  sehr  gute  Erfolge  aufweisen  könnte, 
weil  die  Soldaten  gezwungen  sind,  sich  gleich  zu  melden,  wenn  sie 
krank  sind.  Ich  verdanke  auch  einen  grossen  Teil  der  frischen 
Fälle,  die  ich  behandelte,  dem  verständnisvollen  Entgegenkommen 
der  Herren  Oberstabsärzte  Ger  deck  und  Oertel  in  Bonn. 

Vor  allen  Dingen  hat  sich  uns  die  Stauungshyperämie  in  ganz 
hervorragender  Weise  bewährt  bei  Operationswunden,  die  wir  selbst 
angelegt  hatten,  und  die  aus  irgend  einem  Grunde  infiziert  wurden. 
Wir  haben  in  zahlreichen  derartigen  Fällen  das  Verfahren  ange- 
wandt und  solche  Erfolge  erzielt,  dass  ich  glaube  behaupten  zu 
können,  dass  wir  damit  einen  ganz  erheblichen  Fortschritt  in  der 
Sicherheit  unserer  Wundbehandlung  gemacht  haben,  dem  keine 
andere  Methode  entfernt  an  die  Seite  zu  stellen  ist.  Ich  gebe  hier- 
für einige  Beispiele: 


304  Spezieller  Teil. 

22.  Ein  19 jähriger  Tagelöliner  hieb  sich  am  16.  November  1905  beim 
Holzhauen  mit  einem  Beile  über  den  linken  Handrücken.  Er  wurde  noch 
an  demselben  Tage  in  die  chirurgische  Klinik  eingeliefert. 

Auf  dem  linken  Handrücken  befand  sich  eine  schräg  verlaufende  Wunde, 
die  am  Metakarpophalangealgelenk  des  kleinen  Fingers  begann  ixnd  bis 
zur  Epiphyse  des  Radius  verlief.  Sämtliche  Strecksehnen  waren  durch- 
schnitten, alle  Karpalgelenke  eröffnet  und  die  Kjiochen  im  Verlauf  der 
Wunde  angeschlagen. 

Die  Sehnen  wm'den  mit  Catgut,  die  Hautwunde  mit  Seide  dicht  vernäht. 1) 
Am  20.  XI.  musste  wegen  hoher  Temperatiu*  (bis  39,2°,  Achselhöhle)  und 
heftiger  Schmerzen  der  Verband  gewechselt  werden.  Der  Handrücken  war 
stark  gerötet  imd  geschwollen,  zwischen  den  Nähten  quoll  auf  Druck  Eiter 
heraus.  Es  wurde  eine  Naht  gelöst  und  der  Eiter  nach  Möglichkeit  heraus- 
gedrückt. Dann  wurde  Stauungshyperämie  für  20  Stunden  täglich  an- 
gewandt, die  eine  enorme  Schwellung  hervorbrachte;  täglich  wurde  ein 
Verbandwechsel  vorgenoiximen  und  der  Eiter  ausgedrückt.  Die  Sclimerzen 
verschwanden,  und  die  Temperatxu'  fiel  rasch  ziir  Norm.  Die  Wunde 
heilte  bis  auf  eine  kleine  Stelle,  wo  die  Naht  entfernt  war,  per 
primam  intentionem.  Die  Sehnen  heilten  zusammen.  Ana  24.  I.  1906 
MTirde  der  Ivranke  mit  normal  beweglichen  Fingern  entlassen. 

23.  Bei  einem  42jährigen  Arbeiter  vereinigte  ich  am  26.  VI.  1905  die 
quergebrochene  Patella  durch  einen  rings  um  die  Bruchstücke  gelegten 
dicken  Silberdraht  vmd  nähte  den  ebenfalls  zerrissenen  fibrösen  Streckapparat 
mit  Katgut  zusammen.  Die  Haut  wixrde  durch  dichte  Seidennähte  ver- 
einigt. 

In  der  Nacht  vom  28.  zum  29.  VI.  bekam  der  Kranke  Delirium 
tremens,  sprang  aus  dem  Bett,  riss  sich  den  Verband  ab  und  die  Haut- 
wunde zum  Teil  auseinander.  Das  Röntgenbild  zeigte,  dass  der  Silberdraht 
zerrissen  und  die  Bruchstücke  der  Patella  wieder  auseinandergewichen  waren. 
Es  wurde  deshalb  am  3.  VII.  von  neuem  die  Patellarnaht  in  derselben 
Weise  wie  am  26.  VI.  ausgefülirt.  Unter  hohen  Temperatursteigerungen 
und  schwerem  Krankheitsgefühl  vereiterte  das  Kniegelenk.  Es  wurden  nur 
einige  Hautnähte  entfernt,  das  Kniegelenk  aber  nicht  weiter  eröffnet.  Vom 
4.  bis  21.  VII.  wiu'de  das  vereiterte  Gelenk  mit  Stauungshyperäinie  be- 
handelt. Die  Temperatiu"  fiel  darnach  bald,  und  die  anfangs  massenhafte 
Eiterung  aus  dem  Gelenke  versiegte. 

Doch  heilten  die  Bruchstücke  der  Patella  gut  aneinander,  und  am  14.  X. 
wurde  der  Ivranke  nach  längerer  orthopädischer  Nachbehandlung  entlassen. 

Am  5.  III.  1906  bot  der  Verletzte  folgenden  Befund:  Die  Bruchstücke 
der  Kniescheibe  sind  fest  zusammengeheilt.  Das  Gelenk  ist  aktiv  in  massigen 
Grenzen,  passiv  im  Saugapparat  bis  etwas  über  ^  rechten  Winkel  zu 
bringen.  Voraussichtlich  "wird  die  ■weitere  Nachbehandking  noch  eine  bessere 
Beweglichkeit  des  Gelenks  erzielen. 

Hier  möge  auch  folgender  Fall  Platz  finden: 

24.  Ein  48  jähriger  Dienstmann  erHtt  am  9.  I.  1906  einen  Querbruch  der 
Kniescheibe  durch  Fall  auf  das  Knie.     Am  11.  I.  Moirde  er  in  die  chiriir- 


1 )  In  der  III.  u.  IV.  Auflage  dieses  Buches  wurde  irrtümlich  berichtet,  dass  aucli 
die  Sehnen  mit  Seide  genäht  seien  und  keine  einzige  Seidennaht  sich  ausgestossen  habe. 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      305 

gische  Klinik  aufgenommen.  Da  die  Bruclienden  nur  wenig  voneinander 
entfernt  standen  und  der  ganze  fibröse  Streckapparat  erhalten  war,  wiirde 
von  einer  Behandlung  mit  Naht  oder  Verband  abgesehen.  Um  den  Blut- 
erguss  zu  beseitigen,  wurde  das  Gelenk  täglich  eine  Stunde  in  den  Heiss- 
luftkasten  gebracht,  im  übrigen  wurde  es  von  vornherein  aktiv  und  23assiv 
bewegt.  Am  17.  I.  entzündete  sich  das  kranke  Knie  heftig.  Die  Tempe- 
ratvir  ging  staff  eiförmig  in  die  Höhe.  Die  Probepunktion  mit  der 
Pravaz  sehen  Spritze  ergab  Eiter,  der  Staphylokokken  in  Reinkultur 
enthielt.  Es  wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Das  Leiden  besserte 
sich  schnell,  vom  29.  I.  ab  war  die  Körpertemperatur  normal.  Am  28.  I. 
fördert  die  Probespritze  nur  blutig  gefärbtes  Serum  aus  dem  Gelenke  zu- 
tage, das  sich  als  völlig  steril  erwies.  Während  der  ganzen  Zeit  wurden 
vorsichtige  passive  Bewegungen  in  dem  vereiterten  Gelenke  vorgenomrhen. 

Am  8.  II.  war  das  Knie  abgeschwollen,  und  aktive  tmd  passive  Be- 
wegungen waren  in  fast  normaler  Ausdehnung  möglich.  Die  Stauungs- 
hyperämie wurde  ausgesetzt,  imd  statt  dessen  wurde  eine  täglich  einstündige 
Heissluftbehandlung  vorgenommen. 

Am  1.  III.  wurde  der  Kranke  mit  normal  funktionierendem  Gelenke 
entlassen. 

In  der  Nachbehandlung  infizierter  Wunden  spielt  auch  der 
Schröpf  köpf  eine  grosse  Rolle.  Nicht  selten  kommen,  besonders 
bei  Laparatomien,  die  sich  nicht  ganz  aseptisch  gestalten  lassen, 
aber  auch  zuweilen  bei  Radikaloperationen  von  Hernien  kleine 
milde  Infektionen  vor,  die  zur  Fistelbildung  führen.  Behandelt 
man  diese  nach  den  Regeln,  die  in  einem  späteren  Kapitel  über 
die  Anwendung  des  Schröpfkopfes  gegeben  werden,  so  schliesst 
sich  die  Fistel  meist  überraschend  schnell,  zuweilen  nach  einma- 
liger Anwendung.  Hat  man  Seidenfäden  verwandt,  so  saugt  sie 
der  Schröpfkopf  heraus,  oder  sie  heilen  sogar  trotz  der  Eiterung 
ein.  Ebenso  kann  man  infizierte  Wunden  des  Rumpfes  mit  sehr 
gutem  Erfolge  mit  dem  Schröpf  köpfe  behandeln. 

Diese  unsere  Beobachtungen  sind  auch  von  anderer  Seite  be- 
stätigt worden. 

Verwandlung  heisser  Abscesse  in  kalte. 

In  seltenen  Fällen  verwandelt  die  Stauungshyperämie  heisse 
Abscesse  in  kalte,  wie  folgende  Beispiele  zeigen: 

25.  Ein  7 jähriger  Knabe  kam  am  28.  Juli  1904  mit  einer  heftigen 
und  sehr  schmerzhaften  akuten  Entzündung  des  rechten  Unterschenkels  in 
die  Klinik.  Hauptrötung  und  -Schwellung  sassen  auf  der  Aussenseite  und 
nahmen  diese  gänzlich  ein.  In  der  Mitte  war  sehr  deutliche  Fluktuation 
vorhanden.  Die  Probepunktion  ergab  dickflüssigen  Eiter,  welcher  Staphy- 
lokokken enthielt.  Der  Abscess  wurde  absichtlich  nicht  gespalten,  sondern 
Bier,  Hyperämie  als  HeiluiiUel.  20 


306  Spezieller  Teil. 

es  WTirde  einfach  Stauungsliyperämie  eingeleitet.  Schon  am  30.  Juli  war 
der  Abscess  kalt  geworden.  Alle  Entzündungserscheinungen  waren  ver- 
schwunden, die  vorher  erhöhte  Temperatur  war  zur  Norm  gesunken.  Der 
Abscess  bestand  noch  in  alter  Ausdehnung  und  hatte  die  Haut  sehr  stark 
verdünnt.  Am  5.  August  brach  er  durch  vuid  entleerte  einen  1  cm  langen 
Dorn.  Aus  der  kleinen  Diirchbruchsöffnung  wau-de  der  Eiter  ausgedrückt, 
ohne  dass  die  Haut  weiter  gespalten  wurde.  Am  9.  August  war  alles  ver- 
heilt, und  der  Kranke  wurde  entlassen. 

Ein  Beispiel  für  das  Kaltwerden  eines  Streptokokkenabscesses 
unter  Stauungshyperämie  steht  mir  aus  neuerer  Zeit  nicht  zur 
Verfügung.  Ich  muss  deshalb  auf  einen  älteren  Fall  aus  dem 
Jahre  1901  zurückgreifen,  welchen  ich  an  anderer  Stelle i)  bereits 
ausführhch  beschrieben  habe: 

26.  Es  handelte  sich  um  einen  18jährigen  Schlachter,  welchen  ich  in 
Greifswald  beobachtete.  Er  wurde  am  14.  März  1901  wegen  einer  unge- 
wöhnlich schweren  akuten  Entzündimg  in  der  Gegend  des  rechten  Knie- 
gelenks aufgenommen.  Der  kranke  Gliedabschnitt  war  so  stark  geschwollen, 
dass  er  5  cm  melir  im  Umfang  mass  als  der  gesunde.  Es  bestand  daneben 
eine  heftige  Lymphangitis  am  Oberschenkel.  Die  Temperatur  war  sehr 
erhöht,  das  Allgemeinbefinden  stark  gestört.  Der  Kranke  delirierte  die 
erste  Nacht,  sprang  aus  dem  Bette  und  musste  bewacht  werden.  Am  anderen 
Morgen  wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Allgemeinerscheinungen, 
Krankheitsgefühl  luid  Fieber  schwanden  schnell  darunter  und,  was  iins 
hier  interessiert,  auch  die  Entzündungserscheinungen,  so  dass  schon  am 
18.  März  die  Stauungsbinde  entfernt  werden  konnte.  Aber  nach  Abziehen 
der  Schwellimg  fand  sich  luiterhalb  des  Kniegelenks  ohne  alle  Entzündungs- 
erscheinungen ein  Abscess,  der  gespalten  wurde  ixnd  schokoladenfarbigen 
Eiter  enthielt.  Aus  ilim  wurde  eine  Reinkultur  von  Streptokokken  ge- 
züchtet. 


Verschwinden  von  Abscessen  unter  Stauungshyperämie. 

27.  Ein  12jähriger  Knabe  wurde  am  23.  Juli  1904  aufgenommen. 
Man  fand  eine  heftige  karbunkelähnliche  Entzündung  am  Hinterhaupt  und 
am  Nacken.  Die  Haut  über  beiden  Hinterhauptbeinen  bis  zm"  Mitte  des 
Nackens  war  hart  infiltriert,  die  Umgebung  stark  ödematös  geschwollen 
und  sehr  druckempfindlich.  Imnitten  der  harten  Schwellung  war  eine 
walnussgrosse  weiche  Stelle.  Die  Probepiinktion  ergab  hier  dicken  Eiter, 
der  Staphylokokken  enthielt.  Der  Kopf  wurde  ganz  steif  und  vornüber- 
gebeugt gehalten.  Die  Körpertemperatur  war  kamxi  erhöht  (bis  37,9°  in 
der  Achselhöhle). 

Es  wurde  eine  Stauungsbinde  um  den  Hals  gelegt  und  tagsüber  ge- 
tragen. Schon  am  26.  Juli  war  der  Kopf  frei  beweglich  imd  die  kranke 
Stelle  schmerzlos.     Die  heisse  Entzündung  war  vollständig  kalt  geworden. 


1)  Verhandlungen   des    19.  Kongresses   für   innere   Medizin.      1901.     S.  219. 


Beliandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      307 

Eine  erneute  Probepimktion  am  28.  Juli  ergab  klares  Senxm.  Unter  fort- 
gesetzter Stauung  war  bei  der  Entlassung  am  2.  August  alles  Krankhafte 
einschliesslich  des  Abscesses  spurlos  verschwunden. 

28.  Ein  29 jähriger  Tagelöhner  erkrankte  8  Tage  vor  der  Aufnahme 
plötzlich  unter  Schüttelfrost  und  grossen  Schmerzen  an  der  Innenseite  des 
rechten  Unterschenkels. 

Am  22.  Januar  1904  wurde  er  bei  uns  aufgenommen  mit  einer  sehr 
heftigen  und  schmerzhaften  Entzündung  am  rechten  Unterschenkel,  dessen 
beide  obere  Drittel  ödematös  geschwollen  und  lebhaft  gerötet  waren.  Die 
Hauptschwellung  und-  rötung  sass  über  der  Innenfläche  des  Schienbeins,  sie 
war  auf  Druck  äusserst  empfindlich.  Der  Knochen  fühlte  sich  daselbst 
verdickt  an,  doch  war  im  Röntgenbilde  nichts  Abnormes  an  ihm  zu  ent- 
decken. Fluktuation  war  nicht  nachzuweisen.  Es  wurde  Stauungshyper- 
ämie 22  Stunden  täglich  angewandt.  Fieber,  Schmerzen  und  Schwellung 
gingen  in  einigen  Tagen  zurück  bis  auf  die  erwähnte  Gegend  am  Schien- 
bein. Hier  bildete  sich  deutlich  Fluktuation  aus,  welche  am  28.  I.  ihren 
Höhep\inkt  erreichte.     Ich   beabsichtigte,    den   hier   offenbar   vorhandenen 


211    22    23  24   25    26    27    28    29    30 


SSBa  ■■■  ■■  kviki  B'A?  ■■«■M  ■■  ^ 


Tafel  III. 


Abscess,  der  schon  zu  einer  Verdtmnung  der  Haut  geführt  hatte  und  unter 
Stauungshyperämie  kalt  geworden  war,  von  selbst  durchbrechen  zu  lassen, 
aber  er  bildete  sich  imter  fortgesetzter  Staumigshyperämie  schnell  wieder 
zurück  und  verschwand  nach  einigen  Tagen  vollständig.  Am  15.  IL  wurde 
der  Mann  völlig  gesund  entlassen.  Der  einzige  abnorme  Befimd  bestand 
in  einer  leichten  Verdickung  des  oberen  Schienbeinendes.  Über  den  Tem- 
peraturverlauf gibt  Tafel  III  Aufschluss. 

Weitere  Fälle  von  Verschwinden  heisser  Abscesse  werden  im 
Verlaufe  der  Arbeit  noch  beschrieben.  Ich  könnte  noch  mehr 
beginnende  Phlegmonen  und  Panaritien  aufführen,  wo  nach  all 
unserer  Erfahrung  Eiter  vorhanden  sein  musste,  die  aber  durch 
Stauungshyperämie  zurückgingen.  Indessen  kann  ich  hier  den 
strengen  Beweis,  dass  bereits  ausgesprochene  Eiterung  vorhanden 
war,  nicht  führen. 

Wir  sehen  also  bei  der  Anwendung  von  Stauungshyperämie 
auch  bei  Eiterung  der  Gliedmassen  ähnliche  Verhältnisse  eintreten, 
wie  wir  sie  von  anderen  Organen  bereits  kennen.  Wir  wissen, 
dass    die    appendizitischen   Abscesse    in   einer   grossen   Zahl   von 

20* 


308  Spezieller  Teil. 

Fällen  nach  einem  ursprünglich  heissen  Verlaufe  kalt  werden  und 
v"on  selbst  verschwinden.  Etwas  Ähnliches  beobachtet  man  in 
vielen  Fällen  von  Osteomyelitis.  Bemerkenswert  ist,  dass  diese 
Abscesse,  geradeso  wie  die  durch  Stauungshyperämie  beseitigten, 
nicht  selten  vor  dem  Verschwinden  sich  in  mehr  oder  weniger 
klares  Serum  verwandeln. 

Bauchfell  und  Knochenmark  haben  also  von  Natur  das  Ver- 
mögen, durch  eine  äusserst  heftige  ,, entzündliche  Reaktion"  die 
Infektion  zu  unterdrücken  und  bereits  gebildeten  Eiter  wieder  auf- 
zusaugen. Diese  Tätigkeit  können  wir  auch  anderen  Körperteilen, 
die  das  an  und  für  sich  in  der  Regel  nicht  fertig  bringen,  künstlich 
verleihen. 

Wenn  es  somit  auch  feststeht,  dass  man  zuweilen  schon  aus- 
gebildete Abscesse  ohne  blutigen  Eingriff  allein  durch  Stauungs- 
hyperämie zum  Verschwinden  bringen  kann,  so  ist  dies  doch 
keineswegs  die  Regel  und  soll  es  nicht  sein.  Denn  schliesslich  ist 
auch  die  Spaltung  des  Abscesses  nichts  als  die  Nachahmung  und 
Verbesserung  des  natürlichen  Heilungs Vorganges.  Die  Eiterung 
hat  im  allgemeinen  den  Zweck,  etwas  Fremdartiges  und  Schäd- 
liches aus  dem  Körper  zu  entfernen.  Im  grossen  und  ganzen  ent- 
ledigt sich  der  heisse  Abscess  dieser  Aufgabe  mit  rücksichtsloser 
Energie.  Er  bricht  schliesslich,  oft  auf  den  verschlungensten 
Wegen,  nach  aussen  durch  und  kennt  keine  Hindernisse.  Aber 
wir  wissen,  dass  dieser  Vorgang  häufig  nur  unter  den  schlimmsten 
Verwüstungen  in  den  Geweben  und  unter  grossen  Qualen  und 
Schädlichkeiten  für  den  Eiternden  stattfindet.  Was  aber  die  Natur 
in  langer  Zeit,  auf  Um-  und  Irrwegen,  unter  beträchtlichen  Ge- 
fahren und  Schmerzen  für  den  Kranken  erreicht,  das  leistet  der 
barmherzige  Schnitt,  der  die  hindernden  Gewebe  durchtrennt,  ge- 
fahrlos und  auf  dem  direkten  und  wenigst  verletzendem  Wege  in 
kürzester  Frist. 

Zudem  wissen  wir  ja,  besonders  aus  unseren  Erfahrungen  bei 
der  Appendicitis,  dass  es  für  die  Folgezeit  günstiger  ist,  einen 
heissen  Abscess  nach  aussen  zu  befördern,  als  ihn  der  Resorption 
und  der  Abkapselung  zu  überlassen. 

Ganz  abgesehen  davon  aber  zeigen  auch  einige  unserer  Beob- 
achtungen, dass  die  Unterlassung  der  rechtzeitigen  Entleerung  des 
Eiters  einen  Schaden  für  den  Kranken  bedeutete. 

Ich  möchte  also  hier  nicht  missverstanden  werden.  Unser 
Vorgehen,  sicher  nachgewiesene  Abscesse  zuweilen,  wenn 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      309 

dieKrankheitssymptome  es  gestatteten,nicht  ZU  spalten, 
hatte  lediglich  prinzipielle  Bedeutung.  Es  sollte  die  ge- 
waltige Wirkung  der  Stauungshyperämie  vor  Augen  führen.  Jedem 
anderen  rate  ich,  in  solchen  Fällen  unter  allen  Umständen 
zu  spalten. 

Nur  kommt  man  unter  diesem  Mittel  mit  viel  kleineren  und 
weniger  verstümmelnden  Schnitten  aus.  Sehr  sorgfältig  und  breit 
soll  man  dagegen  die  Abscesse  spalten,  wenn  schwere  Zirkulations- 
störungen vorhanden  sind.  Bei  den  Sehnenscheidenphlegmonen  be- 
vorzuge ich  mehrere  kleinere  Schnitte,  damit  die  Sehne  nicht  all- 
zusehr entblösst  wird  und  nicht  aus  ihrem  Fache  springt.  Viel- 
leicht wäre  es  auch  praktisch,  an  den  Fingern  die  von  mehreren 
Ärzten  schon  früher  empfohlenen  seitlichen  Schnitte  in  die  vereiterte 
Sehnenscheide  zu  machen. 

Stets  soll  man  auch  untersuchen,  ob  unter  der  Stauungshyper- 
ämie neue  Abscesse  entstehen,  und  sie  spalten,  sobald  sie  erkannt 
sind.  Fortdauer  der  Entzündungserscheinungen  und  des  Fiebers 
lassen  sie  vermuten. 

An  sich  hat  ja  die  Frage  der  Abscessspaltung  mit  der  Stauungs- 
hyperämie  nichts  zu  tun.  Wer  glaubt,  von  einem  Ende  bis  zum 
andern  spalten  zu  müssen,  kann  das  ausführen  und  doch  daneben 
Stauungshyperämie  einleiten.  Ich  habe  indessen  den  Versuch  ge- 
macht, im  allgemeinen  mit  kleineren  Schnitten  auszukommen,  die 
weniger  verstümmeln  und  mit  geringerer  Narbenbildung  ausheilen. 
Im  allgemeinen  ist  dieser  Versuch  sehr  gut  gelungen. 

Meine  Zurückhaltung  im  Operieren  entsprang  vor  allem  meinem 
von  Jahr  zu  Jahr  wachsenden  Widerwillen  gegen  die  hässlichen, 
häufig  sogar  wüsten  und  verstümmelnden  Operationen,  die  wir  bei 
schweren  phlegmonösen  Krankheiten  auszuführen  gezwungen  sind. 
Ich  hoffe  viel  zu  ihrer  Einschränkung  beigetragen  zu  haben  und  sie 
mit  der  Zeit  immer  mehr  und  mehr  einschränken  zu  können. 

Verhaltender  akuten  Eiterung  unter  Stauungshyperämie. 

Auf  die  offene  Eiterung  wirkt  die  Stauungshyperämie  sehr  ver- 
schieden, so  dass  sich  hier  eine  einheitliche  Regel  nicht  aufstellen 
lässt.  Zuweilen  werden  eiternde  Wunden  schnell  trocken.  In  der 
Regel  aber  vermehrt  die  Stauungshyperämie  die  Eiterung.  Sie 
führt  entweder  zu  massenhaftem  serösen  oder  zu  dickem  und 
rahmigem  Eiter.     Aber  auch  der  letztere  pflegt  bald  einer  ausser- 


y]^Q  Spezieller  Teil. 

ordentlich  reichen  serösen  oder  leicht  blutig-serösen  Ausscheidung 
Platz  zu  machen,  die  selbst  dicke  aufsaugende  Verbände  in  kurzer 
Zeit  durchfeuchtet. 

In  5  Fällen  beobachteten  wir,  dass  der  Eiter  unter  dem  Ein- 
fluss  der  Stauungshyperämie  anfing  zu  stinken  und  zuweilen  Gas- 
blasen abzusondern.  Der  Vorgang  war  in  allen  FäUen  so  gleich- 
artig, dass  es  kein  Zufall  sein  konnte.  Es  handelte  sich  immer  um 
schwere  Infektion,  die  indessen  durch  diese  Umwandlung  des  Eiters 
durchaus  nicht  verschlimmert  wurde.  Diese  Fälle  beobachtete 
ichim  Anfang  meiner  Versuche,  später  habe  ich  sie  nicht  mehr  gesehen. 

Der  Ablauf  der  Eiterung  pflegt  unter  Stauungshyperämie  sehr 
schnell  zu  erfolgen.  Sie  führt  zu  rascher  Abstossung  der  schon 
brandig  gewordenen  Gewebe  und,  was  viel  wichtiger  ist,  sie  erhält 
Körperteile  am  Leben,  mit  deren  Absterben  wir  uns  als  etwas 
Selbstverständlichem  und  Unvermeidlichem  bei  unserer  üblichen 
Behandlung  vertraut  gemacht  hatten.  Das  Mittel  lokalisiert  ferner 
die  Eiterung  in  hohem  Masse  und  erspart  dadurch  den  Kranken 
grosse  verletzende  und  verstümmelnde  Schnitte  und  stellt  die  Funk- 
tion der  erkrankten  Körperteile  in  einer  Weise  wieder  her,  welche 
wir  bisher  für  unmöglich  gehalten  haben. 

Chirurgische  Behandlung  der  akuten  Eiterung  unter 
Stauungshyperämie. 

Abscesse  werden  mit  nicht  zu  grossen  Schnitten  eröffnet,  wo 
es  schmerzlos  und  gründlich  möglich  ist,  unter  Lokalanästhesie; 
meist  genügt  der  Chloräthylspray.  Dagegen  wende  ich  bei  wirklich 
schweren  Eiterungen,  wie  der  akuten  Osteomyelitis,  und  solchen, 
wo  die  Funktion  von  Körperteilen  auf  dem  Spiele  steht,  wie 
bei  den  Sehnenscheidenphlegmonen,  stets  Allgemeinnarkose,  vor 
allen  Dingen  den  vortrefflichen  Sudeck'schen« Ätherrausch  oder 
Rückenmarksanästhesie  an.  Denn  da  lässt  sich  unter  Lokalan- 
ästhesie nicht  schmerzlos  und  sorgfältig  arbeiten.  Etwa  2 — -3  Stun- 
den nach  der  Spaltung,  wenn  die  Blutung  völlig  steht,  wird  die 
Stauungshyperämie  wieder  angewandt. 

Ich  erwähne  auch  hier  wieder,  daß  es  trotz  der  oben  mit- 
geteilten Beobachtungen  durchaus  notwendig  ist,  alle  Abscesse 
zu  spalten.  Leider  ist  es  für  den  Ungeübten  nicht  ganz  leicht, 
dieselben  zu  finden.  Das  mächtige  ödem  verbirgt  sie.  Deshalb 
nimmt   man    den  Verbandwechsel    am   besten   nach   der   Hoch- 


Behandl.   akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      S\]_ 

lagerung  während  der  Stauungspause  vor  und  untersucht  dann, 
wenn  das  ödem  sich  verringert  hat.  Ferner  werden  Abscesse 
unter  Stauungshyperämie  nicht  selten  kalt  und  schmerzlos.  Das 
erschwert  wiederum  die  rechtzeitige  Erkennung.  Stets  soll  man 
deshalb  unter  Chloräthylspray  einen  Einstich  machen,  wenn  man 
Verdacht  auf  einen  Abscess  hat.  Findet  man  ihn  nicht,  so 
schadet  das  weiter  nichts. 

Lässt  man  unter  Stauungshyperämie  einen  Abscess  stark 
anwachsen,  so  ist  das  ein  grober  Kunstfehler.  Große  Abscesse 
sollte  man  immer  erkennen. 

Die  Abscesse  werden  nur  ganz  ausnahmsweise  drainiert  und 
niemals  tamponiert.  Mit  der  Tamponade  wird  in  der  Chirurgie  ein 
grosser  Missbrauch  getrieben.  Es  ist  doch  wirklich  nicht  zu  ver- 
wundern, wenn  eine  Sehne  abstirbt,  die  man  mit  einem  dochtähn- 
lich wirkenden  Frenidkörper  einhüllt,  der  ihr  alle  Ernährungssäfte 
aussaugt,  oder  ein  Knochen,  den  man  so  künstlich  austrocknet. 

Dies  sollte  man  auch  bei  vielen  anderen  Wunden  beherzigen. 
Seitdem  ich  zum  Beispiel  bei  Mastdarmresektionen  die  Nahtlinie 
nicht  mehr  tamponiere,  sondern  sie  möglichst  in  Verbindung  mit 
den  umgebenden  Wundflächen  bringe,  habe  ich  weit  bessere  Erfolge 
im  Zusammenheilen  der  Stümpfe. 

Die  Wunde,  die  von  der  Abscessspaltung  herrührt,  wird  also 
einfach  mit  einem  aseptischen,  aufsaugenden  Verbände  bedeckt, 
der  gross  sein  muss,  wenn  eine  sehr  reichliche  seröse  Ausscheidung 
stattfindet. 

Die  Wunden  werden  täglich  verbunden,  und  der  Eiter  wird 
durch  Ausspülen  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  oder  sterilem 
Wasser  ausgespült.  Hat  man,  wie  wir  es  besonders  bei  den  Sehnen- 
scheidenphlegmonen  bevorzugen,  kleine  Schnitte  angelegt,  so  muss 
man  den  Eiter  durch  vorsichtiges  Ausdrücken  und  Streichen  entfernen. 

Den  Verbandwechsel  soll  man  möglichst  in  sterilen  Gummi- 
handschuhen vornehmen. 

Sind  trotz  erheblich  herabgeminderter  Stauungszeit  die 
Kranken  einige  Tage  fieberfrei,  so  kann  man  sich  mit  Vorteil 
zur  Nachbehandlung  der  Heissluftbäder  bedienen,  selbst  wenn 
die  Eiterung  noch  sehr  erheblich  ist.  Man  lässt  die  heisse  Luft 
anfangs  10 — 20  Minuten  einwirken,  und  steigt  schnell,  wenn  sie 
gut  vertragen  wird,  auf  V2 — 1  Stunde  täglich.  Die  heisse  Luft 
eignet  sich  eben  vortrefflich  für  die  Folgezustände  akuter  In- 
fektionen, sie  beschleunigt  die  Demarkation,  regt  die  Granulations- 


3X2  Spezieller  Teil. 

bildung  an  und  beseitigt  die  Stauungs Ödeme  und  Versteifungen. 
Sie  ist  deshalb  vor  allen  Dingen  angebracht  als  Nachbehandlung 
von  Osteomyelitiden  und  Sehnenscheidenphlegmonen^). 

Beeinflussung  der  Temperatursteigerung  durch 
Stauungshyperämie. 

Ich  habe  eine  ganze  Reihe  von  schweren  akuten  Infektionen 
gesehen,  wo  unmittelbar  nach  Einleiten  der  Stauungshyperämie  die 
vorher  erhöhte  Temperatur  erheblich  sank.  Zuweilen  ging  die 
Senkung  sofort  bis  zur  Norm,  und  die  Temperatur  blieb  normal. 
Wir  gehen  wohl  nicht  fehl,  wenn  wir  annehmen,  dass  das  Mittel 
in  diesen  Fällen  die  Krankheitsursache  sofort  unterdrückt  und  be- 
seitigt hat.  Denn  zugleich  mit  der  Temperatursteigerung  ver- 
schwinden auch  die  übrigen  Krankheitserscheinungen  (Schmerzen, 
Entzündung,  Krankheitsgefühl),  um  nicht  wiederzukehren.  Ich 
12  18  14  führe  für  diese  Art  der  Beeinflussung  der  Tem- 
peratur einen  Fall  von  Osteomyelitis  an,  der  von 
vornherein  milde  verlief,  nicht  zum  Aufbruch 
führte  und  durch  Stauungshyperämie  schnell 
und  dauernd  zur  Heilung  gebracht  wurde: 

29.   Ein  15 jähriger  Knabe  erkrankte  5  Wochen 
vor  der  Aufnahme  plötzlich  beim  Arbeiten  mit  starken 
Schmerzen  in  der  linken  Schulter.     Er  konnte  anfangs 
Tafel  IV  noch  die  Arbeit  fortsetzen,  musste  sie  aber  bald  auf- 

geben. 
Am  9.  November  1904  wurde  er  aufgenommen.  Der  ganze  linke 
Oberarm  war  angeschwollen.  Die  obere  Hälfte  des  Knochens  fühlte  sich 
verdickt  an,  die  Haut  darüber  war  leicht  gerötet.  Der  Fingerdruck  blieb 
überall  stehen.  Das  Hauptödem  sass  an  der  Innenseite,  etwas  oberhalb  des 
Ellbogengelenkes.  Das  Schultergelenk  war  geschwollen  und  gänzlich  ver- 
steift. Bewegungsversuche  und  Druck  auf  den  Sulcus  intertubercularis 
waren  sehr  empfindlich.  Es  wurde  täglich  6  Stunden  die  Schulterstauung 
angewandt,  und  im  Schultergelenk,  dessen  Schmer zhaftigkeit  unter  diesem 
Mittel  schnell  zurückging,  wurden  passive  und  aktive  Bewegungen  aus- 
geführt. Schon  nach  3  Tagen  hatte  die  Schwellung  sehr  nachgelassen,  und 
das  Schultergelenk    begann    beweglich  zu  werden. 

Ana  3.  Dezember  war  der  Arm  völlig  abgeschwollen  und  das  Schulter- 

1)  Es  ist  scharf  zu  unterscheiden  zwischen  der  akuten  Infektionskrankheit 
tind  ihren  Folgezustäiiden.  Es  ist  ein  arger  Missbrauch,  wenn  man  z.  B.  die 
Nekrose  und  ihre  Eiterung,  die  durch  eine  akute  Osteomyelitis  hervorgerufen 
ist,  mit  dem  Namen  ,, chronische  Osteomyelitis"  belegt,  wie  das  vielfach  ge- 
schieht. Mit  demselben  Rechte  könnte  man  die  Rmnen  eines  durch  Feuer  zer- 
störten Hauses   einen   fortglimmenden   Brand   nennen. 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      313 


gelenk  in  normalen  Grenzen 
aktiv  und  passiv  beweglich. 
Die  Stauungshyperämie  wurde 
ausgesetzt.  Am  7.  Dezember 
wurde  der  Knabe  völlig  geheilt 
entlassen. 

Die  Wirkung  des  Mit- 
tels auf  die  Körpertempe- 
ratur geht  aus  Tafel  IV 
klar  hervor. 

In  andern  Fällen  be- 
einflusst  die  Stauungs- 
hyperämie die  Temperatur 
auf  ganz  andere  Weise. 
W  ährend  in  den  geschilder- 
ten Fällen,  die  ganze  Krank- 
heit und  damit  auch  die 
Steigerung  der  Temperatur 
durch  Einleitung  der  Stau- 
ungshyperämie sofort  und 
dauernd  beseitigt  wird , 
sehen  wir  zuweilen,  dassdie 
Temperatur,  nur  während 
des  Liegens  der  Binde  sinkt, 
um  sofort  wieder  zu  steigen, 
sobald  sie  abgenommen 
wird.  Als  Beispiel  dafür  bil- 
de ich  nebenstehende  Tem- 
peraturtafel ab,  die  von 
dem  18  jährigen  Schlachter 
stammt,  dessen  Krankheit 
auf  Seite  306unterNr.  26be- 
schrieben  ist.  Ich  wandte  in 
diesem  Falle  die  Stauungs- 
hyperämie  nur  stundenwei- 
se mit  Unterbrechungen  an . 
Die  Zeit,  während  der  sie 
unterhalten  wurde,  ist  auf 
der  Tafel  V  mit  einer  unter- 
brochenen Liniedargestellt . 
Man   sieht   deutlich,    dass 


^^^ Hlü 

iiiiiiiiiiiniliiii 
iiiiiiiiiiiii 


luiMiiiiiiimiiHiiiiniiiv 

!!!!l!iiimininnini 

iiiiiiiiiuiiiiiiiiniiL- 

iiiniHiiniiiiniiiniifu ^ 

inniHiiiiiiiiiiiiiiHin^iiilin 
HiBHiHiiiiininHinnifliiiii! 
iiiiiiHiiiiiflefliiiiiniiüiiiniEi 


1  myssiSüiiBiiiiiini 
MsiaiSBSssnfiiE 
siiiiSiBSiaHniiieias 
EiwimiHisisssaiisin 
lapsnipi 


iiBBini  nimiisia 
smiisi 


sssasingsnB 


iinaiijiiy  ■■■■iiiPigsaiiiiii 
iiiliilin  iiiiiiiMiiiiiiiiii 

jHiiiieiii  iiiiiiiidiiiiiiiiii 

nnHmi  ni^iiHHiH 
HiHGaginiinB&iinniii 


iiinniiniiiiniiiSBSsüiiiii!! 
iiiiiiiiniiniiiiiiiliiiiilliilii 


iHiniHiiRii 
IIIIIHI£ilili 


IIHIIIII 

niiiHii 


iiiniiiiiiiiB»«Hiiininiii 


niiHiiiiiniiiiiiiiiiiiili 


liiiiiiiniiiiiiiliii 
inmniiiiiiinfiiii 


luiniiEiBiEiiiiiiitiUliiiS 
■■■■uiniiiii 


lllllliiiiülüBIIIIIKiSS!!!  Uli! 


Hl 


■■■iKiMliiMiHiailiiiiiilHi 


Tafel  V. 


314  Spezieller  Teil. 

die  Temperatur,  besonders  als  die  Krankheit  sich  noch  auf  der 
Höhe  befand,  mit  dem  Anlegen  der  Binde  sinkt,  mit  dem  Ab- 
nehmen wieder  steigt.  Dies  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  das 
Sinken  der  Temperatur  in  die  Zeiten  des  normalen  Tagesanstiegs 
fäUt. 

Die  Deutung  dieser  Erscheinung  ist  nicht  schwer.  Wie  im  all- 
gemeinen Teile  auseinandergesetzt  wurde,  vermindert  die  Stauungs- 
hyperämie und  das  danach  entstehende  Ödem  offenbar  die  Re- 
sorption der  Bakteriengifte.  Folgende  Erfahrung  bestätigt  diese 
Ansicht:  Wir  machten  mehrmals  die  Beobachtung,  dass  während 
der  Hochlagerung  der  durch  Stauungsh3rperämie  stark  ödematös 
gewordenen  und  akut  entzündeten  Gliedmassen  die  betreffenden 
Leute  krank  und  fiebrig  aussahen  und  sich  schlechter  fühlten, 
als  während  des  Liegens  der  Stauungsbinde.  Mit  dem  ver- 
schwindenden Odem  kamen  natürlich  auch  die  in  ihm  auf- 
gespeicherten Mengen  der  Bakteriengifte  in  den  Kreislauf. 

Die  geschilderten  beiden  Formen  der  Temperaturbeeinflussung 
durch  Stauungshyperämie  sind  aber  keineswegs  immer  nachzu- 
weisen und  in  so  deutlicher  Weise,  wie  in  den  mitgeteilten  zwei 
Fällen,  nicht  einmal  die  Regel.  Sehr  häufig  sehen  wir,  dass  das 
Mittel  die  Temperatur  gar  nicht  beeinflusst.  Sichere  Schlüsse  auf 
den  Verlauf  der  Krankheit  lassen  sich  daraus  nicht  ziehen,  wie 
der  folgende  Fall  beweist: 

30.  Ein  7  jähriges  Mädchen  erkrankte  etwa  4  Wochen  vor  der  Auf- 
nahme an  Schmerzen  und  Schwellung  im  rechten  Oberschenkel. 

Am  18.  Juni  1904  wurde  es  aufgenommen.  Der  rechte  Obei'schenkel 
war  sehr  stark  geschwollen,  auf  der  Aussen-  und  Innenseite  war  Fluktua- 
tion nachzuweisen.  Von  der  Aussenseite  her  wurde  durch  einen  6  cm 
langen  Schnitt  eine  grosse  Eiterhöhle  gespalten.  Die  Hinterseite  der 
Diaphyse  des  Oberschenkelknochens  war  in  ihren  unteren  zwei  Dritteln  vom 
Periost  entblösst.  Der  Eiter  enthielt  Staphylokokken.  Es  wio-de  Stauungs- 
hyperämie eingeleitet.  Es  trat  eine  massenhafte  Eiterung  ein.  Da  diese 
nur  unvollkommen  Abfluss  hatte,  wurde  auf  der  Innenseite  eine  Gegen- 
öffmmg  angelegt.  Die  Eiterung  nahm  allmählich  mehr  und  mehr  ab.  Am 
20.  August  waren  die  Wunden  vernarbt  und  das  Leiden  ohne  Knochen- 
nekrose ausgeheilt.  Am  5.  September  wurde  die  Kranke  entlassen.  Der 
rechte  Oberschenkelknochen  war  verdickt,  die  Funktion  des  Beines  normal. 

Der  Fall  verlief  auffallend  günstig,  trotzdem  er  sehr  spät  nach 
Ausbruch  der  Krankheit  in  Behandlung  kam,  und  obwohl  eine  sehr 
ausgedehnte  Erkrankung  des  Knochens  mit  Entblössung  vom  Periost 
vorlag,  heilte  er  ohne  Nekrose  und  ohne  Funktionsstörung  aus. 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eitervmgen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      315 

Die  Stauungshyperämie,  welche  dies  vollbrachte,  liess  aber  die 
charakteristische  bei  Osteomyelitis  vorkommende  Temperatur  in 
den  ersten  Wochen  unbeeinflusst. 

Länger  dauerndes  Fieber  ist  also  an  sich  kein  Grund,  die 
Stauungshyperämie  auszusetzen.  Dies  trifft  besonders  für  Osteo- 
myelitiden  zu.  Voraussetzung  ist,  dass  das  Allgemeinbefinden 
ungestört  ist,  der  Appetit  erhalten  bleibt  und  keine  wesentlichen 
Schmerzen  bestehen. 

Behandlung  akut  und  subakut  entzündeter  Gelenke  mit 
der  Stauungsbinde. 

Unter  den  akut  entzündeten  Gelenken,  welche  der  Behandlung 
mit  Stauungshyperämie  zugänglich  sind,  erwähne  ich  an  erster 
Stelle  die  Gelenkentzündungen  der  Tripperkranken.  Ich  habe  die 
verschiedensten  Formen  dieser  Entzündungen  mit  dem  Mittel  be- 
handelt und  die  besten  Erfolge  in  den  Fällen  gesehen,  wo  uns 
bisher  gerade  ein  Mittel  fehlte,  bei  den  schwersten,  zur  Ankylose 
oder  wenigstens  den  schlimmsten  Versteifungen  führenden  Ent- 
zündungen, welche  König  mit  dem  Namen  der  phlegmonösen  be- 
legt hat.  Bekanntlich  sind  hier  ausser  dem  eigentlichen  Gelenke 
die  Gebilde  neben  demselben,  und  zwar  vor  allem  die  Sehnen  be- 
teiligt. Die  Fälle  sind  ausgezeichnet  durch  die  enorme  Schmerz- 
haftigkeit. 

Ich  wüsste  kaum  ein  Mittel,  welches  bei  irgend  einer  Krank- 
heit so  prompt  wirkte,  wie  die  hier  ausserordentlich  leicht  hervor- 
zurufende heisse  Stauung.  Schon  eine  Stunde  nach  Einleitung  der 
Behandlung  sind  die  Schmerzen  ganz  erheblich  gemildert,  und  man 
kann  bei  Fällen  von  Erkrankung  des  Handgelenks  und  seiner 
Umgebung  z.  B.,  wo  jede  Berührung  und  besonders  jeder  Versuch, 
die  gänzlich  steifen  Finger  zu  bewegen,  von  den  wütendsten 
Schmerzen  begleitet  ist  und  jede  Bev^egung  zur  Unmöglichkeit  ge- 
hört, zum  grössten  Erstaunen  des  Kranken  vorsichtig  passive  Be- 
wegungen vornehmen,  und,  was  die  Hauptsache  ist,  diese  Beweg- 
ungen werden  ohne  Schaden  vertragen.  Der  Kranke  lernt  meist 
bald  den  Vorteil  und  die  Annehmlichkeit  des  Mittels  schätzen 
und  verlangt  nach  der  Stauungsbinde,  wenn  sie  längere  Zeit  abge- 
nommen wurde.  Ja,  sie  hat,  während  der  Nacht  getragen,  sich  als 
das  beste  Schlafmittel  bewährt  und  Kranken,  die  eine  Reihe  von 
Nächten  vorher  trotz  narkotischer  Mittel  keinen  Schlaf  gefunden 
hatten,  die  ersehnte  Ruhe  verschafft. 


316  Spezieller  Teil. 

31.  Ein  20 jähriger  Mann  bekam  3  Monate  vor  seiner  Aufnahme  einen 
Tripper.  Vor  5  Wochen  erkrankte  er  plötzlich  des  Nachts  mit  heftigen 
Schmerzen  im  rechten  Handgelenke,  welche  ihm  den  Schlaf  raubten.  Ein 
hinzugerufener  Arzt  erklärte  das  Leiden  für  einen  akuten  Gelenkrheuma- 
tismus, wickelte  das  Glied  zuerst  in  Watte,  behandelte  es  dann  mit  einem 
Eisbeutel  und  schliesslich  mit  so  starker  Jodpinselung,  dass  die  Haut  ent- 
zündet \md  rissig  wurde.  Als  dies  nichts  nützte,  wurde  das  Glied  auf 
eine  Schiene  festgewickelt,  welche  der  Kranke  die  letzten  4  Wochen  ge- 
tragen hat. 

Dies  alles  war  ohne  jeden  Erfolg. 

Am  9.  Juli  1902  wiirde  der  Kranke  aufgenommen.  Die  Gegend  des 
rechten  Handgelenkes  war  sehr  stark  geschwollen;  der  Umfang,  iim  das 
Handgelenk  gemessen,  betrug  auf  der  rechten  Seite  25^,  auf  der  linken 
18%  cm.  Auf  dem  Handrücken  war  starkes  Ödem,  welches  sich  bis  in 
die  Gegend  des  Ellbogengelenks  verfolgen  liess.  Die  Hohlhand  war  aus- 
gefüllt. Hautrötung  fehlte.  Die  Finger  standen  in  Streckstellung,  die 
Hand  in  Pronation  fest.  Die  ganze  Gegend  des  Handgelenks  und  der 
Strecksehnen  war  aufs  äusserste  gegen  Berühriing  empfindlich,  der  leichteste 
Versuch,  das  Handgelenk  oder  die  Finger  zu  bewegen,  brachte  den  Kranken 
zum  lauten  Aufschreien.  Er  behauptete,  die  letzten  Wochen  des  Nachts 
fast  gar  nicht,  des  Tags  über  nwc  wenig  geschlafen  zu  haben,  weil  die 
Schmerzen  im  rechten  Handgelenke  trotz  Festwickelung  auf  einer  Schiene 
unerträglich  waren.    Er  kam  infolgedessen  sehr  herunter. 

Auf  Druck  war  das  Gelenk  zwischen  Hand-woirzel-  und  Mittelhand- 
knochen am  stärksten  empfindlich.  Im  Röntgenbilde  sieht  man  jeden  ein- 
zelnen Handwurzelknochen  mit  einem  breiten,  lichten  Hofe  umgeben.  Es 
sieht  aus,  als  wären  sie,  jeder  für  sich,  mit  einer  Schicht  Watte  umgeben 
und  darin  so  nebeneinander  gelagert.  Die  stärksten  Veränderungen  finden 
sich  an  den  oberen  Enden  des  2. — 5.  Mittelhandknochens.  Ihre  Gelenkenden 
sind  stark  kariös  zerfressen  und  zeigen  daneben  periostale  Wucherungen.  Im 
übrigen  bieten  sie  ebenso  wie  die  Fingerknochen  die  bei  Gelenkentzün- 
dungen gewöhnlichen  atrophischen  Veränderungen.  Die  Weichteile  des 
Oberarmes  sind  atrophisch,  die  des  Vorderarmes  wegen  des  Ödems  nicht 
zu  beurteilen. 

Der  Kranke  hatte  noch  gonokokkenhaltigen  Ausfluss  aus  der  Harn- 
röhre.   Er  fieberte  nicht. 

Das  kranke  Glied  wurde  auf  einer  Schiene  befestigt  und  zunächst  bis 
zum  anderen  Morgen  senkrecht  hochgehangen,  damit  das  ödem  möglichst 
abziehen  und  eine  genauere  Untersuchung  ermöglicht  werden  sollte.  Dies 
gelang  nicht,  die  Umfangmessung  ergab  am  Morgen  des  10.  Juli  den 
gleichen  Befund. 

Am  10.  Juli  morgens  8%  Uhr  wurde  die  Stauungsbinde  am  Ober- 
arme angelegt.  Nachdem  sie  1  Stixnde  gelegen,  hatte  der  Kranke  keine 
Schmerzen  mehr.  Im  Handgelenke  und  an  den  Fingern  waren  zur  grössten 
Verwunderung  des  Kranken  leichte  passive  Bewegungen  oline  Sclimerzen 
möglich.  Um  9%  Ulir  wurde  die  Binde  entfernt  und  von  10% — 2  Uhr 
wieder  angelegt.  Des  Abends  von  7^ — 10^  Uhr  wurde  sie  wieder  ge- 
tragen, und  wälirenddessen  hatte  der  Kranke  zvun  erstenmal  seit  langer 
Zeit  einen  ununterbrochenen  und  tiefen  Schlaf.     Bald  nach  Abnahme  der 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.   Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      317 

Binde  stellten  sich  wieder  Schmerzen  ein,  so  dass  der  Kranke  nicht  weiter 
schlafen  konnte. 

Am  Morgen  des  11.  Juli  war  das  Gelenk  wieder  von  selbst  und  auf 
Druck  stark  schmerzhaft.  Von  8% — 1  Uhr  wurde  die  Binde  getragen; 
nachdem  sie  20  Minuten  gelegen,  war  die  Schmerzhaftigkeit  verschwiinden, 
trat  aber  1  Stunde  nach  Abnahme  derselben  wieder  auf.  Von  abends  7  bis 
morgens  8  Uhr  wizrde  wieder  Stauungshyperämie  unterhalten;  sie  hatte 
eine  starke  Rötung,  Schwellung  rnid  Hitze  im  kranken  Gliede  hervor- 
gebracht. Der  Kranke  hatte  von  9^ — 4  Uhr  in  einem  Stück  geschlafen. 
Bei  Druck  war  keinerlei  Schmerzhaftigkeit  vorhanden,  passive  Bewegungen 
des  Handgelenks  und  der  Finger  waren  bereits  in  grösserer  Ausdehnung 
möglich. 

Am  12.  JuH  trug  der  Kranke  die  Stauungsbinde  von  %12  Uhr  mittags 
bis  zum  Morgen  des  13.  Juli  um  9%  Uhr.  Sie  wurde  währenddessen 
einnaal  an  eine  andere  Stelle  gesetzt.  Dabei  hat  er  die  ganze  Nacht  durch- 
geschlafen. 

Von  5  Uhr  am  13.  Juli  bis  um  IIV2  Uhr  am  14.  Juli  wurde  die 
Binde  wieder  ununterbrochen  getragen.  Seitdem  wurden  Schmerzen  im 
Handgelenke  von  selbst  auch  in  den  Pausen,  wo  keine  Hyperämie  einge- 
leitet wiu-de,  gar  nicht  mehr,  bei  Druck  niir  noch  am  Gelenk  zwischen 
Metacarpus  und  Handwurzel  versjjürt.  Der  Kranke  fing  an,  Handgelenk 
und  Finger  aktiv  zu  bewegen.  Stärker  schmerzhait  war  nur  noch  die 
Supination,  welche  jetzt  auch  in  ausgiebiger  Weise  geübt  wurde.  Nach- 
dem die  Binde  8  Stunden  entfernt  war,  wurde  der  Umfang  des  kranken 
Handgelenkes  wieder  gemessen,  er  betrug  23,5  cm,  hatte  also  trotz  der 
Stauungshyperämie  seit  dem  10.  JuH  um  2  cm  abgenommen.  Die  Ab- 
nahme der  Schwellung  machte  sich  auch  an  der  starken  Runzelung  der 
Haut  kenntlich. 

Die  Besserung  der  Krankheit  machte,  während  die  Dauer  der  Stauungs- 
hyperämie allmählich  herabgemindert  wxxrde,  dauernd  Fortschritte.  Vom 
22.  Juli  ab  wurde  leichte  Massage  zugefügt,  die  aber  am  28.  Juli  wieder 
ausgesetzt  wurde,  weil  sie  Schmerzen  hinterliess. 

Am  1.  August  wurde  der  Kranke  mit  folgendem  Befiinde  in  poli- 
klinische Behandlung  entlassen:  Der  Umfang  des  rechten  Handgelenkes 
misst  19%  cm  (hat  also  seit  dem  10.  Juli  um  5%  cm  abgenommen)  und 
beträgt  noch  1  cm  mehr  als  der  des  gesunden  Gelenkes.  Die  noch  vor^ 
handene  Schwellung  fühlt  sich  sehr  derb  tind  fest  an.  Schmerzen  werden 
nur  noch  bei  starkem  Druck  auf  das  Gelenk  zwischen  Handwurzel  und 
Metacarpus  gefühlt.  Die  aktive  Beugung  des  Handgelenkes  ist  fast  ganz, 
die  Rotation  ganz  frei,  die  Streckung  dagegen  noch  sehr  eingeschränkt. 
Die  Finger  können  bis  auf  2  cm  Entfernung  von  der  Hohlhand  gebeugt 
und  völlig  gestreckt  werden.  Poliklinisch  wurde  noch  bis  zixm  5.  August 
täglich  1  Stunde  Stauungshyperämie,  von  da  ab  täglich  Massage  mit  fol- 
gender halbstündiger  Stauungshyperämie  angewandt.  Einige  Tage  später 
entzog  sich  der  Kranke  der  Beobachtung,  als  er  bereits  ganz  schmerzfrei 
war  Txnd  die  Finger  vollständig  zur  Faust  einschlagen  konnte. 

Die  Stauungshyperämie  muss  bei  den  wirklich  schweren  Formen 
der  gonorrhoischen  Gelenkentzündungen  unbedingt  lange  Zeit,  am 


318  Spezieller  Teil. 

besten  20 — 22  Stunden  täglich,  unterhalten  werden.  Sonst  erzielt 
man  keine  guten  Erfolge,  oder  die  Krankheit  nimmt  nur  sehr  all- 
mählich ab  und  führt  dann  zu  Versteifungen.  Schnelle  und  voll- 
ständige Heilungen  erzielt  man  ferner  nur,  wenn  die  lange  unter- 
haltene Stauung  ein  heftiges  Ödem  hervorruft.  Der  beschriebene 
Fall  zeigt  diese  Verhältnisse.  Wir  besserten  ihn  erst  dann  schnell, 
als  wir  von  kurzen  Stauungsperioden  zu  längeren  übergingen.  Da- 
mals, als  ich  diesen  Fall  behandelte,  machte  ich  gerade  Versuche 
mit  nur  stundenweise  unterhaltener  Stauungshyperämie. 

Bei. einem  zweiten,  dem  geschilderten  sehr  ähnlichen  Falle,  der 
nur  nicht  ganz  so  schlimm  war,  machten  wir  dieselbe  Erfahrung 
von  der  mangelhaften  Wirkung  der  kurzdauernden  Stauung  in  noch 
höherem  Grade.  Hier  erzielten  wir  erst  einen  vollen  Erfolg,  als 
wir  die  Stauungshyperämie,  wie  wir  früher  gewohnt  waren,  22 
Stunden  lang  täglich  unterhielten;  insbesondere  konnten  wir  auch 
hier  eine  ungestörte  Nachtruhe  erst  herbeiführen,  als  wir  die  Binde 
des  Nachts  über  tragen  Hessen. 

Die  Stauungshyperämie  hat  mich  bei  diesen  schweren  Formen 
der  gonorrhoischen  Gelenkentzündung  niemals  im  Stiche  gelassen, 
und  die  Erfolge  derselben  sind,  was  die  Schnelligkeit  der  Aus- 
heilung und  besonders  die  Funktion  der  Glieder  anlangt,  gegen 
alles,  was  ich  früher  in  dieser  Beziehung  gesehen  habe,  glänzend. 
In  Kiel  waren  diese  Fälle  nicht  sehr  selten,  und  mein  Lehrer 
von  Esmarch  pflegte  sie  mit  Gipsverband  zu  behandeln.  Trotz- 
dem dieser,  sobald  das  Leiden  es  zuliess,  entfernt  wurde,  waren 
doch  Ankylosen  oder  schhmme  Versteifungen  die  Regel. 

Ich  gebe  bei  den  nur  allzuleicht  ankylosierenden  Tripper- 
gelenken die  strenge  Regel,  mit  aktiven  und  passiven  Be- 
wegungen sofort  zu  beginnen,  sobald  die  Schmerzhaftig- 
keit  dies  irgend  zulässt.  Da  die  Stauungshyperämie,  wie  schon 
mehrfach  erwähnt  wurde,  die  Schmerzen  meist  schnell  lindert, 
kann  man  häufig  schon  eine  Stunde,  nachdem  das  Verfahren  ein- 
geleitet ist,  mit  Bewegungen  beginnen.  Schienenverbände  werden 
nur  in  den  Pausen,  wo  die  Binde  nicht  liegt,  oder  zuweilen  gleich- 
zeitig mit  ihr  während  der  Nacht  angewandt,  wenn  die  Schmer- 
zen noch  gross  sind  und  unwillkürliche  Bewegungen  im  Schlafe 
diese  verschlimmern. 

Die  Behandlung  der  gonorrhoischen  Gelenke  mit  Stauungs- 
hjrperämie  ist  der  mit  anderen  hyperämisierenden  Methoden,  z.  B. 
mit  heisser  Luft,  weit  überlegen,  davon  überzeugte  ich  mich  schon 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      3X9 

ganz  im  Anfange  meiner  Versuche.  Auch  folgender  Fall,  den  ich 
aus  einer  andern  Behandlung  übernahm,  spricht  für  diese  Ansicht: 
32.  Ein  19 jähriges  Mädchen  erkrankte  10  Wochen  vor  ihrer  Auf- 
nahme des  Morgens  ganz  plötzlich  mit  heftigen  Schmerzen  im  linken  Hand- 
gelenk und  wurde  deshalb  in  einem  auswärtigen  Krankenhaus  mehrere 
Wochen  hindurch  mit  heisser  Luft  behandelt.  Das  Gelenk  wurde  dabei 
aber  immer  steifer,  und  die  Empfindlichkeit  nahm  nicht  ab.  Am  28.  Sep- 
tember 1900  wurde  sie  in  die  chirurgische  Klinik  in  Greifswald  aufge- 
nommen. Das  linke  Handgelenk  war  nur  wenig  gleichmässig  geschwollen, 
es  mass  im  Umfang  nur  1  cm  mehr  als  das  andere.  Die  Haut  war  ge- 
rötet, das  Gelenk  war  auf  dem  Handrücken  stark  druckempfindlich,  es 
stand  in  leichter  Beugestellung,  und  Pronation  und  jeder  Bewegungsversuch 
war  von  den  furchtbarsten  Schmerzen  begleitet.  Vom  28.  September  bis 
27.  Oktober  wurde  des  Tags  über  Stauungshyperämie  angewandt,  dieselbe 
beseitigte  die  Sclimerzen  in  wenigen  Tagen,  so  dass  bald  passive  und  später 
aktive  Bewegungen  ausgeführt  werden  konnten.  Bei  der  Entlassung  konnte 
das  Gelenk  im  Sinne  der  Beugung  und  Streckung  in  einem  Umfange  von 
50°,  im  Sinne  der  Drehung  vollständig  aktiv  ohne  Schmerzen  bewegt 
werden,  imd  das  kranke  Glied  war  gut  gebrauchsfähig. 

Dagegen  behandelt  man  die  bereits  chronischen  Fälle  von 
gonorrhoischen  Gelenkentzündungen  und  besonders  ihre  Folge- 
zustände, die  zurückbleibenden  Versteifungen,  mit  grossem  Nutzen 
mittels  heisser  Luft.  Gegen  die  Versteifungen  wirken  meist  noch 
viel  besser  die  im  allgemeinen  Teile  beschriebenen  orthopädischen 
Saugapparate,  besonders  der  für  die  Hand  gegen  Versteifungen 
der  Finger  und  des  Handgelenkes. 

Selten  kommen  Fälle  von  gonorrhoischen  Gelenkentzündungen 
vor,  bei  denen  die  Stauungshyperämie  auf  die  Schmerzen  gar 
keinen  Einfluss  hat,  sondern  sie  sogar  anfangs  vermehrt.  Ich  gab 
früher  den  Rat,  in  diesen  Fällen  das  Mittel  aufzugeben  und  durch 
ein  anderes  zu  ersetzen.  Ausgedehnte  Erfahrung  hat  mich  aber  ge- 
lehrt, auch  diese  Fälle  erfolgreich  mit  Stauungshyperämie  zu  be- 
handeln. Meist  muss  man  sich  hier,  ich  möchte  sagen,  einschleichen. 
Man  legt  die  Binde  an,  bis  sie  Schmerzen  macht,  dann  nimmt  man 
sie  für  kurze  Zeit  (meist  für  % — 1  Stunde)  ab,  legt  sie  wieder  an 
usw.  Im  wesentlichen  hilft  hier  geschicktes  Individualisieren. 
Sobald  es  gelingt,  ein  kräftiges  Ödem  hervorzurufen,  schwinden  in 
der  Regel  die  Schmerzen.  Ich  glaube  aber  beobachtet  zu  haben, 
dass  bei  einzelnen  dieser  rebellischen  Fälle  sich  Ödem  nur  schwer 
erzielen  lässt.  In  letzter  Zeit  sind  uns  mehrfach  von  Kollegen,  die 
sonst  das  Verfahren  der  Stauungshj^perämie  gut  kennen  und  Erfolge 
damit  erzielt  haben,  Fälle  von  gonorrhoischer  Gelenkentzündung 
als   ungeeignet   für   dies   Verfahren  gesandt,   wo   wir   doch   nach 


320  Spezieller  Teil. 

einigem  Hin-  und  Herprobieren  schnell  den  glänzendsten  Erfolg  er- 
zielten, wie  z.  B.  im  folgenden  Falle: 

33.  Ein  22 jähriger  Herr  erkrankte  iin  Anschluss  an  einen  Tripper 
am  6.  Januar  1905  an  einer  gonorrhoischen  Metastase  im  linken  Hand- 
gelenke. Da  Schwellnng,  Rötung  und  Schmerzhaftigkeit  schnell  zunahmen, 
wurde  er  in  die  hiesige  medizinische  Klinik  aufgenommen,  wo  er  zuerst 
vergeblich  innerlich  mit  Salicylpräparaten  und  äusserlich  mit  Salbenein- 
reibungen behandelt  wurde.  Dann  wurde  ein  Versuch  mit  Stauungshyper- 
ämie gemacht,  der  ebenfalls  gänzlich  fehlschlug.  Wenn  der  Kranke  die 
Binde  einige  Stvmden  getragen  hatte,  klagte  er  über  unerträgliche  Schmerzen, 
so  dass  sie  abgenommen  werden  musste.  Der  Versuch  wtirde  viermal  ohne 
Erfolg  erneuert.  Da  das  Allgemeinbefinden  schlechter  wurde  und  hohes 
Fieber  mit  zahlreichen  Schüttelfrösten  sich  einstellte,  glaubte  man  das  ab- 
wartende Verfahren  nicht  länger  verantworten  zu  können  und  verlegte  den 
Kranken  am  26.  Januar  zur  chiringischen  Klinik  in  der  Ansicht,  dass  das 
kranke  Gelenk  operativ  eröffnet  werden  müsse.  Ich  übergab  indessen  den 
Kranken  meinem,  in  der  Behandlung  akuter  Entzündungen  ganz  besonders 
erfolgreichen  und  geübten  Assistenten  Dr.  Kej^pler,  um  einen  nochmaligen 
Versuch  mit  Stauungshyperämie  anzustellen. 

Der  Kranke  bot  bei  der  Airfnahme  folgenden  lokalen  Befund:  Die 
Gegend  des  linken  Handgelenkes  war  stark  gerötet  und  geschwollen,  sein 
Umfang  mass  23  cm  gegen  16^4  cm  auf  der  anderen  Seite.  Das  Gelenk 
stand  in  Streckstelliing  und  war  gänzlich  unbeweglich,  auch  im  Sinne  der 
Drehung.  Bewegungsversuche  waren  äusserst  schmerzhaft.  Der  Handteller 
war  verstrichen.  Die  Finger  waren  ödematös  geschwollen  und  in  Streck- 
stellvmg  gänzlich  versteift.  Auch  der  Vorderarm  war  gerötet  und  ge- 
schwollen. Trotz  des  kurzen  Bestehens  der  Krankheit  war  schon  eine  er- 
hebliche Atroj)hie  des  befallenen  Armes  eingetreten. 

Keppler  legte  nach  einigen  Versuchen  die  Stauungsbinde  so  an,  dass 
sie  gut  vertragen  wurde.  Der  Kranke  trug  sie  18  Stunden  unimterbrochen. 
Sie  führte  zu  mächtigem  ödem  und  feuriger  Rötung  der  Hand  und  des 
Vorderarmes.  Der  Kranke  gab  an,  dass  die  Schmerzen  nicht  wesentlich 
herabgesetzt  seien,  aber  es  fiel  ihm  selbst  auf,  dass  er  geringe  aktive  Be- 
wegungen mit  dem  Hand-  und  den  Fingergelenken  ohne  Schmerzen  aus- 
führen konnte. 

Nach  der  üblichen  Hochlagerung  vertrug  der  Kranke  ohne  jede 
Schwierigkeit  die  20  stündige  Stauung.  Nunmehr  verlor  sich  die  Sclimerz- 
haftigkeit  ganz,  vind  die  Heilung  machte  schnelle  Fortschritte.  Schon  am 
4.  Febr.,  also  9  Tage  nach  Beginn  der  Behandlung,  konnte  der  Kranke  völlig 
geheilt  entlassen  werden.  Beide  Handgelenke  hatten  gleichen  Umfang.  Die 
ganz  versteift  gewesenen  Gelenke  waren  normal  beweglich  und  nicht  die 
Spiir  empfindlich. 

Während  der  ganzen  Dauer  der  Behandlung  auf  der  chirurgischen 
KHnik  hatte  der  Kranke  weder  Fieber,  noch  Schüttelfröste. 

Übrigens  konnte  man  an  dem  kranken  Arme  anfangs  deutlich 
die  Symptome  der  akuten  Neuritis  entdecken.  Sämtliche  Nerven- 
stämme waren  auf  Druck  sehr  stark  empfindlich.    Es  ist  möglich, 


Behandl.  akut.  Entzünd.    u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      321 

dass  diese  Neuritis  der  Grund  für  die  zuerst  beobachtete  starke 
Zunahme  der  Schmerzhaftigkeit  unter  dem  Drucke  der  Stauungs- 
binde abgab.  Denn  es  fiel  auf,  dass  der  Kranke  die  Schmerzen 
nicht  in  das  entzündete  Gelenk,  sondern  in  den  ganzen  Arm 
unterhalb  der  Binde  verlegte  und  besonders  über  Schmerz  an  der 
Schnürstelle  selbst  klagte.  Es  ist  möglich,  dass  häufiger  eine 
Neuritis  die  Ursache  für  das  Misslingen  der  Stauungsbehandlung 
gonorrhoischer  Gelenke  abgegeben  hat;  denn  es  ist  ja  sehr  wohl 
möglich,  dass  das  Gonokokkengift  ebensogut  die  Nerven  wie  andere 
Gewebe  schädigen  kann.  Es  lohnt  sich,  fernerhin  in  solchen  Fällen 
auf  Neuritis  zu  achten. 

Ich  habe  noch  andere  Fälle  gesehen,  wo  uns  in  letzter  Zeit 
die  Stauungsbehandlung  noch  gelang,  wo  sie  anderen  misslungen 
war.  Ich  kann  deshalb  meinen  früher  gegebenen  Rat,  sie  aufzu- 
geben, wenn  man  nicht  sofort  den  Erfolg  bemerkt,  nicht  aufrecht 
erhalten,  sondern  muss  ihn  dahin  abändern,  dass  man  in  solchen 
Fällen  durch  geschicktes  Hin-  und  Herprobieren  versuchen  soll, 
doch  noch  zum  Ziele  zu  kommen,  und,  wie  es  scheint,  regelmässig 
zum  Ziele  kommt.  Dies  zu  erreichen,  ist  allerdings  Sache  des  per- 
sönlichen Geschicks. 

Übrigens  lasse  ich  solche  rebellische  Fälle  stets  ins  Kranken- 
haus aufnehmen. 

In  allerneuester  Zeit  sind  meine  Beobachtungen  über  die  über- 
raschend günstige  Wirkung  der  Stauungshyperämie  auf  Tripper- 
gelenke von  den  verschiedensten  Seiten  bestätigt  worden.  Der  erste, 
der  darüber  berichtete,  war  Habs^).  Ihm  folgten  Luxembourg^), 
Bum^),    Tillmanns*),    von  Tiling^),    Laqueur^),    Hirsch^), 


1)  Habs,  Über  die  Bier'sche  Stauung.    Münchner  med.  Wochenschr.  1903. 
Nr.  22. 

2)  Luxembourg,    Über    Bier'sche    Stauung.      Münchner    med.  Wochen- 
schrift 1903.    Nr.  10. 

3)  Bum,     Die     Behandlung    von     Gelenkerkrankungen     mittels     Stauung. 
Wiener  med.  Presse  1905.    Nr.  3  u.  4. 

4)  Tillmanns,  tTber  Behandlung  durch  venöse  Stauung.     Deutsche  med. 
Wochenschr.  1905.    Nr.  4. 

5)  von  Tiling,    The    treatment    of  gonnorrheal  Arthritis  by  Hyperemia. 
Journal  of  the  American  Medical  Association  1905.    29.  April. 

6)  Laqueur,   Zur  physikalischen  Behandlung  der  gonorrhoischen  Gelenk- 
erkrankungen.   Berliner  klin.  Wochenschr.  1905.    Nr.  23. 

7)  Hirsch,  Über  die  Behandlung  der  Arthritis  gonorrhoica  mit  Bier'scher 
Stauung.    Berliner  klin.  Wochenschr.  1905.    Nr.  39. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  21 


322  Spezieller  Teil. 

v.Leyden  u.Lazarus^)  und  Andere .  Sie  alle  konnten  über  günstige 
Heilungen  berichten.  Vor  allem  bestätigten  sie  alle  meine  An- 
gaben über  die  schmerzstillende  Wirkung  unseres  Mittels.  Freilich, 
ich  habe  den  Eindruck,  dass  einige  dieser  Autoren  die  Stauungs- 
hyperämie nicht  energisch  genug  und  nicht  lange  genug  täglich 
angewandt  haben.  Denn  so  vollständige  und  schnelle  Erfolge,  wie 
ich  sie  in  der  Mehrzahl  der  frischeren  Fälle  gehabt  habe,  wozu  z.  B. 
der  auf  S.320  unter  Nr. 33  geschilderte  Fall  gehört,  werden  nur  durch 
V.  Tiling  berichtet.  Ein  Beispiel  dafür,  wie  man  die  Stauungshyper- 
ämie nicht  anwenden  soll,  bieten  die  Mitteilungen  Hirsch's.  Die 
von  diesem  Arzte  gebrauchten  Stauungen  ,, zuerst  nur  wenige 
Minuten,  dann  steigend  in  der  Regel  bis  zu  ^ — 1  Stunde,  seltener 
bis  zu  li/'2 — 2  Stunden  und  nur  in  einem  Falle  bis  zu  3  Stunden" 
können  nicht  viel  nützen.  Ich  sollte  meinen,  das  hätte  ich  oft 
genug  betont.  Ich  wundere  mich  nur,  dass  er  trotzdem  verhältnis- 
mässig gute  Erfolge  erzielt  hat.  Auch  sonst  lässt  sich  an  seiner 
Technik  manches  aussetzen. 

Ist  es  nun  nicht  eine  merkwürdige  Erscheinung,  dass  es  nach 
meiner  ersten  Mitteilung  im  Jahre  1894  volle  9  Jahre  gedauert 
hat,  bis  man  ein  so  einfaches,  von  mir  immer  wieder  dringend 
empfohlenes  Mittel  nachgeprüft  hat?  Man  hat,  wie  es  scheint,  erst 
nach  der  Veröffentlichung  Habs'  damit  angefangen.  Ich  bin  Habs 
sehr  dankbar  für  seine  Mitteilung,  denn  mir  hätte  man  wohl  immer 
noch  nicht  geglaubt.  Ich  erwähne  dies  nicht,  um  mich  zu  beklagen. 
Aber  der  Vorgang  scheint  mir  charakteristisch  für  die  heutige 
Moderichtung  in  der  Medizin.  Einfache  und  logische  Mittel 
werden  nicht  geachtet,  aber  ,,mit  allen  Regeln  der  Wissenschaft" 
in  Laboratorien  und  Fabriken  hergestellte  in  unglaublicher  Weise 
überschätzt  und  verallgemeinert.  Welches  Aufsehen  hätte  es  wohl 
erregt,  wenn  irgend  ein  Serum  zum  Spritzen,  oder  ein  mit  schönem 
Namen  auf  den  Markt  geworfenes  chemisches  Präparat  bei  einer 
so  scheusslichen  und  undankbar  zu  behandelnden  Krankheit,  wie 
sie  das  schwer  befallene  gonorrhoische  Gelenk  darstellt,  ähnliche 
Erfolge  erzielt  hätte!  Zum  Beweise  dafür  wähle  ich  das  Menzer'- 
sche  Antistreptokokkenserum.  Schon  3  Jahre,  nachdem  es  zum 
ersten  Male  bekannt  gegeben  war,  gab  es  darüber  eine  ansehnliche 
Literatur  und  wurde  es  reichlich  angewandt.     Und  doch  kann  es 

1)  von  Leyden  und  Lazarus,  Über  die  Behandlung  der  Gelenkent- 
zündungen mit  der  Bier'schen  Stauungshyperämie.  v.  Leuthold-Gedenk- 
schrift.    I.  Band. 


Behandl.  akut.   Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      323 

sich  nach  den  vorhegenden  Berichten  —  wenn  es  überhaupt  etwas 
nützt  —  mit  der  Leistungsfähigkeit  der  Stauungsbinde  nicht  im 
entferntesten  messen. 

Man  wende  auch  nicht  ein,  dass  die  Wirkung  eines  Serums 
ein  biologisch  und  wissenschafthch  interessanterer  Vorgang  sei. 
Denn  beide  Mittel,  Heilserum  und  Hyperämie,  sollen  doch  schliess- 
lich nur  einen  natürlichen  Heilungsvorgang  unterstützen  und  ver- 
stärken, stehen  also  insofern  vollständig  auf  einer  Stufe  und  sind 
von  gleich  hoher  theoretischer  Bedeutung.  Nur  wird  das  erstere 
auf  sehr  komplizierte  Weise  hergestellt,  die  letztere  aber  kann  jeder 
Arzt  auf  sehr  einfache  Weise  erzeugen.  Und  Einfachheit  sollte 
immer  ein  Mittel  empfehlen. 

Ich  sage  das  bei  Gelegenheit  der  Besprechung  der  gonor- 
rhoischen und  nicht  der  tuberkulösen  Gelenke,  weil  ich  es  voll- 
ständig verstehe,  wenn  hier  wegen  schlechter  Erfolge  die  Stammgs- 
hyperämie  von  vielen  verworfen  ist.  Denn  die  Tuberkulose  ist  eine 
sehr  chronische  Krankheit,  und  die  Technik  der  Behandlung,  wie 
ich  sie  anfangs  empfahl,  war  schwierig  und  unsicher,  sie  ist  erst 
sehr  allmählich  richtig  ausgebildet.  Aber  beim  gonorrhoischen  Ge- 
lenk ist  der  Erfolg  häufig  sofort  da,  und  abgesehen  von  den 
wenigen  rebellischen  Fällen  ist  hier  die  Stauungshyperämie  leicht 
herzustellen  und  zu  unterhalten. 

Mit  ähnlichen  Erfolgen  wie  gonorrhoische  behandelte  ich  andere 
akute  Gelenkentzündungen  mittels  Stauungshyperämie.  Beim 
akuten  Gelenkrheumatismus,  von  dem  ich  allerdings  nur  etwa  zehn 
Fälle  behandelt  habe,  wurde  mit  grosser  Übereinstimmung  von  den 
Kranken  angegeben,  dass  die  Schmerzen  sich  unter  der  Stauungs- 
binde sehr  schnell  verloren.  Auch  zeigten  regelmässig  diejenigen 
Gelenke,  welche  der  Stauungshyperämie  unterworfen  waren,  einen 
viel  schnelleren  Rückgang  der  übrigen  Krankheitserscheinungen, 
als  die  gleich  stark  erkrankten  Gelenke,  welche  nicht  behandelt 
wurden.  Indessen  ist  die  Zahl  der  Fälle  so  klein,  dass  bei  einer 
so  launenhaften  Krankheit,  wie  es  der  akute  Gelenkrheumatismus 
ist,  wo  die  Gelenke,  die  an  einem  Tage  noch  schwer  krank  erscheinen, 
am  andern  Tage  zuweilen  schon  so  gut  wie  frei  sind,  sichere  Schlüsse 
nicht  daraus  gezogen  werden  können.  Die  Behandlung  ist  übrigens 
dieselbe,  wie  bei  der  Gonorrhoe  der  Gelenke. 

Kürzlich  haben  von  L e y d e n  und  Lazarus^)  Fälle  von  akutem 

1)  1.  c. 

21* 


324  Spezieller  Teil. 

Gelenkrheumatismus  beschrieben,  die  im  ganzen  durch  Stauungs- 
hyperämie sehr  günstig  beeinflusst  sind.  Allerdings  gaben  sie  auch 
noch  innere  Mittel  nebenher  an  und  geben  an,  dass  die  Versuche,  den 
akuten  Gelenkrheumatismus  allein  mit  Stauungshyperämie  zu  be- 
handeln, keinen  Erfolg  ergeben  haben. 

Aber  auch  bei  allen  möglichen  anderen  akut  und  besonders 
subakut  erkrankten  Gelenken  habe  ich  häufig  die  besten  Erfolge 
nach  der  Behandlung  mit  Stauungshyperämie  gesehen.  So  habe 
ich  zwei  Fälle  von  schwerer  puerperaler  Kniegelenkentzündung 
ohne  Eiterung,  die  schon  wochenlang  bestanden,  damit  zur  Aus- 
heilung mit  sehr  befriedigender  Funktion  gebracht.  Das  will  viel 
sagen,  denn  in  der  Regel  versteifen  diese  Gelenke  sehr  stark. 


Behandlung  vereiterter  grosser  Gelenke  mit  der 
Stauungsbinde. 

Ich  habe  schon  früher  berichtet,  dass  ich  vereiterte  Gelenke, 
nach  Punktion  und  Ausspülung,  unter  Stauungshyperämie  ganz 
regelmässig  schnell  und  mit  guter  Beweghchkeit  habe  ausheilen 
sehen.  Ebenso  habe  ich  in  der  ersten  Auflage  dieses  Buches  ein 
traumatisch  vereitertes  Kniegelenk  beschrieben,  in  das  eine  offene 
Wunde  führte,  welches  allein  durch  Stauungshyperämie  und  ohne 
alle  weiteren  Massregeln  in  12  Tagen  völlig  ausheilte.  Ich  habe 
diese  Behandlung  der  Gelenkeiterungen  mehr  und  mehr  ausgedehnt 
und,  um  reine  Beobachtungen  zu  haben,  in  einer  Reihe  von  Fällen 
auf  jedes  andere  Mittel  verzichtet.  Aus  Gelenken,  welche  Fisteln 
oder  offene  Wunden  aufwiesen,  wurde  nur  durch  täglich  ausge- 
führte passive  Bewegungen  der  Eiter  zum  Ausfluss  zu  bringen 
versucht.  Fisteln  oder  Wunden  wurden  weder  erweitert  noch 
drainiert.  Handelte  es  sich  um  einen  geschlossenen  Abscess  des 
Gelenkes,  so  wurde  nur  eine  Probepunktion  mit  der  Pravaz'schen 
Spritze  vorgenommen,  um  die  Diagnose  absolut  sicher  zu  stellen 
und  die  Art  des  Krankheitserregers  festzustellen.  Im  übrigen  wurde 
der  Eiter  im  Gelenke  belassen.  Auch  die  Ruhigstellung  durch 
Schienen  habe  ich  vermieden;  lediglich  Stauungshjrperämie  wurde 
verwandt.  So  dürften  die  folgenden  Fälle  eine  ganz  zweifellose 
Beweiskraft  besitzen. 

Es  handelt  sich  in  den  gleich  zu  beschreibenden  Fällen  um 
Ellbogen-  und  Kniegelenke.     Es  wurde  bei  ihrer  Behandlung  — 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      325 

um  es  nochmals  kurz  zusammenzufassen  —  folgendermassen  ver- 
fahren. Die  Leute  mit  vereiterten  Kniegelenken  wurden  einfach 
zu  Bett  gelegt.  Arme,  deren  Ellbogengelenke  vereitert  waren, 
wurden  beim  Herumgehen  der  Leute  in  eine  Mitella,  beim  Liegen 
irgendwie  bequem  im  Bett  gelagert.  Jede  Feststellung  der  Gelenke 
wurde  vermieden;  der  schmerzstillende  Einfluss  der  Stauungs- 
hyperämie  gestattet  den  Verzicht  auf  Feststellung.  Führte  eine 
Fistel  oder  Wunde  ins  Gelenk,  so  wurde  dies  der  gerade  bei  den 
Gelenken  sehr  massenhaften  serösen  Absonderung  wegen  mit  einem 
locker  umgelegten,  aber  grossen,  aufsaugenden,  sterilen  Ver- 
bände umgeben,  der  der  Gelenkgegend  gestattet,  infolge  der  Stau- 
ungsbinde kräftig  anzuschwellen,  und  dem  Kranken,  Bewegungen 
im  vereiterten  Gelenke  vorzunehmen.  Schon  einige  Stunden,  nach- 
dem die  Stauungshyperämie  eingeleitet  war,  wurde  mit  vorsichtigen 
passiven  und  aktiven  Bewegungen  begonnen.  Die  schmerzstillende 
Wirkung  des  Mittels  erlaubt  auch  dies.  Meist  waren  die  Kranken 
selbst  sehr  erstaunt,  wenn  man  schon  bald  die  rasend  schmerz- 
haften vereiterten  Gelenke  bewegen  konnte.  Die  passiven  Be- 
wegungen wurden  anfangs  nur  einmal  täglich  vorgenommen.  Dabei 
strömte  aus  den  offenen  Gelenken  massenhaft  Eiter  aus.  Es  ist 
also  die  passive  Bewegung  hier  auch  das  beste  Mittel,  um  den 
Eiter  zu  entfernen.  Natürlich  dürfen  diese  Bewegungen  niemals 
roh  werden.  Sie  sollen  immer  nur  soweit  getrieben  werden,  als 
es  ohne  erhebliche  Schmerzen  für  den  Kranken  möglich  ist. 
Ausserdem  wird  dieser  angehalten,  häufig  aktiv  das  Gelenk  zu 
bewegen. 

Ich  weiss,  dass  ich  mit  der  Empfehlung  der  Bewegung  akut 
vereiterter  Gelenke  mich  im  schroffsten  Gegensatz  zu  einem  der 
anerkanntesten  chirurgischen  Grundsätze  befinde.  Hat  man  doch 
immer  und  immer  wieder  gelehrt,  dass  die  Ruhigstellung  derselben 
der  oberste  Grundsatz  der  Behandlung  sei.  Ich  glaube  auch,  dass 
ohne  gleichzeitige  Anwendung  der  Stauungshyperämie  solche  Be- 
wegungsübungen sich  immer  mit  einer  Verschlimmerung  des  Leidens 
rächen  würden.  Aber  ich  hatte  schon  längst  bei  gonorrhoisch  und 
pyämisch  erkrankten  Gelenken  erkannt,  dass  die  Stauungshyper- 
ämie sehr  bald  ausgiebige  Bewegungen  gestattet,  so  dass  ich  diese 
Erfahrungen  ohne  Scheu  auch  auf  die  schweren  akut  vereiterten 
Gelenke  übertrug.  Ich  muss  gestehen,  dass  ich  selbst  anfangs  er- 
staunt war,  zu  sehen,  wie  vortrefflich  die  Kranken  die  Bewegung 
vertrugen.  Der  Nutzen  dieses  Verfahrens  aber  ist  sehr  einleuchtend. 


326  Spezieller  Teil. 

Es  ist  zwar  bekannt,  dass  akut  vereiterte  Kniegelenke,  besonders 
bei  jugendlichen  Personen,  sehr  häufig  nach  Punktion  und  Aus- 
waschung beweglich  ausheilen.  Es  handelt  sich  dann  meist  um 
metastatische  Eiterungen  oder  um  kollaterale  Gelenkentzündungen 
(besonders  bei  akuter  Osteomyelitis),  deren  Eiter  man  sogar  zuweilen 
steril  findet.  Ebenso  bekannt  aber  ist,  dass  die  von  schweren  In- 
fektionen befallenen  Gelenke,  besonders  wenn  sie  durch  äussere  Ver- 
letzungen infiziert  wurden,  ganz  regelmässig  stark  versteifen  oder 
ankylotisch  werden,  und  dass  man  es  noch  als  einen  Erfolg  der 
Behandlung  ansieht,  wenn  man  das  kranke  Gelenk  in  solchem  Zu- 
stande ausheilt.  Die  Stauungshyperämie  im  Verein  mit  frühzeitigen 
Bewegungen  hat  uns  aber  selbst  bei  den  schwersten  Gelenkeite- 
rungen die  vollständige  Funktion  ohne  die  geringste  Einschränkung 
erzielen  lassen. 

34.  Ein  18  jähriger  Hüttenarbeiter  zog  sich  3  Wochen  vor  seiner  Auf- 
nahme eine  Verletzung  des  rechten  Ellbogengelenks  zu.  Die  äussere  Wunde 
heilte,  aber  das  Gelenk  vereiterte  dariuiter  und  es  wurde  deshalb  in  einem 
auswärtigen  Krankenhause  ein  Schnitt  in  das  Gelenk  geführt.  Dann  wxirde 
dies  mit  Bädern  behandelt.  Am  22.  Dezember  1903  wurde  der  Kranke 
bei  uns  aufgenommen. 

Das  rechte  Ellbogengelenk  war  geschwollen,  die  Haut  ödematös.  Es 
stand  in  fast  rechtwinkliger  Beugung  und  in  Pronation,  weitere  Streckung, 
Beugung  und  Drehung  im  Sinne  der  Supination  waren  nur  in  ganz  ge- 
ringen Grenzen  und  unter  starken  Schmerzen  ausführbar.  An  der  Aussen- 
seite  des  Gelenkes  befand  sich  eine  fingernagelgrosse  granulierende  Stelle, 
etwas  darunter  eine  Fistel,  die  bei  Druck  auf  das  Gelenk  trübe  Synovia 
entleerte.  Es  waren  nur  geringe  Temperatiirsteigerungen  vorhanden,  die 
höchste  Temperatur  betrug  (abgesehen  von  einem  am  Ende  dieser  Arbeit 
zu  beschreibenden  Zwischenfall)  38°  in  der  Achselhöhle.  Das  Gelenk  wurde 
mit  Stauungshyperämie  behandelt. 

Am  24.  Februar  1904  wuxde  der  Mann  geheilt  entlassen.  Das  Gelenk 
war  abgeschwollen,  schmerzfrei  und  bis  auf  einen  ganz  geringen  Rest  voll- 
ständig zu  beugen  und  zu  strecken.      Die  Rotation  war  gänzlich  frei. 

35.  Ein  ISjähriger  Steinbrecher  wurde  am  25.  Mai  1904  bei  einer 
Schlägerei  in  das  linke  Ellbogengelenk  gestochen.  Es  wurde  infiziert.  Am 
11.  Juni  1904  wui'de  er  aufgenommen.  Das  linke  Ellbogengelenk  war  sehr 
stark  angeschwollen,  gerötet  und  ödematös.  Es  stand  in  fast  rechtwinkliger 
Beugung  und  war  nur  noch  um  etwa  15°  passiv  und  aktiv  unter  Schmerzen 
im  Sinne  der  Beugimg  und  Streckung  beweglich.  Am  Radiohumeralgelenk 
sah  man  eine  riindliche  Öffnung,  aus  der  ein  kleinhaselnussgrosser  ge- 
wucherter  Granulationspfropf  hervorragte.  Bei  passiven  Bewegungsversuchen 
floss  aus  dieser  Öffnung  eine  Menge  Eiter.  Das  Leiden  war  so  schmerz- 
haft, dass  der  Kranke  nachts  nicht  schlafen  konnte.  Die  Körpertemperatur 
war  normal.  Es  wvirde  sofort  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Am  2.  JuU 
war  die  Fistel  geschlossen  und  das  Gelenk  abgeschwollen;  die  Stauungs- 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      327 

hyperämie  wurde  deshalb  ausgesetzt  und  der  Kranke  nur  noch  mit  passiven 
Bewegungen  behandelt.  Am  12.  Juli  wurde  er  entlassen.  Bis  auf  einen 
ganz  geringen  Rest  völliger  Streckung  waren  alle  Bewegungen  im  Gelenk 
frei.  Am  9.  August  stellte  sich  der  Kranke  mit  ganz  normalem  Gelenk 
vor.  Er  hatte  seine  schwere  Arbeit  als  Steinbrecher  wieder  aufgenommen 
und  verrichtete  sie  ohne  jedes  Hindernis. 

36.  Ein  26jähriger  Bauer  zog  sich  am  4.  Februar  1904  im  Anschluss 
an  eine  Verletzung  eine  Vereiterung  des  rechten  Ellbogengelenkes  zu.  Am 
25.  Februar  wurde  vom  Arzte  ein  3  cm  langer  Einschnitt  gemacht,  welcher 
Eiter  entleerte. 

Am  29.  Februar  wixrde  der  Kranke  aufgenommen.  Das  rechte  Ellbogen- 
gelenk war  sehr  stark  geschwollen,  die  Haut  glänzend  und  gerötet.  Aiif  der 
Aussenseite  des  Gelenkes  befand  sich  ein  fünfmarkstückgrosses  Geschwür, 
das  am  Rande  gut  granulierte,  in  der  Mitte  schmierig  belegt  war.  Aus 
dem  Geschwür  führte  eine  Fistel  in  das  Gelenk  und  auf  rauhen  Knochen, 
welche  reichlich  schleimigen  Eiter  entleerte.  Vom  Geschwür  aus  ging  nach 
dem  Vorderarm  eine  Tasche  von  unterminierter  Haut  gebildet,  aus  der  bei 
Druck  Eiter  floss.      Aktive  und  passive  Bewegungen  waren  in  nur  sehr 


im    2      3     4      5      6      7      8      9    10    11    12    13    14    15    16    17    18    19    20     21 


liimniiHiiiiiiiiiiiBiiiiaiiiii 

ifliliWIlgg^iglissälSEiBII 

im&7MimiismaiiSiiii 

JSiHiiiiSliiBBiiBiiiiBaiEaSS 


Tafel  VI. 


geringem  Masse  und  unter  starken  Schmerzen  möglich.  Das  Gelenk  stand 
in  rechtwinkliger  Beugung  fest.  Der  Kranke  hatte  eine  stark  remittierende 
Körpertemperatur,  die  allabendlich  unter  Frösteln  anstieg  (s.  Tafel  VI). 
Es  wurde  Stauungshyperämie  angewandt.  Die  Gelenkfistel  schloss  sich 
sehr  bald,  die  Beweglichkeit  wurde  freier,  die  Temperatur  sank  zur  Norm 
und  das  schmierige  Geschwür  reinigte  sich.  Vom  23.  März  ab  wurde  die 
Stauungsbinde  entfernt.  Der  Kranke  blieb  noch  bis  zum  26.  April  in  der 
Klinik,  um  das  grosse  Geschwür  völlig  überhäuten  zu  lassen  und  um  aktive 
und  passive  Bewegungen  im  Gelenk  auszuführen.  Bei  der  Entlassung  war 
das  kranke  Gelenk  nicht  dicker  als  das  gesunde  und  fast  vollständig  be- 
weghch.  Am  10.  Mai  stellte  sich  der  Mann  wieder  vor.  Die  Beugung 
des  Gelenkes  war  vielleicht  noch  eine  kleine  Spur  beeinträchtigt ;  im  übrigen 
war  es  im  vollsten  Umfange  beweglich  und  gänzlich  gebrauchsfähig.  Ausser 
der  Narbe  und  einer  geringen  Reibung  im  Gelenke  beim  Rotieren  erinnerte 
nichts  mehr  an  die  frühere  Erkrankung. 

Die  beschriebenen  Gelenkeitemngen  standen  durch  Fisteln  mit 
der  Aussenwelt  in  Verbindung,  sie  erfüllten  also,  wenn  auch  in 


328  Spezieller  Teil. 

sehr  unvollkommenem  Masse,  die  alte  chirurgische  Forderung,  dass 
der  Eiter  unter  allen  Umständen  Abfluss  nach  aussen  haben  müsse. 
Die  beiden  folgenden  Fälle  aber  zeigen,  dass  die  Stauungshyper- 
ämie auch  heisse  Gelenkabscesse  zuerst  in  kalte  verwandeln  und 
dann  zum  Schwinden  bringen  kann,  in  dem  Sinne,  wie  ich  das  oben 
auseinandergesetzt  habe. 

37.  Ein  3 jähriger  Knabe  verletzte  sich  4  Wochen  vor  der  Aufnahme 
durch  einen  Holzsplitter  an  der  Aussenseite  des  rechten  Kniegelenkes.  Bald 
darauf  schwoll  das  Knie  unter  Fiebererscheinungen  an  und  begab  sich  in 
Beugestellung.     Es  wurde  bisher  mit  Pinselung  von  Jodtinktur  behandelt. 

Der  Kranke  wurde  am  19.  XI.  1903  bei  iins  aufgenommen.  Das  rechte 
Kniegelenk  war  kugelig  geschwollen,  fühlte  sich  heiss  an,  war  schmerzhaft 
und  fluktuierte.     Die  Kniescheibe    tanzte.      Die  Schwellung    war    sehr    be- 

19  20  21  22  23  24  25  26  27  28 
39  i 


38 


SsüpBliHiSBBli 

üGaiiliBSBIÜ 
HBBiüBMMii 


Tafel  VII. 

trächtlich,  die  Masse  betrugen  bei  dem  kleinen  Körper  an  den  ver- 
schiedenen Stellen  des  Gelenkes  2% — 5  cm  mehr  als  auf  der  gesunden  Seite. 
Das  Gelenk  stand  in  einem  Winkel  von  115°  gebeugt  und  fast  völlig 
fest.  Nur  eine  Spur  weiterer  Beugiing  Hess  sich  passiv  ausführen.  Die 
Probepunktion  mit  der  Pravaz'schen  Spritze  ergab  Eiter,  der  eine  Rein- 
kultur von  Staphylokokken  enthielt.  Der  Verlauf  der  Temperatur  ist  auf 
Tafel  VII  zu  sehen.  Die  kleine  Gelenkwunde,  welche  der  Holzsplitter 
verursacht  hatte,  war  längst  verheilt. 

Es  wurde  sofort  eine  Stauungsbinde  angelegt  und  zuerst  19 — 22  StLin- 
den,  später  immer  kürzere  Zeit  —  schliesslich  2  Stunden  —  täglich  ge- 
tragen. Die  Beweglichkeit  nahm  schnell  zu,  und  der  Erguss  verminderte 
sich  zusehends.  Am  25.  XI.  wurde  die  Binde  abgelegt,  und  24  Stunden 
später  wurde  festgestellt,  dass  noch  immer  ein  beträchtlicher  Erguss  im 
Gelenk  vorhanden,  dies  aber  in  fast  vollen  Grenzen  beweglich  war.  Dann 
wurde  für  eine  Stimde  täglich  wieder  Stauungshyperämie  angewandt.  Da 
aber  am  30.  XL  eine  Abendtemperatur  von  38°  auftrat,  so  wurde  die  Binde 
wieder   20 — 22  Stunden  täglich  getragen. 

Am  20.  XII.  wurde  der  Knabe  entlassen.  Das  Gelenk  war  im  vollen 
Umfange  normal  beweglich  xmd  gebrauchsfähig,  mass  noch  ^ — 3^  cm  mehr 
im  Umfange  als  das  gesunde.  Der  Erguss  war  vollständig  verschwunden. 
Die  geringe  Schwellung  beruhte  auf  Kapsel  verdickung. 

38.  Ein  20jähriger  Schlosser  erkrankte  am  4.  Juli  1904  plötzlich  an 
einer  akuten  Entzündung  des  rechten  Fussgelenkes.    Die  Krankheit  sprang 


Behandl.  akut.  Entzünd.   vi.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      329 

von  einem  Gelenk  auf  das  andere  und  blieb  im  rechten  Kniegelenk  haften, 
das   6  Tage  vor  der  Aufnahme  in  besonders  heftiger  Weise  erkrankt  war. 

Am  27.  Juli  1904  wurde  er  aufgenommen.  Das  rechte  Kniegelenk 
war  enorm  geschwollen,  mass  6%  cm  mehr  im  Umfang  als  das  linke. 
Auch  der  ganze  zugehörige  Oberschenkel  war  stark  ödematös  geschwollen, 
die  Haut  von  erweiterten  Venen  durchzogen.  Das  Gelenk  stand  in  Streck- 
stellung (es  war  bisher  auf  emer  Schiene  gelagert  gewesen)  und  war  aufs 
äusserste  empfindlich.  Schon  bei  Stoss  an  das  Krankenlager  schrie  der 
Mann  auf.  Jeder  Bewegungs versuch  war  ausgeschlossen.  Die  Probepunktion 
mit  der  Pravaz' sehen  Spritze  ergab  Eiter,  welcher  mikroskopisch  und 
kulturell  Staphylokokken  enthielt. 

Es  wiu-de  sofort  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Es  kostete  einige 
Mühe,  den  richtigen  Grad  der  Stauung  herauszufinden.  Nachdem  dies  ge- 
lungen, waren  schon  nach  4tägiger  Anwendung  während  des  Liegens  der 
Binde  die  Schmerzen  so  gut  wie  gänzlich  verschwunden  und  nach  12tägiger 

26Vn''7  '?«  99    30    31  1Vin2    3     4     5     6     7 
39 


■HiHBBBiBSB35BB5B55BBSBE 
iSISlPEii^rass^issEBBBEBBB 

liSUKSiRSüffiRIIE 

gHB^BBgffli||M|»MwiMwg[jigM 
BBBB^BBBBBBBBBBBBBBBBBI 


Tafel  VIII. 


Anwendung  die  vorher  erhöhte  Temperatur  ziu"  Norm  zurückgekehrt,  nach- 
dem der  Kranke  noch  am  3.  August  einen  Schüttelfrost  gehabt  hatte. 
Am  10.  August  konnte  der  Kranke  das  Knie  bis  zum  rechten  Winkel 
aktiv  beugen.  Der  Gelenkerguss  war  dabei  noch  sehr  erheblich,  eine 
Probepunktion  mit  der  Pravaz'schen  Spitze  förderte  nur  etwas  trüb- 
seröse Flüssigkeit  zutage.  Die  Stauungshyperämie  wurde  vom  10.  August 
ab  nur  noch  2  Stunden  täglich  angewandt.  Vom  15.  August  ab  stand 
der  Kranke  auf,  obwohl  noch  ein  geringer  Gelenkerguss  vorhanden  war, 
der  bald  verschwand.  Der  Mann  war  später  als  Wärter  in  der  Klinik 
tätig.  Die  Vereiterung  des  Kniegelenkes  hat  nicht  die  geringste  Spur 
hinterlassen.    Den  Temperaturverlauf  zeigt  Tafel  VIII. 

Diese  fünf  schweren  Vereiterungen  grosser  Gelenke  sind  alle 
mit  voller  Funktion,  allein  durch  Stauungshyperämie  und  ohne 
jedes  andere  Mittel,  insbesondere  auch  ohne  den  geringsten  opera- 
tiven Eingriff  ausgeheilt.  Wahrlich  ein  stolzer  Erfolg,  der  keiner 
weiteren  Beleuchtung  bedarf!  In  letzter  Zeit  habe  ich  noch  eine 
Reihe  ähnlicher  Beobachtungen  gemacht.  Am  schlechtesten  waren 
unsere  Erfolge,  was  die  Funktion  anlangt,  wenn  es  sich  um  Durch- 
brüche von  osteomyelitischem  Eiter  in  die  benachbarten  Gelenke 
handelte.  Hier  sahen  wir  neben  vollständiger  Heilung,  auch  im 
funktionellen  Sinne,  meist  starke  Versteifungen. 


330  Spezieller  Teil. 

Indessen  möchte  ich  nicht  in  den  Verdacht  kommen,  als  wollte 
ich  grundsätzlich  den  Eiter  in  den  akut  entzündeten  Gelenken 
lassen.  Ich  würde  selbstverständlich,  wenn  nicht  sehr  bald  die 
günstige  Wirkung  der  Stauungshyperämie  einträte,  die  Gelenke 
punktieren  und  auswaschen  oder  durch  Schnitt  eröffnen,  und  habe 
dies  auch  in  mehreren  Fällen  getan.  Nur  Drainage  und  Tamponade 
der  Gelenke  würde  ich  nach  Möglichkeit  vermeiden,  weil  das  Gelenk 
ein  feiner  Mechanismus  ist,  der  solche  grobe  Eingriffe  schlecht 
verträgt  und  darauf  leicht  mit  einer  dauernden  Schädigung  der 
Funktion  antwortet.  Die  Mehrzahl  der  Chirurgen  ist  in  dieser 
Beziehung  sehr  bescheiden,  sie  ist  zufrieden,  wenn  sie  vereiterte 
oder  tuberkulöse  Gelenke  mehr  oder  weniger  ankylotisch  ,, heilt", 
man  könnte  auch  sagen  verkrüppelt.  Ich  hoffe,  dass  hier  durch 
die  Stauungshyperämie  Wandel  geschaffen  wird. 

Auch  hier  ist  also,  was  ich  wiederhole,  die  Frage  der  Punktion 
oder  Spaltung  des  Abscesses  ganz  unabhängig  von  der  Stauungs- 
hyperämie. Nur  ist  nach  meinen  bisherigen  Erfahrungen  das  Ge- 
lenk der  Körperteil,  aus  dem  am  leichtesten  heisse  Abscesse  unter 
Stauungshyperämie  verschwinden,  ohne  der  Eröffnung  zu  bedürfen. 

Ich  bemerke  noch,  dass  ich  eine  ganze  Reihe  vereiterter  Finger- 
gelenke durch  Stauungshyperämie  schnell  und  mit  voller  Funktion 
geheilt  habe.  Diese  Fälle  sind  aber  lange  nicht  so  beweisend  als  die 
beschriebenen  Vereiterungen  grosser  Gelenke.  Denn  diese  kleinen 
Gelenke  habe  ich  früher  häufig  auch  ohne  Stauungshyperämie  nach 
einfacher  Spaltung  gut  ausheilen  sehen.  Ich  will  noch  bemerken, 
dass  mehrere  solche  kleine  Gelenke  längere  Zeit  der  Stauungshjrper- 
ämie  bedurften,  um  —  dann  allerdings  vollständig  —  auszuheilen. 

Die  guten  Erfolge  der  Stauungshyperämie  bei  akuten  Ent- 
zündungen und  Eiterungen  der  Gelenke  sind  neuerdings  von  den 
verschiedensten  Seiten  bestätigt. 

Behandlung  der  Sehnenscheidenphlegmonen 
mit  Stauungshyperämie. 

Der  beste  Prüfstein  für  die  Leistungsfähigkeit  der  Stauungs- 
hyperämie musste  die  Sehnenscheidenphlegmone  sein.  Zwar  gelingt 
es  hin  und  wieder  durch  unsere  übliche  Behandlung  mit  langen 
oder  mit  mehreren  kurzen  Schnitten  und  nachfolgender  Drainage, 
Tamponade  und  Hochlagerung  beginnende  Sehnenscheidenphleg- 
monen so  auszuheilen,  dass  nicht  nur  die  Sehnen  erhalten  bleiben, 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      331 

sondern  auch  eine  mehr  oder  weniger  gute  Funktion  bis  zur  vöUigen 
Wiederherstellung  sich  erzielen  lässt.  Solche  Fälle  stehen  wohl 
jedem  erfahrenen  Chirurgen  zur  Verfügung.  Aber  bekanntlich  ist 
dieser  günstige  Ausgang  auch  bei  eben  beginnenden  derartigen 
Phlegmonen  nicht  die  Regel.  Besteht  aber  die  Krankheit  schon 
tagelang,  ist  der  Eiter  bereits  aus  der  Sehnenscheide  in  die  Um- 
gebung durchgebrochen  oder  umgekehrt,  so  gelingt  es  so  gut  wie  nie, 
die  Sehne  vor  dem  Tode  und  den  betreffenden  Gliedabschnitt  vor 
dauernder  und  schwerster  Verstümmelung  zu  retten.  Wenigstens 
habe  ich  es  in  meinem  ganzen  Leben  bisher  noch  nicht  gesehen, 
dass  eine  solche  Sehne  erhalten  geblieben  wäre,  obwohl  ich  es  auf 
die  verschiedenste  Weise  zuerst  mit  sehr  grossen,  später  mit  mehr- 
fachen kleineren  Schnitten  versucht  habe.  Anders  gestaltet  sich 
das  Bild  durch  die  Stauungshyperämie. 

Ich  wiederhole  kurz  die  Grundsätze,  nach  denen  wir  derartige 
schwere  Infektionen  behandeln. 

Eben  beginnende  Sehnenscheidenphlegmonen,  mag  nun  eine 
Verletzung  in  die  Sehnenscheide  führen  oder  nicht,  werden  zu- 
nächst überhaupt  nicht  operiert,  sondern  es  wird  der  Versuch  ge- 
macht, sie  durch  eine  sofort  eingeleitete  kräftige  Stauungshyper- 
ämie im  Keime  zu  ersticken.  Gelingt  dies  nicht,  oder  ist  zweifellos 
bereits  eine  grössere  Eiteransammlung  vorhanden,  so  wird  der 
Abscess  durch  einen  grösseren  oder  mehrere  kleine  Schnitte 
gespalten.  Ich  vermeide  die  sehr  grossen,  die  ganze  Ausdehnung 
der  Sehnenscheide  einnehmenden  Schnitte,  weil  sonst  die  Gefahr 
vorHegt,  dass  die  Sehne  aus  ihrem  Fache  springt,  ausser  Berührung 
mit  den  umgebenden  Weichteilen  kommt,  vertrocknet  und  abstirbt. 
Aus  demselben  Grunde  wird  auf  jede  Tamponade  und  Drainage 
verzichtet.  Vor  allem  die  Tamponade  entzieht  durch  ihre  Saug- 
wirkung der  Sehne  die  ernährenden  Säfte  und  bringt  sie  zur  Aus- 
trocknung.  Überlässt  man  die  Wunde  sich  selbst,  so  wird  die 
entblösste  Sehne  bald  von  seitlich  überwuchernden  Granulationen 
bedeckt.  Jeden  Tag  wird  aus  den  kleinen  Schnittöffnungen  der 
Eiter  ausgedrückt,  nötigenfalls  auch  mit  physiologischer  Kochsalz- 
lösung ausgespült.  Entstehen  neue  Abscesse,  so  werden  sie  ge- 
spalten. Der  Gründlichkeit  halber  werden  alle  operativen  Eingriffe 
in  Narkose  ausgeführt.  Der  vortreffliche  Sudeck'sche  Äther- 
rausch leistet  hier  gute  Dienste.  Eine  Schiene  wird  nicht  getragen. 
Ist  eine  Operation  voraufgegangen,  so  wird  die  Wunde  einfach 
mit  reichlichem  Verbandstoff  bedeckt,  weil  die  Stauungshyperämie 


332  Spezieller  Teil. 

meist  eine  sehr  starke  Absonderung  hervorbringt.  Der  Verband 
muss  locker  angelegt  werden,  damit  das  Glied  darunter  infolge 
der  Stauung  anschwellen  und  der  Kranke  Bewegungen  damit  vor- 
nehmen kann.  Am  besten  eignen  sich  die  schon  erwähnten  losen 
Handtuchverbände.  Vom  ersten  Tage  an  nimmt  der  Arzt  an  den 
kranken  Fingern  (um  solche  handelt  es  sich  ja  fast  ausschhesslich) 
täglich  einmal  passive  Bewegungen  vor.  Die  Finger  werden  in 
allen  Gelenken  gestreckt  und  gebeugt.  Nur  so  gehngt  es,  wieder 
voll  funktionierende  Finger  zu  erzielen.  Zuweilen  sind  die  Sehnen 
schon  nach  24  Stunden  mit  der  Umgebung  verklebt  und  lösen  sich 
dann  krachend  bei  jeder  Bewegungsübung  los.  Der  Eingriff,  der 
sonst  roh  sein  würde,  wird  unter  Stauungshyperämie  wegen  ihrer 
hervorragenden  schmerzstillenden  Wirkung  verhältnismässig  gut 
vertragen.  Allerdings  darf  man  niemals  gewaltsam  vorgehen. 
Auch  Weiterverbreitung  der  Eiterung,  die  man  ja  unwillkürlich 
fürchtet,  habe  ich  dabei  nicht  beobachtet.  Bei  den  passiven 
Bewegungsübungen  wird  die  Stauungsbinde  eine  Zeitlang  vorher 
entfernt,  damit  die  Granulationen  nicht  bluten.  Am  besten 
nimmt  man  die  Übungen  in  der  Pause  zwischen  zwei  Stauungs- 
perioden  vor.  Ausserdem  wird  der  Kranke  angehalten,  die  Finger 
häufig  aktiv  zu  bewegen. 

Nur  einen  Fall  behandelte  ich,  wo  die  Bewegungen  bei  be- 
ginnender und  durch  Stauungshyperämie  erfolgreich  unterdrückter 
Sehnenscheidenphlegmone  offenbar  schädlich  wirkte  (Fall  40).  Wir 
waren  hier  zur  Ruhigstellung  gezwungen,  die  in  wenigen  Tagen 
Besserung  erzielte.  Die  eben^  gegebene  Regel  erleidet  also  auch 
Ausnahmen;  man  soll  eben  nie  schabionisieren. 

Ich  erwähne  zunächst  3  Fälle,  wo  es  gelang,  eine  Sehnen- 
scheidenphlegmone im  Keime  zu  ersticken. 

39.  Ein  43  jähriger  Schlachter  riss  sich  am  2.  November  1899  eine 
2  mm  breite  Querwunde  am  kleinen  Finger  der  linken  Hand.  Er  arbeitete 
damit  bis  zum  5.  November  weiter,  ohne  die  Wiinde  zu  beachten.  Die 
Wunde  entzündete  sich  schliesslich,  so  dass  der  Klranke  sich  zum  Arzte 
begab,  welcher  3  mal  einen  Einschnitt  machte.  Am  11.  November  kam  der 
Kranke  wegen  plötzlicher  Verschlimmerung  in  die  Greifswalder  Klinik. 

An  der  Beugeseite  des  kleinen  Fingers  fand  sich  in  der  Gegend  des 
zweiten  Gliedes  eine  querverlaufende  Wiinde,  in  welcher  eine  Sehne  frei- 
lag. Das  ganze  Gebiet  der  Kleinfingersehne  war  bis  zum  Handgelenk 
hinauf  aiif  Druck  ausserordenthch  empfindlich.  Strich  man  vom  Hand- 
gelenk nach  der  Fingerwunde  hin  über  die  Beugesehnenscheide,  so  floss 
aus  der  Wunde  eine  missfarbene  wässerige  Flüssigkeit.  Der  ulnare  Teil 
der   Haut    der   Handgelenksgegend   und   noch    3  cm    darüber   hinaus   und 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.'     333 

nach  oben  war  gerötet  und  die  Gegend  auf  Druck  stark  empfindlich.  Das 
Gelenk  zwischen  1.  und  2.  Gliede  des  kleinen  Fingers  war  eröffnet.  Es 
fand  sich  eine  ausgebreitete  Lymphangioitis  am  Vorderarme  und  Schwel- 
lung der  Kubitaldrüse.  Das  Allgemeinbefinden  war  schlecht,  die  Schmerz- 
haftigkeit  gross.  Es  wurde  sofort  am  11.  November,  morgens  11  Uhr, 
bei  einer  Temperatur  von  39°  (Achselhöhle)  eine  Stauungsbinde  am  Ober- 
arm in  der  Poliklinik  angelegt,  noch  bevor  der  I^anke  aufgenommen  war. 
Es  kostete  grosse  Mühe,  die  richtige  heisse  Stauung  ohne  Schmerzen  her- 
auszubekommen. Als  dies  gelungen,  verschwanden  die  Schmerzen  schnell. 
Der  vorher  sehr  schmerzhafte  und  unbewegliche  Finger  konnte  selbstätig 
bewegt  werden.  Die  Stauung  wurde  bis  4  Uhr  fortgesetzt,  dann  entfernt. 
Da  dies  alles  noch  vor  der  Aufnahme  geschah,  ist  leider  eine  genauere 
Temperaturmessung  in  der  Zwischenzeit  nicht  gemacht. 

Nach  Abnahme  der  Stauungsbinde  stellten  sich  die  Schmerzen  schnell 
wieder  ein.  Um  6%  Uhr  kam  ein  Schüttelfrost.  Es  wurde  die  Stauungs- 
binde von  neuem  angelegt.  Wieder  kostete  es  einige  Mühe  und  Versuche, 
die  richtige  heisäe  Stauung  ohne  Schmerzen  hervorzubringen.  Nachdem 
dies  erreicht  war,  verschwanden  die  Schmerzen  schnell  wieder,  die  Tem- 
peratur sank  um  8^  Uhr  auf  38°  und  um  10  Uhr  betrug  sie  38,7°. 
Um  10  Uhr  wurde  für  kurze  Zeit  die  Stauungsbinde  entfernt,  dann  wieder 
angelegt  und  bis  zum  anderen  Morgen  um  4  Uhr  getragen.  Als  das 
Stauungsödem  einigermassen  abgezogen  war,  bemerkte  man,  dass  die 
Schwellung  und  Rötung  am  Handgelenk,  geschwunden  war,  ebenso  die 
Lymphangitis ;  nur  die  Beugesehnengegend  am  kleinen  Finger  war  noch 
empfindlich. 

Am  12.  November  wurde  von  9 — 1  Uhr  morgens,  von  5 — 8%  Uhr 
abends  und  von  10^  Uhr  abends  bis  zum  Morgen  des  13.  November  um 
10  Uhr  die  Stauungsbinde  getragen.  Damit  war  die  Krankheit  im  wesent- 
lichen beseitigt,  die  Schwellung  war  abgezogen,  doch  es  bestand  noch 
etwas  Schmerzhaftigkeit  an  der  oben  bezeichneten  Stelle.  Mit  grossen 
Unterbrechungen  wurde  die  Stauungsbinde  noch  bis  zum  15.  November  ge- 
tragen. Die  Temperatur  stieg  am  12.  November  nicht  über  38,6°,  am  14. 
nicht  über  37,7°  und  war  vom  15.  ab  normal.  Aus  der  Wunde  am  kleinen 
Finger  stiessen  sich  einige  oberflächliche  Sehnenfetz chen  abi),  die  Wunde 
heilte  schnell.  Das  vereitert  gewesene  Gelenk  war  etwas  versteift,  krepi- 
tierte  bei  Bewegungen,  im  übrigen  aber  heilte  das  Leiden  ohne  jede  Funk- 
tionsstörung der  Hand  aus. 

40.  Ein  19 jähriges  Dienstmädchen  bemerkte  am  21.  November  1904 
Schmerzen  im  kleinen  Finger  der  rechten  Hand.  Am  23.  November  trat 
eine  Verschlimmerung  des  Leidens  ein,  die  durch  einen  Schüttelfrost  ein- 
geleitet wurde.  Am  24.  November  wurde  das  Mädchen  aufgenommen.  Der 
kleine  Finger  der  rechten  Hand  war  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  ge- 
schwollen und  stand  in  Beugestellung.  Jeder  Streckversuch  verursachte 
lebhafte  Schmerzen.  Der  Verlauf  der  Beugesehnen  war  bis  zur  Mitte  der 
Hand  auf  Druck  sehr  empfindlich.     In  der  Beugefalte  des  kleinen  Fingers 

1)  Ich  habe  es  dreimal  gesehen,  dass  unter  Stauungshyperämie  die  Sehne 
einen  kleinen  partiellen  Seqiiester  abstiess,  im  übrigen  aber  erhalten  blieb,  was 
ich  früher  nie  beobachtet  habe. 


334  Spezieller  Teil. 

befand  sich  eine  kleine  Schrunde.  Ich  hielt  das  Leiden  für  eine  beginnende 
Sehnenscheidenphlegmone  und  leitete  sofort  Stauiuigshyperämie  ein,  in  der 
Absicht,  sie  zu  unterdrücken.  Die  Entzündungserscheinungen  bildeten  sich 
schnell  zurück,  und  die  Temperatur  sank  zur  Norm  (s.  Tafel  IX),  so  dass 
schon  am  30.  November  die  Stauungshyperämie  ausgesetzt 
^24XI2o  2fi  27^  wurde.  Weil  der  kleine  Finger  Neigiing  zeigte,  in  seiner 
Beugestellung  zu  verharren,  "wurden  ziemlich  energische 
passive  Bewegungen  vorgenommen.  Da  am  4.  Dezember 
wieder  Schmerzen  eintraten,  so  wurde  die  Stauiingshyperämie 
von  neuem  eingeleitet,  und  bei  der  grossen  Neigung  des 
Tafel  IX.  Fingers,  zu  versteifen,  wiirden  energische  passive  Bewe- 
gungen weiter  angewandt,  ohne  dass  die  Beweglichkeit  da- 
durch gebessert  wurde.  Im  Gegenteil,  der  kleine  Finger  versteifte  mehr 
und  mehr,  auch  die  übrigen  Finger  stellten  sich  in  leichte  Beugestellung 
und  es  traten  wieder  Sclimerzen  ein.  Dem  Verlauf  der  Beugesehnen 
des  kleinen  Fingers  entsprechend  fand  sich  eine  harte  strangförmige 
Geschwulst.  Am  11.  Dezember  verschlimmerten  sich  die  Schmerzen 
erheblich.  Die  Untersuchung  zeigte,  dass  der  ganze  bei  den  Sehnen- 
scheidenpanaritien  des  kleinen  Fingers  in  Betracht  kommende  Sehnen- 
scheidenapparat erkrankt  war.  Es  waren  die  Beugesehnenscheide  des 
kleinen  Fingers  stark,  die  des  Daumens  und  der  grosse  gemeinschaft- 
liche Synovialsack  am  Handgelenk  massig  auf  Druck  empfindlich.  Ober- 
halb des  Handgeleriks  war  die  Haut  gerötet,  die  Körpertemperatur  war 
leicht  erhöht. 

Ich  legte  deshalb  im  Ätherrausch  die  Sehnenscheide  der  Kleinfinger- 
beuger in  der  Hohlhand  in  der  Ausdehnung  von  4  cm  frei.  Sie  war  prall 
mit  Flüssigkeit  gefüllt.  Beim  Einschneiden  entleerte  sich  leicht  getrübtes 
Serum  in  grosser  Menge.  Bei  Druck  auf  den  gemeinschaftlichen  Synovial- 
sack entleerten  sich  noch  etwa  2  Teelöffel  der  gleichen  Flüssigkeit.  Ich 
liess  die  Wunde  zusammenfallen,  sie  heilte  in  wenigen  Tagen  per  primam 
intentionem. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  entleerten  Flüssigkeit  wies  spär- 
liche Leukocyten  nach.  Bakterien  wurden  nicht  gefunden.  Kultm-versuche, 
die  im  hiesigen  hygienischen  Institute  angestellt  wurden,  ergaben,  dass  die 
Flüssigkeit  steril  war. 

Die  passiven  Bewegungen  wurden  fortgesetzt,  führten  aber  wieder  zu 
erheblichen  Sclimerzen.  Deshalb  wurde  die  Hand  vom  1 6.  bis  20.  Dezember  auf 
einem  Handbrett  festgebunden.  Danach  schwanden  die  Beschwerden  schnell. 
Der  Sehnenscheidenapparat  war  abgeschwollen,  und  niir  bei  starkem  Druck 
wurden  noch  Tinbedeutende  Schmerzen  empfionden,  die  am  23.  Dezember 
auch  verschwunden  waren.  Die  Kranke  wurde  angehalten,  fleissig  aktive 
Bewegungen  zu  machen.  Passive  Bewegungen  wurden  nur  in  schonendster 
Weise  ausgeführt.  Die  Beweglichkeit  der  Finger  nahm  mehr  vmd  mehr 
zu.    Das  Leiden  heilte  ohne  Spiir  von  Funktionsstörung. 

41.  Ein  10 jähriges  Mädchen  wurde  am  29.  März  1905  von  einer 
schmutzigen  Kohlengabel,  die  ein  Arbeiter  nach  ihm  warf,  in  die  linke 
Hand  getroffen.  Das  Kind  wurde  %  Stunde  später  in  der  hiesigen  Poli- 
klinik verbiinden.     Es  bekam  sehr  starke  Schmerzen  und  verbrachte  eine 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.   Eitenuigen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      335 

schlaflose  Nacht.      Deshalb  wurde  es   am   30.  März  in  die   Klinik  aufge- 
nommen. 

Hier  wurde  folgender  Befund  erhoben:  Die  ganze  linke  Hand  und  die  an- 
grenzende untere  Hälfte  des  Vorderarmes  ist  lebhaft  gerötet  und  geschwollen. 
An  der  ulnaren  Seite  des  Handgelenkes  sieht  man  eine  erbsengrosse  von  der 
Kohlengabel  herrührende  Wunde.  Die  linke  Hand  wird  ängstlich  geschont 
und  von  der  rechten  gestützt  gehalten.  Die  Finger  sind  stark  gebeugt, 
jeder  Versuch,  sie  zu  strecken,  ist  äusserst  schmerzhaft.  Druck  auf  die 
Hohlhand  ist  nicht  schmerzhaft,  dagegen  Druck  auf  die  Gegend  der  Sehnen- 
scheiden oberhalb  des  Handgelenkes  äusserst  empfindlich.  Die  Gegend  der 
Beugesehnen  des  Daumens  ist  nicht  schmerzhaft.  Das  Handgelenk  ist  stark 
geschwollen  und  auf  Druck  sehr  emiDfindlich.  Die  Körpertemperatur  ist 
erhöht  (s.  Tafel  X). 

Ich  nahm  wegen  der  Schwellung  und  Schmerzhaftigkeit  der  Hand- 
gelenke, der  starren  Beugestellung  der  vier  letzten  Finger Jund  der  Emp- 
findlichkeit der  zugehörigen  Sehnenscheiden  eine  Infektion  der  letzteren  und 
des  Handgelenkes  an  vmd  leitete  etwa  34  Stunden 

nach  der  Verletzung    Stauungshyperämie    ein.       ,  „  ^_^^-J-^^^_^_^_f_ J^ 
Schon  eine  halbe  Stunde  später  konnte  das  Kind 
die  vorher  ganz  steifen  Finger  etwas  strecken,      39 
hatte  keine  Schmerzen  mehr  und  schlief  ruhig. 
Am  folgenden  Morgen  sah  man,  dass  die  Binde      33 
ein  feuriges  ödem  am  ganzen  peripher  von  ihr 
liegenden  Gliedabschnitte  hervorgebracht  hatte.      37 
Am  nächstfolgenden  Tage  (1.  April)  war  die  Kör- 
pertemperatur gefallen,  und  auch  das  Handgelenk      ^^ 


1BB1MBBMKHB8B 

jmzzz_ 
iinaiiiB 

aaaaaBaBia 


war  etwas  beweglich.    Da  am  2.  April  aber  die  Tafel  X. 

Temperatur  wieder  stieg,  und  ich  feststellte,  dass 

nach  der  Hochlagervmg  während  der  StauTingspause  die  Gegend  der  Beuge- 
sehnenscheide des  kleinen  Fingers  und  der  grossen  gemeinsamen  Synovial- 
scheide  feurig  gerötet  und  empfindlich  blieb,  so  vermutete  ich  eine  Vereiterung 
dieser  Gebilde.  Als  ich  am  folgenden  Tage  die  Borke,  welche  sich  über 
dem  Einstich  gebildet  hatte,  abnahm,  kam  etwas  Eiter,  der  bei  Druck  auf  die 
Beugesehnenscheide  des  kleinen  Fingers  und  die  gemeinsame  Synovialscheide 
im  Strome  hervorquoll.  Die  Sonde  führte  in  der  Gegend  des  Handgelenkes 
auf  rauhen  Knochen  und  unter  den  Beugesehnen  hindurch  bis  über  die 
Hälfte  des  Vorderarms  hinaus. 

Ich  machte  im  Ätherrausch  einen  4 — 5  cm  langen  Schnitt  oberhalb 
des  Handgelenks.  Er  führte  in  eine  Eiterhöhle,  in  der  Beugesehnen  frei- 
lagen. Die  Höhle  ging  zwischen  den  Muskeln  nach  oben  hin  bis  beinahe 
ziu"  Hälfte  des  Vorderarms.  Nach  unten  drang  die  Sonde  in  die  Beuge- 
sehnenscheide des  kleinen  Fingers.  Sie  wurde  durch  einen  zweiten  3 — 4  cm 
langen  Schnitt  eröffnet  und  entleerte  dicken  Eiter,  der  die  Sehnen  um- 
spülte. Von  dem  Schnitte  aus  gelangte  man  in  den  gemeinsamen  Synovial- 
sack,  der  ebenfalls  mit  Eiter  gefüllt  war  und  in  dem  die  zugehörigen  Sehnen 
freilagen.  Obwohl  auch  das  Handgelenk  nach  dem  Befund  vereitert  schien, 
sah  ich  von  seiner  Eröffnung  einstweilen  ab.  Der  Eiter  wurde  gründlich 
mit  physiologischer  Kochsalzlösung  ausgespült.  Die  Wunden  bedeckte  ich 
niir  mit  einem  aseptischen  Verbände  und  leitete  von  neuem  Stauungshyper- 


336  Spezieller  Teil. 

ämie  ein.  Die  Heiliing  machte  nun  schnelle  Fortschritte,  so  dass  schon 
am  15.  April  die  Stauungshy  per  ämie  ausgesetzt  werden  konnte.  Die  Sehnen 
wurden  nicht  nekrotisch.  Am  30.  April  wiu'de  das  Kind  mit  voller  Beweg- 
lichkeit aller  Finger  und  des  Handgelenks  geheilt  entlassen.  Ich  habe  das 
Mädchen  mehrfach  wieder  untersucht.  Die  schwere  Phlegmone  ist  ohne 
jede  Spur  von  Funktionsstörung  geheilt. 

Tafel  X  zeigt  den  Verlauf  der  Temperatur. 

Im  allgemeinen  sind  solche  vollständige  Heilungen  wie  die 
hier  beschriebenen  natürHch  nur  möglich,  wenn  die  Erkrankung 
noch  ziemlich  frisch  ist.  Der  Schwerpunkt  liegt  also  in  der  früh- 
zeitigen Diagnose.  Nur  dann  gelingt  es  mit  einiger  Wahrschein- 
Hchkeit,  die  gefährdeten  Sehnen  vor  dem  Tode  zu  retten.  Das  ist 
ja  auch  klar;  denn  was  schon  abgestorben  ist,  lässt  sich  durch 
kein  Mittel  der  Welt  wieder  lebendig  machen.  Indessen  ist  es  uns 
doch  mehrmals  gelungen,  bei  schon  längere  Zeit  bestehenden 
Sehnenscheidenphlegmonen  die  gefährdete  Sehne  noch  zu  retten, 
wofür  ich  ein  Beispiel  geben  will. 

42.  Ein  34  jähriger  Schulimacher  litt  bereits  seit  4  Wochen  an  einem 
Panaritium  des  rechten  Zeigefingers,  das  mehrfach  gespalten  wurde.  Zu- 
letzt wurde,  einige  Tage  vor  der  Aufnahme,  die  Beugesehnenscheide,  welche 
Eiter  enthielt,  dvirch  einen  2  cm  langen  Schnitt  am  Grundgliede  eröffnet. 
Trotzdem  trat  keine  Besserung  ein,  weshalb  sich  der  Klranke  am  14.  Februar 
1904  in  die  Klinik  begab. 

Kurz  nach  der  Aufnalime  hatte  er  einen  Schüttelfrost,  das  Allgemein- 
befinden war  schlecht,  der  Finger  war  sehr  schmerzhaft,  gerötet  und  sehr 
stark  geschwollen.  Es  wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet,  die  Schmerzen 
und  gestörtes  Allgemeinbefinden  sofort  beseitigte.  Aber  es  blieb  die  erhöhte 
Temperatur  bestehen,  und  seit  dem  16.  Februar  stellten  sich  stärkere 
Schmerzen  ein.  Bei  Druck  auf  den  Verlauf  der  Beugesehne  entleerte  sich 
reichlich  Eiter.  Am  19.  Februar  war  es  klar,  dass  sich  ein  grosser  Ab- 
scess  in  der  HohUiand  gebildet  hatte.  Deshalb  wurde  in  Narkose  ziinächst 
die  alte  Schnittwunde  auseinandergezogen.  In  ihrer  Tiefe  lagen  die  Beuge- 
sehnen frei  vor.  Der  Abscess  in  der  Hohlhand  Hess  sich  zum  Teil  aus 
dieser  Wunde  durch  Druck  entleeren.  Er  wvirde  durch  einen  2  cm  langen 
Schnitt  gespalten,  entleerte  massenhaft  dicken  Eiter  ixnd  führte  in  eine 
Höhle,  die  nach  oben  bis  unter  das  Ligament,  carpi  volare  ging  iind 
zwischen  den  Mittelhandknochen  von  Daumen  und  Zeigefinger  bis  nahe 
luiter  die  Haut  des  Handrückens  reichte.  \  Neue  Sehnenscheiden  waren  in- 
dessen anscheinend  nicht  von  der,  Eiterung"ergriffen.  Nunmelir  machte  die 
Heilung  schnelle  Fortschritte.  Am  2.  März  1904  wurde  der  Kranke  mit 
oberflächlich  granulierenden  Wiinden  entlassen.  Die  Selinen  wurden  nicht 
nekrotisch.  Ende  Mai  stellte  der  Ivranke  sieh  vor.  Die  aktive  Beweglich- 
keit des  Fingers  war  annährend  normal,  so  dass  der  Kjranke  ihn  zu  seiner 
Arbeit  als  Schuster  in  vollem  Masse  gebrauchen  konnte. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  vi.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Slauungsb.      3,37 

Sodann  beschreibe  ich  2  lehrreiche  Fälle  von  schwerster 
V-förmiger  Phlegmone  der  Beugesehnenscheiden  der  Hand,  die  ich 
mit  Stauungshyperämie  behandelte: 

43.  Ein  49jähriger  Schlossermeister  erkrankte  4  Wochen  vor  der 
Aufnahme  an  einem  oberflächlichen  Panaritium  des  Zeige-  und  des  kleinen 
Pingers  der  linken  Hand.  Beide  heilten  schnell  aus.  14  Tage  vor  der 
Aufnahme  entstand  ein  Abscess  der  Hohlhand,  welcher  vom  Arzte  durch 
zwei  kleine  Einschnitte  geöffnet  wurde.  Am  18.  Februar  1904  verschlim- 
merte sich  das  Leiden  erheblich,  weshalb  sich  der  Kranke  am  19.  Februar 
aufnehmen  Hess. 

Die  ganze  linke  Hand  war  stark  entzündet  und  geschwollen.  Der 
Verlauf  der  Beugesehnen  des  Daumens  und  des  kleinen  Fingers  war  be- 
sonders geschwollen  und  auf  Druck  sehr  empfindlich,  ebenso  die  Beugeseite 
des  Vorderarmes  oberhalb  des  Handgelenkes.  Der  ganze  Vorderarm  bis 
zum  Ellbogen  war  stark  gerötet  und  ödematös. 

In  Narkose  wurde  zunächst  oberhalb  des  Ligamentum  carpi  volare 
gespalten.  Man  kam  in  die  Sehnenscheiden,  welche  mit  serösem  Eiter  ge- 
füllt waren.  Dann  wurde  die  Beugesehnenscheide  des  kleinen  Fingers  ge- 
sjDalten,  welche  dicken  rahmigen  Eiter  enthielt.  Ein  dritter  Einschnitt  am 
Daumenballen  führte  in  eine  grosse  Eiterhöhle,  in  der  die  Beugesehnen 
des  Daumens  frei  lagen.  Eine  schlanke  Kornzange,  welche  in  die  beiden 
letzterwähnten  Schnittwunden  eingeführt  wurde,  kam  aus  der  Wunde  ober- 
halb des  Handgelenks  zum  Vorschein.  Der  Eiter  wurde  sorgfältig  mit 
physiologischer  Kochsalzlösung  ausgespült.  Es  wurde  Stauungshyperämie 
eingeleitet.  Es  kam  zu  einer  ausserordentlich  starken  stinkenden  Eiterimg 
aus  den  Operationswunden,  die  allmählich  mehr  und  mehr  abnahm.  Am 
20.  März  waren  alle  Wunden  geschlossen,  ohne  dass  es  zu  einer  Nekrose 
von  Sehnen  gekommen  war.  Am  24.  März  wurde  der  Mann  auf  Verlangen 
entlassen.  Die  aktive  Beweglichkeit  aller  Finger  war  vorhanden,  aber  noch 
ziemlich  beschränkt.  Im  November  stellte  sich  der  Mann  wieder  vor. 
Die  Finger  konnten  nicht  vollständig  zur  Faust  eingeschlagen  werden,  im 
übrigen  waren  sie  aktiv  gut  beweglich.  Passiv  war  jedes  einzelne  Gelenk 
in  vollem  Umfange  zu  bewegen.  Der  Mann  übte  sein  Schlosserhandwerk 
wieder  aus.  Nur  feine  Arbeit  konnte  er  noch  nicht  verrichten.  Im  März  1906 
habe  ich  den  Mann  wieder  gesehen.  Er  hat  nahezu  die  volle  Funktion 
seiner  Hand  wieder  erlangt,  sie  ist  nur  noch  nicht  ganz  so  geschickt  wie 
sie  früher  war,  hat  sich  aber  noch  fortwährend  gebessert,  so  dass  auch  der 
Rest  von  Funktionsausfall  wohl  noch  verschwinden  wird.  Die  Finger  sind 
aktiv  und  passiv  in  normalen  Grenzen  beweglich. 

44.  Ein  41  jähriger  Musiker  verletzte  sich  am  13.  Februar  1904  das 
Endglied  des  rechten  Daumens.  In  der  folgenden  Nacht  trat  unter  Schüttel- 
frost eine  heftige  Entzündung  auf.  Ein  Arzt  machte  einige  Tage  später 
einen  kleinen  Einschnitt.  Am  20.  Februar  wurde  der  Kranke  im  Schüttel- 
frost aufgenommen. 

Die  rechte  Hand  und  der  rechte  Vorderarm  waren  mächtig  geschwollen 
imd  gerötet.  Auf  dem  Handrücken  fand  sich  pralles  Ödem.  Zahlreiche 
lymphangitische  Streifen  liefen  bis  zur  Achselhöhle.  Die  Haut  des  Daumens 
Bier,  Hj'perämie  als  Heilmittel.  22 


338  Spezieller  Teil. 

sah  teils  blau-,  teils  graurot  aus  und  war  gangr  an  verdächtig.  An  seinem 
Endglied  fand  sich  eine  2  cm  lange  Schnittwunde.  Die  Gegend  der  Beuge- 
sehne des  Daumens  und  des  kleinen  Fingers  und  eine  sehr  geschwollene 
Stelle  oberhalb  des  Handgelenks  waren  auf  Druck  stark  empfindlich.  In 
Narkose  wnrden  die  Kleinfinger-  und  Daumensehnenscheide  in  der  Beuge- 
falte 3  cm  lang  eröffnet.  Ein  dritter  Schnitt  von  5  cm  Länge  eröffnete 
einen  Abscess  oberhalb  der  Beugeseite  des  Handgelenks.  Alle  drei 
Schnitte  entleerten  dünnen,  schmierigen  Eiter.  Vom  oberen  Schnitte  aus 
gelangte  der  Finger  6  cm  weit  in  eine  Eiterhöhle,  welche  zwischen  die 
tiefen  Muskeln  des  Vorderarmes  führte.  Der  Eiter  wurde  aus  den  Schnitten 
nach  Möglichkeit  ausgedrückt  und  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  aus- 
gespült. Überall  floss  aus  den  Schnitten  nach  Entleerung  des  Eiters  eine 
dünne,  missfarbene  Flüssigkeit.  Das  Unterhautzellgewebe  war  graugelb 
verfärbt.  Nirgends  fanden  sich  Granulationen.  Der  Eiter  enthielt 
Sta^Dhylokokken.  Es  wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Es  trat 
massenhafte  Eitervmg  ein.  Am  25.  Februar  eröffnete  ich,  da  die  Tempe- 
ratiir  hoch  war  und  in  der  Handgelenksgegend  die  Schmer zhaftigkeit  und 
Schwellung  bestehen  blieb,  durch  je  einen  kleinen  Schnitt  von  der 
ulnaren  und  radialen  Seite  das  Handgelenk.  Bei  Bewegungen  entleerte 
sich  aus  ihm  dicker  Eiter.  Am  27.  Februar  musste  ich  noclimals  zwei 
grosse,  zwischen  die  Muskeln  des  Vorderarmes  hinaufgehende  Abscesse 
spalten.  Die  Haut  zeigte  sich  auf  dem  Handrücken  überall  unterminiert 
und  abgehoben. 

Die  Wunden  reinigten  sich  allmählich,  aber  die  Sehnen  wurden  nekro- 
tisch und  das  Handgelenk  ankylotisch.  Am  16.  April  1904  wiirde  der 
Kranke  entlassen.  Bis  zum  17.  März  hatten  hohe  Temperattu-steigeriuagen 
bestanden. 

Am  3.  November  stellte  sich  der  Mann  vor.  Die  Hand  bot  das  ge- 
wöhnliche traurige  Bild,  wie  wir  es  nach  solchen  schweren,  gekreuzten 
Phlegmonen  der  Sehnenscheiden  zu  sehen  gew^ohnt  sind.  Die  Stauungs- 
hyperämie hatte  daran  nichts  geändert. 

Bei  der  Abfassung  der  III.  Auflage  dieses  Buches  hatte  ich 
25FäUe  von  Sehnenscheidenphlegmone  behandelt ;  nur  in  8  von  diesen 
starben  die  Sehnen  ab.  Nunmehr  ist  die  Zahl  unserer  Fälle  um 
11  vermehrt.  Unter  diesen  befand  sich  nur  einer,  der  zur  Nekrose 
der  Beugesehnen  eines  Zeigefingers  führte.  Im  ganzen  behandelten 
wir  also  36  Fälle,  von  denen  9  mit  Nekrose  der  Sehnen  endeten. 
Es  ist  bemerkenswert,  dass  sich  unsere  Erfolge  mit  zunehmender 
Erfahrung  mehr  und  mehr  besserten.  So  heilten  wir  vor  dem 
letzten  Misserfolge  15  Fälle  hintereinander,  darunter  4  schwere 
progrediente  ohne  Nekrose. 

Unter  den  9  ungünstig  verlaufenden  Fällen  lag  der  Beginn 
der  Erkrankung  einmal  über  einen  Monat,  zweimal  14  Tage,  ein- 
mal 12,  einmal  10,  einmal  8,  einmal  7  (schwere  V-förmige  Phleg- 
mone), einmal  die  Verletzung,  die  die  Phlegmone  veranlasste,  nur 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      339 

234  Tage  zurück;  einmal  konnte  der  Zeitpunkt  nicht  angegeben 
werden,  weil  der  Kranke  an  Syringomyelie  litt,  und  die  dement - 
sprechende  Schmerzlosigkeit  ihm  den  Anfang  des  Leidens  hatte 
übersehen  lassen. 

Mehrere  der  ungünstig  verlaufenden  Fälle  waren  durch  Knochen- 
und  Gelenkpanaritien  kompliziert. 

Sicherlich  war  in  mehr  als  der  Hälfte  dieser  Fälle  die  Sehne 
bereits  nekrotisch,  als  unsere  Behandlung  einsetzte. 

Die  vortrefflichen  Erfolge  sind  von  sehr  vielen  Seiten  be- 
stätigt worden,  so  vor  allem  von  Croce^),  Stich^),  Danielsen^), 
Bardenheuer^),  Jerusalem^),  Ranzi^)  und  noch  vielen  anderen. 
Bardenheuer  erklärt:  ,, Wahrhaft  glänzend  sind  die  Erfolge  bei 
den  Sehnenscheidenphlegmonen,  und,  wenn  die  Methode  nichts 
mehr  leistete  als  dieses,  so  würde  sie  verdienen,  nicht  vergessen 
zu  werden."  Über  sehr  schlechte  Erfolge  bei  Sehnenscheiden- 
phlegmonen berichtet  Lindenstein*).  Er  konnte  unter  11  Fällen 
nur  einmal  die  erkrankte  Sehne  funktionsfähig  erhalten.  Er  be- 
richtet, dass  ,, trotz  ausgiebiger  Incision  und  Stauung"  die  Sehnen 
nekrotisch  wurden.  Vielleicht  sind  sie  es  auch  wegen  ausgiebiger 
Incision  geworden.  Meine  Resultate  veranlassen  mich  jedenfalls, 
bei  den  kleinen  Einschnitten  zu  bleiben.  Allerdings  spalten  soll 
man  immer    und  zwar  frühzeitig. 

Wenn  man  sich  die  ganz  kläglichen  Erfolge  unserer  energisch 
operativen  und  antiphlogistischen  Behandlung  der  Sehnenscheiden- 
phlegmonen ins  Gedächtnis  zurückruft,  so  wird  mir  wohl  jeder 
Sachverständige  zugeben,  dass  unsere  oben  geschilderten  Resultate 
bisher  unerreichv  dastehen  und  glänzend  zu  nennen  sind. 

Betrübend  ist  der  Misserfolg  in  dem  frischen  Falle,  wo  die 
Verletzung,  aus  der  sich  die  Krankheit  entwickelte,  erst  2^  Tage, 
die  Phlegmone  also  noch  kürzere  Zeit  bestand.  Ich  will  ihre 
Krankengeschichte  mitteilen,   und  wir  wollen  an  der  Hand  der- 


1)  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen  Gesellschaf t  für  Chirurgie, 
S.  220—266. 

2)  Jerusalem,  Bier'sche  Stau-  tmd  Saugbehandlung  in  der  Kassenpraxis. 
"Wiener  klinische  Rundschau.    1906.    Nr.  23. 

3)  Ranzi,    Über   die   Behandlung    akuter    Eiterungen  mit   Stauungshyper- 
ämie.     Wiener  klinische  Wochenschr.    1906.   Nr.  4. 

4)  Lindenstein,   Erfahrungen   mit  der    Bier' sehen   Stauiuig.      Münchner 
med.  Wochenschrift.     1906.    Nr.  38. 

09* 


3-}-0  Spezieller  Teil. 

selben  zu  sehen  versuchen,   ob  etwa  ein  technischer  Fehler  die 
Schuld  trägt: 

45.  Ein  24jäliriger  Hausbiirsche  bekam  im  Anschluss  an  eine  Quet- 
schung in  der  Nacht  vom  2.  zum  3.  Oktober  eine  Entzündung  des  rechten 
Mittelfingers.  Ein  Arzt  machte  einen  kleinen  Einschnitt,  der  indessen  die 
Beschwerden  nicht  beseitigte. 

Am  5.  Oktober  1904  wiirde  der  Kranke  aufgenommen.  Der  rechte 
Mittelfinger  war  geschwollen  und  gerötet.  Zwischen  End-  und  Mittel- 
glied befand  sich  ein  11,4  cm  langer  Einsclmitt,  der  aber  nur  in  seiner 
Mitte  in  die  Tiefe  fülirte.  Bei  Druck  auf  die  Sehnenscheide  entleerte 
sich  Eiter. 

Es  wurde  der  Versuch  gemacht,  die  noch  nicht  lange  bestehende 
Sehnenscheidenphlegraone  ohne  weiteren  Einsclmitt  durch  Stauungshyper- 
ämie zu  coupieren;  doch  nahm  die  Eiterung  stark  zu.  In  der  Beugefalte 
zwischen  Finger  und  Hand  brach  ein  Abscess  durch,  ein  anderer,  mit 
diesem  kommunizierender  Abscess  bildete  sich  auf  dem  Rücken  des  Fingers. 
Deshalb  wurde  am  9.  Oktober  die  Selinenscheide  am  Grundgliede  bis  in 
die  Hohlhand  liinein  und  auch  der  Abscess  am  Fingerrücken  gespalten, 
die  Stauimgshyperämie  wurde  fortgesetzt.  Die  Sehnen  wurden  neki"otisch 
und  deshalb  wiu-de  am  27.  Oktober  der  Finger  exartikuliert. 

Wie  mir  scheint,  wurde  hier  nicht  rechtzeitig  die  Sehnen- 
scheide gespalten.  Der  vom  früheren  Arzte  angelegte  Schnitt  war 
nur  eine  oberflächhche  geschwänzte  Spaltung  der  Haut,  also  nutzlos. 
Es  bestand  ausserdem  eine  erhebliche  Gewebsquetschung.  Bald 
nach  Einleiten  der  Stauungshyperämie  bildeten  sich  Blasen,  und 
die  Farbe  des  Fingers  war  bläulich,  während  sie  sonst  bei  akuten 
Entzündungen  rot  auszusehen  pflegt. 

Im  übrigen  habe  ich  2  ganz  frische  Fingerentzündungen  ohne 
Operation  nach  Stauungshyperämie  zurückgehen  sehen,  die  nach  dem 
Untersuchungsbefunde  höchstwalirscheinlich  beginnende  Sehnen- 
scheidenphlegmonen  waren.  Ich  habe  sie  nur  in  dieser  Übersicht 
nicht  mitgezählt,  weil  ich  den  Beweis  dafür  nicht  liefern  kann.  Dass 
auch  die  frischen  Sehnenscheidenphlegmonen  ohne  Operation  aus- 
heilen können,  ist  an  sich  nach  unseren  Erfahrungen  bei  anderen 
Eiterungen  und  Entzündungen  wahrscheinlich  und  wird  meines 
Erachtens  auch  durch  FaU  40  bewiesen,  obwohl  es  zur  Operation 
kam.  Unter  dem  Einfluss  der  Stauung  kam  es  hier  entweder  über- 
haupt nicht  zur  Eiterung,  oder  aber  schon  vorhandener  Eiter  wurde 
durch  das  Mittel,  ähnlich  wie  in  den  beschriebenen  Fällen  27 
und  38  und  in  dem  noch  zu  beschreibenden  Fall  48  in  Serum  umge- 
wandelt. Auf  alle  Fälle  gelang  es,  die  Infektionserreger  abzutöten; 
denn  der  seröse  Inhalt  wurde  steril  befunden. 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      341 

Akute  Osteomyelitis. 

Beginnende  akute  Osteomyelitis  habe  ich  schon  lange,  zum 
ersten  Male  im  Jahre  1893,  mit  Stauungsh3?3)erämie  behandelt, 
in  der  Absicht,  sie  zu  unterdrücken.  Ich  habe  den  ersten  Fall 
schon  mehrfach  beschrieben.  Ich  gebe  ihn  hier  noch  einmal  Avieder. 

46.  Ein  Kind  war  akut  mit  hohem  Fieber  erkrankt.  Nach  einiger 
Zeit  stellte  sich  ein  Kniegelenkserguss  ein.  Das  untere  Ende  des  zu- 
gehörigen Oberschenkelknochens  war  verdickt  und  schmerzhaft.  Die  hohen 
Fiebererscheinungen  verschwanden,  aber  massiges  Fieber  und  die  Knie- 
gelenksentzündung blieben  zurück,  obgleich  das  Gelenk  antiphlogistisch  be- 
handelt, punktiert  und  ausgewaschen  wurde.  Es  versteifte  stark  und  war 
lebhaft  empfindlich.  Ich  leitete  Stauungshyperämie  ein,  welche  in  der 
stärksten  Form  auftrat.  Mit  einem  Schlage  besserte  sich  die  Krankheit, 
in  wenigen  Tagen  verschwanden  Fieber,  Erguss  und  Entzündungserschei- 
nungen und  das  Gelenk  wurde  beweglich. 

Solcher  Fälle  habe  ich  mehrere  mit  Erfolg  behandelt.  Aller- 
dings kann  ich  den  strengen  Beweis  nicht  liefern,  dass  wirklich 
Osteomyelitis  vorlag,  da  ich  Infektionserreger  oder  Eiter  im 
Knochenmark  nicht  nachgewiesen  habe.  Aber  man  sehe  sich  den 
folgenden  Fall,  den  ich  als  Beispiel  anführe,  genauer  an.  Es  gibt 
bei  Kindern  kaum  eine  andere  Krankheit,  die  unter  Schüttelfrost 
zu  so  schweren  und  fieberhaften  subkutanen  Entzündungen  der 
Glieder  und  heftiger  Empfindlichkeit  des  Knochens  führt,  als  die 
Osteomyelitis.  Haben  wir  doch  in  solchen  Fällen  bei  frühzeitiger 
operativer  Eröffnung  stets  den  vermuteten  Eiter  im  Knochenmark, 
ja  fast  immer  schon  unter  dem  Periost  gefunden: 

47.  Ein  ISjähriger  Knabe  erkrankte  am  28.  Oktober  1904  im  An- 
schluss  an  einen  Fall  unter  Schüttelfrost  und  sehr  starken  Schmerzen  mit 
einer  heftigen  Entzündung  des  linken  Unterschenkels. 

Am  30.  Oktober  wurde  der  Knabe  aufgenommen.  Der  linke  Unter- 
schenkel war  sehr  stark  geschwollen  (der  Massunterschied  betrug  bei  dein 
mageren  und  blassen  Knaben  4  cm),  gerötet  und  äusserst 
schmerzhaft.  Besonders  der  obere  Teil  des  Schien-  ,^^  -^  ^^ 
beins  war  schon  auf  leisen  Drvick  sehr  stark  empfind- 
lich. Es  'wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet,  die  schon 
nach  24  Stunden  alle  subjektiven  Beschwerden  und  nach 
4  Tagen  sämtliche  objektiven  Veränderungen  einschliess- 
lich der  Temperatursteigerung  beseitigte.  Schon  am 
4.  November  stand  der  Knabe  auf  und  ging  ohne  jede 
Beschwerde     umher.        Den    Temperaturverlauf      zeigt  Tafel  XL 

Tafel  XI. 

Zwei  ähnliche  Fälle  sind  beschrieben  von  Burn-Murdoch^). 

1)  Burn-Murdoch,  Edinburgh  niedieo-chirurgical  society  The  Lancet  1907 
•26.  Januar   S.  230. 


34:2  Spezieller  Teil. 

Auch  von  vornherein  mildverlaufende  und  nicht  zum  Aufbruch 
führende  Osteomyehtisfälle  zeigen  diesen  prompten  Rückgang  unter 
Stauungshyperämie,  selbst  wenn  sie  schon  längere  Zeit  bestehen. 
Dafür  bietet  der  schon  beschriebene  Fall  29  ein  schönes  Beispiel. 

In  letzter  Zeit  habe  ich  mich  dann  nicht  mehr  auf  begin- 
nende Fälle  beschränkt,  sondern  auch  die  schweren  Fälle  von 
Osteomyelitis,  mit  grossen  Abscessen,  mit  Gelenkvereiterungen  und 
Epiphysenlösung  durch  Stauungshyperämie  behandelt. 

Ich  ging  in  folgender  Weise  vor:  Sobald  der  Eiter  nach- 
gewiesen war,  wurde  der  Abscess  entweder  mit  einem  dicken  Troi- 
kart  punktiert  und  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  ausgespült, 
oder  durch  einen  oder  mehrere  Schnitte  gespalten.  Die  Schnitte 
wurden  nur  so  gross  geführt,  dass  der  Knochen  nicht  in  weiter 
Ausdehnung  frei  lag,  weil  ich  fürchtete,  dadurch  die  Nekrose  zu 
befördern.  Der  Eiter  wurde  sorgfältig  ausgedrückt  und  durch 
Spülung  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  entfernt.  Es  wurde 
weder  drainiert  noch  tamponiert,  wieder,  weil  ich  fürchtete,  dadurch 
die  Knochen  auszutrocknen  und  die  Nekrose  zu  befördern,  sondern 
einfach  die  Wunde  mit  einem  dicken  aufsaugenden  Verbände 
locker  bedeckt. 

Bei  einigen  Fällen  von  akuter  Osteomyelitis  suchte  ich  zu- 
nächst mit  blosser  Punktion  und  Ausspülung  der  Eiterhöhle  auszu- 
kommen.   Zu  ihnen  gehört  der  folgende  Fall: 

48.  Ein  12jähriges  Mädchen  erkrankte  in  der  Nacht  vom  5./6.  Januar 
1904  plötzlich  mit  starken  Sclimerzen  im  linken  Oberschenkel. 

Am  15.  Januar  woirde  das  Kind  aufgenommen.  Der  ganze  linke  Ober- 
schenkel war  besonders  in  der  unteren  Hälfte  stark  geschwollen.  An  der 
Aussenseite  und  in  der  Kniekehle  fanden  sich  lebhafte  Röte,  ödem  vm.d 
Fluktuation.  Das  Kniegelenk  war  stark  geschwollen,  es  mass  an  verschie- 
denen gleichnamigen  Stellen  5,5 — 10  cm  mehr  als  das  gesiinde. 

Es  wurde  sofort  eine  Stauungsbinde  angelegt,  die  bewirkte,  dass  das 
Kind  zum  ersten  Male  nach  Ausbruch  der  Erkrankung  ruhig  schlafen 
konnte.  Am  16.  Januar  wurde  im  Ätherrausch  der  Abscess  von  der 
Aussenseite  her  init  einem  dicken  Troikart  punktiert.  Es  wurden  reichlich 
100  ccm  dicker,  leicht  blutiger  Eiter  entleert,  der  eine  Reinkultur  von 
Staphylokokken  entliielt.  Die  Höhle  wurde  avisgespült  und  die  Pvmktions- 
stelle  durch  eine  Naht  geschlossen.  2  Stvmden  nach  der  kleinen  Operation 
wurde  die  Stauiingsbinde  wieder  angelegt  und  22  Stunden  täglich  getragen. 
Vom  folgenden  Tage  an  hatte  die  Kranke  keinerlei  Beschwerden  mehr 
und  fühlte  sich  völlig  gesund.  Die  Dauer  der  Stauungshyperämie  wxirde 
allmählich  herabgemindert.  Am  23.  Januar  stieg  die  Temperatur,  die 
schon  zur  Norm  herabgefallen  war,  wieder  an,  die  Umgebung  der  Punktions- 
stelle war  gerötet  \m.d  der  obere  Teil  der  Kniekehle  prall  ausgefüllt.     Ich 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      343 

vermutete  Wiederansammiung  des  Eiters,  spaltete  im.  Ätherrausch  die 
Höhle  durch  einen  8  cm  langen  Schnitt  von  der  Aussenseite,  entleerte 
aber  nur  etwa  100  ccm  klares,  zitronengelbes  Serum.  Mit  dem  Finger 
fühlte  ich  die  Hinterfläche  des  Oberschenkelknochens  von  der  Gegend  der 
unteren  Epiphyse  bis  zu  seiner  Mitte  hin  vom  Periost  entblösst.  Die  Wunde 
wiude  mit  Silberdrähten  vernäht  und  die  Blutung  durch  einstündigen  Druck- 

151  16  17  18  19  20  21  22  23  24  25 
39 


■■  «8  ■■■■■B ■■■■■■■■■■■■ 
BSiHH  HIHI  ■■■■■■■»■■  ■■■■■■ 

■■^^■»iwBwBIwMBBiwawB— 


Tafel  XII. 


verband  gestillt,  dann  wurde  ein  lockerer  Verband  angelegt  und  die  Stau- 
ungshjqDerämie  wieder  22  Stunden  täglich  angewandt.  Die  Temperatur 
sank  schnell,  die  Wunde  heilte  per  primam  intentionem  und  der  pralle 
Kniegelenkserguss  schwand  in  wenigen  Tagen.  Über  den  Verlauf  der  Tem- 
peratur gibt  Tafel  XII  Aufschluss. 

Das  Kind  blieb  noch  bis  zum  22.  Februar  zur  Beobachtung  im  Kranken- 
hause. Bei  der  Entlassung  erinnerte  nur  noch  eine  erhebliche  Verdickung 
des  Oberschenkelknochens  und  die  Xarbe  der  Operation  an  die  überstandene 
Krankheit. 

Ich  bemerke  auch  hier  wieder,  dass  die  blosse  Punktion  des 
Abscesses  durchaus  nicht  die  Regel  für  die  Behandlung  der  eitrigen 
Osteomyelitis  sein  soll.  Auch  hier  handelte  es  sich  um  Versuche, 
auf  möglichst  schonende  Weise  das  Leiden  zu  beseitigen.  Sicher- 
lich genügt  dies,  wie  die  weitere  Erfahrung  gezeigt  hat,  nur  in 
ganz  seltenen  Fällen. 

Ich  habe  deshalb  auch  an  der  Regel  festgehalten,  osteomye- 
litische Abscesse  unter  allen  Umständen  zu  spalten. 

In  einigen  der  Krankengeschichten  wird  man  angeführt  finden, 
dass  ich  gespaltene  osteomyelitische  Abscesse,  die  ich  mit  Stauungs- 
hyperämie behandelte,  wieder  durch  einen  oder  einige  Silberdraht- 
nähte lose  verschlossen  habe.  Dies  sind  reine  Versuche,  die  noch 
nicht  abgeschlossen  sind.  Ich  habe  die  Tatsachen  nur  erwähnt, 
um  nichts  von  den  Krankengeschichten  zu  unterschlagen. 

Ich  gebe  einige  Beispiele  von  geheilten  Osteomyelitiden  mit 
Komplikationen  (vereiterten  Gelenken,  Epiphysenlösung) : 

49.  Ein  8  Wochen  altes  Kind  wiirde  am  10.  Februar  1904  in  die 
Bonner  Poliklinik  gebracht  mit  Schwellung  und  Rötung  des  linken  Ober- 


344 


Spezieller  Teil. 


armes  oberhalb  des  Ellbogengelenks.  Die  Schwellung  fluktuierte.  Das 
Ellbogengelenk  wurde  in  fast  gestreckter  Stellvtng  steif  gehalten  und  war 
nur  in  ganz  engen  Grenzen  passiv  beweglich.  Der  Oberarmknochen  fühlte 
sich  verdickt  an.  Die  Temperatiir  betrug  39°.  Der  Abscess  wurde  ge- 
spalten, er  führt  auf  Knochen,  der  vom  Periost  entblösst  war.  Das  Kind 
wurde  gleich  aufgenommen.  Nach  anfänglichem  Sinken  der  Temperatur 
stieg  dieselbe  wieder  und  der  Lokalbefund  verschlimmerte  sich;  das  Ell- 
bogengelenk vereiterte. 

Axa  16.  Februar  war  der  Befund  wie  folgt:  Der  linke  Arm  war  vom 
oberen  Drittel  an  sehr  erheblich  geschwollen  und  gerötet.  Die  beiden 
unteren  Drittel  des  Oberarmknochens  fühlten  sich  stark  verdickt  an.  An 
der  Aussenseite  des  Oberarmes  befand  sich  eine  3  cm  lange,  gut  granu- 
lierende Wunde,  in  derem  Grunde  der  Knochen  frei  lag.  Das  Ellbogen- 
gelenk war  am  stärksten  geschwollen.  Auf  Druck  oder  bei  Bewegungen  des- 
selben entleerte  sich  dicker  Eiter  aus  der  Schnittwimde.  Das  Gelenk  war 
annährend  gestreckt  vmd  Hess  sich  nur  in  ganz  geringem  Grade  beugen. 
Rötung  und  Schwellung  erstreckten  sich  über  den  Arm  hinaus  auf  die  linke 


10  IUI  12  13  14  15  Kl  17  IS  19  20  21  22  23  24  25  26  27  28  29 


SBSSSigSalc^BBSSSBlsaSSaBnaaSBBi^SSSSBBSB 

HHaBBBBlllBfl'HB'HBHIHHHSaiaiMMHBirtlHIMHHiHlllHH  ■■■■&■§ 

a8BiB^*iHiiB«SnB8S3RBeBSwBBSiB>*^BBBB3SBBaB8BB 

■BBLlBa?lHlTaMIIIHiliflRfiw3SHiHMa^HHIlTiHLW«HHMHKaWHHM 


Tafel  XIII. 


Brustseite  und  die  Schulter.  Es  wurde  12  Stunden  täglich  durch  eine 
möglichst  hoch  am  Arm  angelegte  Gummibinde  Stauungshyperämie  ein- 
geleitet, die  sehr  stark  auftrat.  Am  17.  Februar  wurde  eine  Lösung  der 
unteren  Oberarmepiphyse  festgestellt.  Die  ersten  Tage  war  die  Eiterung 
ausserordentlich  reichlich.  Trotz  der  Epiphysenlösung  wurde  das  Ellbogen- 
gelenk täglich  bewegt  und  durch  Bewegungen  und  Druck  der  Eiter  aus  ihm 
entfernt.  Am  24.  Februar  war  die  Eiterung  fast  völlig  versiegt.  Die  Stau- 
ungsbinde wurde  vom  24. — 28.  Februar  nicht,  von  da  ab  bis  zum  3.  März 
noch  eine  Stunde  täglich  getragen.  An  diesem  Tage  war  die  Krankheit 
als  geheilt  zu  betrachten.  Die  Operationswunde  war  fest  vernarbt,  die  Epi- 
physe  war  wieder  angeheilt  und  die  Bewegungen  des  Ellbogengelenks  fast 
völlig  frei.  Der  kleine  Patient  bewegte  das  Gelenk  selbsttätig.  Weiche  Krepi- 
tation im  Gelenke,  Verdickung  der  beiden  unteren  Drittel  des  Oberarms 
und  die  Operationsnarbe  waren  die  einzigen  Spuren,  die  die  Krankheit 
hinterliess.    Das  Kind  wurde  am   19.  März  entlassen. 

Über   den   Verlauf   der   Temperatur   gibt   die   Tafel  XIII   Aufschluss. 

50.  Ein  9 jähriges  Kind  erkrankte  eine  Woche  vor  der  Aufnahme  mit 
einer  heftigen  Entzündung  des  rechten  Unterschenkels  und  des  benachbarten 
Kniegelenks. 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      S-la 

Am  22.  Dezember  1903  wurde  das  Kind  schwerkrank  vmd  hoch 
fiebernd  aufgenommen.  Der  rechte  Unterschenkel  war  sehr  stark  ent- 
zündet. Am  oberen  Ende  des  Schienbeins  befand  sich  deutlich  ein  Abscess, 
der  durch  einen  6  cm  langen  Schnitt  gespalten  wurde.  Dieser  führt  auf 
den  vom  Periost  weit  entblössten  Knochen.  Es  trat  unter  sehr  beträcht- 
licher Anschwellung  eine  Vereiteriing  des  rechten  Kniegelenks  dazu.  Die 
Probepunktion  des  Gelenks  ergab  am  29.  Dezember  staphylokokkenhaltigen 
Eiter.  Von  diesem  Tage  an  wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet,  die  alle 
Erscheinungen  von  selten  des  Kniegelenks  schnell  besserte.  Am  9.  Ja- 
nuar 1904  musste  noch  ein  Abscess  an  der  Aussenseite  des  Unterschenkels 
durch  einen  3  cm  langen  Schnitt  gespalten  werden.  Am  10.  Januar  stiess 
sich  aus  der  Wunde  über  dem  Schienbein  ein  winziger  Knochensequester 
ab.  Seit  dem  31.  Janiiar  wurde,  da  alle  Entzündungs-  und  Fiebererschei- 
nungen geschwunden  waren,  die  Stauungsbinde  nicht  mehr  angewandt.  Der 
eitrige  Erguss  des  Kniegelenks  war  verschwtmden  und  die  Beweglichkeit 
desselben  wieder  hergestellt.  Doch  blieben  zwei  Fisteln  am  Schienbein 
zurück.  Diese  wurden  am  2.  März  in  Narkose  verfolgt.  Die  eine  führte 
oberflächlich  unter  das  Periost  des  Ivnochens,  die  andere  in  eine  kleine 
Granulationshöhle  am  Kopfe  des  Schienbeins  und  von  dort  in  das  Knie- 
gelenk. Beim  Ausschaben  entleerten  sich  neben  Granulationen  einige  lose 
Knorpelfetzen.  Beim  Bewegen  des  Gelenks  floss  klare  Synovia  aus.  Der 
untere  Teil  der  Wunde  wurde  genäht,  der  obere  nur  mit  Gaze  bedeckt. 
Der  Sicherheit  halber  wurde  wieder  Stauungshypörämie  eingeleitet.  Am 
25.  April  war  die  Operationswunde  völlig  vernarbt.  Am  20.  Mai  wvirde 
das  Kind  entlassen.  Im  Kniegelenk  fand  sich  kein  Erguss  ixiehr,  er  war 
in  vollem  Umfange  aktiv  und  passiv  beweglich.  Dagegen  bestand  noch 
Schwellung  der  Kapsel  und  ziemlich  hochgradige  seitliche  Beweglichkeit. 
Deshalb  bekam  das  Kind  einen  Scharnierapparat,  der  die  seitliche  Beweg- 
lichkeit verhinderte. 

In  der  vorigen  Auflage  berichtete  ich  über  22  Fälle  akuter  Osteo- 
myelitis, die  ich  mit  Stauungshyperämie  behandelt  habe.  Davon 
heilten : 

ohne  Nekrose 10  Fälle, 

mit  Nekrose 11       ,, 

es  starb  an  Pyämie 1   Fall. 

Zu  den  in  der  vorigen  Auflage  beschriebenen,  noch  in  Be- 
handlung befindlichen  Fällen  habe  ich  hinzuzufügen:  Bei  dem 
damals  unter  Nr.  51 1)  beschriebenen  Falle  wurde  noch  eine  Re- 
sektion des  vereiterten  Kniegelenkes  wegen  Caries  notwendig. 
Bei  dem  unter  Nr.  52  beschriebenen  kam  es  in  Folge  der  Ent- 
fernung eines  Sequestes  der  Tibiaspiphyse  zu  einer  Ankylose  des 

1)  Da  ich,  um  nicht  zu  breit  zu  werden,  mehrere  Krankengeschichten 
weggelassen  habe,  so  erfahren  die  Ntimmern  in  dieser  Auflage  eine  Verschiebung. 


346  Spezieller  Teil. 

Kniegelenkes.  Bei  dem  unter  Nr.  53  beschriebenen  zeigte  es 
sich,  dass  auch  noch  eine  Nekrose  des  Talus  vorlag.  Es  wurde 
ein  haselnussgrosser  Sequester  aus  dem  Talus  entfernt.  Wider 
Erwarten  heilte  das  vereiterte  Sprunggelenk  mit  annähernd  voller 
Funktion  aus. 

Seitdem  haben  wir  noch  weitere  4  Fälle  von  frischer 
Osteomyelitis  akuta  behandelt,  deren  Endausgang  sich  schon 
übersehen  lässt.  Davon  heilte  ohne  Nekrose  ein  Kranker,  dessen 
Kniegelenk  gleichzeitig  vereitert  war.  Das  Gelenk  behielt  seine 
volle  Beweglichkeit.  Mit  Nekrose  heilten  drei.  Es  kommt  noch 
hinzu  die  obenerwähnte  Nekrose  des  Talus,  die  anfangs  nicht  er- 
kannt war.     Das  Gesamtergebnis  stellt  sich  also  jetzt  wie   folgt: 

Von   26  Fällen  frischer   akuter  Osteomyelitis  verliefen 

ohne   Nekrose     .     .     .     ,     .     11  Fälle 

mit  Nekrose 14      ,, 

es   starb  an  Pyämie    ...       1  Fall. 

Der  Todesfall,  der  mit  der  Stauungshyperämie  nichts  zu  tun 
hat,  wird  in  einem  späteren  Kapitel  noch  genauer  beschrieben 
werden. 

Bei  dieser  Aufzählung  sind  2  Fälle  von  rezidivierender 
Osteomyelitis  noch  nicht  erwähnt.  Sie  werden  der  folgenden 
Gruppe   zugezählt. 

Ferner  habe  ich  folgenden  eigenartigen  Fall  von  akuter 
Osteomyehtis  des  Humerus  mit  Vereiterung  des  Schultergelenks 
beobachtet.  Er  verdient  wegen  seiner  grundsätzlichen  Wichtigkeit 
Erwähnung: 

51.  Ein  28 jähriger  Ackerer  wurde  mit  einer  schweren  fieberhaften 
Osteomyelitis  des  Oberarms  und  —  wahrscheinlich  eitriger  —  Entzündung 
des  Schulter gelenks  aufgenommen.  Es  gelang  ohne  operativen  Eingriff,  die 
akute  Entzündung  zur  Rückbildung  zu  bringen  und  das  Schultergelenk 
völlig  auszulieilen.  Aber  es  bildete  sich  eine  gewaltige  Verdickung  des 
Knochens  aus.  Im  Röntgenbilde  bemerkt  man  an  der  Knochenwucherung 
und  Verdickung,  dass  die  ganze  Diaphyse  des  Humerus  erkrankt  ist, 
ferner  einen  grossen  eingeheilten  Sequester. 

Der  Fall  ist  insofern  grundsätzlich  wichtig,  als  es  uns  gelang, 
einen  Sequester  zur  Einheilung  zu  bringen.  Ob  wir  nicht  doch 
später  genötigt  sein  werden,  ihn  zu  entfernen,  muß  die  Zeit  lehren. 

Die  erzielten  Erfolge  scheinen  mir  im  ganzen  zufriedenstellend 
zu  sein.   Indessen  beweist  die  Osteomyelitis  lange  nicht  mit  der  abso- 


Behandl.  akut.  Entzünd.   u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      347 

luten  Sicherheit  den  grossartigen  Nutzen  der  Stauungshyperämie 
wie  die  Sehnenscheidenphlegmone.  Denn  unsere  früher  gepriesene 
Behandlung  der  letzteren  führte  mit  ganz  verschwindenden  Ausnah- 
men zum  Absterben  der  Sehne ;  durch  Stauungshyperämie  konnten 
wir  aber  selbst  von  den  mehrere  Tage  alten  ganz  in  Eiter  gebadeten 
Sehnen  noch  weit  mehr  als  die  Hälfte  retten,  und  diese  gingen 
bei  unserer  früheren  Behandlung  alle  zugrunde.  Akute  Osteomye- 
litis aber  sahen  wir  auch  nach  einfacher  Abscessspaltung  gar  nicht 
so  ganz  selten  ohne  Nekrose  ausheilen.  Im  ganzen  bin  ich  mit 
meinen  Erfolgen  der  Stauungshyperämie  bei  akuter  Osteomyelitis 
nicht  besonders  zufrieden.  Allerdings  gehe  ich  keineswegs  so 
weit  wie  Lindenstein^),  der  behauptet,  bei  der  akuten  Osteomy- 
elitis habe  man  nur  schlechte  Erfahrungen  mit  der  Stauungs- 
hyperämie gemacht. 

Offenbar  führen  bei  der  akuten  Osteomyelitis  die  Bakterien- 
gifte sehr  früh  zur  Nekrose,  so  dass  die  Stauungshyperämie  nur, 
wenn  sie  sehr  bald  nach  Ausbruch  der  Krankheit  angewandt  wird, 
mit  einiger  Regelmässigkeit  zur  völligen  und  schnellen  Heilung 
führen  kann.  Die  schlechten  Abflussverhältnisse  des  Eiters  aus 
der  Tiefe  des  Knochens  mögen  das  Ihrige  dazu  beitragen.  Dies 
scheint  mir  die  einzig  mögliche  Erklärung  für  die  im  Vergleich 
zur  Staphylomykose  anderer  Gewebe  ungleich  schlechteren  Re- 
sultate zu  sein.  Nordmann's'^)  Ansicht,  die  Stauung  erstrecke 
sich  nicht  bis  aufs  Knochenmark,  trifft  ganz  und  gar  nicht  zu, 
wie  ich  im  allgemeinen  Teile  ausführlich  auseinandergesetzt  habe. 
Für  die  grosse  Neigung  des  Knochens  zur  Nekrose  sprechen 
ja  auch  sonstige  Erfahrungen.  Stirbt  er  doch  häufig  bei  kom- 
plizierten Frakturen  ab,  wenn  seine  gebrochenen  Enden,  vom 
Periost  entblösst,  frei  in  der  Wunde  liegen,  selbst  wenn  die 
Wunde  nicht  infiziert  wird. 

Auf  alle  Fälle  ist  unsere  bisherige  Behandlung  der  Osteomy- 
elitis mit  Stauungshyperämie  zum  mindesten  reformbedürftig. 
Einmal  wegen  der  mangelhaften  Endresultate,  dann  weil  gerade 
bei  der  akuten  Osteomyelitis  unser  Mittel  häufig  nicht  imstande 
ist,  in  gleicher  Weise  wie  bei  anderen  akuten  Infektionen  die 
schweren  Krankheitserscheinungen  schnell  zum  Verschwinden  zu 
bringen;    oft   besteht   dabei   wochenlang   hohes   Fieber.      In   der 

1)  1.    c. 

2)  Nordmann,    Erfahrungen    über   Stauungshyperämie    bei    akuten  Ent- 
zündungen.     Medizinische   Khnik   1906,    No.  29. 


348  Spezieller  Teil. 

letzten  Zeit  habe  ich  angefangen,  folgenden  Versuch  zu  machen: 
Ich  spaltete,  wie  es  bei  der  sogenannten,  jetzt  mit  Recht  meist 
verlassenen  ,, Frühoperation"  geschah,  breit,  meisselte  den  Knochen 
auf,  entfernte  den  Eiter  gründUch,  schloss  die  Weichteil  wunde 
durch  einige  Silberdraht  nähte  nur  so  weit,  dass  breite  Wundlücken 
zum  Abfluss  des  Sekretes  übrig  blieben,  und  leitete  dann  Stau- 
ungshjrperämie  ein.  Die  Naht  der  Wunde  führe  ich  locker  aus, 
um  nicht  den  Knochen  in  grosser  Ausdehnung  unbedeckt  zu 
lassen.  Ich  fürchte,  das  würde  zu  weiterer  Nekrose  führen. 
Wenigstens  habe  ich  bei  der  ,, Frühoperation",  die  ich  früher 
sehr  häufig  ausgeführt  habe,  bei  breit  offener  Wunde  und  Tam- 
ponade in  dieser  Beziehung  so  schlechte  Resultate  gehabt,  dass 
ich  sie,  ausser  bei  schwer  septischen  Fällen,  bald  wieder  ver- 
liess.  Ähnliche  Versuche  mit  weiter  Spaltung  und  nachfolgender 
Naht  habe  ich  bei  mehreren  Eiterungen  schon  ganz  im  Beginne 
meiner  Behandlung  mit  Stauungshyperämie  mit  gutem  Erfolge 
gemacht.  Ich  habe  nur  beiläufig  in  diesem  Buche  davon  geredet, 
weil  ich  sie  nachher  liegen  gelassen  habe,  und  sie  deshalb  noch 
nicht  abgeschlossen  sind. 

Im  grossen  und  ganzen  sind  andere  Ärzte,  auch  sonst  über- 
zeugte Anhänger  der  Stauungshyperämie,  mit  dem  bisherigen 
Verfahren  bei  der  Osteomyehtis  nicht  zufrieden,  so  Nordmann i). 
Croce-),  Stich^),  Heller-).  Croce  warnt  auf  Grund  der  Er- 
fahrungen Rotter's  direkt  davor,  schwere  Osteomyelitis  mit  der 
Stauungsbinde  zu  behandeln.  Einzelne,  z.  B.  Barden  heuer-), 
berichten  dagegen  über  gute  Erfolge. 

Dagegen  muss  ich  daran  festhalten,  dass  ganz  frische  und 
sehr  milde  verlaufende  Fälle  von  akuter  Osteomyelitis  gerade 
sehr  gut  unter  der  in  alter  Weise  angewandten  Stauungshyper- 
ämie heilen. 

Die  schlechtesten  Resultate  hatten  wir  bei  der  akuten 
Osteomyelitis  der  Tibia,  während  sie  bei  anderen  Knochen  ver- 
hältnismässig gut  waren. 

Osteomyelitisch  vereiterte  Gelenke  versteiften  oder  anky- 
losierten  gewöhnlich,  wenn  ein  Knochenherd  bis  in  das  Gelenk 
hineinragte,  war  dies  nicht  der  Fall,  so  heilten  sie  mit  guter  Funk- 
tion aus. 


1)  1.    c. 

2)  Verhandlungen     des     35.    Kongresses     der    Deutschen    Gesellschaft    für 
Chirurgie,   S.    220—266. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.   Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      349 

Rezidivierende  Osteomyelitis. 

Schon  seit  langer  Zeit  habe  ichFälle  von  sogenannterrezidivieren- 
der  Osteomyelitis  mit  Stauungshyperämie  behandelt.  Diese  liegen  in- 
sofern zuweilen  günstig,  als  sich  bei  ihnen  sehr  häufig  kein  Sequester, 
sondern  nur  Abscess-  oder  gar  nur  Granulationshöhlen  mit  spär- 
lichem Eiter  im  Knochen  finden.  Ich  habe,  abgesehen  von  Knochen- 
abscessen,  nur  7  Fälle  mit  sicher  nachgewiesener  Eiterung  behandelt, 
darunter  einen  vor  mehreren  Jahren  in  Greifswald,  und  zwar  5 
mit  gutem,  2  mit  schlechtem  Erfolge.  Von  solchen,  die  ohne 
Eiterung  zurückgingen,  will  ich  einen  Fall  aus  neuerer  Zeit  an- 
führen. 

52.  Eine  22jährige  Fabrikarbeiterin,  die  vor  2  Jahren  an  einer 
akuten  Osteomyelitis  des  rechten  Oberschenkels  operiert  wurde,  erkrankte, 
nachdem  schon  Wochen  vorher  unbestimmte  Schmerzen  in  der  Hüfte 
und  im  Oberschenkel  aufgetreten  waren,  14  Tage  vor  der  Aufnahme  unter 
Fieber  mit  heftigen  Schmerzen  in  der  Gegend  des  Kniegelenks  des  linken 
Beines. 

Sie  wm"de  am  6.  IL  04  bei  uns  aufgenommen.  Am  rechten  Ober- 
schenkel befand  sich  eine  12  cm  lange,  eingezogene,  mit  dem  Knochen 
verwachsene  Narbe,  im  rechten  Kniegelenk  ein  erheblicher  Erguss.  Es 
mass  an  verschiedenen  Stellen  2 — 314  cm  mehr  als  das  gesunde  Gelenk. 
Es  war  schmerzhaft  und  nicht  ganz  bis  zum  rechten  Winkel  unter 
Schmerzen  zu  beugen.  Das  untere  Drittel  des  zugehörigen  Oberschenkel- 
knochens fühlte  sich  verdickt  an  und 

war  sehr  druckempfindlich.  Die  Weich-    ^^611  7     8     9    10  11   12  13  u  15  16  17 
teile  in  der  Kniekehle  waren  entzündet 
und  infiltriert. 

Ich  vermutete,  dass  sich  bereits 


■■iMBii'^MH»Br.«HrAlBiaHHHHiHHaBHH| 
■laitiHHBWHVMH'AWlBlBHBHHnHHHH 
■»■■■■««■i«/HVH.TlHilMBl2V:a^HnHH 
■■■■■■■ITlHIITiBiViHtlflmiMH'^MMa^MVll 

BsEBBBffläSiüaBBSSSiriSBISBSIil 
BBBBBBBBBBBBBBBBBBBaBBBBI 


ein  Abscess  hinter  dem  Knochen  ge- 
bildet hätte,  aber  die  Probepunktion 
mit  der  Pravaz' sehen  Spritze,  die  in    36 j 
der  Gegend  der  stärksten  Entzündung  Taf.  XIV. 

vorgenommen    wurde,    ergab    keinen 
Eiter,  die  des  Kniegelenks  klare  seröse  Flüssigkeit  ohne  Bakterien. 

Es  wurde  Stauungshyperämie  22  Stunden  täglich  eingeleitet,  die  in 
der  stärksten  Form  auftrat.  Schon  nach  2  Tagen  war  die  Schmerzhaftig- 
keit  beseitigt  und  das  Gelenk  viel  beweglicher.  Vom  18.  Februar  ab 
wurde  die  Stauungsbinde  nur  12  Stunden  getragen.  Am  26.  Februar 
Ovaren  der  Kniegelenkserguss  und  alle  Krankheitserscheinungen  völlig  ver- 
schwunden, das  Gelenk  normal  beweglich  vind  die  Kranke  stand  auf.  Am 
16.  März  wurde  sie  als  voll  arbeitsfähig  entlassen.  Eine  geringe  Ver- 
dickung des  unteren  Oberschenkelendes  war  das  einzige  Abnorme,  was 
sich  nachweisen  liess.     Das  Bein  war  in  vollem  Umfange  gebrauchsfähig. 

Die  beigefügte  Tafel  XIV  gibt  den  Verlauf  der  Temperatur  an. 


350 


Spezieller  Teil. 


Der  folgende  Fall  bietet  ein  Beispiel  von  rezidivierender  Osteo- 
myelitis, wo  trotz  eingeleiteter  Stauungshyperämie  und  unter  der- 
selben ein  Abscess  auftrat,  und  wo  erst  die  Entleerung  des  Eiters 
durch  Punktion  die  Heilung  herbeiführte. 

53.  Ein  22jähriger  Heizer  machte  im  Jahre  1891  eine  akute  Osteo- 
myelitis am  unteren  Teile  des  rechten  Oberschenkels  durch,  deren  Abscess 
vom  Arzte  gespalten  wurde.  Es  blieben  Fisteln  zurück,  welche  trotz  Aus- 
stossung  zweier  Sequester  sich  nicht  schlössen.  Im  Jahre  1897  wm-de  in 
der  Bonner  Klinik  deshalb  mit  Erfolg  die  Nekrotomie  gemacht.  Der 
Kranke  wurde  am  3.  II.  04  mit  neuen  Beschwerden  an  der  alten  Stelle 
wieder  aufgenommen. 

Die  untere  Hälfte  des  rechten  Oberschenkelknochens  war  stark  ver- 
dickt und  auf  Druck  empfindlich.  Man  sah  verschiedene  Operationsnarben, 
dariuiter  eine  von  25  cm   Länge,   die  von  der  Nekrotomie  herrülirte  und 


1611  17  18  19  20  21  22  23  24  25  26  27  28 


ggaBSSSSiiigS-li 


aH|iBBsaays!iiaaiäi 


Tafel  XV. 


in  ihrem  unteren  Teile  sclimerzhaft  war.  Die  Körpertemperatur  war  leicht 
erhöht.  Das  rechte  Kniegelenk  war  normal  beweglich  und  normal  geformt. 
Es  wurde  eine  Stunde  täglich  Stauungshyperämie  angewandt.  Das  Leiden 
besserte  sich  nicht,  die  Temperatiu"  kletterte  vom  18.  IL  an  langsam  in 
die  Höhe  und  die  Operationsnarbe  rötete  sich  luid  wurde  schmerzhafter. 
Am  22.  IL  \^Tirden  im  Ätherrausch  durch  Punktion  mit  einem  dicken 
Trokar  von  der  Aussenseite  her  etwa  2  Esslöffel  voll  ziemlich  dicken  blutigen 
Eiters  entleert.  Der  Troikart  streifte  rauhen  Knochen.  Die  Abscesshöhle 
wurde  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  ausgewaschen.  Die  Stauungsbinde 
wurde  wieder  angelegt,  vom  22.  IL  bis  zum  10.  III.  täglich  20  Stiuiden 
getragen  und  dann  abgelegt.  An  diesem  Tage  war  das  Leiden  als  geheilt 
zu  betrachten;  es  bestanden  keinerlei  Beschwerden  mehr,  am  14.  III.  stand 
der  Kranke  auf. 

Den  Verlauf  der  Temperati.vr  zeigt,  soweit  er  von  Interesse  ist, 
Tafel  XV. 

Vielleicht  genügte  die  anfangs  nur  einstündige  Stauung  täglich 
in  diesem  Falle  nicht,  und  es  wäre  möglicherweise  gelungen,  durch 
längere  Dauer  der  Stauungsperioden  die  Eiterung  hintanzuhalten. 
Es  handelte  sich  hier  um  einen  absichtlich  angestellten  Versuch 
mit  kurzdauernder  Stauungshyperämie. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  an  d.  Gliedern  mit  d.  Stauungsb.      35 ^ 

54.  Ein  ISjähriger  Schreiber  erkrankte  vor  2  Jahren  an  akuter 
Osteomyelitis  des  rechten  Oberarms,  weshalb  an  ihm  in  der  hiesigen  Klinik 
die  Nekrotomie  ausgeführt  wurde.  Ein  Jahr  später  wnrde  er  nochmals 
wegen  eines  Rezidivs  operiert. 

Am  11.  Juni  1904  wiirde  er  mit  einem  neuen  Rezidiv  aufgenommen. 
Am  rechten  Oberarm  fand  sich  a\if  der  Aussenseite  oben  und  unten  je 
eine  10  cm  lange,  mit  dem  Knochen  verwachsene  Narbe.  In  der  Mitte 
der  unteren  sass  eine  erbsengrosse,  reichlich  Eiter  entleerende  Fistel- 
mündung.  Der  Oberarm  war  sehr  entzündlich  geschwollen  und  auf  Druck 
lebhaft  empfindlich.  Die  Entzündiing  erstreckte  sich  auf  das  Ellbogen- 
gelenk; dasselbe  war  geschwollen,  stark  schmerzhaft  und  stand  im  rechten 
Winkel  fest.  Die  Temperatur  war  nur  leicht  erhöht.  Es  wurde  Stau- 
ungshyperämie eingeleitet.  Am  25.  Juni  war  die  Fistel  geschlossen.  ■  Am 
11.  Juli  wurde  der  Mann  entlassen.  Alle  entzündlichen  Erscheinungen 
waren  geschwunden,  das  Ellbogengelenk  war  bis  auf  einen  ganz  geringen 
Rest  an  völliger  Streckung  frei  beweglich  und  gebrauchsfähig. 

Ein  Fall,  bei  dem  wir  einen  schlechten  Erfolg  hatten,  wird 
unter  Nr.  71  beschrieben. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  die  nicht  seltenen, 
sehr  schweren  septischen  Formen  der  rezidivierenden  Osteomye- 
litis, bei  denen  die  Knochen  mit  Tausenden  und  Abertausenden 
von  kleinen  Abscessen  durchsetzt  sind.  Wir  haben  nur  2  solche 
Fälle,  und  zwar  ohne  Erfolg,  behandelt.  Der  eine  ist  der  soeben 
erwähnte,  unter  Nr.  71  beschriebene.  In  einem  weiteren  Falle, 
der  gleichzeitig  eine  Vereiterung  des  Kniegelenkes  und  einen 
eitrigen  I^ungeninfarkt  aufwies,  musste  nach  erfolgloser  Stauungs- 
hyperämie die  Amputation  des  Oberschenkels  ausgeführt  werden. 
Der  Kranke  genas.  Es  handelte  sich  hier  um  eine  Streptokokken- 
infektion. 

Beim  regelrechten  Knochenabscess,  der,  wenn  man  will, 
häufig  ja  auch  ein  Rezidiv  der  akuten  Osteomyelitis  darstellt, 
habe  ich,  wie  zu  erwarten  war,  mit  Stauungshyperämie  nichts  er- 
reicht. Noch  vor  kurzem  missglückte  uns  ein  solcher  Fall,  den 
wir  anfangs  für  eine  gewöhnliche  rezidivierende  Osteomyelitis 
hielten,  die  sich  aber  bei  der  Operation  als  völlig  eitrige  Ein- 
schmelzung  des  Markes  entpuppte. 

Behandlung  anderer  akuter  Entzündungen 
und  Eiterungen  an  den  Gliedern. 

Ausser  den  aufgezählten  schweren  Infektionen,  vereiterten 
grossen  Gelenken,  Sehnenscheidenphlegmonen,  akuten  Osteomyeli- 
tiden  habe  ich  alle  möglichen  Entzündungen  und  Eiterungen  mit 


352  Spezieller  Teil. 

der  Stauungsbinde  behandelt,  z.  B.  alle  Sorten  von  Panaritien, 
frisch  infizierte  Wunden,  Karbunkel  und  Furunkel,  Lymphangio- 
itiden,  Erysipel,  akute  juckende  Ekzeme  usw. 

Sick^)  sah  Milzbrand  durch  die  Stauungsbinde,  Küster^) 
durch  einen  Saugapparat  sehr  gut  ausheilen.  Es  stimmt  diese 
Erfahrung  sehr  gut  mit  den  im  allgemeinen  Teile  dieses  Buches 
geschilderten  experimentellen  Untersuchungen  N  ö  t  z  e  l's  und 
V.  Baumgarten's  überein. 

Ja  auch  für  die  nicht  bakteriellen  Entzündungen  eignet  sich 
die  Stauungshjrperämie,  z.  B.  für  schmerzhafte  Mückenstiche  und 
für  den  akuten  Gichtanfall.  Das  ist  ja  eigentlich  von  unserem 
Standpunkte  auch  verständlich.  Denn  wenn  wir  die  Entzündung 
als  eine  nützliche  Reaktion  zur  Beseitigung  einer  Schädlichkeit 
auffassen,  so  ist  es  ja  gleichgültig,  ob  diese  Entzündung  ver- 
ursachende Schädlichkeit  Bakterien-gift  oder  die  Säure  des  Mücken- 
stiches, oder  die  Harnsäure  des  Gichtkranken 2)  ist.  In  jedem  Falle, 
woEntzündung  auf  tritt, ist  diese  zu  befördern  und  nicht  zu  bekämpf  en. 

xA.uch  der  Bluterguss  in  die  Gewebe  gehört  hierher;  denn  auch 
er  verursacht  eine  heftige  entzündliche  Hyperämie  und  entzündliches 
Ödem,  die  meiner  Auffassung  nach  zur  Lösung  des  Blutergusses 
dienen.  Ich  habe  bei  grösseren  Blutungen  in  die  Gewebe  häufig 
—  wie  mir  schien,  mit  Erfolg  —  Stauungshyperämie  angewandt,  um 
das  Blut  schneller  zu  lösen.  Allerdings  habe  ich  immer  daneben 
Heissluftbehandlung  oder  Massage  angewandt,  um  es  schneller  zur 
Resorption  zu  bringen,  da  diese  durch  die  Stauungshyperämie,  wie 
im  allgemeinen  Teile  erörtert  ist,  während  die  Binde  liegt,  ver- 
langsamt wird.  Gewöhnlich  beseitige  ich  allerdings  die  Blutergüsse 
bloss  mit  heisser  Luft,  weil  die  Resorption,  wie  ich  später  noch 
schildern  werde,  hier  viel  wichtiger  ist  als  die  Lösung. 

Mit  Bezug  auf  alle  die  oben  genannten  Leiden  kann  ich  mich 
kurz  fassen;  denn  die  Technik  bietet  nichts  Besonderes,  sie  ist  die- 
selbe, wie  sie  in  den  vorhergehenden  Abschnitten  auseinandergesetzt 
ist.  Es  kommt  hinzu,  dass  die  Schröpfköpfe,  z.  B.  bei  Furunkeln, 
Karbunkeln,frischinfiziertenWunden,vielfachpraktischer  sind  als  die 

1)  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie. 

2)  Ich  habe  Vorjahren  berichtet,  dass  ich  bei  einem  akuten  Gichtanfalle 
mit  Stauungshyperämie  keinen  Erfolg  gehabt  habe.  Dagegen  habe  ich  mich 
seitdem  in  mehreren  Fällen  überzeugt,  dass  man  auch  gegen  den  Gichtanfall 
das  Mittel  mit  grossem  Nutzen  anwendet. 

Neuerdings  sind  auch  von  anderen  Ärzten  erfolgreich  mit  der  Stauungs- 
binde behandelte  Gichtanfälle  beschrieben  worden. 


Behandlung  des  Erysipels.  353 

Stauungsbinde,    Diese  Behandlung  werde  ich  in  einem  besonderen 
Kapitel  schildern. 


Behandlung  des  Erysipels. 

Ich  habe  schon  im  Jahre  1901 1)  berichtet,  dass  ich  Erysipel 
der  Gheder  und  besonders  des  Gesichts  mit  Stauungshyperämie 
behandelt  habe.  Ich  erlebte  in  Greifswald  in  dem  damaligen  alten, 
hygienisch  schlechten  Krankenhause  eine  Endemie  von  Gesichts - 
erysipel,  an  dem  nacheinander  eine  ganze  Reihe  von  Menschen  er- 
krankten. 13  dieser  Fälle  (darunter  ein  dreimaliges  Rezidiv  bei 
demselben  Kranken)  wurde  durch  eine  Stauungsbinde  am  Halse 
behandelt.  Nur  in  einem  Falle  ging  das  Erysipel  bis  an  die  Binde. 
In  den  übrigen  Fällen  blieb  es  auffallend  beschränkt.  Die  mittlere 
Dauer  der  Krankheit  betrug  4.9,  bei  dem  kürzesten  Verlaufe  1, 
bei  dem  längsten  9  Tage. 

Dagegen  betrug  die  mittlere  Krankheitsdauer  bei  zwei  Kranken 
mit  Kopferysipel  aus  derselben  Endemie,  von  denen  der  erste  mit 
Alkohol-,  der  zweite  nur  mit  aseptischem  Verbände  behandelt 
wurde,  8.5,  bei  dem  einen  6,  bei  dem  andern  11  Tage. 

Auffallend  war  in  den  mit  Stauung  behandelten  Fällen  die 
Besserung  des  Allgemeinbefindens,  der  schnelle  Temperaturabfall 
und  die  rasch  und  reichlich  eintretende  Abschuppung. 

Immerhin  ist  diese  Beobachtungsreihe  zu  klein,  um  den  gün- 
stigen Einfluss  der  Stauungshyperämie  auf  das  Erysipel  zu  be- 
weisen, wenn  sie  ihn  auch  wahrscheinlich  macht.  Denn  das  Ery- 
sipel ist  eine  unberechenbare  Krankheit,  und  es  könnte  Zufall  sein, 
dass  gerade  eine  Anzahl  leichter  Fälle  der  Behandlung  unter- 
zogen wäre. 

Seit  jener  Zeit  habe  ich  nur  selten  mehr  Erysipel  gesehen,  wie 
überhaupt  die  Streptomykose  in  Bonn  ganz  auffallend  selten  ist; 
es  kommt  hier  auf  100  Fälle  von  Staphylomykose,  wenn  ich  von 
Erysipel  und  Mittelohreiterungen  absehe,  vielleicht  einer.  Die 
wenigen,  später  behandelten  Fälle  von  Erysipel  haben  mich  auch 
zu  keinem  sicheren  Urteile  kommen  lassen.  Habs 2),  einer  der  er- 
fahrensten und.  erfolgreichsten  Ärzte  auf  dem  Gebiete  der  Hyper- 


1)  Verhandliingen  des   19.  Kongresses  für  innere  Medizin  1901. 

2)  Verhandlungen    des     35.    Kongresses    der    Deutschen    Gesellschaft    für 
Chiriorgie. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  23 


354  Spezieller  Teil. 

ämiebehandlung,  hatte  schlechte  Resultate,  dagegen  glaubt  Hoch- 
hau s^),  dass  seine  7  Fälle  von  Gesichtserysipel,  die  er  mit  Stau- 
ungshyperämie behandelte,  günstig  dadurch  beeinflusst  sind,  und 
Sick^)  sagt,  dass  ihm  in  einzelnen  Fällen  von  Erysipel  diese  Be- 
handlung vortreffliche  Dienste  geleistet  habe. 

Heller 2)  machte  folgende  bemerkenswerte  Beobachtung: 
Während  ein  Erysipelas  migrans  ohne  erkennbaren  Einfluss  unter 
der  Binde  hinwegwanderte,  machten  drei  gangränöse  Erysipele 
unmittelbar  an  ihr  Halt.  Die  Fälle  verliefen  so  günstig,  dass 
Heller  sie  zu  seinen  besten  Heilerfolgen  zählt. 

Mit  Recht  weist  Payr^)  darauf  hin,  dass  Wolf  1er  und  Nie- 
haus,  von  denen  der  erstere  durch  einen  einschnürenden  Heft- 
pflasterstreifen, der  zweite  durch  einen  Kollodiumring  das  Erysipel 
,, abgrenzte",  in  Wirklichkeit  vielleicht  unbewusst  durch  ,,eine 
allerdings  technisch  unvollkommene  und  oft  ungenügend  ausge- 
führte Stauungshyperämie"  gewirkt  haben. 

Inzwischen  ist  durch  die  mehrfach  gemachte  Beobachtung,  dass 
unter  Stauungshjrperämie,  die  gegen  akute  Entzündungen  ausgeführt 
wurde,  Erysipel  auftrat,  die  Entscheidung  der  Frage  weiter  er- 
schwert worden.  Ich  werde  auf  diesen  Punkt  in  einem  späteren 
Kapitel,  das  über  die  Gefahren  der  Stauungshyperämie  handelt, 
zurückkommen. 


Prophylaktische   Behandlung   frischer   infektionsver- 
dächtiger Wunden    mit   hyperämisierenden  Mitteln. 

Schon  in  der  II.  Auflage  habe  ich  darüber  berichtet,  dass 
wir  angefangen  hatten,  frische  infektionsverdächtige  Wunden  pro- 
phylaktisch mit  Stauungshjrperämie  zu  behandeln.  Damals  be- 
schränkten sich  unsere  Erfahrungen  vor  allen  Dingen  auf  kompli- 
zierte Knochenbrüche  und  andere  verdächtige  Wunden,  die  wir  an 
den  GHedmassen  mit  der  Stauungsbinde,  am  Rumpfe  mit  Saug- 


1)  Hochhaus,  Über  die  Behandlung  akuter  Halsaffektionen  mittels 
S  fcauungshyperämie.    Therapie  der  Gegenwart.    Oktober  1905. 

2)  Verhandl.  des   35.  Kongresses  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Cliirurgie. 

3)  Payr,  Wölfler's  Erysipelbehandlung.  Eine  historische  Bemerkung 
zu  A.  Bier's  neuer  Verwendung  der  Stauungshyperämie.  Wiener  med.  Wochen- 
schrift 1905.    Nr.  38. 


Prophylakt.  Behandl.  frischer  infektionsverd.  Wiuid.  m.  hyperäm.  Mitteln       355 

apparaten  behandelten.  Ich  bemerkte  damals,  dass  es  sehr  schwer 
sei,  sich  hier  ein  Urteil  über  den  Nutzen  des  Verfahrens  zu  bilden, 
da  ja  günstig  verlaufende  Fälle  nicht  beweisen,  dass  sie  ohne 
hyperämisierende  Behandlung  schlechter  verlaufen  wären.  Auch 
theoretisch  lässt  sich  diese  Frage  nicht  entscheiden.  Denn  es  ist 
gar  nicht  gesagt,  dass  dasselbe  Mittel,  das  die  ausgebildete  Krank- 
heit heilt  oder  günstig  beeinflusst,  auch  den  Ausbruch  derselben 
verhindern  muss. 

Nach  unseren  1)  und  von  zahlreichen  anderen  Ärzten  2)  in- 
zwischen gemachten  weiteren  Erfahrungen  scheint  es  mir  aber, 
dass  es  in  der  Tat  gelingt,  mit  einem  hohen  Grade  von  Sicher- 
heit verdächtige  und  verschmutzte  Wunden  vor  der  Infektion  zu 
schützen.  Besonders  haben  wir  diese  Überzeugung  dadurch  ge- 
wonnen, dass  wir  frische  Wunden,  die  die  Bedingungen  der  prima 
intentio  nicht  in  sich  trugen,  weil  sie  gequetscht  und  verunreinigt 
waren,  und  die  wir  deshalb  früher  nie  zu  schliessen  gewagt  hätten, 
nähten  und  prima  intentio  eintreten  sahen.  Als  Beispiel  diene 
folgender  Fall: 

55.  Ein  31  jähriger  Arbeiter  wollte  am  9.  II.  1906  einen  mit  Blecliplatten 
beladenen  Wagen  durch  Eingreifen  in  die  Radspeichen  vorwärts  schieben. 
Plötzlich  ging  der  Wagen  vorwärts  und  drückte  die  linke  Hand  gegen  die 
Blechplatten. 

Der  Verletzte  begab  sich  sofort  in  die  Klinik.  Der  Rücken  der 
schmutzstarrenden  Hand  war  wie  von  einem  Kammrade  zerfetzt.  Im  all- 
gemeinen handelte  es  sich  um  4  parallel  laufende,  durch  schmale  Haut- 
brücken getrennte,  teils  gerissene,  teils  geschnittene  Wunden.  Die  Wun- 
den waren  stark  verunreinigt,  die  Metakarpalknochen  teilweise  gesplittert, 
das  Köpfchen  des  dritten  so  stark,  dass  die  Trümmer  herausgezogen 
werden  mussten.  Die  Strecksehnen  des  2.,  3.  und  4.  Fingers  waren 
durch  trennt. 

Die  Wunden  wurden  vom  sichtbaren  Schmutz  nach  Möglichkeit  ge- 
reinigt tmd  mit  Subümatlösixng  ausgespült.  Die  zerfetzten  Enden  der 
Strecksehnen  des  2.,  3.  und  4.  Fingers  wurden  mit  Katgut  genäht  imd 
die  Hautwunden,  so  gut  es  ging,  diirch  zahlreiche  Nähte  geschlossen.  Nur 
2  etwa  pfenniggrosse  Stellen  mussten  offen  bleiben,  weil  dort  soviel  Haut 
weggerissen  war,  dass  die  Ränder  sich  nicht  vereinigen  Hessen. 

Für  2  Stxmden  wiu?de  ein  Druckverband  angelegt,  dieser  dann  durch 
einen  lockeren  Verband  ersetzt  und  Stauungshyperämie  eingeleitet,  die  sehr 
heftig  auftrat,  so  dass  der  Verband  mit  seröser  Flüssigkeit  durchtränkt 
wurde  und  mehrmals  gewechselt  werden  musste. 

1)  Vergl,  Joseph,  Über  die  frühzeitige  und  prophylaktische  Wirkixag  der 
Stauungshyperämie  auf  infizierte  Wunden.      Münchner  med.   W.    1906.      Nr.  38. 

2)  Vergl.  \mter  anderem:  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie,  Nordmann  1.  c,;  Hoffa,  Die  BehandlTong  von 
Unfallschäden  usw.      Münchner  med.   W.    1906.      Nr.    44. 

23* 


356  Spezieller  Teil. 

Am  17.  II.  wurden  die  Nähte  entfernt.  Die  Wtmden  waren  bis  auf 
die  beiden  kleinen  offenen  Stellen  per  primam  intentionem  geheilt.  Ins- 
besondere waren  die  Sehnen  gut  verwachsen. 

Ich  bemerke  noch,  dass  dem  Manne  prophylaktisch  Tetanusantitoxin 
eingespritzt  wurde.  Dies  tixn  wir  bei  allen  stark  gequetschten  und  ver- 
unreinigten Wunden. 

Dieses  Verfahren  hat  uns  bei  ähnhchen  Fällen  häufig  gute 
Dienste  geleistet,  ebenso  wie  bei  schweren  komphzierten  Knochen- 
brüchen. Vor  allem  haben  wir  uns  nicht  gescheut,  nach  Ope- 
rationen an  infizierten  Körperteilen  gleich  die  Wunde  durch 
Naht  locker  zu  schhessen.  Wir  konnten  dann  unter  Stauungs- 
hyperämie eine  Art  von  prima  intentio  herbeiführen,  die  den 
Heilungsverlauf  ganz  erhebHch  abkürzte  und  eine  bessere  Funk- 
tion der  erkrankten  Körperteüe  erzielte.  Die  erwähnte  Arbeit 
Joseph's  aus  der  hiesigen  Khnik  gibt  dafür  eine  Anzahl  Bei- 
spiele. Die  prophylaktische  Stauungshyperämie  ist  deshalb  be- 
rufen, in  der  Chirurgie  eine  grosse  Rolle  zu  spielen.  Sie  macht 
die  Chirurgie  noch  ein  Stück  weiter  konservativ  und  wird  be- 
sonders die  Folgen  von  Betriebsunfällen  durch  Verhinderung  der 
Infektion,  Vermeiden  grösserer  chirurgischer  Eingriffe  und  die 
Möglichkeit,  frühzeitig  die  Naht  zu  gebrauchen,  erheblich  mil- 
dern. Es  war  mir  eine  Genugtuung,  neuhch  von  dem  Vor- 
sitzenden einer  grossen  Berufsgenossenschaft  zu  hören,  dass 
sich  die  Tätigkeit  der  Ärzte,  welche  Stauungshjrperämie  in  diesem 
Sinne  anwenden,  für  die  Kasse  der  Genossenschaft  in  angenehmer 
und  für  die  betroffenen  Arbeiter  in  nützlicher  Weise  bemerkbar 
mache. 

Habs^)  berichtet,  dass  die  prophylaktische  Stauung  auf  die 
Entwicklung  einer  Lues  sich  ohne  jeden  Einfluss  zeigte:  Ein 
Arzt  verletzte  sich  gelegentlich  einer  Operation  einer  entzündeten 
Phimose  eines  Syphilitischen.  Habs  wandte  sofort  dagegen 
Dauerstauung  an.  Trotzdem  entwickelte  sich  am  Orte  der  Ver- 
letzung eine  Initialsklerose,  an  die  sich  eine  schwere  allgemeine 
Lues  anschloss,  während  die  Eiterung  vermieden  wurde. 

Eine  weitere  interessante  Erfahrung  verdanke  ich  einer 
privaten  Mitteiluug  Habs':  Trotz  prophylaktischer  Stauung  ent- 
wickelte sich  im  Anschluss  an  eine  schwere  Verletzung  des  Beines 
ein  Tetanus.     Ähnliche  Erfahrungen  machte  ich  in  Greifswald, 


1)    Verhandliingen     des    35.    Kongresses     der    Deutschen    Gesellschaft    für 
Chirurgie    I.      S.    221. 


Prophylakt.  Behandl.  frischer  infektionsverd.  Wund.  m.  hyperäm.  Mitteln.      357 

WO  Tetanus  nicht  selten  vorkam,  mit  der  Stauungsliyperämie  bei 
ganz  frischen  Tetanusfällen.  Sobald  sich  die  allerersten  Er- 
scheinungen einstellten,  wurde  Stauungshyperämie  neben  Tetanus- 
antitoxin angewandt  mit  durchweg  schlechtem  Erfolge.  Auch 
die  Kopf  Stauung,  die  ich  mehrmals  anwandte,  um  auf  das  ver- 
giftete Zentralnervensystem  einzuwirken,  erwies  sich  als  gänzlich 
nutzlos . 

Ich  habe  deshalb  meine  alte  Gewohnheit  beibehalten,  stets 
bei  infektionsverdächtigen  Wunden  trotz  prophylaktischer  Dauer- 
stauung auch  prophylaktisch  Tetanusantitoxin  anzuwenden. 

Im  Zusammenhange  mit  diesen  Erfahrungen  stehen  Versuche, 
die  ich  unternommen  habe,  die  aseptische  Wundbehandlung  abzu- 
ändern. Es  wäre  ja  unglaublich  töricht  von  einem  Chirurgen,  wenn  er 
ihre  glänzenden  Leistungen  in  Frage  stellen  wollte.  Aber  trotz  aller 
Asepsis  sind  wir  immer  noch  nicht  so  weit,  dass  wir  die  prima 
intentio  aller  Wunden,  die  sich  für  die  Naht  eignen,  mit  Sicher- 
heit verbürgen  können.  Wie  häufig  kommt  es  zum  Beispiel  noch 
vor,  dass  Seidenfäden  sich  ausstossen,  oder  eine  im  grossen  und 
ganzen  per  primam  intentionem  geheilte  Wunde  kleine  Fehler 
(Nahteiterungen,  Fisteln)  zeigt.  Da  liegt  es  nahe  zu  versuchen, 
hier  gewissermassen  das  Prä  venire  zu  spielen  und  durch  eins  der 
unzähligen  uns  zu  Gebote  stehenden  Reizmittel,  die  ja  nebenbei 
noch  meist  Antiseptika  sind,  die  Wunde  in  einen  entzündlichen 
Zustand  zu  versetzen,  der  eine  Infektion  im  Keime  erstickt. 

Es  kommt  hinzu,  dass  die  Wundheilung  im  gewissen  Sinne 
ein  entzündlicher  Vorgang  ist.  Es  erscheint  deshalb  vielleicht 
nicht  ratsam,  alle  Reize  von  der  Wunde  fernzuhalten.  In  letzterer 
Beziehung  haben  unsere  Versuche  ein  sehr  eindeutiges  Resultat 
ergeben.  Ich  konnte  durchgehends  feststellen,  dass  die  Narben 
viel  schneller  sich  festigten  und  dauerhafter  wurden  als  bei  reizlos 
aseptisch  behandelten  Wunden. 

In  ersterer  Beziehung  dagegen  hat  sich  das  Verfahren  nicht 
bewährt.  Ich  habe  es  bei  etwa  500  grösseren  Wunden,  die  an- 
nähernd die  Bedingungen  für  eine  prima  intentio  in  sich  trugen, 
angewandt,  konnte  aber  keinen  Vorteil  gegenüber  der  rein  asep- 
tischen Behandlung  nachweisen.  Ich  habe  alle  möglichen  Reiz- 
mittel, natürhch  in  starker  Verdünnung,  benutzt.  Am  brauch- 
barsten erwies  sich  das  gemeinste  und  beliebteste,  das  Jod.  Aber 
auch  bei  seiner  Anwendung  machte  ich  die  Erfahrung,  dass  nicht 
selten  sich  eine  milde  Späteiterung  einstellte.     Die  Wunde  schien 


358  Spezieller  Teil. 

nach  der  üblichen  Zeit  per  primam  verheilt.  Dann  aber  ent- 
wickelte sich  langsam  und  unter  ganz  geringen  Entzündungs- 
erscheinungen ein  Abscess,  aus  dem  sich  häufig  Seidenfäden 
ausstiessen.  Schröpf  köpfe  brachten  diese  Eiterungen  durchgehends 
schnell  zur  Heilung. 


Behandlung  akuter  Entzündungen  und  akuter  Eite- 
rungen am  KojDfe  mit  einer  um  den  Hals  gelegten 

Stauungsbinde  ^). 

Die  Kopf  Stauung  wird  in  der  Regel  18 — 22  Stunden  täglich 
angewandt.  Auch  hier  werden  natürlich  hin  und  wieder  Ausnahmen 
gemacht  und  wird  dem  Fall  entsprechend  individualisiert.  Tritt 
z.  B.  zu  starkes  Ödem  auf,  oder  ist  den  Leuten  anfangs  die 
Binde  unangenehm,  so  werden  längere  Stauungspausen  einge- 
schoben. Die  Binde  hegt  im  allgemeinen  richtig,  wenn  das  Gesicht 
etwas  geschwollen  und  gedunsen  aussieht.  An  entzündeten  Stellen 
tritt  auch  hier  ein  rotes  feuriges  Ödem  ein,  aber  während  an  den 
Gliedmassen  häufig  diese  Röte  bis  an  die  Binde  herangeht,  bleibt 
sie  am  Kopf  auf  den  Ort  der  Erkrankung  und  ihre  unmittelbare 
Umgebung  beschränkt.  Nur  wenn  gleichzeitig  ausgedehnte  akute 
Drüsenentzündungen  am  Halse  bestehen,  treten  ausgebreitete  Ent- 
zündungserscheinungen auf. 

Im  allgemeinen  soU  eine  gewisse  ödematöse  Schwellung  bei 
der  Kopfstauung  rasch  bis  an  den  Bindenrand  heranreichen,  aber 
in  der  Stärke  des  Ödems  bestehen  sehr  erhebliche  Unterschiede. 
Fälle,  in  denen  die  Weichteile  des  Halses  in  Gestalt  ödematöser 
Säcke  über  die  Binde  herabhängen,  wechseln  mit  solchen,  wo  die 
erwähnte  Gedunsenheit  des  Gesichts  das  einzige  Zeichen  der 
serösen  Durchtränkung  ist.  Während  es  nun  bei  den  Gliedmassen 
häufig  geraume  Zeit  dauert,  ehe  das  durch  die  Stauungsbinde  her- 
vorgerufene   Ödem    durch    Hochlagerung    wieder    gänzlich    ver- 


1)  Wer  sich  für  die  diirch  die  Stauiongshyperämie  veränderten  Druckver- 
hältnisse  im  Gehirn  interessiert,  findet  sie  ausführlich  beschrieben  lond  graphisch 
dargestellt  in:  Bier,  Über  den  Einfluss  künstlich  erzeugter  Hyperämie  des 
Gehirns  und  künstlich  erhöhten  Hirndrucks  avd  Epilepsie,  Chorea  \and  gewisse 
Formen  von  Kopfschmerzen.  Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten.  VII.  Bd. 
IL  u.  III.  Heft.     1900. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      359 

schwindet,  geht  dies  bei  den  vortrefflichen  Zirkulationsverhält- 
nissen,  die  der  Kopf  aufweist,  sehr  viel  schneller.  Schon  wenige 
Stunden,  nachdem  die  Binde  entfernt  ist,  haben  die  Leute  wieder  ihr 
gewöhnliches  Aussehen. 

In  demselben  Grade  wie  das  Leiden  sich  bessert,  verkürzt  man 
die  Stauungsperioden,  darf  aber  nicht  zu  früh  damit  beginnen,  weil 
sonst  leicht  Rezidive  eintreten. 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  es  ein  abenteuerlicher  Vorschlag 
zu  sein,  am  Kopfe  starke  Stauungshyperämie  durch  ein  um  den 
Hals  gelegtes  Band  zu  erzeugen  und  dieses  etwa  20 — 22  Stunden 
an  derselben  Stelle  sitzen  zu  lassen.  Ein  Wechsel  der  Schnür- 
stelle am  Halse  ist  nicht  wohl  möghch,  weil  das  Band  immer 
unterhalb  des  Kehlkopfes  sitzen  soll;  denn  oberhalb  ist  es  nicht 
gut  anzubringen,  und  gerade  auf  dem  Kehlkopfe  macht  es  lästige 
Druckerscheinungen.  Man  bedenke  aber,  dass,  wieder  wegen  der 
vortrefflichen  Gefässversorgung  des  Kopfes,  sich  hier  viel  leichter 
eine  kräftige  Stauungshyperämie  erzeugen  lässt,  als  an  den  Glied- 
massen. Man  bedarf  deshalb  nicht  mehrerer  um  den  Hals  ge- 
legter Bindengänge,  sondern  es  genügt  hier  das  einfache  im  all- 
gemeinen Teile  beschriebene  BaumwoU-Gummiband,  das  man  am 
besten  mit  einer  einfachen  Lage  einer  Mullbinde  unterfüttert. 
Drohen  trotzdem  bei  empfindlicher  Haut  geringe  Druckerschei- 
nungen aufzutreten,  so  wird  sie  durch  Abwaschungen  mit  Spiritus 
oder  Kampferspiritus  abgehärtet.  Hin  und  wieder  haben  wir  wohl 
ganz  unbedeutende  Exkoriationen  gesehen,  die  wir  mit  Zinkoxyd 
puderten  und  mit  etwas  Watte  bedeckten;  dabei  aber  wandten 
wir  die  Binde  ruhig  weiter  an.  Das  Gummiband  kann  man  auch 
durch  einige  Gänge  einer  fest  um  den  Hals  gewickelten  Flanell - 
binde  ersetzen.  Sie  ist  aber  unpraktisch,  weil  sie  von  dem  Kranken 
als  Avarm  empfunden  wird  und  viel  mehr  Platz  wegnimmt,  als  das 
schmale  Gummiband,  das,  besonders  bei  der  häufig  gleichzeitig  mit 
der  Grundkrankheit  vorhandenen  sekundären  Drüsenschwellung, 
tief  am  Halse  angelegt  werden  muss. 

Auch  am  Kopfe  ist  die  hervorstechendste  Wirkung  der  Stau- 
ungshyperämie die  Stillung  etwa  vorhandener  Schmerzen.  Auch 
hier  bewährte  sie  sich  bei  schmerzhaften  Krankheiten  geradezu  als 
Beruhigungs-  und  Schlafmittel.  Ferner  sahen  wir  mehrere  Male, 
dass  der  infolge  der  Entzündung  in  Zwangsstellung  steif  gehaltene 
Kopf  schon  nach  24  Stunden  wieder  beweglich  wurde. 

Das  Stauungsband  ist  natürlich  zuerst  dem  Menschen  nicht 


360  Spezieller  Teil. 

angenehm.  Es  macht  ihm  das  Gefühl  der  Beengung  am  Halse. 
Doch  gewöhnen  die  Leute  sich  bald  daran.  Wirkhche  Beschwerden 
soll  das  Band  niemals  hervorrufen,  schon  wenn  die  Kranken  über 
Druck  und  Schwere  im  Kopfe  klagen,  soll  es  etwas  gelockert 
werden.  Der  Anfänger  sollte  die  Kopfstauung  zuerst  bei  Erwach- 
senen in  Angriff  nehmen,  damit  er  sich  nach  ihren  Angaben  rich- 
ten kann.  Erst  wenn  er  hier  das  Verfahren  erlernt  hat  und  die 
objektiven  Veränderungen  zu  deuten  weiss,  sollte  er  zur  Behand- 
lung der  Kinder  übergehen. 

Bei  Eiterungen  wirkt  die  Stauungsbinde  am  Kopf  genau  wie 
an  den  Gliedern,  wovon  bei  den  einzelnen  Fällen  die  Rede 
sein  wird.  Ich  kann  hier  nur  im  allgemeinen  sagen,  dass  das,  was 
wir  von  den  Ghedmassen  beschrieben  haben,  für  die  Kopf  Stauung 
in  erhöhtem  Masse  gilt.  Die  entzündlichen  Schwellungen  wachsen 
hier  fast  auf  das  Doppelte  an  und,  gehen  trotz  der  weiteren  An- 
wendung der  Binde  allmähhch  zur  Norm  zurück,  sobald  die  Krank- 
heit sich  bessert  und  ausheilt.  Auch  die  Eiterungen  verhielten 
sich  ganz  ähnhch.  Wir  sahen  den  akuten  heissen  Abscess  selten 
chronisch  werden  und  verschwinden  und  fanden,  dass  kleine  Ein- 
schnitte genügend  waren,  um  ihn  zu  beseitigen. 

Ich  erwähne  aber  auch  hier,  dass  die  Grösse  des  Schnittes 
durchaus  keine  hervorragende  praktische  prinzipielle  Bedeutung 
haben  soll.  Die  Bedeutung  des  gänzlichen  Unterlassens  des  Ein- 
schnittes liegt  vielmehr  auf  theoretischem  Gebiete.  Praktisch  viel 
wichtiger  ist  es,  auch  bei  den  Abscessen  des  Kopfes  von  Tampo- 
nade und  Drainage  abzusehen.  Der  Eiter  wird  einfach  durch 
Druck  und  Ausspülung  entfernt.  In  einer  Reihe  von  Fällen  haben 
wir  auch  mit  günstigem  Erfolge  die  noch  zu  schildernde  Absaugung 
mit  dem  Schröpfkopf  vorgenommen. 

Ich  habe  die  Kopf  Stauung  schon  in  früheren  Jahren  mannig- 
fach verwandt.  Von  akut  entzündlichen  Erkrankungen  habe  ich 
früher  nur  akute  Cerebrospinal -Meningitis  und  Erysipel  damit  be- 
handelt. Seit  reichlich  3  Jahren  aber  habe  ich  das  Mittel  bei  fast 
sämtUchen  in  der  hiesigen  Klinik  und  im  Johannishospital  beobach- 
teten Entzündungen  und  Eiterungen  am  Kopf,  Gesicht  und  oberen 
Teil  des  Halses  grundsätzlich  zur  Anwendung  gebracht i).  Ich 
besehreibe  das  Verfahren  eingehender  für  die  wichtigen 

1)  Vgl.  Keppler,  Die  Behandliing  entzündlicher  Erkrankungen  von  Kopf 
und  Gesicht  mit  Stauungshyperämie.  Münchner  med.  Wochenschrift  1905. 
Nr.  45,  46,  47. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eitervingen  am  Kopfe  ni.  einer  um  d.  Hals  usw.      361 

Akuten  Eiterungen  des  Mittelohres  und.  ihre 
Komplikationen^). 

Wir  haben  sämtliche  Fälle  von  Ohreiterungen,  die  uns  zur  Ver- 
fügung standen,  mit  Stauungshyperämie  behandelt,  einerlei  ob  sie 
im  akuten  oder  chronischen  Stadium  kamen  und  einerlei,  ob  sie 
Komplikationen  aufwiesen  oder  nicht.  Naturgemäss  kommen  die 
letzteren  Fälle  dem  Chirurgen  am  häufigsten  zu  Gesicht.  So  sahen 
wir  nur  einen  FaU  von  Mittelohrentzündung,  der  keine  Kompli- 
kation aufwies.  Aber  gerade  die  komplizierte  Erkrankung  des 
Schläfenbeins  musste  nach  unsern  Erfahrungen  über  ähnlich  patho- 
logische Prozesse  an  den  Gliedmassen  ein  sehr  geeignetes  Feld  für 
unsere  Behandlung  bieten.  Wenn  wir  die  akute  und  chronische 
Osteomyelitis  unter  Stauungshyperämie  nicht  selten  ausheilen  sahen, 
so  war  dasselbe  zu  erwarten  bei  den  Eiterungen  des  Schläfenbeines, 
da  die  hier  in  Betracht  kommende  kleinere  Knochenfläche,  die  weit 
geringere  Neigung  zur  Sequesterbildung  und  die  vortreffliche  Ge- 
fässversorgung  des  Kopfes,  die  eine  wirksame  Hyperämie  leicht 
herstellen  lässt,  einen  guten  Erfolg  versprechen. 

Was  die  spezielle  Behandlung  der  Mittelohreiterung  anlangt, 
so  erwähne  ich  noch  folgendes:  Kommt  der  Kranke  bereits  mit 
einer  Perforation  des  Trommelfells,  die  genügenden  Abfluss  des 
Eiters  gewährt,  zu  uns,  so  wird  kein  weiterer  Eingriff  vorgenommen. 
Ist  die  Öffnung  ungenügend,  so  wird  sie  erweitert  oder  nötigen- 
falls wird  noch  eine  neue  angelegt.  Ist  es  aber  überhaupt  noch 
nicht  zu  einer  Perforation  gekommen,  so  schreitet  man  zur  Para- 
zentese, sobald  nur  eine  verdächtige  Vorwölbung  oder  Verfärbung 
des  TrommeKells  Eiterverhaltung  vermuten  lässt.  Und  was  für  die 
Eiteransammlung  in  der  Trommelhöhle  gilt,  gilt  in  demselben  Masse 
von  den  Abscessen  des  Warzenfortsatzes.  Wo  hier  der  Verdacht 
einer  Eiterung  vorhegt,  soll  man  einschneiden.  Wo  wir  in  unseren 
Fällen,  die  mit  Kopf  Stauung  behandelt  wurden,  nicht  nach  dem 
entwickelten  Grundsatze  verfahren  sind,  haben  wir  ihn  ledighch 
dem  Studium  der  Methode  zum  Opfer  gebracht.  Wenn  wir  auch 
dabei  im  allgemeinen  nicht  schlecht  gefahren  sind,  so  ist  es  uns 
doch  niemals  eingefallen,  diese  abwartende  Stellung  zum  prak- 
tischen Prinzip  zu  machen. 

Auch  über  die  Grösse  des  Schnittes  möchten  wir  zurzeit  noch 


1)  Alle   behandelten  Fälle   sind   von   Eschweiler  mit   verfolgt   und   einer 
sorgfältigen  spezialistischen  BeobachtiTng  unterzogen  worden. 


362  Spezieller  Teil. 

keine  endgültigen  Regeln  aufstellen.  Im  allgemeinen  glauben  wir 
kleine  Schnitte  empfehlen  zu  können,  nur  wo  es  sich  um  tiefer  ge- 
legene vereiterte  Drüsenmetastasen  handelt,  sind  grosse  Schnitte 
zuweilen  nicht  zu  umgehen. 

Ich  werde  nunmehr  an  der  Hand  einiger  der  geeignetsten 
Fälle  die  Einzelheiten  unserer  Methode  zeigen.  Ich  glaube  mich 
dabei  auf  die  folgende  Auswahl  von  akuten  Fällen  beschränken 
zu  können,  insofern  die  hier  geübte  Behandlung  in  all  ihren 
Einzelheiten  auch  für  die  chronischen  Formen  der  Mastoiditis 
zutrifft. 

56.  Ein  zehnjähriges  Mädchen  erkrankte  vor  4  Wochen  an  heftigen 
Schmerzen  im  hnken  Ohre,  die  erst  zwei  Tage  später  nach  Eintreten  eines 
serös-eitrigen  Ohrenfhisses  allmählich  nachliessen.  Da  die  Eiterung  aus 
dem  Olire  aber  in  iinverminderter  Stärke  fortbesteht  imd  überdies  seit 
einigen  Tagen  über  heftige  Schmerzen  in  dem  benachbarten  Schädelknochen 
geklagt  wird,  wird  die  Kranke  am  18.  Februar  1905  der  Klinik  zugeführt. 
Der  Kopf  wird  nach  der  linken  Seite  geneigt  gehalten  und  kann  nur  unter 
Sclimerzen  aus  dieser  Stellung  herausgebracht  werden.  Die  obere  Gehör- 
gangswand zeigt  diffuse  Schwellung  und  Senkung.  Das  Trommelfell  ist 
stark  geschwollen  und  gerötet  und  lässt  in  der  unteren  Hälfte  eine  punkt- 
förmige Perforation  erkennen,  aus  der  reichlich  schleimig-eitrige  Flüssig- 
keit hervorquillt.  Die  Weichteile  über  dem  Warzenfortsatz  sind  in  weiterer 
Ausdehnung  ödematös  geschwollen  und  gerötet,  Fluktuation  ist  aber  nicht 
mit  Sicherheit  nachzuweisen. 

Bei  Druck  auf  die  entzündeten  Partien  wird  lebhaftes  Schmerzgefühl 
geäussert.    Die  Temperatiu*  beträgt  bei  Achselmessvmg  37,9°.  — 

Die  Behandlung  besclii'änkt  sich  auf  die  Anwendung  einer  22  stündigen 
Stauungshyperämie.  Schon  nach  2  Tagen  hat  die  Partie  über  dem  Warzen- 
fortsatz ihre  Druckempfindlichkeit  fast  völlig  verloren,  ohne  dass  sich  ihr 
entzündetes  Aussehen  wesentlich  geändert  hätte.  Die  Schwellung  ist  viel- 
mehr unter  der  Stauung  noch  deutlicher  geworden,  Fluktuation  ist  aber 
auch  jetzt  noch  nicht  mit  absoluter  Sicherheit  nachzuweisen.  Der  Ge- 
hörgang wird  durch  tägliches  Austupfen  von  seinem  eitrigen  Inhalt  befreit 
und  durch  einen  sterilen  Gazebausch  abgeschlossen. 

Unter  täghch  fortgesetzter  Stauung  ist  die  Schmer zhaftigkeit  am 
25.  Februar  bereits  völlig  gewichen.  Auch  Rötung  und  Schwellung  über 
dem  Warzenteile  haben  sich  unter  der  liegenden  Binde  zurückgebildet,  so 
dass  sich  der  Processus  wieder  von  normaler  Haut  bedeckt  zeigt.  Die 
anfangs  reichliche  Eiterentleerung  aus  dem  Ohre  ist  in  merklicher  Ab- 
nahme begriffen.  Die  Temperatur  ist  seit  einigen  Tagen  vollends  zur  Norm 
ziirückgekehrt.  — 

Ära  4.  März  hat  die  Ohreiterung  völlig  aufgehört ;  da  auch  der  Warzen- 
fortsatz keinerlei  krankhafte  Erscheinungen  mehr  darbietet,  wird  die 
Stauung  von  diesem  Tage  ab  weggelassen. 

Am  8.  März  wird  Patientin  geheilt  entlassen.  Das  Trommelfell  ist 
abgeblasst,  so  dass  der  Hammerfortsatz  wieder  deutlich  sichtbar  ist.     Der 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      363 

Sitz  der  Perforation  ist  nicht  mehr  zu  entdecken.     Das  Hörvermögen  ist 
ungestört.  — 

57.  Ein  31  jähriger  Arbeiter  erkrankte  vor  5  Wochen  an  heftigen 
Schmerzen  im  linken  Ohre,  die  mit  höheren  Fiebersteigerungen  einher- 
gingen. Die  entzündlichen  Erscheinungen  wichen  erst,  als  einige  Tage 
später  die  Entleerung  eines  reichlichen  dünnflüssigen  Eiters  aus  dem 
kranken  Ohre  erfolgte.  Da  die  Eiterung  in  unverminderter  Stärke  fort- 
besteht, und  sich  ausserdem  seit  etwa  14  Tagen  bohrende  Schmerzen  in 
dem  benachbarten  Warzenfortsatz  eingestellt  haben,  sucht  der  Kranke  am 
15.  Mai  1904  klinische  Hilfe  auf.  —  Die  Gegend  des  linken  Ohres  ist 
derart  geschwollen,  dass  schon  von  weitem  eine  deutliche  Asymmetrie  des 
Kopfes  sichtbar  ist.  Das  Unke  Ohr  steht  stark  vom  Kopfe  ab ;  die  Gegend 
hinter  demselben  ist  in  über  handtellergrosser  Ausdehnung  ödematös  ge- 
schwollen und  feurig  gerötet.  Die  Rötung  ist  auf  Druck  ausserordentlich 
schmerzhaft,  Fluktuation  ist  aber  mit  Sicherheit  nicht  nachweisbar.  Der 
unke  äussere  Gehörgang  ist  mit  einem  dicken,  übelriechenden  Eiter  aus- 
gefüllt. Nach  Wegtupfen  desselben  zeigt  sich  eine  ausgesprochene  Schwel- 
lung und  Senkixng  der  oberen  Gehörgangs  wand. 

Das  Trommelfell  ist  in  ganzer  Ausdehnung  gerötet  und  geschwollen 
und  lässt  in  der  unteren  Hälfte  eine  grössere  Perforation  erkennen.  Das 
Hörvermögen  ist  linkerseits  völlig  a\if gehoben.  Die  Temperatur  beträgt  bei 
Achselmessung  37,6.  Die  Behandlrmg  bleibt  auch  in  diesem  Falle  auf  die 
Anwendung  einer  12  stündigen  Stauungshyperämie  beschränkt.  —  Als  augen- 
fälligste Wirkung  ist  auch  hier  wieder  eine  rasche  Abnahme  der  Schmerzen 
zu  beobachten.  Schon  wenige  Tage  nach  eingeleiteter  Behandlung  ist  die 
Druckempfindlichkeit  über  dem  Warzenfortsatz  völlig  gewichen,  ohne  dass 
die  objektiven  Veränderungen  zunächst  eine  günstige  Beeinflussung  er- 
kennen Hessen.  Die  entzündhchen  Erscheiniingen  haben  vielmehr  noch 
an  Stärke  zugenommen,  so  dass  der  Ausgang  in  Eiterung  kaum  mehr 
zweifelhaft  sein  kann.  Wir  beabsichtigten,  den  hier  offenbar  vorhandenen 
Abscess  von  selbst  durchbrechen  zu  lassen,  aber  er  bildete  sich  unter  fort- 
gesetzter Stauungshyperämie  schnell  wieder  zurück.  Am  25.  Mai  sind 
Rötung  und  Schwellung  völlig  geschwunden,  und  der  Warzenfortsatz  zeigt 
sich  wieder  von  normalen  Weichteilen  bedeckt.  Die  Absonderung  aus  dem 
Ohre  ist  entschieden  spärlicher  geworden;  das  Trommelfell  ist  im  ganzen 
abgeschwollen,  in  der  ixnteren  Hälfte  ist  aber  noch  die  Perforation  sicht- 
bar, aus  der  von  Zeit  zu  Zeit  etwas  Eiter  hervorquillt.  Nachdem  in  den 
nächsten  Tagen  auch  die  Eiterung  aus  dem  Ohre  zum  Stillstand  gekommen 
ist,  kann  der  Kranke  am  13.  Juni  mit  völlig  normalem  Befunde  beschwerde- 
frei nach  Hause  entlassen  werden.  Der  Trommelfellbefund  ist  normal, 
der  Sitz  der  alten  Perforation  ist  nicht  mehr  zu  entdecken.  Das  Hörver- 
mögen ist  ungestört. 

Vorstehender  Entlassungsbefund  konnte  bei  einer  Nachuntersuchung 
im  Dezember  1904  in  allen  Punkten  bestätigt  werden. 

Wir  haben  vorstehend  zwei  Fälle  akuter  Mastoiditis  kennen 
gelernt,  die  wir  ohne  Einschnitt  lediglich  mit  Stauungshyperämie 
heilen  konnten.    Ob  wir  mit  frühzeitig  ausgeführter  Spaltung  viel- 


364  Spezieller  Teil. 

leicht  noch  früher  zum  Ziele  gekommen  wären,  muss  ausserordent- 
lich zweifelhaft  erscheinen;  nichtsdestoweniger  möchten  wir  aber 
auch  an  dieser  Stelle  wieder  die  möglischst  frühzeitige  Spaltung 
etwaiger  Abscesse  als  die  Regel  hinstellen.  Ich  lasse  nach- 
stehend 3  weitere  Fälle  akuter  Mastoiditis  folgen,  in  denen  wir 
die  Stauung  durch  gleichzeitig  ausgeführte  Einschnitte  ergänzt 
haben. 

58.  Ein  18 jähriger,  blass  und  elend  aussehender  junger  Mann  wird 
am  25.  JuH  1904  in  die  Klinik  aufgenommen.  Er  gibt  an,  schon  seit 
einer  Reihe  von  Wochen  an  Ausfluss  aus  dem  linken  Ohre  zu  leiden;  seit 
14  Tagen  soll  Schwelliong  mid  Sclimerzhaftigkeit  in  der  Gegend  des 
Warzenfortsatzes  hinzugetreten  sein.  Aus  dem  linken  Gehörgange  entleert 
sich  eine  reichliche  Menge  grauen,  übelriechenden  Eiters.  Die  Gegend 
hinter  dem  linken  Olir  ist  in  über  handtellergrosser  Ausdehnimg  stark  ge- 
rötet und  geschwollen;  sie  bietet  in  ilirem  ganzen  Bereiche  deutliche 
Fluktuation  dar  und  ist  spontan  sowohl  als  auch  ganz  besonders  auf  Druck 
ausserordentlich  schmerzhaft.  Die  Spiegeluntersuchung  zeigt  das  Trommel- 
fell gerötet  und  geschwollen,  in  seinem  unteren  liinteren  Quadranten  ist 
auf  der  Höhe  einer  zitzenartigen  Vorwölbung  eine  rundliche  Perforation 
sichtbar.  Flüstersprache  wird  auf  1  m  wahrgenommen.  Die  Temperatur 
beträgt  bei  Achselmessung  38,6".  —  Es  wird  sofort  unter  Sc  hl  ei  eh' scher 
Lokalanästhesie  aui  die  Schwellung  hinter  dem  Ohre  eingegangen;  aus 
dem  ca.  4  cm  langen  Einsclinitt  strömt  eine  Menge  stinkenden  Eiters  her- 
vor. Nach  Ausdrücken  desselben  sieht  man  nicht  nur  den  Warzenfortsatz 
selbst,  sondern  beinahe  auch  die  ganze  Schläfenbeinschuppe  von  ihrem 
Periost  entblösst  frei  zutage  liegen.  Eine  Ivnochenfistel  ist  nicht  zu  be- 
obachten. Die  Wunde  wird,  ohne  zu  tamponieren,  lediglich  mit  einem 
lockeren  sterilen  Schutzvei'bande  bedeckt.  Zwei  Stiinden  später  wird  zur 
22 stündigen  Stauung  am  Halse  geschritten;  es  war  in  diesem  Falle  eine 
ausserordentliche  Schwellung  des  ganzen  Gesichts  zu  beobachten.  Dieselbe 
war  beispielsweise  in  der  Augengegend  so  stark  entwickelt,  dass  die  Lid- 
spalte fast  gänzlich  diirch  das  ödem  verschlossen  war.  Dementsprechend 
sahen  wir  auch  in  diesem  Falle  einen  auffallend  raschen  Erfolg  eintreten. 
Nachdem  die  serös-eitrige  Sekretion  aus  der  Operationswunde  in  den  ersten 
beiden  Tagen  noch  ziemlich  reichlich  gewesen,  hat  sie  in  der  Folge  sehr 
rasch  abgenommen  und  hörte  bereits  am  1.  August  vollständig  auf;  auch 
bei  Druck  trat  kaum  noch  Sekret  aus  der  Schnittöffmuig  hervor.  Warzen- 
fortsatz und  Schläfenbeinschuppe  sind  ziemlich  unempfindlich  auf  Druck 
geworden;  in  gleicher  Weise  ist  auch  eine  Abnalime  der  Ohreiterimg  fest- 
zvistellen.  Die  Besserung  macht  in  der  Folge  derartige  Fortschritte,  dass 
der  Kranke  bereits  am  17.  August  völlig  geheilt  zur  Entlassimg  kommt. 
Die  Operationswunde  ist  völlig  vernarbt.  Die  Eiterung  aus  dem  Ohre  hat 
seit  einer  Woche  völlig  aufgehört,  imd  der  Sitz  der  kleinen  Perforation 
im  Trommelfell  ist  nicht  mehr  aufzufinden.  Flüstersprache  wird  auf  6  m 
wahrgenommen.  Die  Stauiing  wurde  im  vorliegenden  Falle  bis  zum  Ent- 
lassungstage beibehalten. 

Der   vorstehende   Befund   konnte   bei   einer   im   Dezember  1904   vor- 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      365 

genoramenen    Nachunterstichiing    gleichfalls    in    allen    Punkten    bestätigt 
werden. 

Nachdem  wir  in  den  bisher  gebrachten  Fällen  lediglich  Verlauf 
und  Beeinflussung  der  gewöhnlichen  Mastoiditis  kennen  gelernt 
haben,  möchte  ich  weiterhin  noch  über  2  Fälle  von  sogenannter 
Bezold'scher  Erkrankung  berichten.  Man  versteht  bekannter- 
massen  darunter  jene  Form  der  Mastoiditis,  die  durch  einen  Durch- 
bruch gegen  die  Incisura  mastoidea  charakterisiert  ist.  Die  Ge- 
f ährüchkeit  des  Leidens  dürfte  durch  die  anatomischen  Verhältnisse 
ohne  weiteres  erklärt  sein.  Bei  dem  tiefen  Sitz  der  Durchbruch- 
stelle medianwärts  von  einer  dicken  Muskellage,  in  unmittelbarer 
Nähe  der  lockeren  Bindegewebslager  des  Halses  wird  der  Eiter 
nur  selten  den  Weg  nach  aussen  finden,  es  besteht  vielmehr  die 
Gefahr,  dass  sich  eine  Senkung  zwischen  den  tiefen  Halsmuskeln, 
vor  allem  längs  den  Scheiden  der  grossen  Gefässe  ausbreitet. 
Solchen  Komplikationen  wird  man  natürlich  so  früh  als  möglich 
entgegentreten  müssen.  Wir  werden  sehen,  wie  sich  die  Ver- 
hältnisse bei  gleichzeitiger  Anwendung  der  Stauungshyperämie  ge- 
stalten. 

59.  Ein  8 jähriger  Knabe  wird  am  4.  August  1904  in  die  Klinik 
aufgenommen.  Er  leidet  nach  Aussage  der  Eltern  bereits  seit  Wochen 
an  Ausfluss  aus  dem  linken  Ohre.  In  den  letzten  Tagen  soll  eine 
Schwelliing  an  der  gleichnamigen  Halsseite  aufgetreten  sein.  Aus  dem 
linken  Gehörgang  entleert  sich  eine  reichliche  Menge  dünnflüssigen 
stinkenden  Eiters.  Die  Gehörgangswände  zeigen  sich  gerötet  und  ge- 
schwollen. Im  lünteren  unteren  Quadranten  des  stark  geröteten  Trommel- 
fells ist  eine  kleine  punktförmige  Perforation  sichtbar.  Der  ganze  Warzen- 
fortsatz ist  auf  Druck  ausserordentlich  empfindlich,  ohne  dass  seine  Be- 
deckungen —  von  einer  gewissen  ödematösen  Schwellung  abgesehen  — 
stärkere  Entzündungserscheinungen  darböten.  ISTth'  nach  der  Spitze  des 
Processus  liin  sind  die  Weichteilbedeckungen  stärker  gerötet  vmd  ausser- 
ordentlich druckempfindlich.  Diese  entzündlich  veränderte  Stelle  geht  nach 
unten  zu  in  eine  fast  hülmereigrosse  harte  Infiltration  über,  die  von  ge- 
röteter Haut  bedeckt  ist  und  in  der  Tiefe  deutlich  Flxiktuation  erkennen 
lässt.    Die  Temperatur  beträgt  bei  Achselmessung  38,2°. 

Von  einer  täglichen  Reinigung  des  äusseren  Gehörgangs  abgesehen, 
bleibt  die  Behandliing  bis  zum  6.  August  auf  die  Anwendung  einer 
22 stündigen  Stauimg  beschränkt.  Die  Eiterung  aus  dem  Ohre  ist  trotz 
der  erst  zweitägigen  Behandlungsdauer  schon  entschieden  geringer  ge- 
worden. Dabei  hat  sie  ihren  üblen  Geruch  fast  völlig  verloren.  Von  der 
ursprünglichen  Druckempfindlichkeit  des  Warzenfortsatzes  ist  nichts  mehr 
nachzuweisen;  auch  ist  die  Temperatur  zur  Norm  zurückgekehrt,  obschon 
der  Abscess  bisher  unberührt  geblieben  ist.  Da  aber  die  Fluktuation 
immer   deutlicher   geworden   ist,    wird   am    6.  August   der   Abscess   durch 


366  Spezieller  Teil. 

einen  4  cm  langen  Schnitt  gespalten.  Es  entleert  sich  aus  der  Tiefe, 
vom  vorderen  Rande  des  Kopfnickers  herkommend,  eine  reichliche  Menge 
dickflüssigen  Eiters,  in  dem  mikroskopisch  wie  kulturell  Staphylokokken 
nach"weisbar  sind.  Die  SchnittT\ainde  wird  mit  einem  lockeren  Schutzver- 
bande bedeckt,  auf  Tamponade  wird  trotz  der  tiefen  Lage  des  Abscesses 
verzichtet;  2  Stunden  nach  der  Operation  wird  von  neuem  22 stündige 
Stauungshyperämie  eingeleitet. 

Nachdem  sich  in  den  ersten  beiden  Tagen  nach  der  Operation  noch 
ziemlich  reichlich  Eiter  aus  der  Wmide  entleert  hat,  ist  in  der  Folgezeit 
ein  rasches  Aufhören  der  Eiterimg  zu  beobachten.  xAm  20.  August  ist  die 
Wim.de  bereits  fest  vernarbt,  und  die  Infiltration  der  Weichteile  ist  völlig 
zin-ückgegangen.  Die  Absonderung  aus  dem  Ohre  hat  gleichfalls  seit 
längerer  Zeit  aufgehört,  und  die  Spiegeluntersuchiing  lässt  kerne  krank- 
haften Veränderungen  mehr  erkennen.  Patient  wird  gesund  in  die  Heimat 
entlassen. 

60.  Ein  17 jähriger  junger  Mann  will  zuerst  vor  3  Wochen  eitrigen 
Ausfluss  aus  dem  rechten  Ohr  bemerkt  haben.  Vierzelm  Tage  später 
stellte  sich  Tuiter  fieberhaften  Begleiterscheimxngen  eine  schmerzhafte 
Schwellung  hinter  dem  Olire  ein,  die  allmählich  an  Umfang  zunahm.  Der 
Ivranke  sucht  daher  am  2.  Februar  1904  die  Klinik  auf.  Das  rechte  Ohr 
ist  stark  vom  Kopfe  abgedrängt,  die  Weichteilbedeck\angen  des  Warzen- 
fortsatzes zeigen  starke  Rötung  und  Schwellung  und  gehen  nach  unten  zu 
in  eine  derbe,  etwa  12  cm  lange  und  11  cm  breite  Infiltration  über,  die 
auf  Druck  ausserordentlich  empfindlich  ist.  Die  Geschwulst  ist  in  ganzer 
Ausdehnung  von  geröteter  Haut  bedeckt  und  lässt  in  der  Tiefe  deutliche 
Fluktuation  erkennen.  Aus  dem  rechten  Gehörgange  entleert  sich  eine 
reichliche  Menge  serös-eitriger  Flüssigkeit.  Die  Spiegeluntersuchung  zeigt 
eine  grössere  senkrecht  gestellte  Perforation  des  im  ganzen  stark  ge- 
röteten Trommelfells. 

Es  wird  mit  einem  fast  12  cm  langen,  in  der  Richtimg  des  Kopf- 
nickers verlaufenden  Schnitt  auf  die  oben  beschriebene  Schwellung  ein- 
gegangen; beim  tieferen  Eindringen  entleert  sich  eine  reichliche  Menge 
dickflüssigen  Eiters,  in  dem  mikroskopisch  wie  kulturell  Streptokokken 
nachweisbar  sind.  Man  kommt  in  eine  über  hühnereigrosse  Wundhöhle, 
die  nach  hinten  bis  unter  den  Sternocleido  hinreicht  und  nach  vorn  fast 
bis  zur  Mitte  des  Halses  liinzieht;  die  Eiterhöhle  wird  sorgfältig  ausge- 
tupft, eine  Menge  nekrotischer  Gewebsfetzen  werden  aber  unberührt  ge- 
lassen. Nachdem  die  Blutung  durch  Kompression  gestillt  ist,  wird  die 
Sclinittwimde  durch  drei  Silberdrahtnähte  locker  zur  Vereinigung  gebracht 
und  ein  aseptischer  Schutzverband  angelegt.  Zwei  Stunden  später  wird 
zu  einer  15  stündigen  Halsstauung  geschritten.  Die  Eiterung,  die  in  den 
ersten  Tagen  nach  der  Operation  noch  ziemlich  reichlich  gewesen  ist,  ist 
schon  nach  einwöchentlicher  Behandlung  auf  ein  sehr  geringes  Mass  zurück- 
gegangen; an  die  Stelle  des  anfangs  dicken,  rahmigen  Eiters  ist  ein  dünn- 
flüssiges seröses  Sekret  getreten,  das  bei  Druck  in  massiger  Menge  zwischen 
den  Rändern  der  Schnittwunde  hervorquillt.  Der  Warzenfortsatz  ist  wieder 
von  normalen  Weichteilen  bedeckt  und  nicht  mehr  druckempfindlich.  Auch 
die  eigentliche  Geschwulst  an  der  Seite  des  Halses  bietet  kaum  noch  ein 


Beliandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      337 

entzündliches  Aussehen  dar;  Rötvmg  und  Schwellung,  die  in  den  ersten 
Tagen  der  Stauung  noch  beträchtlich  zugenommen,  sind  jetzt  fast  völlig 
zurückgegangen,  ohne  dass  die  Binde  inzwischen  weggelassen  wäre.  Die 
Eiterung  aus  dem  Ohre  selbst  ist  in  merklicher  Abnahme  begriffen ;  Rötung 
und  Schwellimg-  der  Gehörgangswände,  die  in  den  ersten  Tagen  der 
Stauimg  jeden  Einblick  unmöglich  gemacht  hatten,  sind  nxir  noch  unbe- 
deutend, so  dass  der  zentrale  Teil  des  Gehörganges  samt  dem  Troiximelfell 
wieder  sichtbar  ist.  Das  letztere  ist  zum  Teil  mit  Eioithelschuppen  be- 
deckt und  lässt  noch  die  Perforation  erkennen,  aus  der  bei  längerem  Zu- 
sehen immer  noch  etwas  Sekret  hervorquillt.  Unter  fortgesetzter  Stauungs- 
behandlung kann  Patient  bereits  am  9.  März  geheilt  entlassen  werden. 
Der  Spiegelbefund  ist  normal,  an  der  rechten  Halsseite  ist  eine  ca.  10  cm 
lange,  auffallend  dunkelblau  gefärbte,  solide  Narbe  sichtbar. 

Die  im  Dezember  1904  vorgenommene  spezialistische  Untersuchung 
ergibt  folgendes: 

In  der  unteren  Hälfte  des  Trommelfells  ist  eine  kleine  Narbe  sicht- 
bar; Sekretion  besteht  nicht  mehr;  das  Hörvermögen  ist  ungestört. 

Neuerdings  haben  wir  einen  dritten  Fall  von  Bezold' scher 
Mastoiditis  durch  Stauungshjrperämie  schnell  zur  Heilung  gebracht. 

Der  einzige  Fall  von  akuter  Mittelohrentzündung  mit  Be- 
teiligung des  Warzenfortsatzes,  den  wir  ohne  Erfolg  mit  Stauungs- 
hyperämie behandelten,  betrifft  eine  37  jährige  Dame,  aus  der  Praxis 
des  Herrn  Kollegen  Brockhoff,  zu  der  ich  konsultiert  wurde: 

61.  Vor  sechs  Jaliren  war  der  Dame  wegen  Eiterung  die  linke  Ober- 
kieferhöhle von  der  Alveole  aus  angebohrt  Tind  die  linke  Keilbeinhöhle 
und  die  Siebbeinzellen  nach  Resektion  der  mittleren  Muschel  geöffnet.  Die 
Eiterung  besteht  immer  noch  fort,  deshalb  werden  Oberkiefer-  und  Keil- 
beinhöhle noch  täglich  ausgesj)ritzt. 

Im  Oktober  1905  erkrankte  die  Dame  im  Anschlüsse  an  Influenza 
beiderseits  an  akuter  Mittelohrentzündimg.  Am  19.  Oktober  bot  sich  fol- 
gender Zustand:  Beiderseits  war  der  hintere  obere  Quadrant  des  Trommel- 
fells zitzenförmig  vorgewölbt.  An  der  Spitze  der  Vorbuchtimgen  befand 
sich  je  eine  Öffnung,  aus  der  Eiter  quoll.  Die  Tronamelfelle  waren  gleich- 
massig  gerötet,  die  Warzenfortsätze  druckempfindlich,  ihr  Periost  aber  nicht 
geschwollen. 

Der  Ausfluss  wurde  in  den  nächsten  Tagen  so  reichlich,  dass  die 
Gehörgänge  alle  2 — 3  Stunden  (auch  nachts)  ausgetupft  werden  mussten. 
Die  Warzenfortsätze  blieben  druckempfindlich.  Die  Kranke  klagte  über 
stechende  Schmerzen  in  der  Tiefe  der  Ohren.  Am  5.  November  stellte  sich 
eine  sehr  quälende,  über  den  ganzen  Körper  verbreitete  Urticaria  ein,  die 
14  Tage  anhielt.  Am  19.  November  wurde  eine  geringe  Senkung  der  oberen 
Gehörgangswände  bemerkt. 

Vom  20.  November  bis  6.  Dezember  wvirde  eine  Stauungsbinde  an- 
gelegt, in  den  ersten  Tagen  22,  dann  10 — 12  Stunden  tägHch.  Hyperämie 
und  Schwellimg  traten  in  erwünschter  Form  auf.  Der  Ausfluss  wurde 
darauf  sofort  dünnflüssiger,   nahm  aber   an  Menge  nicht   ab.      Da    auch 


368  Spezieller  Teil. 

der  Druckschmerz  über  den  Warzenfortsätzen  sich  nicht  besserte  und  die 
hintere  obere  Wand  des  Gehörgangs  sich  so  stark  senkte,  dass  dieser 
spaltförmig  verengt  wurde,  so  wurde  am  6.  Dezember  die  Stauungshyperämie 
ausgesetzt  und  am  11.  Dezember  operiert. 

Auf  der  rechten  Seite  quoll  nach  Abhebelung  des  Periostes  aus  dem 
Winkel  zwischen  äusserer  und  liinterer  Gehörgangswand  reichlich  Eiter. 
Der  Warzenfortsatz  war  in  Fünfpfennigstückgrösse  nekrotisch,  aber  noch 
nicht  abgestossen.  Nach  Wegmeisselung  der  CorticaHs,  die  äusserst  hart 
war,  erwies  sich  der  ganze  Warzenfortsatz  als  zerstört  und  von  einem 
grossen,  bis  zur  Spitze  reichenden  Eiter-  und  Granulationsherd  einge- 
nommen. 

Der  zelHge  Bau  reichte  selir  hoch  hinauf  und  weit  in  die  obere  Gehör- 
gangswand hinein.  Die  Zellen  waren  mit  Granulationen  durchsetzt.  Die 
Wand  des  Sinus  war  in  2^  cm  Länge  und  1  ein  Breite  durch  Granu- 
lationsauflagerungen verdickt,  war  also  in  dieser  Ausdehnung  von  Eiter 
umspült  gewesen.  Im  äusseren  Abschnitte  der  hinteren  Gehörgangswand 
befand  sich  ein  Loch. 

Auf  der  linken  Seite  fanden  sich  ähnliche  Verhältnisse,  nur  war  die 
Höhle  im  Warzenfortsatze  noch  grösser  als  rechts.  Auch  hier  reichte  der 
zellige  Bau  hoch  Innauf. 

Der  kranke  Knochen  wurde  auf  beiden  Seiten  gründlich  entfernt. 
Der  Wundverlauf  war  gut.  In  8  Wochen  waren  die  Operationswunden 
vernarbt. 

Die  Rekonvaleszenz  wxu'de  noch  durch  eine  akute  hämorrhagische 
Nephritis  gestört. 

Wer  sich  häufiger  mit  der  Auf meisselung  von  Warzenfortsätzen 
beschäftigt  hat,  weiss,  wie  mannigfaltig  die  pathologischen  Verhält- 
nisse sind,  die  ihm  gerade  auf  diesem  Gebiete  entgegentreten,  und 
die  Operation  wird  ihm  nur  in  einem  Teil  der  Fälle  den  Befund 
Uefern,  den  er  nach  Lage  der  Dinge  anzutreffen  erwartete.  Auch 
dem  Erfahrensten  kann  hier  nur  zu  leicht  ein  Irrtum  in  der  Dia- 
gnose begegnen :  er  findet  beispielsweise  alle  Zeichen,  die  auf  einen 
Abscess  des  Warzenfortsatzes  hindeuten,  und  wenn  er  an  die  Auf- 
meisselung  herantritt,  ist  keine  Spur  von  Eiteransammlung  zu  ent- 
decken; und  ein  anderes  Mal  wieder  finden  sich  Knochenfisteln 
oder  gar  ausgedehnte  Sequesterbildungen  in  Fällen,  wo  das  Leiden 
erst  nach  Wochen  zählt  und  wo  ausser  einer  unbedeutenden  Weich - 
teilschwellung  keinerlei  Zeichen  auf  diese  vorgeschrittenen  Zer- 
störungen hinwiesen.  Bei  dieser  Schwierigkeit  in  der  Diagnose 
verbietet  es  sich  von  selbst,  den  äusseren  Befund  zu  einem  be- 
stimmten Rückschluss  auf  die  pathologisch-anatomischen  Verhält- 
nisse im  Innern  zu  verwerten ;  wir  würden  damit  um  so  weniger  über 
Vermutungen  hinauskommen,  als  wir  bei  unsern  meist  kleinen  Inzi- 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      369 

sionen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  überhaupt  nur  einen  sehr  geringen 
Teil  der  Knochenoberfläche  zu  Gesicht  bekamen.  Soweit  die  Be- 
sichtigung des  Knochens  trotzdem  Anhaltspunkte  von  Belang  ge- 
boten, ist  das  in  den  betreffenden  Krankenberichten  eigens  erwähnt 
worden,  in  den  übrigen  Fällen  dürfte  der  jedesmahge  Spiegelbefund 
eine  hinreichende  Beurteilung  ermöglichen.  Jedenfalls  wird  der- 
jenige, welcher  die  genaueren  Krankenberichte  verfolgt,  die  kürzhch 
von  Keppleri)  gegeben  sind,  sich  im  grossen  und  ganzen  ein  Bild 
von  unseren  Fällen  machen  können,  und  er  wird  vor  allem  den 
Gesamteindruck  gewinnen,  dass  alle  Übergänge  von  den  mehr 
leichten  bis  zu  den  schwersten  Fällen  unter  unserem  Materiale  ver- 
treten sind. 

Wir  dürfen  diese  Besprechung  nicht  beschliessen,  ohne  wenig- 
stens in  aller  Kürze  auf  die  kleinen  Schnitte  einzugehen,  die  wir 
zur  Entleerung  des  Eiters  gemacht  haben;  es  ist  das  um  so  mehr 
geboten,  als  schon  früher  ähnliche  Inzisionen  allein  zu  thera- 
peutischen Zwecken  gemacht  sind  und  sich  unter  dem  Namen 
des  ,, Wilde' sehen  Schnittes"  lange  Zeit  hindurch  eines  grossen 
Ansehens  erfreut  haben.  Der  Ruf  dieser  einfachen  Inzisionen  hat 
sich  aber  längst  als  übertrieben  herausgestellt.  Deshalb  ist  der 
kleine  Eingriff  von  den  meisten  Operateuren  überhaupt  wieder  auf- 
gegeben worden,  und  wenn  er  auch  heute  von  Zeit  zu  Zeit  immer 
wieder  einmal  als  vortrefflich  empfohlen  wird,  *so  handelt  es  sich 
meist  um  Fälle ,  deren  Charakter  keineswegs  klargestellt  ist .  Körner 
lässt  es  in  seinem  bekannten  Buche  über  die  eitrigen  Erkrankungen 
des  Schläfenbeins  jedenfalls  sehr  zweifelhaft  erscheinen,  ob  über- 
haupt je  die  Heilung  einer  akuten  Knocheneinschmelzung  durch 
den  Wilde'schen  Schnitt  zu  erreichen  sei;  er  glaubt  an  seine 
Wirkung  höchstens  bei  der  Mastoiditis  kleiner  Kinder;  bei  diesen 
braucht  es  sich  aber  keineswegs  um  eine  Vereiterung  des  Knochens 
selbst  zu  handeln,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  haben  wir  es  hier 
mit  dem  eigentlichen  Antrumempyem  zu  tun,  das  durch  die  noch 
of  f  ene  Fissura  mastoidea-squamosa  durchbrechen  und  eine  Knochen- 
erkrankung vortäuschen  kann.  Hier  ersetzt  der  Wilde'sche  Schnitt 
eben  nichts  anderes,  als  den  Spontandurchbruch  durch  die  Haut 
und  kann  ebenso  wie  dieser  zur  Heilung  führen.  Wo  aber  Heilungen 
durch  den  Wilde'schen  Schnitt  bei  Erwachsenen  berichtet  werden, 


1)  Keppler,    Die    Behandlung    eitriger    Ohrerkrankungen    mit    Stauungs- 
hyperämie.    Zeitschr.  f.  Ohrenheilkunde.     L.  Band.  III.  Heft.     1905. 
Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  24 


370  Spezieller  Teil. 

da  glaubt  Körner  den  Beweis  vermissen  zu  müssen,  dass  in  Wirk- 
lichkeit eine  Knocheneinschmelzung  vorgelegen  hat,  er  lässt  höch- 
stens ein  resorptionsfähiges  Exsudat  innerhalb  der  unversehrten 
Knochenzellen  gelten,  hält  es  aber  nicht  einmal  für  ausgeschlossen, 
dass  es  sich  um  gröbere  diagnostische  Irrtümer  (subkutane  Abscesse, 
Periostitis,  vereiterte  Lymphdrüsen  bei  Gehörgangsfurunkeln)  ge- 
handelt hat.  Es  soll  aber  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  andere 
Autoren  auch  ausgesprochene  Abscessbildungen  im  Warzenfortsatze 
nach  dem  Wilde'schen  Schnitte  zurückgehen  sahen;  es  sind  das 
aber  ausserordentliche  Seltenheiten,  die  nach  Ansicht  von  Politzer 
eben  nichts  anderes  besagen,  als  dass  unter  Umständen  einmal 
auch  Einschmelzungsprozesse  im  Warzenfortsatze  ohne  operative 
Massnahmen  heilen  können ;  für  die  heilende  Wirkung  des  Schnittes 
scheinen  sie  ihm  keinesfalls  beweisend.  Es  kommt  hinzu,  dass 
unsere  kleinen  Inzisionen  eigentlich  überhaupt  nicht  mit  dem 
Wilde'schen  Schnitte  zu  vergleichen  sind,  insofern  dieser  sehr 
viel  ausgedehnter  ist  und  angeblich  vor  allem  durch  Blutentziehung 
wirken  soll,  eine  Bedingung,  die  bei  unsern  einfachen  Einstichen 
überhaupt  nicht  erfüllt  war.  Wir  haben  unsere  Einschnitte  nur 
ausgeführt,  um  einem  Weiterschreiten  der  Eiterung  zu  begegnen, 
und  glauben  ihnen  lediglich  diejenige  Bedeutung  zusprechen  zu 
müssen,  die  auch  denselben  Eingriffen  bei  den  Abscessen  der  Glied- 
massen zukommt. ' 

Wenn  wir  mit  vorstehenden  Ausführungen  die  Bedeutung  der 
Schnitte  getroffen  haben,  so  ist  damit  die  ausschlaggebende  Wirkung 
der  Hyperämie  schon  höchst  wahrscheinlich  gemacht,  bewiesen  wird 
sie  vollends  durch  diejenigen  Fälle  unzweideutiger  Mastoiditis,  in 
denen  wir  ohne  jeden  Eingriff  einzig  und  allein  mit  der  Stauungs- 
behandlung  zum  Ziele  gelangten. 

Unsere  Beobachtungen  bei  eitrigen  Mittelohrerkrankungen 
stützen  sich  bis  jetzt  auf  28  Fälle;  17  davon  kamen  im  akuten 
Stadium  zu  uns,  während  der  Rest  bereits  dem  chronischen  Stadium 
angehörte.  Nun  ist  ja  die  Unterscheidung  zwischen  akuten  und 
chronischen  Ohreiterungen  ziemhch  willkürlich  und  eine  scharfe 
Grönze,  da  die  eine  in  die  andere  übergeht,  nicht  zu  ziehen.  Wir 
haben  alle  Fälle,  die  2  Monate  bestanden  und  keine  hochgradigen 
Erscheinungen  von  Entzündung  zeigten,  zu  den  chronischen,  alle 
kürzere  Zeit  bestehenden  und  hochgradig  entzündlichen  zu  den 
akuten  gerechnet. 

Mit  einer  einzigen  Ausnahme  waren  sämtliche  Fälle,   akute 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  vim  d.  Hals  usw.      37]^ 

wie  chronische,  mit  einer  BeteiHgung  des  Warzenfortsatzes  kom- 
pHziert. 

Wenn  wir  uns  aber  schon  von  vornherein  sagen  mussten,  dass 
diese  KompUkationen  eigenthch  keine  schlechten  Aussichten  für  die 
Ausheilung  bieten  konnten,  so  fanden  diese  theoretischen  Er- 
wägungen in  den  von  uns  erzielten  Resultaten  nur  eine  Stütze. 

Beteiligung  oder  Nichtbeteiligung  des  Warzenfo  tsatzes  sind 
in  keinem  Falle  für  den  Ausgang  bestimmend  gewesen.  Bestimmt 
wurde  der  Ausgang  vielmehr  lediglich  durch  das  Stadium,  in  welchem 
der  Kranke  zu  uns  kam.  Von  den  17  Fällen  von  akuter  Ma- 
stoiditis, welche  wir  beobachteten,  sind  16  in  einer  wohl  ausser- 
ordentlich günstigen  Durchschnittszeit  von  3  Wochen  zur  Aus- 
heilung gekommen  und  zwar  mit  einer  Ausnahme  mit  voller 
Hörfunktion.  Hier  aber  glaubte  der  Ohrenarzt  (Eschweiler) 
mit  Sicherheit  feststellen  zu  können,  dass  die  Herabminderung  der 
Hörfähigkeit  (der  Kranke  konnte  Flüstersprache  immerhin  noch  auf 
4  m  wahrnehmen)   durch   ein   altes  Labyrinthleiden  bedingt  sei. 

Alle  diese  Fälle  mit  Ausnahme  des  Falles  61,  zu  dem  ich 
konsultiert  war,  waren  uns  zur  Aufmeisselung  überwiessen.  Das  ist 
ja  natürlich,  denn  zu  anderen  Zwecken  schickt  der  Arzt  keine 
Ohrenkranke  in  chirurgische  Khniken.  Sie  entsprachen  dann 
auch  sämtlich  den  Indikationen,  die  man  für  die  genannte  Operation 
zu  verlangen  pflegt. 

Von  den  chronischen  Fällen  heilten  2  unter  Stauungshyperämie 
ohne  Einschnitte  mit  voller  Hörfunktion  aus.  Bei  dem  einem  von 
diesen  beiden  handelte  es  sich  um  eine  rezidivierende  Mastoiditis 
nach  früherer  Aufmeisselung,  bei  dem  andern  um  chronische  Mittel - 
ohreiterung  mit  Polypenbildung  (das  war  unser  einziger  Fall,  der 
nicht  mit  Mastoiditis  kompliziert  war).  Der  Polyp  ging  anfangs 
unter  Stauungshyperämie  bis  auf  die  Hälfte  seines  Umfangs  zurück, 
blieb  aber  dann  unbeeinflusst  und  wurde  mit  der  Schlinge  entfernt. 
Beide  Fälle  beweisen  also  gar  nichts,  weil  der  erste  wahrscheinlich 
auch  ohne  Stauungshyperämie  bei  blosser  Ruhe  zurückgegangen 
und  der  zweite  vielleicht  auch  nach  Entfernung  des  Polypen  von 
selbst  geheilt  wäre. 

Von  den  9  übrig  bleibenden  Fällen  lagen  in  einem,  da  die 
Krankheit  bereits  11  Monate,  alt  und  nach  Scharlach  entstanden 
war,  grosse  Sequester,  in  drei  anderen  Cholesteatome  vor.  Es  be- 
darf wohl  keiner  genaueren  Auseinandersetzung,  dass  diese  4  Fälle 
ohne  Operation  nicht  heilen  konnten.    Die  Hyperämie  wurde  ledig - 

24* 


372  Spezieller  Teil. 

lieh  angewandt,  weil  die  richtige  Diagnose  sich  anfangs  nicht  stellen 
Hess.  Erst  aus  dem  Ausbleiben  jeden  Erfolges  durch  Stauungs- 
hyperämie schlössen  wir  auf  das  Vorhandensein  der  erwähnten 
Komplikationen . 

Es  bleiben  noch  5  Fälle,  darunter  zwei,  wo  die  chronische 
Mastoiditis  zurückging  und  nach  wiederholt  ausgeführter  spezia- 
listischer Nachuntersuchung  geheilt  geblieben  ist,  die  Mittelohr- 
eiterung dagegen  blieb  bestehen.  Allerdings  wurden  uns  diese 
Kinder,  um  solche  handelt  es  sich  hier,  zu  früh,  vor  Abschluss 
der  Behandlung  fortgeholt,  und  wir  konnten  es  nicht  erreichen, 
dass  sie  wieder  aufgenommen  wurden.  Immerhin  ist  es  wahrschein- 
lich, dass  wir  bei  neuer  Behandlung  (Stauungshyperämie,  Spülen, 
gute  hygienische  Verhältnisse)  diese  jetzt  unkomplizierte  Mittelohr - 
eiterung  noch  zur  Ausheilung  bringen  würden.  Leider  hat  es  uns 
an  weiteren  Fällen  gefehlt,  um  über  diese  Dinge  ein  sicheres  Urteil 
zu  gewinnen. 

Zwei  weitere  Fälle  wären  vielleicht  nach  dieser  Richtung  hin 
zu  verwerten  gewesen;  in  dem  einen  von  ihnen  konnte  aber  aus 
äussern  Gründen  kein  längerer  Versuch  mit  der  Stauungsbehand- 
lung gemacht  werden,  während  in  dem  andern  die  Anamnese  zu 
einem  frühzeitigen  operativen  Eingriff  verleitete ;  der  Knabe  hatte 
vor  Wochen  Scharlach  durchgemacht,  und  damit  war  das  Vor- 
handensein eines  Sequesters  wahrscheinlich.  Es  sei  hier  noch 
eigens  auf  die  Eigentümlichkeiten  des  Operationsbefundes  aufmerk- 
sam gemacht;  der  Knochen  erschien  nach  länger  fortgesetzter 
Stauung  ausserordentlich  blutreich,  und  in  einigen  Fällen,  speziell 
bei  den  Cholesteatomen,  war  eine  auffallend  scharfe  Abgrenzung  der 
erkrankten  Teile  zu  beobachten.  Vor  allem  aber  haben  wir  den 
Eindruck  gewonnen,  dass  die  Nachbehandlung  eine  entschiedene  Ab- 
kürzung durch  die  voraufgegangene  Hjrperämisierung  erfahren  hat. 

Der  letzte  Fall  von  chronischer  Mastoiditis,  der  durch  einen 
Hirnabscess  kompliziert  war,  starb.     Sein  Verlauf  war  folgender: 

62.  Ein  20  jähriger  Steinbrucharbeiter  litt  seit  seiner  Kindheit  an  zeit- 
weilig auftretender  rechtsseitiger  Ohreiterung,  die  in  den  letzten  Jahren 
ausser  einer  leichten  Schwerhörigkeit  keine  Erscheinungen  inachte.  Ana  6.  II. 
1906  erkrankte  er  plötzHch  unter  Fieber  mit  heftigen  Schmerzen  im  rechten 
Olxre  und  heftigen  Kopfschmerzen,  die  in  den  nächsten  Tagen  unter  Besse- 
nmg  des  Allgemeinbefindens  ziu'ückgingen.  Da  am  Morgen  des  11.  II. 
eine  neue  Verschlechterung  des  Zustandes  mit  Mattigkeitsgefühl  eintrat 
und  zweimal  Erbrechen  erfolgte,  Hess  der  Kranke  sich  abends  in  die 
chirurgische  Klinik  aufnelimen.  Bei  der  Aufnalune  klagte  er  über  Übel- 
keit und  Kopfschmerzen,  die  er  nicht  genau  lokalisieren  konnte. 


Behandl.  akut.  Entziind.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  iim  d.  Hals  usw.      373 


Am  12.  II.  bot  der  Kranke  folgenden  Befund:  Aus  dem  rechten  Ohre 
des  blass  aussehenden  Mannes  entleerte  sich  in  reichlicher  Menge  grauer 
stinkender  Eiter.  Der  zugehörige  Warzenfortsatz  war  druckempfindlich, 
zeigte  aber  sonst  keine  Entzündungserscheinungen. 

Bei  der  Spiegeluntersuchung  fand  man  den  ganzen  äusseren  Gehör- 
gang gerötet  und  verschwollen,  das  Trommelfell,  das  nur  in  geringer  Aus- 
dehnung sichtbar  war,  ebenfalls  stark  entzündet. 

Wegen  Übelkeit  und  Kopfschmerzen  wurde  die  Möglichkeit  eines 
Hirnabscesses  erwogen,  indessen,  da  alle  sonstigen  Symptome  des  Hirn- 
abscesses  fehlten,  die  Wahrscheinlichkeitsdiagnose  gestellt,  dass  es  sich  um 
ein  altes  Cholesteatom  handele.  Vom  12.  II.  ab  wurde  zunächst  eine 
22  stündige  Stauungshyperämie  eingeleitet. 

Darauf  fiel  die  erhöhte  Temperatm*  ab,  der  Kranke  war  am  nächsten 
Tage  gänzlich  beschwerdefrei  \and  hielt  sich  den  ganzen  Tag  über  ausser- 
halb des  Bettes  auf.  Der  lokale  Befund  und  der  stinkende  Ausfluss  blieben 
unverändert. 

Dieser  günstige  Zu-  iiiT      1-2        r^        u       1.5       16    17        18         19 

stand  hielt  an  bis  zum  '^^ 
Morgen  des  17.  II.  Der 
Kranke  hatte  annähernd 
normaleTemperatur  und 
ging  den  ganzen  Tag  über 
umher.  Ain  Morgen  des 
1 7.  II-  trat  eine  auffallen- 
de Verschlimmerung  des 
Zustandes  ein.  Der  Kran- 
ke sah  verfallen  aus,  war 
schwer  besinnlich  und 
klagte  über  heftigen , 
nicht  genau  zu  lokali- 
sierenden Kopfschmerz. 
Die  Temperatur  war  nor- 
mal, der  Puls  zeigte  63 
Schläge  in  der  Minute. 

Obwohl      keinerlei 
Symptome   eines    Hirn- 
abscesses vorlagen,  wur- 
de einige  Stunden  nach  Eintritt  der  beschriebenen  Erscheinungen  zur  Ope- 
ration geschritten. 

Der  Warzenfortsatz  war  stark  sklerosiert  und  ohne  Hohlraum,  das  Mittel- 
olir  mit  eitrigen  Granulationen  ausgefüllt.  Der  Sinus  war  unverändert. 
Nach  Eröffnung  der  mittleren  Schädelgrube  wurde  aus  dem  Schläfenlappen 
des  Gehirns  ein  grosser  Abscess  entleert.  Es  ergossen  sich  20  ccm 
stinkender  grüner  Eiter.  Der  Abscess  wurde  breit  eröffnet  und  ein  Drain- 
rohr eingelegt. 

Am   19.  II.  starb  der  Kranke  imter  hoher  Temperatursteigerung. 

Die  Sektion  ergab  eine  walnussgrosse  gut  eröffnete  und  völlig  ent- 
leerte Abscesshöhle  im  Schläfenlappen,  sonst  keinerlei  pathologische  Ver- 
änderungen.   Den  Verlauf  der  Temperatur  gibt  Tafel  XVI  an. 


Tafel  XVI. 


374  Spezieller  Teil. 

Ich  glaube  nicht,  dass  man  in  diesem  Falle  die  Diagnose  Hirn- 
abscess  früher  hätte  stellen  können  und  dass  die  Operation  zu 
rechter  Zeit  ausgeführt  ist.  Während  der  ganzen  Zeit  der  Be- 
obachtung bis  zur  Operation  ging  der  Puls  nicht  unter  60  Schläge 
in  der  Minute  herunter.  Auch  sonst  deutete,  ausser  den  Kopf- 
schmerzen und  einmaligen  Erbrechen,  nichts  auf  Hirnabscess.  Es 
kam  hinzu,  dass  die  Stauungsh3rperämie,  die  bis  zur  Operation 
5  Tage  lang  unterhalten  wurde,  sofort  alle  Beschwerden  beseitigte, 
so  dass  der  Kranke  sich  vollkommen  gesund  fühlte,  aufstand  und 
herumging. 

Wie  Isemer  dagegen  behaupten  kann,  dass  dieser  Fall  ein 
trauriges  Beispiel  dafür  liefere,  wie  die  Stauungshyperämie 
schwere  Komplikationen  verdecke,  und  dass  der  Kranke  durch 
eine  einige  Tage  früher  ausgeführte  Aufmeisselung  möglicher- 
weise gerettet  wäre,  ist  mir  unverständlich. 

Auf  eine  genaue  Wiedergabe  der  übrigen  chronischen  Fälle 
glaube  ich  verzichten  zu  können,  da  die  Technik  der  Behandlung 
keinerlei  Abweichung  von  der  für  die  akuten  Fälle  beschriebenen 
aufweist.  Wer  sich  im  übrigen  speziell  für  die  in  Frage  stehen- 
den Erkrankungen  interessiert,  sei  auf  die  erwähnten  Arbeiten 
meines  Assistenten  Dr.  Keppler  hingewiesen,  dessen  Ausführungen 
ich  hier  im  allgemeinen  folge. 

Alles  in  allem  sind  die  bisher  bei  chronischen  Fällen  erzielten 
Resultate  keineswegs  sehr  ermutigend,  und  wir  wissen  nicht,  ob  wir 
schon  jetzt  zu  einer  Nachprüfung  auf  diesem  Gebiete  raten  sollen; 
wir  selbst  werden  natürlich  unsere  Erfahrungen  auch  nach  dieser 
Richtung  hin  zu  mehren  suchen;  dazu  drängen  uns  schon  die 
günstigen  Erfolge,  die  wir  bei  der  chronischen  Osteomyelitis  an  den 
Gliedmassen  erzielten.  Die  Resultate,  welche  wir  dort  erreicht 
haben,  müssen  uns  von  vornherein  bestimmte  Fälle  chronischer 
Mastoiditis  als  geeignet  für  die  Stauungsbehandlung  erscheinen 
lassen.  Es  sind  das  eben  jene  Fälle,  bei  denen  sich  keine  Sequester, 
sondern  lediglich  Abscess-  oder  besser  noch  Granulationshöhlen 
im  Innern  des  Knochens  vorfinden. 

Dass  wir  für  die  Fälle  von  akuter  Mastoiditis  die  Stauungs- 
behandlung  aufs  wärmste  empfehlen  können,  ist  angesichts  unserer 
glänzenden  Erfolge  nur  natürlich ;  wer  auf  diesem  Gebiete  nach  den 
von  uns  gegebenen  Regeln  verfährt,  der  wird  gleich  uns  Resultate 
aufzuweisen  haben,  die  wahrscheinlich  in  nichts  hinter  denen  zurück- 
stehen, die  bisher  nur  mit  Hammer  und  Meissel  erreichbar  schienen. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      375 

Wieder  aber  ist  uns  die  Hauptsache  an  unserem  Verfahren 
die  vortreffliche  Funktion,  mit  der  wir  die  Ohrenleiden  in  allen 
akuten  Fällen  zur  Heilung  brachten.  Es  dürfte  dies  der  grösste 
Vorzug  vor  der  operativen  Behandlung  sein,  bei  der  das  Hörorgan 
nicht  selten  leidet. 

Ob  bei  unkomplizierter  Ohreiterung  die  Stauungshyperämie 
dieselben  Erfolge  erreichen  wird,  können  wir  nicht  beurteilen,  da 
unsere  Fälle  bis  auf  einen  chronischen  sämtlich  mit  Mastoiditis 
kompliziert  waren. 

Ich  habe  die  neuen  Fälle  von  Mastoiditis,  die  im  letzten 
Jahre  in  den  mir  unterstellten  beiden  Krankenhäusern  beobachtet 
wurden,  nicht  mit  angeführt,  weil  sie  nicht  von  uns,  sondern 
selbständig  von  Eschweiler  beobachtet  und  behandelt  sind, 
der  selbst  darüber  berichten  wird.  Nur  einen  Todesfall  werde 
ich  in  einem  späteren  Kapitel  beschreiben,  in  dem  von  den 
Misserfolgen  die  Rede  sein  soll. 

Von  den  Ohrenärzten  hatten  sich  beim  Erscheinen  der  vorigen 
Auflage  ausführlicher  ausser  Eschweiler,  der  unsere  Fälle  mit 
beobachtet  und  behandelt  hat,  nur  Heine  und  Stenger  über  die 
Behandlung  der  Ohreiterungen  und  ihrer  Komplikationen  durch 
Hyperämie  geäussert.  H  e  i  n  e  i)  konnte  von  1 9  Fällen  9  gänzlich  heilen. 

Bei  2  ist  die  Mastoiditis  zurückgegangen,  die  Ohreiterung 
aber  geblieben;  8  sind  operiert.  Die  Fälle  sind  wesentlich  un- 
günstiger verlaufen  als  unsere.  Ich  glaube  wohl,  dass  Heine 
bessere  Erfolge  bekommen  hätte,  wenn  er  die  genaue  Wiedergabe 
unserer  nunmehr  seit  fast  3  Jahren  behandelten  Fälle  abgewartet 
hätte.  Er  hat  sich  durch  Erscheinungen  zur  Operation  verleiten 
lassen,  die  wir  als  Grund  für  dieselbe  nicht  ansehen.  Er  operierte 
einen  Fall  von  Bezold' scher  Mastoiditis  schon  nach  2  Tagen,  weil 
er  anfangs  glaubte,  dass  es  zu  bedenklich  sei,  diese  Form  der  Mastoi- 
ditis mit  der  Stauungshyperämie  zu  behandeln.  Ferner  operierte 
er  schon,  wenn  sich  kurze  Zeit  nach  Beginn  der  Behandlung  keine 
Besserung  zeigte.  Wir  haben  aber  in  einem  unserer  Fälle  erlebt, 
dass  die  akute  Ohreiterung  und  Mastoiditis  4 — 5  Wochen  ohne 
besondere  Besserung  durch  unser  Verfahren  blieb  und  dann  doch 
noch  sehr  vollständig  ausheilte. 

1)  Heine,  Über  die  Behandlung  der  akuten  eitrigen  Mittelohrentzündi.mg 
inittels  Stauungshyperämie  nach  Bier.  Vortrag  gehalten  auf  dem  Kongress 
der  deutschen  Gesellschaft  für  Otiatrie.  1905,  und:  Berliner  klinische  Wochen- 
schrift 1905.    Nr.  28. 


376  Spezieller  Teil. 

Als  zweiter  hat  Stenger^)  seine  Beobachtungen  bekannt 
gegeben. 

Von  Interesse  sind  sie  dadurch,  dass  er  die  mit  Mastoiditis 
kompHzierten  Ohreiterungen  mit  Saugapparaten  behandelt  hat. 
Er  machte  in  den  subperiostalen  Abscess  einen  2 — 3  cm  langen 
Schnitt  und  hob  das  Periost  bis  zum  äusseren  Gehörgange  ab.  Fand 
er  eine  Fistel,  so  erweiterte  er  sie  mit  dem  scharfen  Löffel,  fand 
er  keine,  so  machte  er  mit  einem  feinen  Meissel  ein  Loch  bis  in 
das  Antrum  mastoideum,  beziehungsweise  in  eine  mit  ihm  in  Ver- 
bindung stehende  Zelle.  In  diese  Knochenöffnung  legt  er  locker 
einen  Gazestreifen  und  stülpt  einen  Schröpfkopf  über,  der  sich 
mit  Blut,  Eiter  und  Serum  füllt.  Der  Schröpfkopf  wurde  erst  nach 
drei  Stunden  entfernt,  falls  er  sich  nicht  schon  vorher  voll  gesogen 
hatte.  St  eng  er  erzielte  mit  diesem  Verfahren  in  7  Fällen  einen 
guten  und  schnellen  Erfolg. 

Gegen  Stenger's  Behandlung  lässt  sich  einwenden,  dass  sie 
keinen  viel  kleineren  Eingriff  darstellt,  als  wenn  man  den  ganzen 
Warzenfortsatz  in  alter  Weise  aufmeisselt.  Übrigens  glaube  ich, 
dass  Stenger's  Eingriff  eine  grössere  Berechtigung  erhält,  wenn 
man  ihn  statt  in  Narkose  unter  Lokalanästhesie  ausführt.  Ich 
habe  mich  früher,  als  ich  noch  sehr  häufig  Ohroperationen  aus- 
führte, mehrfach  überzeugt,  dass  man  die  Aufmeisselung  des 
Warzenfortsatzes,  ja  sogar  die  Ausräumung  des  Mittelohres,  unter 
Schleich'scher  Infiltrationsanästhesie  —  wobei  man  das  Periost 
gut  infütrieren  muss  —  leidlich  ausführen  lässt.  Viel  mehr  wird 
dies  bei  dem  kleineren  Eingriff   Stenger's  möglich  sein. 

Neuerdings  habenIIaslauer2),Fleischmann^)  und  Isemer^) 
sich  im  ganzen  recht  absprechend  über  ihre  Erfahrungen  mit 
Stauungshyperämie  bei  Ohreiterungen  geäussert.  Ich  verweise  in 
dieser  Beziehung  auf  Eschweiler's  demnächst  erscheinende  Arbeit. 

Mit  einer  gewissen  Leidenschaft  ist  das  Thema  ,, Stauungs- 
hyperämie  bei   Ohrenkrankheiten"   auf  der  letzten    Otologenver- 

1)  Stenger,  Die  Bier'sche  Stauung  bei  akuten  Ohreiterimgen.  Deutsche 
med.  Wochensclir.  1906.    Nr.  6. 

2)  Haslauer,  Die  Stauungshyperämie  bei  der  Behandlung  von  Ohreite- 
rungen.    Münchener  med.  Wochenschr.   1906.     Nr.  34. 

3)  Fleischmann,  Über  die  Behandlung  eitriger  Mittelohrerlo-ankungen 
mit  Bier'scher  Stauungshyperämie.  Monatsschrift  für  Ohrenheilkunde  1906. 
Nr.   5. 

4)  Isemer,  Klinische  Erfalirungen  mit  der  Stauungshyperämie  nach  Bier 
bei   der  Behandliing  der   Otitis   media.      Archiv  für   Ohrenlieilkunde .    69.   Band. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      377 

Sammlung^)  in  Wien  verdammt  worden.  Mit  nicht  misszuver- 
stehender Deuthchkeit  ist  dort  und  anderswo  davon  gesprochen 
worden,  dass  die  bisher  erreichten  Erfolge  von  „nicht  Sachver- 
ständigen" gemacht  sind. 

Beim  Lesen  dieser  und  anderer  Auslassungen  von  Otologen  habe  ich 
wenigstens  die  reine  Freude  gehabt,  eine  vortreffliche  Prognose  gestellt  zu 
haben.  Als  wir  iinsere  Fälle  behandelten,  habe  ich  meinem  Assistenten 
Keppler,  der  das  einschlägige  Material  zu  bearbeiten  hatte,  mehrfach 
gesagt:  ,,Sie  sollen  niemals  selbständig  den  Befund  aufnelimen,  und  niemals 
selbständig  Diagnose  und  Indikation  stellen,  ferner  nicht  die  jedesmaligen 
Nachuntersuchungen  allein  machen,  alles  soll  Eschweiler  kontrollieren. 
Ich  bin  überzeugt,  sonst  werden  uns  die  Otologen  später  sagen:  was-  ver- 
steht so  ein  gewöhnlicher  Chirurg  von  Ohren?  Der  hat  ein  Ekzem  der  Ohr- 
muschel oder  einen  Furiinkel  des  äusseren  Gehörganges  für  eine  Mastoiditis 
acuta  gehalten." 

Diese  Vorhersage  ist  trotz  Eschweiler's  Mitwirkung  glänzend  ein- 
getroffen. Am  weitesten  ging  auf  der  Wiener  Versammlung  Alexander. 
Kurz,  grob  und  hochmütig  erklärt  er:  ,,Es  scheint  mir,  dass  es  (er  meint 
die  Stauungshyperämie)  von  Leuten  gemacht  wird,  die  von  der  Sache 
nichts  verstehen."  Ich  selbst  nehme  ja  den  ,, Nicht-Sachverständigen" 
und  Ignoranten  ruhig  auf  mich.  Ich  bin  Schlimmeres  gewohnt.  Galt  doch 
meine  ganze  Lehre  von  der  Hyperämie  in  der  Chirurgie  anfangs,  gerade 
bei  ,, Autoritäten"  \md  Sachverständigen,  vielfach  als  eine  Art  von  Schwindel, 
weil  man  dort  auch,  Mne  jetzt  die  Otologen,  ,, durchaus  negative  Resultate" 
hatte.  Aber  gegen  den  otologischen  Spezi alkollegen  Eschweiler  ist  ein 
solches  Verfahren  zum  mindesten  sehr  unhöflich. 

Nun  gebe  ich  ja  zu,  dass  die  Stauungshyperämie  nicht  gegen 
alle  Fälle  von  Ohreiterungen  passt,  und  ich  beabsichtige  ebenso- 
wenig hier,  wie  in  der  Chirurgie  die  operative  Behandlung  ab- 
zuschaffen. Aber,  dass  die  Stauungshyperämie  ein  vortreffliches 
Mittel  gegen  die  meisten  akuten  derartigen  Fälle  ist,  das  halte 
ich  aufrecht.  Soviel  Beobachtungsgabe  besitze  ich  denn  doch 
noch,  um  das  beurteilen  zu  können,  obwohl  ich  kein  spezialistisch 
gebildeter  Ohrenarzt  bin.  Und  wenn  das  richtig  ist,  so  muss 
die  Stauungshyperämie  weiter  geprüft  werden,  selbst  auf  die  Ge- 
fahr hin,  dass  sie  hier  und  da  einmal  Unheil  anrichten  könnte. 
Solche  neue  Mittel  führen  ja  erfahrungsgemäss  durch  Erfolge 
und  Misserfolge  immer  zu  einer  Verschärfung  der  Diagnosen-  und 
Indikationsstellung.     Sollte  das  nicht  auch  hier  möglich  sein? 

Höchst  verdächtig  für  die  angewandte  Technik  ist  mir,  dass 
mehrere  Ohrenärzte  die  schmerzstillende  Wirkung  der  Stauungs- 


1)  Verhandlungen    der    Deutschen   otologischen    Gesellschaft.      Verlag   von 
Gustav   Fischer.      Jena   1906.      S.   26. 


378  Spezieller  Teil. 

h3rperäniie  nicht  haben  bestätigen  können,  die  wir  mit  2  Aus- 
nahmen immer  beobachtet  haben.  Von  den  Chirurgen  zweifelt 
heute  wohl  niemand,  der  das  Verfahren  geprüft  hat,  daran,  dass 
dies  Mittel  den  Entzündungsschmerz  in  wunderbarer  Weise  stiUt. 
Und  die  Otologen  haben  doch  wohl  nicht  etwa  eine  eigene  Ent- 
zündung ? 

Alles  in  allem  bedarf  die  Behandlung  der  Mittelohrent- 
zündungen mit  Hyperämie  noch  sehr  der  gründlichen  Bearbeitung, 
besonders  auch  der  vorurteilslosen  Prüfung  von  selten  der  Ohren- 
ärzte. Sehr  viele  Fragen  sind  hier  noch  zu  erledigen;  es  ist  vor 
allem  zu  untersuchen,  ob  die  Ohrentzündungen  verschiedener  Ätio- 
logie gleich  gut  durch  die  Stauungshyperämie  beeinflusst  werden, 
ob  sich  das  Verfahren  auch  für  chronische  Fälle  eignet,  was 
wir  an  dem  geringen  uns  zur  Verfügung  stehenden  Material  noch 
nicht  haben  entscheiden  können,  ob  Sinusthrombosen  und  Hirn- 
abscesse  uns  besondere  Vorsicht  auferlegen,  und  ob  die  Behand- 
lung mit  der  Stauungsbinde  oder  mit  Saugapparaten  vorzuziehen 
ist.  Wir  selbst  haben  uns  bisher  auf  die  erstere  beschränkt,  um 
erst  genügende  Erfahrungen  zu  sammeln. 

Vor  allem,  das  ist  nicht  genug  zu  betonen,  bedarf  es  auch 
bei  den  prognostisch  guten  akuten  Fällen  einer  sehr  sorgfältigen 
Technik  und  mehr  noch  einer  sehr  gewissenhaften  Überwachung. 

Dass  unsere  akuten  mit  Mastoiditis  komplizierten  Fälle  bis 
auf  einen  alle  heilten,  ist  besonders  das  Verdienst  meines  Assisten- 
ten Dr.  Keppler,  der  die  Bindenstauung  mit  ganz  besonderem 
Geschick  und  Sorgfalt  ausführt. 

Augenkrankheiten. 

Es  liegt  natürlich  nahe,  die  Stauungshyperämie  auch  gegen 
Augenkrankheiten  entzündlicher  Art  zur  Anwendung  zu  bringen. 
Ich  habe  nur  einmal  eine  wirkliche  Augenkrankheit  (den  Fall 
stellte  mir  Herr  Geheimrat  Sä  misch  gütigst  zur  Verfügung),  und 
zwar  eine  schon  weit  vorgeschrittene  sympathische  Ophthalmie,  die 
auf  dem  2.  Auge  schon  zu  einer  fast  vollständigen  Erblindung 
geführt  hatte,  mit  Stauungshyperämie  behandelt.  Sie  blieb,  wie  zu 
erwarten  war,  ohne  jeden  Einfluss.  Ich  hielt  es  für  nicht  un- 
wahrscheinlich, dass  wir  im  Beginn  bei  derartigen  Fällen  mit  dem 
Verfahren  gute  Erfolge  erreichen  würden.  Sollte  sich  dagegen  die 
weiter    unten    zu   erörternde  Annahme  mehrerer  Augenärzte   be- 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      379 

Wahrheiten,  dass  weder  die  Halsstauung  noch  die  Saugapparate 
eine  erhebhche  Hyperämie  des  inneren  Auges,  auch  bei  der  Ent- 
zündung, hervorbringen,  so  wären  diese  Versuche  aussichtslos. 
Als  Beispiele  von  akuter  Dakryocystitis,  die  wir  mit  Erfolg  dem 
Verfahren  unterzogen  haben,  mögen  folgende  beide  Fälle  dienen. 

63.  Ein  3 jähriges  Kind  wird  am  12.  Juli  1904  in  fieberhaftem  Zu- 
stande (38°)  der  Klinik  zugeführt;  die  Mutter  will  zuerst  vor  8  Tagen 
in  der  Gegend  des  rechten  Auges  eine  schmerzhafte  Schwellung  bemerkt 
haben,  die  in  der  Folge  rasch  an  Umfang  zugenommen  hat.  —  An  der 
Innenseite  des  rechten  Auges  —  genau  dem  Sitze  des  Tränensackes  ent- 
sprechend —  ist  eine  fast  haselnussgrosse  ausserordentlich  schmerzhafte 
Anschwellung  sichtbar;  dieselbe  ist  von  entzündlich  geröteter,  stark  ver- 
dünnter Haut  bedeckt  und  lässt  deutliche  Fluktuation  erkennen.  Bei 
Druck  sieht  man  Eiter  aus  dem  Tränenpunkte  hervorquellen.  Auch  die 
der  entzündeten  Tränensackgegend  benachbarte  Haut  der  Wange  ist  in 
grösserer  Ausdehnung  gerötet  und  ödematös  geschwollen.  Das  Auge  selbst 
ist  gleichfalls  in  einen  erhöhten  Reizzustand  versetzt:  es  zeigt  Tränen- 
träufeln und  Injektion  der  konjunktivalen  Gefässe;  die  Cornea  ist  aber 
glatt,  spiegelnd  und  glänzend.  Der  Eitersack  wird  sogleich  durch  einen 
kleinen  Einstich  eröffnet  und  durch  Ausdrücken  nach  Möglichkeit  von 
seinem  Inhalte  befreit;  2  Stunden  später  wird  zu  einer  22 stündigen  Stauung 
am  Halse  gesehritten.  Unter  der  bezeichneten  Behandlung  ist  eine  rasche 
Besserung  des  gesamten  Zustandes  zu  beobachten.  Schon  nach  wenigen 
Tagen  ist  eine  totale  Eintrocknung  des  Eiterherdes  eingetreten;  Rötung 
und  Schwellung  sind  nach  einer  anfänglichen  Steigerung  fast  gänzlich  ge- 
schwunden, und  Druck  auf  die  anfänglich  äusserst  eiupfindliche  Gegend 
des  Tränensackes  wird  nicht  mehr  als  schmerzhaft  empfunden.  Am  18.  Juli 
ist  die  kleine  Stichöffnung  vernarbt,  und  beim  völUgen  Fehlen  der  ent- 
zündlichen Erscheinungen  wird  die  Binde  fortgelassen.  Wenige  Tage  später 
ist  die  Entlassung  möglich.  An  der  Stelle  des  kleinen  Schnittes  ist  nur 
noch  mit  Mühe  eine  feine  stichförmige  Narbe  zu  entdecken;  sonstige 
Störungen,  speziell  Tränenträufeln,  bestehen  nicht  mehr. 

64.  Ein  66jähriger  Mann  will  schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren  an 
Tränenträufeln  gelitten  haben.  Mitte  April  1905  stellten  sich  plötzlich 
heftige  Schmerzen  ein,  und  im  Verlauf  von  3  Stunden  war  eine  starke 
Schwellung  in  der  Innenseite  des  linken  Auges  entstanden.  Dabei  zeigt 
sich  eine  auffallende  Störung  des  Allgemeinbefindens,  Patient  ist  benommen 
und  hat  wiederholt  erbrochen.  Die  Temperatur  ist  unter  häufigen  Schüttel- 
frösten auf  39,7°  angestiegen.  Bei  der  Schwere  der  Erkrankung  wird 
noch  spät  abends  vom  Hausarzt  klinische  Hilfe  nachgesucht.  Wir  finden 
den  Patienten  in  dem  eben  beschriebenen  Zustande  vor.  Die  linke  Tränen- 
sackgegend ist  beträchtlich  vorgewölbt;  sie  ist  von  geröteter  Haut  bedeckt 
und  auf  Druck  äusserst  empfindlich ;  dabei  ist  deutliche  Fluktuation  nach- 
weisbar. Auch  die  benachbarte  Haut  der  Lider  und  der  Wange  ist  weit- 
hin in  den  Entzündungsprozess  mit  hineingezogen;  die  Augenlider  sind 
linkerseits  derart  ödematös  geschwollen,  dass  das  Auge  gänzlich  ver- 
deckt  ist;    beiiTL  Auseinanderziehen  der  Augenlider   ist  auch  eine  chemo- 


380  Spezieller  Teil. 

tische  Abhebung  der  Conjunctiva  bulbi  et  palpebr.  zu  beobachten. 
Trotz  der  Schwere  der  Erscheinungen  glaubten  wir  uns  einstweilen  auf 
die  Anwendung  einer  22 stündigen  Dauerstauiuig  beschränken  zu  sollen; 
dieselbe  wird  spät  abends  10  Uhr  zum  ersten  Male  eingeleitet.  Schon  am 
nächsten  Morgen  ist  das  Bild  ein  wesentlich  anderes  geworden.  Patient 
gibt  an,  dass  nach  Anlegen  der  Binde  sehr  bald  ein  starker  Eiterabfluss 
nach  dem  Auge  erfolgt  sei  und  sich  die  Sclimerzhaftigkeit  damit  rasch 
verloren  habe.  Er  will  den  grössten  Teil  der  Nacht  schlafend  verbracht 
haben.  In  vollem  Einklang  mit  dem  subjektiven  Wohlbefinden  ist  auch 
eine  bedeutende  Besserung  der  objektiven  Erscheinungen  eingetreten.  Ent- 
zündliche Rötung  Tond  Schwellung  sind  fast  gänzlich  geschwimden,  und  von 
der  abends  zuvor  deutlichen  Flul^tuation  ist  nichts  mehr  nachzuweisen, 
ohne  dass  irgendwo  eine  Spontanperforation  nachzuweisen  wäre;  selbst 
stärkerer  Druck  auf  die  Gegend  des  Tränensackes  wird  kaum  noch  schmerz- 
haft empfunden.  Die  Augenlider  sind  fast  gänzlich  abgeschwollen,  so  dass 
die  Bulbi  wieder  frei  zutage  liegen.  Die  Temperatiu-  ist  auf  37,6°  zurück- 
gegangen. 

Wir  haben  unsere  Behandlung  nur  noch  2  Tage  lang  fortzusetzen 
brauchen,  um  den  Kranken  völlig  geheilt  entlassen  zu  können.  Von  der 
Erkrankung  ist  lediglich  das  schon  früher  bestandene  Tränenträufeln  zu- 
rückgeblieben, wir  haben  daher  die  Erweiterung  des  Tränennasenganges 
in  Vorschlag  gebracht. 

Eine  Anzahl  von  Augenärzten  hat  sich  in  letzter  Zeit  mit 
der  Behandlung  von  Augenkrankheiten  durch  Stauungshyperämie 
beschäftigt.  Renner^)  glaubt  bei  Keratitis  parenchymatosa  eine 
erhebliche  Besserung  des  Leidens  erzielt  zu  haben;  sonst  ist  er 
noch  nicht  zu  einem  endgültigen  Urteil  über  den  Wert  des  Mittels 
bei  Augenkrankheiten  gekommen. 

Über  ausgedehntere  Erfahrungen  berichtet  Hoppe^).  Er 
fand,  dass  bei  Beobachtung  der  erforderlichen  Vorsichtsmass- 
regeln dem  erkrankten  Auge  von  der  Kopfstauung  keinerlei  Nach- 
teile erwachsen.  Er  gibt  den  verständigen  Rat,  bei  geringfügigen 
oder  durch  einfachere  Mittel  leicht  heilbaren  Augenkrankheiten 
von  der  Stauung  abzusehen,  sie  dagegen  bei  schweren  anderer 
Behandlung  trotzenden  Krankheiten  ohne  Bedenken  zu  versuchen. 
Er  hatte  bei  einer  Anzahl  von  entzündlichen  Augenkrankheiten 
gute  Erfolge  mit  der  Stauungsbinde,  insbesondere  konnte  er 
ihre  schmerzstillende  Wirkung  am  Auge  genau  wie  an  anderen 
Körperteilen  feststellen. 

1)  Renner,  Über  Bier'sche  Stauungshyperämie  bei  Augenkrankheiten. 
Münchener  med.  Wochensclir.  1906.    Nr.  2. 

2)  Hoppe,  Einwirkung  der  Stauungshyperämie  als  sog.  Kopf  Stauung 
(nach  Bier)  auf  das  normale  Auge  und  den  Verlauf  gewisser  Augenkrankheiten. 
Klinische   Monatsblätter  für  Augenheilkunde.  44.  Jahrgang.    1906.      S.    389. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  mii  d.  Hals  usw.      ßg]^ 

Sehr  bemerkenswert  ist  Hoppe 's  Beobachtung,  dass  die 
massvolle  Kopf  Stauung  sich  bis  in  die  Hüllen  des  Augapfels 
und,  wenn  auch  wohl  nur  in  stark  abgeschwächtem  Grade, 
bis  in  das  Augeninnere  fortsetzt,  dass  dagegen  eine  starke  Steige- 
rung der  Kopfstauung  die  orbitale  Blutfülle  nicht  weiter  erhöht, 
sondern  sie  etwas  herabsetzt. 

Sehr  ausgedehnte  Tierexperimente  über  den  Einfiuss  der 
Stauungshyperämie,  besonders  auf  das  innere  Auge,  machte 
Wessely^).  Er  stellte  fest,  dass  weder  Bindenstauung  noch 
Saugnäpfe   eine  erhebliche  Hyperämie  desselben  hervorbrächten. 

Ich  halte  Wessely 's  Experimente  keineswegs  für  streng-  be- 
weisend. Um  die  Hyperämie  im  Innern  des  Auges  nachzuweisen, 
bediente  er  sich  des  folgenden  Mittels:  Er  hatte  gefunden,  dass  bei 
Hyperämie  der  Binnengefässe  des  Auges,  die  er  durch  subkon- 
junktivale  Injektion  von  Kochsalzlösungen  hervorrief,  diese  Ge- 
fässe  Eiweisskörper  in  vermehrter  Menge  durchlassen  und  zwar 
genau  proportional  der  Stärcke  der  Hyperämie.  Verursachte  er 
nun  die  stärkste  Stauungshyperämie  des  Auges,  so  nahm  die 
Durchlässigkeit  der  Binnengefässe  für  Eiweiss  gar  nicht  oder 
nur  unbedeutend  zu.  Daraus  schliesst  Wessely  weiter,  dass  eine 
Hyperämie  des  inneren  Auges  nicht  stattgefunden  habe. 

Ich  halte  es  für  möglich,  aber  durchaus  nicht  für  sicher, 
dass  dieser  Schluss  richtig  ist.  Meiner  Meinung  nach  erreicht 
man  durch  subkonjunktivale  Injektionen  eine  Entzündung,  also 
mehr  als  blosse  Hyperämie.  Zwischen  dem  Exsudat  der  Ent- 
zündung und  dem  Transsudat  der  Stauung  besteht  aber  ein 
ganz  gewaltiger  Unterschied. 

Zugestanden  aber,  dass  tatsächlich  die  Stauungshyperämie 
sich  beim  gesunden  Auge  nicht  auf  das  Innere  erstrecke,  so  ist 
damit  noch  keineswegs  der  Beweis  geliefert,  dass  dies  nicht  beim 
kranken,  insbesondere  beim  entzündeten  Auge,  zutrifft.  Denn 
auch  an  anderen  Körperteilen,  z.  B.  an  den  Beinen  gewisser 
Menschen  ist  in  gesundem  Zustande  eine  Stauungshyperämie  sehr 
schwer  zu  erzeugen,  sind  sie  aber  entzündet,  so  gelingt  es 
spielend  und  mit  ganz  geringer  Abschnürung. 

Von  Wichtigkeit  ist  noch  der  Nachweis  Wessely 's,  dass 
eine  bedrohliche  Drucksteigerung  im  Inneren  des  Auges  durch 
das  Anlegen  einer  Stauungsbinde  um  den  Hals  nicht  eintritt. 

1)  Verhandlungen  der  Berliner  ixiedizinischen  Gesellschaft  (5.  XII.  06.), 
Berliner  klinische  Wochenschr.   1906.      Nr.    51.      S.   1634. 


382  Spezieller  Teil. 

Auf  der  vorjährigen  Ophthalmologenversammlung  in  Heidel- 
berg wurde  im  Anschluss  an  den  Vortrag  Wessely's  auch  die 
Frage,  inwieweit  die  Stauungsh3^erämie  in  der  Augenheilkunde i) 
zu  brauchen  sei,  und  über  die  Einwirkung  der  Stauung  auf  das 
innere  Auge  eingehend  erörtert.  Die  Meinungen  gingen  sehr  aus- 
einander, so  dass  sich  ein  sicheres  Urteil  nicht  fällen  lässt. 

Mir  scheint  aber,  dass  gerade  die  Augenheilkunde  schon  seit 
langem  von  hyperämisierenden  Mitteln,  die  am  Auge  besonders 
gut  anzubringen  sind,  meist  unbewusst,  Gebrauch  macht. 

Ich  bemerke,  dass  schon  früher  ein  Augenarzt  Kauffmann^) 
sich  abwechselnd  der  Luft  Verdünnung  und  -Verdichtung  bedient  hat, 
um  eine  Art  Massage  am  Auge  auszuführen.  Er  bediente  sich 
dazu  eines  ganz  ähnlichen  Näpfchens,  wie  solcbe  neuerdings 
zur  Hyperämisierung  des  Auges  angegeben  sind. 

Akute  Cerebrospinal-Meningitis. 

Wie  schon  mehrmals  erwähnt,  habe  ich  die  Kopfstauung  in 
einer  ganzen  Reihe  von  Fällen  von  Cerebrospinal-Meningitis  tuber- 
kulöser und  eitriger  Art  angewandt.  Der  einzige  Fall,  in  dem  die 
Stauungsbinde  zu  einem  vollen  Erfolg  führte,  ist  der  folgende. 

65.  Bei  einem  15jährigen  Knaben  wurde  am  26.  Juli  1905  wegen  eines 
Cholesteatoms  des  Kuppelraumes  des  Ohres  die  Radikaloperation  ausgeführt. 
Nachdem  die  ersten  beiden  Tage  ohne  Zwischenfall  verlaufen,  war  in  der 
dritten  Nacht  mit  einem  Male  eine  auffallende  Verschlimmeriing  des  ganzen 
Zustandes  zu  beobachten.  Patient  schreit  während  des  Schlafes  häufig  auf, 
es  stellt  sich  wiederholt  Erbrechen  ein  und  früh  morgens  ist  die  Tem- 
peratur bei  einer  Pulsfrequenz  von  140  auf  39,4°  in  die  Höhe  gegangen. 
Dabei  liegt  der  Kranke  benommen  da.  N\ar  auf  energisches  Anreden  tritt 
er  mit  der  Klage  über  heftigen  Kopfschmerz  hervor ;  die  Bulbi  stehen  un- 
koordiniert,  und  es  fällt  ein  deutlicher  Unterschied  der  Pupillenweite  in 
die  Augen.  Der  Kopf  wird  steif  nach  hinten  übergehalten,  und  es  ist  eine 
ausgesprochene  Hyperästhesie  vorhanden.  Die  tamponierte  Wundhöhle 
zeigt  ein  reaktionsloses  Aussehen.  Es  wird  sofort  zu  einer  22  stündigen 
Stauungshyperämie  am  Hals  geschritten.  In  Übereinstimmung  mit  'onseren 
sonstigen  Beobachtungen  sehen  wir  auch  hier  wieder  eine  rasche  Abnahme 
der  Schmerzen  eintreten,  und  Hand  in  Hand  mit  dieser  subjektiven 
Besserung  ist  ein  schnelles  Schwinden  der  objektiven  KJrankheitssymptome 
zu  beobachten. 


1)  Bericht     der    33.    Versammlung     der     ophthalmologischen    Gesellschaft. 
Verlag  von  Bergmann,   Wiesbaden    1907.      S.   143. 

2)  Kauffmann,  Über  die  Anwendung  einer  Luft-  und  Wassermassage  am 
Auge.    Wochenschrift  für  Therapie  und  Hygiene   des  Auges.     Jahrgang  V.   Nr.  22. 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiteriangen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      383 

Nachdem  die  Temperatur  (vergl.  Tafel  XVII)  bereits  am  ersten  Abend 
von  ihrer  Höhe  heruntergegangen,  ist  sie  am  nächsten  Morgen  wieder  zTir 
Norm  herabgesixnken.  Das  Erbrechen  hat  avif gehört,  die  Bulbi  stehen 
wieder  koordiniert  bei  gleicher  Weite  der  Pupillen  imd  von  einer  Hyper- 
ästhesie der  Haut  ist  nichts  mehr  nachzuweisen.  Die  Kopfschmerzen  sind 
nach   eintägiger   Behandlung  fast  völlig  geschwunden.      In   den  nächsten 


26VII 27  28    29    30   31  lVIir2    3    4    5 


Tafel  XVII. 


Tagen  war  noch  ein  2  maliger,  abendlicher  Temperaturanstieg  zu  beobachten, 
ohne  dass  sich  eine  Erklärung  dafür  hätte  finden  lassen.  Seit  dem  4.  August 
hielt  sich  die  Temperatur  ständig  in  normalen  Grenzen,  und  es  ist 
keinerlei  Störiing  des  Wohlbefindens  wieder  eingetreten. 

Leider  ist  in  diesem  Falle  versäumt  worden,  die  Lumbalpunktion  zu 
machen.  Doch  war  der  Fall  derartig  charakteristisch,  dass  an  der 
Diagnose  kein  Zweifel  obwalten  kann. 

Auch  in  den  ungünstig  verlaufenden  Fällen  konnten  wir  regel- 
mässig eine  bedeutende  Besserung  des  subjektiven  Befindens  nach- 
weisen. 

Die  kürzlich  wütende  Epidemie  von  Cerebrospinal-Meningitis 
hätte  eine  vortreffliche  Gelegenheit  abgegeben,  den  Einfluss  der 
Stauungshyperämie  auf  diese  Krankheit  zu  prüfen.  Es  ist  mir 
nicht  bekannt,  ob  jemand  das  Verfahren  dabei  angewandt  hat. 

Möglicherweise  beruht  auch  der  günstige  Erfolg  der  Lumbal- 
punktion bei  akuter  Meningitis  zum  grossen  Teil  auf  der  dadurch 
hervorgerufenen  Hyperämie.  Denn  die  Entleerung  des  Liquor  cere- 
brospinalis schafft  "natürlich  ebenso  eine  Hyperämie  der  Hirnhaut, 
wie  die  Entleerung  des  ascitischen  und  pleuritischen  Exsudates 
eine  solche  des  Bauchfells  und  der  Pleura  hervorbringt. 

Man  könnte  deshalb  Kopfstauung  und  Lumbalpunktion 
vielleicht  mit  Nutzen  vereinigen. 


Akute  Parotitis. 

Zweimal   war    ich    in    der  Lage,    akute    Parotitis,    die    nach 
Bauchoperationen  entstand,  mit  Stauungshyperämie  zu  behandeln. 


384  Spezieller  Teil. 

66.  Bei  einem  19jälirigen  jixngen  Mann  wurde  am  5.  Juli  1905  wegen 
Ileus,  verursacht  durch  ausgedehnte  Verwachsungen,  die  Laparotomie 
notwendig.  2  Tage  später  klagt  Patient  über  ziehende  Schmerzen  auf 
beiden  Seiten  des  Gesichtes.  Die  Temperatur  geht  abends  auf  39,4°  in 
die  Höhe,  imd  über  Nacht  war  das  typische  Bild  der  doppelseitigen  akuten 
Parotitis  entstanden.  Nach  Einleitung  einer  22  stüadigen  Stauvingshyperämie 
können  wir  auch  liier  wieder  ein  schnelles  Nachlassen  der  äusserst  heftigen 
Beschwerden  konstatieren.  Da  aber  in  den  nächsten  Tagen  kein  deutlicher 
Rückgang  der  Entzündxingserscheinungen  zu  beobachten  war,  entschlossen 
wir  uns  in  diesem  Falle  zu  einem  frühzeitigen  Einstich  auf  beiden  Seiten, 
obwohl  die  Fluktuation  noch  keineswegs  deutlich  war.  Es  entleerte  sich 
avd  beiden  Seiten  eine  Menge  Eiter.  Bei  fortgesetzter  Stauung  waren 
beide  Abscesse  innerhalb  14  Tagen  völlig  ausgeheilt.  Man  sieht  niir  noch 
atif  beiden  Seiten  je  eine  kleine  Narbe,  die  von  den  erwähnten  Einstichen 
herrühren. 

Ein  anderer  gleichartiger  Fall  ist  unter  Nr.  21  beschrieben. 
Weil  wir  hier  mit  der  Spaltung  der  Abscesse  zögerten,  brachen 
dieselben  in  den  äusseren  Gehörgang  durch.  Es  empfiehlt  sich 
aber,  lieber  in  solchen  Fällen  frühzeitig  durch  einen  Stich  zu 
öffnen,  sobald  auch  nur  der  leiseste  Verdacht  auf  einen  Abscess 
vorHegt,  es  ist  sonst  Gefahr  vorhanden,  dass  derselbe,  statt  wie  in 
dem  unter  Nr.  21  erwähnten  Falle  vor,  hinter  dem  Trommelfell 
durchbricht  und  eine  Mittelohreiterung  hervorruft. 


Akute  Lymphadenitis. 

Im  folgenden  Falle  bestand  anfangs  Zweifel,  ob  es  sich  nicht 
auch  um  ein  Parotitis  handelte.  Der  weitere  Verlauf  aber  zeigte 
deutlich,  dass  eine  sekundäre  Lymphdrüseninfektion  vorlag. 

67.  Ein  27jähriger  Klempner  leidet  seit  2%  Jahren  an  einer 
Eiterung  der  Nebenhöhlen  der  Nase,  die  mit  ständigem  Kopfschmerz  und 
Eiterausfluss  aus  der  Nase  einlierging ;  er  ist  im  ganzen  4  mal,  zuletzt 
nach  Killian  operiert  worden,  ohne  dass  eine  merkliche  Besserung  der 
subjektiven  wie  objektiven  Beschwerden  erfolgt  wäre. 

Nach  der  2.  Operation  trat  plötzlich  Aphasie  mit  Hemiplegie  der  ganzen 
rechten  Körperhälfte  auf.  Der  Kranke  war  3  Monate  lang  völlig  gelähmt, 
und  auch  heute  ist  noch  eine  deutliche  Schwäche  der  rechten  Körper- 
hälfte vorhanden,  desgleichen  machen  sich  von  Zeit  zu  Zeit  immer  noch 
Sprachstörungen  bemerkbar.  Ende  Februar  1905  erkrankte  Patient  dann 
unter  fieberhaften  Begleiterscheinungen  an  einer  schmerzhaften  Schwellvmg 
in  der  rechten  Ohrgegend,  die  am  4.  März  die  Aiifnahme  in  die  Klinik 
nötig  machte.  Es  fällt  sofort  eine  deutliche  Verbreiterung  der  rechten 
Gesichtshälfte  in  die  Augen;  vor  dem  rechten  Ohre  findet  sich  eine  nur 
leicht  erhabene  rundliche  Geschwulst  von  etwa  5  cm  Durchmesser.     Die- 


Behandl.  akut.  Entzünd.  u.  Eiterungen  am  Kopfe  m.  einer  um  d.  Hals  usw.      335 

selbe  ist  von  entzündlich  geröteter  ödematöser  Haut  bedeckt  und  bei 
Druck  ausserordentlich  schmerzhaft.  Fluktuation  ist  nicht  mit  Sicherheit 
nachweisbar.  Die  Geschwulst  geht  nach  der  Submentalgegend  zu  in  eine 
etwa  faustgrosse,  diffuse  Schwellung  über,  die  bei  ausserordentlicher  Druck- 
empfindlichkeit gleichfalls  von  entzündlich  geröteter  Haut  bedeckt  ist. 
Irgend  welche  Einzelheiten  sind  in  der  steinhart  infiltrierten  Partie  nicht 
durchzufühlen.  Die  Untersuchung  des  Ohres  ergibt  normale  Verhältnisse ; 
aus  der  Nase  entleert  sich  reichlicher  dünnflüssiger,  mit  Blut  vermischter 
Eiter.  Die  Behandlung  bleibt  auf  eine  22  stündige  Stauungshyperäraie  be- 
schränkt. Wir  sehen  auch  hier  wieder  eine  rasche  Besserung  der  sub- 
jektiven Beschwerden  eintreten,  ohne  dass  sich  sogleich  auch  eine  günstige 
Beeinflussung  der  objektiven  Symptome  gezeigt  hätte.  Die  unter  dem 
14.  März  gemachten  Aufzeichnungen  lassen  sogar  anfangs  eine  schein,bare 
Verschlimmeriuig  des  ursprünglichen  Zustandes  erkennen,  der  eitrige  Aus- 
fluss  aus  der  Nase  ist  zwar  schon  bedeutend  geringer  geworden,  aber  die 
entzündlichen  Schwellungen  sind  fast  auf  das  Doppelte  des  ursprünglichen 
Umfanges  angewachsen.  Dabei  ist  jetzt  deutliche  Fluktuation  nachweisbar. 
Trotz  der  unverändert  beibehaltenen  Dauerstatiung  war  bald  auch  ein 
ständiges  Kleinerwerden  der  entzündlichen  Schwellungen  zu  beobachten.  Dabei 
geht  die  anfangs  diffuse,  brettharte  Infiltration  in  der  Submentalgegend  in 
einen  deutlich  abgrenzbaren  Tumor  über,  den  man  jetzt  unschwer  als  ein 
Paket  geschwollener  Lymphdrüsen  ansprechen  kann.  Am  27.  März  wird 
Patient  geheilt  nach  Hause  entlassen:  der  eitrige  Ausfluss  aus  der  Nase 
hat  völlig  aufgehört,  und  von  der  über  faustgrossen  Schwellung  ist  nur 
eine  etwa  taubeneigrosse  Lymphdrüse  in  der  Submentalgegend  übrig  ge- 
blieben. Bei  einer  im  Juli  vorgenommenen  Nachuntersuchung  findet  sich 
eine  leichte  Schwellimg  in  der  Parotisgegend  als  das  einzige  Zeichen,  welches 
noch  an  die  voraufgegangene  Erkrankung  erinnert. 

Parulis. 

Mit  sehr  guten  Erfolgen  haben  wir  schwere  Fälle  von  Parulis 
mit  der  Stauungsbinde  behandelt,  wofür  ich  hier  2  Beispiele  gebe. 

68.  Ein  12 jähriges  Mädchen  erkrankte  vor  1  Woche  an  heftigen 
Zahnschmerzen;  einige  Tage  später  trat  unter  fieberhaften  Begleiterschei- 
niingen  eine  Schwellung  der  rechten  Unterkiefergegend  hinzu,  die  in  der 
Folge  rasch  an  Umfang  zunahm  und  am  18.  August  1904  die  Aufnahme 
in  die  Klinik  nötig  machte.  Die  Weichteilbedeckungen  der  rechten  Unter- 
kieferhälfte sind  in  ganzer  Ausdehnung  ausserordentlich  stark  geschwollen 
rnid  bei  Druck  äusserst  empfindlich;  die  Haut  zeigt  ein  entzündlich  ge- 
rötetes Aussehen,  imd  in  der  Tiefe  ist  deutliche  Fliiktuation  nachweisbar. 
Die  Zahnreihen  sind  krampfhaft  aufeinandergepresst  und  können  niir  wenig 
voneinander  entfernt  werden,  immerhin  ist  aber  mit  Hilfe  der  Heister' sehen 
Sperre  eine  Besichtigimg  des  Mundinnern  möglich.  Das  Zahnfleisch 
der  rechten  Unterkiefergegend  ist  grauweisslich  verfärbt,  und  es  besteht 
starker  Foetor  ex  ore;  der  letzte  Prämolarzahn,  sowie  die  beiden  Molar- 
zähne der  rechten  Unterkieferhälfte  sind  deutlich  gelockert,  der  Praemolaris 
erweist  sich  ausserdem  als  stark  kariös. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  25 


386  Spezieller  Teil. 

Die  Temperatur  beträgt  bei  Achselmessung  am  Morgen  38°.  Es  wird 
im  Ätherrausch  mit  einem  längs  des  Unterkieferrandes  geführten  ca  2  cm 
langen  Einschnitt  auf  die  Höhe  der  stark  hühnereigrossen  Schwellung 
eingegangen.  Es  entleert  sich  eine  reichliche  Menge  dickflüssigen,  übel- 
riechenden Eiters,  in  dem  mikroskopisch  wie  kulturell  Staphylokokken  nach- 
weisbar sind.  Der  Eiter  wird  nach  Mögliclxkeit  ausgedrückt,  woraixf  die 
Wunde  ohne  Tamponade  lediglich  mit  einem  sterilen  Schutzverbande  be- 
deckt wird.  Der  Unter kief er knochen  lag  in  grösserer  Ausdelinung  von 
seinem  Periost  entblösst  frei  zutage.  Zum  Schluss  wird  der  kranke 
Prämolarzahn  ausgezogen.  Zwei  Stunden  nach  der  Operation  wird  Stau- 
ungshyperämie am  Halse  eingeleitet.  Unter  der  22  stündigen  Dauerstauung 
ist  innerhalb  weniger  Tage  ein  völliges  Austrocknen  der  grossen  Wiind- 
höhle  eingetreten;  am  21.  August  ist  die  Schnittwunde  bereits  verklebt,  und 
auch  bei  Druck  tritt  kein  Eiter  mehr  zwischen  ihren  Rändern  hervor.  Die 
entzündliche  Rötung  und  Schwellung  ist  nach  einer  kurzen  Steigerung  fast 
völlig  zurückgegangen  tuid  ist  auf  Druck  nicht  mehr  empfindlich.  Die 
Temperatur  bewegt  sich  wieder  in  normalen  Grenzen.  Schon  am  24.  August 
kann  Patientin  geheilt  nach  Hause  entlassen  werden.  An  Stelle  der  Inzisions- 
wunde  ist  eine  1 Y^  cm  lange,  frische  Narbe  zu  sehen,  und  der  Unterkiefer- 
knochen fühlt  sich  immer  noch  verdickt  an.  Andere  Zeichen  der  über- 
standenen  Erkrankung  bestehen  nicht  mehr. 

69.  Ein  41jäln:'iger  Tagelöhner  erkrankte  vor  14  Tagen  plötzlich  an 
heftigen  Schmerzen  in  der  linken  Kiefergegend,  ohne  dass  es  ihm  möglich 
gewesen  wäre,  einen  bestimmten  Zahn  verantwortlich  zu  machen.  Wenige 
Tage  nach  Einsetzen  der  Beschwerden  machte  sich  eine  schmerzhafte 
Schwell\ing  der  linken  Wange  und  Unterkiefergegend  bemerkbar,  so  dass 
ein  öffnen  des  Mundes  von  Tag  zu  Tag  beschwerlicher  wiorde.  Da  schliess- 
lich auch  fieberhafte  Erscheinungen  hinzutraten,  suchte  Patient  am  24.  Juli 
1904  kUnische  Hilfe  nach.  Die  linke  Wange  und  Unterkiefergegend  ist 
stark  geschwollen  und  gerötet.  Die  Anschwelliing  ist  ausserordentlich  druck- 
empfindlich und  lässt  deutliche  Fluktuation  erkennen.  Das  unke  Auge  ist 
durch  die  ödematös  geschwollenen  Lider  völlig  verdeckt,  beim  Auseinander- 
ziehen derselben  zeigt  sich  die  Conjunctiva  bulbi  chemotisch  abgehoben.  Die 
Zalinreihen  sind  krampfhaft  aufeinandergepresst  mid  können  aktiv  so  gut 
wie  gar  nicht  voneinander  entfernt  werden ;  auch  mit  Hilfe  des  Heister' sehen 
Instruments  ist  nur  eine  ungenügende  Öffnung  des  Mundes  möglich; 
die  Gebilde  der  Mundhöhle  können  deshalb  zunächst  nicht  besichtigt  werden. 
Die  Temperatur  beträgt  abends  bei  Achselmessung  38,4°. 

Unter  Schleich' scher  Infiltrationsanästhesie  wird  mit  einem  et-wa 
5  cm  langen  Schnitt  auf  die  entzündliche  Schwellung  eingegangen;  es  ent- 
leert sich  sehr  bald  eine  Menge  reichlichen  Eiters,  in  dem  mikroskopisch 
wie  kulturell  Staphylokokken  gefunden  werden.  Der  eingeführte  Finger  ge- 
langt nach  oben  hin  in  eine  grosse  Abscesshöhle,  in  welcher  Oberkiefer 
und  benachbartes  Jochbein  in  grösserer  Ausdehnung  von  ihrem  Periost  ent- 
blösst frei  zutage  liegen.  Nachdem  der  Eiter  möglichst  ausgedrückt  ist, 
wird  die  Wunde  lediglich  durch  einen  sterilen  Schutzverband  abge- 
schlossen. Ziom  Schluss  wird  noch  der  Mund  mit  Hilfe  des  Heister'schen 
Instruments  geöffnet;  der  hinterste  obere  Backzahn  linkerseits  ist  stark 


Behandl.  akut.  Entzünd.  vi.  Eiterungen  am  Kopfe  ni.  einer  um  d.  Hals  usw.      337 

kariös  und  gelockert,  weshalb  er  entfernt  wird.  Zwei  Stunden  nach 
der  Operation  wird  eine  22  stündige  Stauungshyperämie  am  Halse  ein- 
geleitet. 

Schon  nach  2tägiger  Behandlung  sind  die  Beschwerden  des  Kranken 
völlig  geschwunden,  und  diesem  subjektiven  Wohlbefinden  entspricht  ein 
auffallend  schnelles  Z\xrückgehen  der  objektiven  Symptome.  Die  Temperattu- 
ist  zur  Norm  zurückgekehrt,  und  die  entzündliche  Schwellung  ist  nach  an- 
fänglicher kiu"zer  Steigerimg  fast  gänzlich  zurückgegangen ;  erstaunlich  ist 
aber  vor  allem  die  ausserordentliche  Beeinflussung  der  Eiterung:  trotz 
der  über  hühnereigrossen  Abscesshöhle  zeigt  sich  der  Verband  nur  von 
einer  massigen  Menge  Eiters  dvirchtränkt,  und  auch  bei  Druck  tritt  nur 
wenig  Sekret  aus  der  Operationswimde  hervor. 

Unter  der  fortgesetzten  22  stündigen  Stauung  hört  die  Eiterung  am 
4.  Juli  völlig  auf,  und  auch  von  einer  Schwellung  des  Gesichts  ist  kaum 
noch  etwas  zu  bemerken.  Die  Stauungsdauer  wird  deshalb  herabgemindert. 
Am  11.  Juli  kann  Patient  geheilt  entlassen  werden;  die  Operationswunde 
ist  seit  mehreren  Tagen  geschlossen,  an  ihrer  Stelle  ist  eine  fast  strich- 
förmige  4  cm  lange  Narbe  zu  sehen.  Die  linke  Gesichtshälfte  zeigt  noch 
eine  ganz  geringfügige  Schwellung,  von  Druckempfindlichkeit  ist  nichts 
mehr  nachzuweisen. 

Wir  haben  zahlreiche  Fälle  von  schwerer  akuter  Periostitis  bzw. 
Osteomyelitis  der  Kiefer  mit  der  Stauungsbinde  behandelt.  Sie 
liefen,  wenn  sie  frühzeitig  in  Behandlung  kamen,  ausnahmslos  sehr 
schnell  ab,  und  kein  einziger  führte  zur  Nekrose  des  Knochens. 
Es  scheint  mir  das  immerhin  bemerkenswert;  denn  es  waren 
alles  wegen  der  Schwere  der  Krankheitserscheinungen  in  die  Klinik 
aufgenommene  Fälle,  bei  deneii  es  in  der  Regel  nicht  ohne  Se- 
c{uester  abzugehen  pflegt.  In  einer  ganzen  Reihe  von  leichteren 
Fällen  haben  wir  ambulant  die  gleich  noch  zu  beschreibende  Saug- 
behandlung angewandt.  Diese  guten  Erfolge  bei  Parulis  sind 
von  Bardenheuer^)  bestätigt. 


Behandlung  von  Schleimhauterkrankungen  des  Mundes 
und  der  oberen  Luftwege. 

Henle^)  empfiehlt,  den  akuten  Schnupfen  mit  Stauungshyper- 
ämie zu  behandeln.  Er  erzielte  in  5  unter  6  Fällen  einen  vollen 
und  schnellen  Erfolg.     Der  eine  Misserfolg  erklärte  sich  daraus, 


1)  Verhandkuigen  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie.     35.  Kongress. 
1906.     S.   235. 

2)  Henle,     Zur    Behandkuig    des    akuten     Schnupfens.       Deutsche    med. 
Wochenschr.  1905.    Nr.  6. 

25* 


388  Spezieller  Teil. 

dass  das  Leiden  mehr  chronisch  war,  und  dass  die  Behandlung  nur 
ungenügend  durchgeführt  werden  konnte. 

Ich  vermochte  Henle's  Beobachtungen  an  mir  selbst  zu  be- 
stätigen, als  ich  im  Laufe  des  vorletzten  Winters  von  einem  Schnupfen 
heimgesucht  wurde,  den  ich  mittels  der  Stauungsbinde  in  24  Stunden 
vertrieb,  während  sonst  die  Krankheit  bei  mir  Wochen  zu  dauern 
pflegt.  Müller^)  teilt  einen  sehr  hartnäckigen  Fall  von  Heuschnupf  en 
mit,  der  durch  Kopfstauung  sehr  schnell  geheilt  wurde.  Dagegen 
berichtet  Hoppe^),  dass  er  von  demselben  Mittel  bei  einem  Heu- 
katarrh der  Nase  und  der  Bindehäute  der  Augen  keinen  Erfolg 
sah. 

Von  grosser  Wichtigkeit  scheinen  mir  die  Versuche  Hoch- 
haus'^) zu  sein,  die  Diphtherie  durch  eine  um  den  Hals  gelegte 
Stauungsbinde  zu  behandeln.  In  36  so  behandelten  Fällen  von  Diph- 
therie sah  er,  ,,dass  die  Erfolge  gegenüber  denen,  welche  wir  nach 
den  jetzt  üblichen  mit  Diphtherieserum  erzielten,  soviel  bessere 
waren,  dass  er  die  Anwendung  der  Stauungshyperämie  nur  emp- 
fehlen kann,  zumal  wesentliche  Nachteile  sich  nicht  dabei  gezeigt 
haben".  Hochhaus  sah,  dass  die  Beläge  sich  schneller  abstiessen, 
die  Diphtherie  nicht  in  den  Kehlkopf  hinabstieg  und  dass  Kompli- 
kationen seltener  waren.  Es  muss  hinzugefügt  werden,  dass  Hoch- 
haus sich  für  verpflichtet  hielt,  in  den  schweren  Fällen  noch 
Heilserum  einzuspritzen.  Deshalb  sind  die  Versuche  nicht  rein. 
Bei  Angina  waren  Hochhaus'  Erfolge  nicht  so  günstig.  Er  konnte 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nur  eine  subjektive  Besserung  fest- 
stellen. Dieselbe  Beobachtung  machten  wir  selbst  schon  vor 
längerer  Zeit,  weshalb  wir  das  Verfahren  wieder  aufgaben. 

Pry  m^)  empfiehlt,  gegen  akute  Tonsilliten  Saugapparate  nach 
demselben  Prinzip  anzuwenden,  wie  wir  sie  bei  entzündlichen 
Krankheiten  äusserer  Körperteile  gebrauchen.  Er  konstruierte  für 
diesen  Zweck  eigene  Saugapparate. 


1)  Müller,  Über  die  Anwendung  der  Bier'schen  Staiuuagshyperämie  gegen 
Heuschnupfen.     Therapeutische  Monatshefte   1906.     S.  444. 

2)  Hoppe,  Einwh'kimg  der  Stauungshyperämie  als  sogenannte  Kopf- 
stauung  (nach  Bier)  auf  das  normale  Auge  usw.  Klinische  Monatsblätter  für 
Augenheilkunde.     44.  Jahrg.   1906. 

3)  Hochhaus,  Über  die  Behandlung  akuter  Halsaffektionen  mittels 
Stauungshyperämie.     Therapie  der  Gegenwart.     Oktober  1905. 

4)  Prym,  Über  die  Behandhmg  der  entzündlichen  Erkrankiingen  der 
Tonsillen    mittels    Saugapparaten.      Münchner    med.  Wochenschr.  1905.     Nr.  48. 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzünd.   und  Eiterungen  usw.      389 

Es  dürfte  sich  für  die  Spezialisten  der  Halskrankheiten  vielleicht 
empfehlen,  meinen  eine  Reihe  von  Jahren  zurückliegenden  Versuch 
wieder  aufzunehmen,  die  Tuberkulose  des  Kehlkopfes  mit  einer 
unterhalb  desselben  angelegten  Stauungsbinde  zu  behandeln.  Ich 
habe  nur  einmal  Gelegenheit  dazu  gehabt.  Die  Behandlungsdauer 
war  zu  kurz,  um  von  Erfolg  zu  sein,  und  der  Kranke  kam  mir 
aus  den  Augen. 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzün- 
dungen und  Eiterungen  gefährlich  werden? 
Kontraindikationen. 

Wer  im  Banne  der  Antiphlogose  steckt,  wird  unwillkürlich 
fragen:  Kann  denn  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Ent- 
zündungen, die  doch  an  sich  schon  häufig  zu  schwersten  Kreislauf- 
störungen führen,  nicht  schädlich  wirken,  kann  sie  nicht  vielleicht 
sogar  zum  Brande  der  befallenen  Körperteile  führen?  Ich  muss 
gestehen,  dass  ich  diese  Furcht  selbst  gehabt  habe  und  deshalb 
noch  in  der  ersten  Auflage  dieses  Buches,  als  ich  zum  zweiten 
Male  über  die  Behandlung  phlegmonöser  Erkrankungen  mit  Stau- 
ungshyperämie schrieb,  mich  folgendermassen  äusserte:  ,,Ich  be- 
merke aber  ganz  ausdrücklich,  dass  ich  keinem  Arzte  zur  Nach- 
ahmung auf  diesem  Gebiete  rate,  der  sich  nicht  bereits  die  grösste 
Erfahrung  in  der  Handhabung  der  Stauungshyperämie  bei  anderen 
Krankheiten  angeeignet  hat,  und  dass  sich  auch  dann  nur  ganz 
beginnende  Fälle  für  das  Verfahren  eignen.  Ich  bin  überzeugt, 
dass  man  bei  schon  weiter  vorgeschrittenen  akuten  Phlegmonen 
der  Weichteile  das  grösste  Unheil  mit  dem  Mittel  anrichten  könnte. 
Ist  doch  hier  die  Zirkulationsstörung  an  sich  häufig  so  gross,  dass 
Brand  der  ergriffenen  Teile  droht,  und  deshalb  Beseitigung  der 
Blutstockung,  aber  nicht  Vermehrung  derselben  angezeigt  ist." 

Nun  gebe  ich  zwar  zu,  dass  es  in  der  Tat  derartige  Ent- 
zündungen gibt,  aber  sie  sind  doch  offenbar  ausserordentlich  selten, 
und  nicht  die  Kreislaufstörung,  sondern  die  die  Entzündung  er- 
regende Schädlichkeit  (im  wesentlichen  Bakteriengifte)  töten  die 
Gewebe  ab,  wie  ich  das  im  allgemeinen  Teile  schon  begründet 
habe.  Dass  man  nichtsdestoweniger  bei  Entzündungen  mit  sehr 
erheblicher  Blutstockung  lieber  die  Stauungshyperämie  unterlasse, 


390  Spezieller  Teil. 

wenigstens  bevor  eine  grössere  Erfahrung  gesammelt  ist,  ist  be- 
sonders den  in  der  Methode  Ungeübten  anzuraten.  Jedenfalls  soll 
man  bei  derartigen  Entzündungen  möglichst  ausgiebig  etwa  vor- 
handene Abscesse  spalten.  Nun  habe  ich  unter  den  vielen  Fällen 
von  vorgeschrittener  akuter  Eiterung,  welche  ich  mit  Stauungs- 
hyperämie behandelt  habe,  nicht  einen  einzigen  Fall  gesehen,  wo 
das  Mittel  einen  wirklichen  und  dauernden  Schaden  angerichtet 
hätte,  und  nur  einen  einzigen,  wo  es  an  den  Gliedern  nicht  ver- 
tragen wurde. 

70.  In  diesem  Falle  handelte  es  sich  um  ein  seit  3  Wochen  be- 
stehendes schweres  periostales  Knochen-  und  Sehnenscheidenpanaritium  des 
Daumens,  das  auswärts  mit  Spaltung  behandelt  worden  war,  bei  einem 
69jährigen  Fabrikarbeiter.  Der  Mann  wurde  am  28.  April  1904  ins 
Johannishospital  aufgenommen,  und  am  29.  April  wru-de  ein  neuer  Schnitt 
gemacht,  ein  Sequester  aus  dem  Grundgliede  des  Daumens  und  nekrotische 
Sehnen  wurden  entfernt.  An  diese  Operation  schloss  sich  eine  heftige 
akute  Entzündung  von  brandigem  Charakter  an.  Dagegen  wurde  am  4.  Mai 
8  Stunden,  am  5.  und  6.  Mai  10  Stunden  Stauungshyperämie  verwandt. 
Die  Schmerzen  des  Kranken  wurden  darunter  stärker,  so  dass  er  die  Ent- 
fernung der  Binde  wünschte.  Da  auch  die  entzündlichen  Erscheinungen 
eher  zu-  als  abgenommen  hatten,  wurde  seinem  Wunsche  Folge  gegeben. 
Die  später  vorgenommene  Exartikulation  des  Daumens  mit  dem  Metakarpus 
zeigte,  dass  an  diesem  Gliede  nichts  zu  erhalten  war.  Neben  Knochen- 
und  Sehnennekrosen  waren  auch  noch  die  Gelenke  vereitert. 

Eine  schnell  vorübergehende  Schädlichkeit  sah  ich  2  mal  bei 
der  Behandlung  von  Eiterungen  mit  Stauungshyperämie,  nach- 
dem diese  beinahe  schon  ausgeheilt  waren,  eintreten.  Beide  Fälle 
verliefen  fast  ganz  gleichartig ;  ich  will  den  einen  davon  schidern : 

■:!^L^_— — £■— Lif ^^^  unter   34  beschriebene  Mann,   der  wegen 

Vereiteriing  des  rechten  Ellbogengelenks  mit  Stau- 
ixngshyperämie  behandelt  wurde,  bekam  am  21.  Ja- 
nuar 1904  plötzlich  unter  Fiebersteigerung  eine 
lebhafte  Röte  des  ganzen  rechten  Oberarms,  die  wie 
ein  Erysipel  aussah,  als  das  kranke  Gelenk  schon 
so  gut  wie  ausgeheilt  war.  Die  Stauungsbinde  wurde 
entfernt  und  der  Arm  hochgelagert,  woravif  die  Röte 
binnen  2  Tagen  spurlos  verschwand.  Ob  die  in  der 
Tafel  X  VIII .  nebenstehenden  Fiebertafel  verzeichnete  Temperatur- 

steigei'ung  vom  Arm  oder  einer  gleichzeitig  bestehen- 
den leichten  Angina  herrührte,  ist  vingewiss  (Taf.  XVIII). 

Es  handelte  sich  in  diesen  beiden  Fällen  offenbar  nicht  um 
regelrechte  Erysipele.     Dazu  war  die  Röte  von  vornherein  über 


40 
39 

■■■■■■!■■■■ 

SS 

S§ 

■■ 

38 
37 

BSSSIBBBS 

SS 
SS 

11 

36 

iiniig 

SS 
S| 

Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzünd.   und  Eiterungen  usw.      391 

ein  viel  zu  grosses  Gebiet  verbreitet,  sie  schritt  nicht  weiter  fort 
und  verschwand  zu  schnell  wieder. 

Die  meisten  Ärzte  haben  deshalb  grosse  Bedenken  gegen  die 
Stauungshyperämie,  weil  sie  sich  von  der  freilich  durch  die  Lehr- 
bücher aller  allgemeinen  und  speziellen  Gebiete  der  Medizin 
sattsam  verbreiteten  irrigen  Ansicht  nicht  frei  machen  können, 
dass  dies  Verfahren  eine  Ernährungsstörung  bedeute.  Die  richtig 
gehandhabte  Stauungshyperämie  ist  aber  keine  Verschlechterung, 
sondern  eine  Verbesserung  der  Ernährung,  wie  folgender  Fall 
beweist: 

71.  Ein  61  jähriger  Bauer  zog  sich  am  13.  Oktober  1904  durch  einen 
Fall  eine  Verletzung  vor  der  linken  Kniescheibe  zu.  Am  1.  November 
stellten  sich  unter  Schüttelfrost  heftige  Schmerzen  in  der  Gegend  des  linken 
Kniegelenks  ein. 

Am  3.  November  wurde  der  Kranke  aufgenommen.  Das  ganze  linke 
Bein  war  ausserordentlich  stark  geschwollen,  und  zwar  besonders  die  Gegend 
des  Kniegelenks.  Dies  war  rasend  schmerzhaft  und  sehr  prall  durch  einen 
Erguss  ausgefüllt.  Die  Probepunktion  des  Gelenks  förderte  Eiter  zutage, 
der  Streptokokken  enthielt.  Am  Oberschenkel  bestand  eine  ausgebreitete 
Ly  mphangitis . 

Der  Mann  befand  sich  in  sehr  elendem  und  heruntergekommenem  Zu- 
stand und  fieberte  hoch.  Ich  hielt  das  Leiden  für  eine  Vereiterung  des 
Kniegelenks  und  die  gewaltige  Schwellung  des  ganzen  Beines  für  kollaterale 
Schwellung  und  ödem,  hervorgerufen  durch  die  Kniegelenkseiterung,  und 
leitete  deshalb  Stauungshyperämie  ein.  Auch  hier  trat  ganz  augen- 
fällig ihre  schnelle  Wirkung  aui  die  Schmer zhaftigkeit  ein.  Das  Gelenk,  bei 
dessen  Berührung  der  Kranke  vor  der  Anlegung  der  Binde  laut  aufschrie, 
konnte  am  nächsten  Tage  schon  passiv  ohne  wesentliche  Schmerzen  bewegt 
werden.  Auch  nahm  der  Erguss  im  Gelenke  sehr  schnell  ab.  Dagegen 
zeigte  es  sich,  dass  die  starke  entzündliche  Schwellung  des  Beines  doch 
etwas  anderes  bedeutete.  Es  lag  ein  ausgedehntes  Erysipel  vor,  das  schnell 
bis  zu  der  Höhe  der  Darmbeinschaufel  auf  den  Ruinpf  fortschritt,  zur 
Bildung  eitergefüllter  Blasen  und  umschriebener  Hautgangrän  führte.  Sehr 
auffallend  war,  dass  alle  Erscheinungen  des  Erysipels  oberhalb  der  Binde 
weit  ausgesprochener  waren  als  unterhalb  derselben.  Am  8.  November 
ging  der  Kranke  septisch  zugrunde. 

Die  anatomische  Diagnose  lautete: 

Erysipel  des  linken  Beines  mit  partieller  Gangrän  der  Haut.  Ver- 
eiterung des  linken  Kniegelenks.  Intermuskuläre  Phlegmone,  partielle 
Gangrän  der  Muskeln.  Trübe  Schwellung  der  Nieren;  beginnende  Nephritis 
septica.    Bronchitis.     Alte   Pleuritis. 

Höchst  auffallend  war  der  Befund  am  linken  Bein.  Ich  lasse  den  be- 
treffenden Teil  vom  Sektionsprotokoll  des  pathologischen  Instituts  wörtlich 
folgen  (Ich  bemerke  vorweg,  dass  die  iixi  Protokoll  erwähnte  Schnürfurche 
von  der  Gummibinde  herrührte,  die  bis  zum  Tode  22  Stunden  täglich  ge- 
tragen war.   Da  oberhalb  der  Binde  zahlreiche  Eiterblasen  vorhanden  waren, 


392  Spezieller  Teil. 

so  musste  sie  in  der  letzten  Zeit  immer  an  derselben  Stelle  getragen 
werden ;  deshalb  hatte  sie  natürlich  in  dem  beträchtlichen  ödem  eine  Furche 
zurückgelassen. ) 

„Etwas  oberhalb  der  Mitte  des  linken  Oberschenkels  findet  sich  eine 
deutliche  Schnüi'furche.  Durch  einen  Schnitt  längs  der  Femoralgefässe, 
dann  der  Saphena  folgend,  wird  Haut  und  ünterhautzellgewebe  und  Mus- 
kulatur teilweise  bis  auf  den  Knochen  gespalten.  Aus  dem  eröffneten 
Kniegelenke,  sowie  aus  der  Bursa  semimembranosa  entleerte  sich  dicker 
gelber  Eiter.  Die  Synovialis  des  Kniegelenks  ist  dunkelrot.  Aus  dem 
Unterhautzellgewebe  und  dem  intermuskulären  Gewebe  des  Oberschenkels 
fliesst  sehr  trübe  Flüssigkeit  aus,  und  zwar  erscheint  die  Trübung  der- 
selben oberhalb  der  genannten  Schnürfurche  erheblicher  als  unterhalb. 
Die  Muskulatur  des  Oberschenkels  ist  zum  Teil  (Qviadriceps,  Sartorius, 
Adductores)  graugelblich  gefärbt.  Und  zwar  bildet  die  Schnürfurche  auch 
hierfür  eine  Intensitätsgtenze.  Oberhalb  derselben  ist  der  Quadriceps  und 
Sartorius  gelbgrau  und  fast  ganz  erweicht,  so  dass  sich  mit  dem  Messer- 
rücken Teile  der  Muskulatur  abstreifen  lassen,  unterhalb  der  Schnürfurche 
hat  die  Muskulatur  desselben  Muskels,  wie  der  benachbarten  ihre  rote 
Farbe  in  bedeutend  höherem  Masse  behalten,  wie  auch  die  Form  und 
Konsistenz  der  einzelnen  Muskeifäsern  noch  bedeutend  mehr  der  Norm 
ents]Dricht.  Die  Grenze  dieses  Unterschieds  in  dem  Verhalten  der  Muskvi- 
latur,  selbst  in  demselben  Muskel,  fällt  mit  der  auf  der  Haut  sichtbaren 
Schnürfm^che  genau  zusammen  und  ist  eine  ziemlich  scharfe." 

Ich  gebe  auch  den  im  hiesigen  pathologischen  Institut  gemachten 
mikroskopischen  Befund  wieder: 

,,Die  Muskulatur  war  oberhalb,  zentralwärts  von  der  Schnürfurche, 
fast  total,  unterhalb  derselben  teilweise  nekrotisch.  Die  Erscheinungen  des 
Kernzerfalles  gingen  dabei  oberhalb  der  Schnürfurche  reichlich  weiter  als 
unterhalb  derselben.  Oberhalb  der  Schnürfurche  erschienen  die  Muskel- 
fasern stark  verbreitert,  formlos,  ohne  Quer-  und  Längsstreifen,  zu  scholligen 
Klumpen  aneinandergedrückt,  zwischen  sich  Reihen  von  zerfallenen  und 
schlecht  färbbaren  Kernen  lassend.  Die  Bezirke  von  nicht  nekrotischen 
Muskelfasern  sind  verhältnismässig  klein.  Um  die  nekrotischen  Bezirke 
und  in  denselben  finden  sich  grosse  Mengen  von  Leukocyten,  besonders  in 
der  Umgebung  der  Gefässe,  die  erweitert  und  mit  Leukocyten  wie  voll- 
gepfropft erscheinen.  Hier  und  da  sieht  man  weisse  Blutkörperchen  in  der 
Diapedese  begriffen.  Ebenso  finden  sich  auch  Erythrocyten  in  reichlicher 
Menge  in  der  Umgebung  der  Gefässe  und  im  intramuskulären  Bindegewebe. 
An  einigen  Stellen  der  oberhalb  der  Schnürfurche  entnommenen  Präparate 
ist  die  Muskulatur  gänzlich  in  von  Bindegewebe  durchzogene  Massen  von 
kleinsten  nekrotischen  Fragmenten  und  Körnchen  verwandelt,  die  mit  grossen 
Mengen  von  Leukocyten  durchsetzt  sind.  Hier  finden  sich  auch  Kokken- 
haufen in  beträchtlicher  Masse. 

Dagegen  ist  unterhalb  der  Schnürfurche  im  grossen  und  ganzen  die 
Muskulatur  in  bedeutenderem  Masse  von  Erythrocyten  durchsetzt.  Die 
Gefässe  erscheinen  allgemein  weiter  als  oben,  die  Leukocyteninfiltration  ist 
nur  in  beschränkten  Abschnitten  erheblich.  Die  Nekrose  ist  bei  weitem 
nicht  so  beträchtlich  wie  oberhalb  der  Schnürfurche,  vielmelir  auf  einige 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzünd.   und  Eiterungen  usw.      393 

kleinere  Herde  beschränkt.  Und  hier  erreicht  sie  niclit  die  Totalität  wie 
oberhalb  der  Schnürfurche.  Während  oberhalb  der  Schnürfurche  die  Quer- 
streifung der  Muskelfasern  nur  an  einigen  Stellen  noch  bemerkbar  ist, 
zeigen  dieselbe  unterhalb  der  Schnürfurche  noch  bei  weitem  die  meisten 
Fasern." 

Es  handelte  sich  um  eine  schwere  Streptokokkeninfektion, 
welche  Kniegelenk,  Zwischenmuskelräume  und  Haut  des  Beines 
ergriffen  hatte.  Was  schon  an  der  Haut  zu  sehen  war,  zeigte  die 
Muskulatur  noch  viel  auffälliger.  Als  der  Schnitt  durch  die 
Weichteile  des  Beines  geführt  war,  fiel  allen  Zuschauern  der  Sek- 
tion sofort  der  gewaltige  Unterschied  auf:  Unterhalb  der  Schnür- 
furche, haarscharf  mit  ihr  abschneidend,  fast  normal  aussehende 
Muskulatur,  oberhalb,  ohne  weiteres  erkennbar  weitgehendste 
Nekrose. 

Nun  glaube  ich  allerdings,  dass  hier  nicht  sowohl  die  bessere 
Ernährung,  welche  die  Stauungsh5rperämie  herbeiführte,  die  vom 
Brande  bedrohten  Gewebe  gerettet  hat,  als  vielmehr  in  erster  Linie 
die  Schädigung  der  Bakterien  und  ihrer  Gifte  durch  das  Mittel. 
Immerhin  aber  ist  der  zweifellose  Beweis  geliefert,  dass  die  richtig 
ausgeführte  Stauungshyperämie  keine  Ernährungsstörung  bedeutet. 
Freilich,  hätten  wir  die  Binde  zu  straff  angezogen,  so  wäre  wohl 
das  Gegenteil  eingetreten,  und  akuter  Brand  des  ganzen  unterhalb 
der  Binde  gelegenen  Gliedabschnittes  die  Folge  der  Abschnürung 
gewesen. 

Zunächst  will  ich  den  wichtigsten  Einwand,  der  gegen  die 
Stauungshyperämie  bei  entzündlichen  Erkrankungen  meiner  An- 
sicht nach  erhoben  ist,  zu  entkräften  versuchen.  Lexer^)  sagt 
von  ihr:  ,,In  leichten  Fällen  wird  sie  nie  versagen,  in  schweren 
Fällen  voraussichtlich  stets,  in  mittelschweren  in  ihrer  Wirkung 
zweifelhaft  sein."  Wäre  dies  wirklich  der  Fall,  so  behielte  zwar 
das  Mittel  immerhin  noch  eine  grosse  theoretische  Wichtigkeit 
für  die  Beurteilung  entzündlicher  Prozesse,  weil  es  mit  allerlei 
Vorurteilen  aufräumt,  aber  sein  praktischer  Wert  wäre  gleich 
Null.  Ich  glaube  aber  nicht,  dass  man  sich  bei  dieser  Be- 
hauptung Lexer's  ernsthaft  lange  aufzuhalten  braucht.  Ich  will 
ganz  abgehen  von  der  inneren  Unwahre cheinlichkeit  einer  solchen 
schematischen  Einteilung.  Man  lese  nur  die  in  diesem  Buche 
beschriebenen  mit  Erfolg  behandelten  sehr  schweren  Fälle,  man 

1)  Lexer,  Zur  Behandlung  akuter  Entzündungen  mittels  Stauungs- 
hyperämie.    Münchner   med.  W.    1906.     Nr.    14. 


394  Spezieller  Teil. 

lese  ferner  die  Diskussion  über  die  Stauungshyperämie  auf  dem 
Chirurgenkongresse  des  Jahres  1906^).  Ganz  ausdrückhch  ist 
dort  von  den  verschiedensten  Rednern  (Habs,  Croce,  Stich, 
ßardenheuer)  hervorgehoben  worden,  dass  gerade  bei  den 
schweren  akuten  Entzündungen  sich  die  Stauungshyperämie 
vortrefflich  bewährt  hat.  Dasselbe  berichten  zahlreiche  andere 
Mitteilungen. 

Wenn  Lex  er  seine  Ansichten  auch  mit  den  Sehne  nscheiden- 
phlegmonen  bekräftigt,  indem  er  sagt:  ,,Sie  (die  Sehnen)  können 
wie  die  Scheide  nekrotisch  werden  und  müssen  dann,  damit  die 
Fisteleiterung  zum  Abschluss  kommt,  nachträglich  entfernt 
werden,"  so  wählt  er  doch  eigentlich  das  schlechteste  Beispiel, 
das  er  finden  kann.  Gewiss  können  die  Sehnen  auch  unter 
Stauungshyperämie  nekrotisch  werden,  aber  wie  selten  ist  dies 
gegen  früher.  Man  sehe  sich  doch  einmal  das  Kapitel  über 
Sehnenscheidenphlegmonen  in  diesem  Buche  an  und  lese  die 
Berichte  anderer  Ärzte,  die  fast  übereinstimmend  berichten,  dass 
hier  durch  die  Stauungshyperämie  gänzlich  im  günstigsten  Sinne 
Wandel  geschaffen  ist,  und  die  teilweise  noch  bessere  Erfolge 
melden  als  ich.  (,, Wahrhaft  glänzend  sind  die  Erfolge  der 
Stauungs-  und  Saugbehandlung  bei  den  Sehnenscheidenphleg- 
monen, und  wenn  die  Methode  nichts  mehr  leistete  als  dies,  so 
würde  sie  verdienen,  nicht  vergessen  zu  werden."  Bardenheuer 
auf  dem  35.  deutschen  Chirurgenkongresse.) 

Bisher  aber  haben  wir  doch  die  V förmigen  Sehnenscheiden- 
eiterungen  und  die  der  Kleinfingersehnenscheiden  zu  den  schwersten 
und  gefurchtesten  Phlegmonen  gerechnet.  Auch  bei  diesen  aber 
hat  sich  die  Stauungshyperämie  glänzend  bewährt. 

Lex  er  meint,  dass  durch  die  Auflösung  der  Bakterien  eine 
grosse  Menge  von  Endotoxinen  frei  werde,  die  die  Gewebe  aufs 
heftigste  schädigen.  Ich  verstehe  nicht  genug  von  Bakteriologie, 
um  über  die  Endotoxine  und  ihre  Wirkung  ein  Urteil  abgeben 
zu  können,  aber  das  kann  ich  behaupten,  dass  ich  die  schreck- 
liche Wirkung  der  Endotoxine,  die  Lex  er  so  sehr  fürchtet,  trotz 
einer  reichlichen  Erfahrung  nicht  gesehen  habe. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  von  Lex  er  behaupteten 
raschen  Einschmelzung  entzündlicher  Infiltrate  und  schneller 
Weiterverbreitung  der  Eiterung.    Ich  habe  sie  nie  in  der  Weise, 

1)  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  D.  Ges.  für  Chirurgie.  1906.  I. 
S.   220—266. 


Kann  die  Stautingshyperäniie  bei  akuten  Entzünd.   und  Eiterungen  usw.      395 

wie  sie  Lexer  beschreibt,  gesehen.  Lexer  hat  mich  vollständig 
mißverstanden,  wenn  er  behauptet,  ich  hinge  an  dem  Prinzip 
der  kleinen  Schnitte.  Wo  habe  ich  das  jemals  behauptet?  Ich 
mache  nur  in  der  Regel  kleine  Schnitte,  weil  ich  mit  Zuhilfe- 
nahme der  Stauungshyperämie,  ebenso  wie  zahlreiche  andere 
Ärzte,  völlig  damit  auskomme  und  bleibe  dabei,  bis  ich  un- 
günstige Erfahrungen  damit  machen  sollte.  Schreitet  eine 
Eiterung  schnell  fort,  so  soll  man  natürlich  grosse  Schnitte 
machen.  Ich  halte  es  sogar  für  einen  schlimmen  Kunstfehler,  einen 
Abscess  unter  Stauungshyperämie  gross  werden  zu  lassen.  Die 
Diagnope  eines  halbwegs  grcsseren  Abcesses  ist  auch  unter 
Stauungshyperämie  immer  zu  stellen.  Meines  Erachtens  liegt 
die  Indikation  für  die  Schnittführung  sehr  einfach:  Man  soll 
stets  versuchen  mit  kleinen  Schnitten  auszukommen,  wo  grosse 
die  Funktion  stören  würden,  also  vor  allem  bei  Sehnenscheiden- 
und  Gelenkeiterungen.  Bei  den  meisten  anderen  Fällen  ist  die 
Grösse  des  Schnittes  von  untergeordneter  Bedeutung.  Wer  dort 
mit  kleinen  nicht  auskommt,  mache  ruhig  grosse. 

Allerdings  der  Meinung  Lexer's,  dass  die  entzündlichen  In- 
filtrate schon  vor  der  Stauung  angeschnitten  werden  müssen, 
um  die  Toxine  herauszuschwemmen,  kann  ich  mich  nicht  an- 
schliessen.  Einen  ähnlichen  Vorschlag  machte  mir  schon  vor 
längerer  Zeit  Klapp  und  er  hat  diesen  Gedanken  auch  bei  einer 
grösseren  Anzahl  von  Tuberkulosen  in  der  hiesigen  Poliklinik 
praktisch  ausgeführt.  Er  schnitt  die  tuberkulösen  Granulations- 
herde an  und  versuchte  mit  Saugapparaten  die  Toxine  daraus 
zu  entleeren  und  gleichzeitig  die  Granulationen  zu  hyperämi- 
sieren.  Ich  bin  ihm  darin  nicht  gefolgt.  Viel  mehr  verspreche  ich 
mir  von  den  ersten  Versuchen,  die  ich  bei  Abscessen  anstellte, 
welche  ich  mit  Stauungshyperämie  behandelte:  Ich  schnitt  sie 
sehr  weit  auf,  entleerte  gründlich  den  Eiter  und  schloss  die 
grosse  Wunde  durch  einige  Silberdrahtnähte  mit  sehr  weiten 
Lücken. 

Lexer  warnt  noch  vor  vielen  anderen  Dingen,  z.  B.  vor 
Bewegung  entzündeter  Glieder,  Ausdrücken  des  Eiters^),  An- 
wendung der  Stauungshyperämie   bei  Lymphangitis,    weil    dabei 

1)  Ich  bemerke  auch  hier  wieder,  dass  alle  diese  Eingriffe  so  schonend 
gemacht  werden  sollen,  dass  der  Kranke  keine  nennenswerten  Beschwerden 
dabei  hat.  Mir  scheint,  dass  meine  Vorschriften  zum  Teil  so  aufgefasst  sind, 
als  liesse   ich  die   vereiterten  Sehnen  Gymnastik  treiben. 


396  Spezieller  Teil. 

alles  Mögliche  seiner  Ansicht  nach  entstehen  kann.  Er  erklärt: 
,,Was  aber  möglicherweise  verhängnisvolle  Folgen  hat,  muss  aus 
einer  Behandlung  ausgeschlossen  bleiben!"  Meiner  Ansicht  nach 
ist  mit  der  Befolgung  dieses  Prinzipes  fast  jeder  therapeutische 
Fortschritt  in  der  Medizin  und  besonders  in  der  Chirurgie  aus- 
geschlossen, Was  kann  nicht  alles  schädliche  Folgen  haben, 
besonders  nach  Ansicht  auf  bestimmte  Lehrmeinungen  ein- 
geschworener Fachleute!  Ich  behaupte  wohl  nicht  zu  viel,  wenn 
ich  sage,  die  erdrückende  Mehrzahl  der  Ärzte  würde  vor  einigen 
Jahren  auf  die  Frage,  ob  die  Stauungshyperämie  bei  Ent- 
zündungen auch  schaden  könne,  geantwortet  haben,  sie  könne 
nur  schaden. 

Ich  verlasse  mich  lieber  auf  Erfahrungen,  die  mit  grosser 
Vorsicht  angestellt  wurden,  und  lasse  mich  von  diesen  leiten, 
und  nicht  von  dem,  was  ich  mir  theoretisch  vorstelle.  Damit 
will  ich  nicht  bestreiten,  dass  Theorien  immer  die  besten  Pfad- 
finder für  Tatsachen  sind. 

Ich  habe  es  für  nötig  gehalten,  auf  die  Ausführungen  Lexer's 
näher  einzugehen.  Denn  seine  Ansichten  sind  ganz  wesent- 
lich bestimmt  durch  theoretisch  bakteriologische  Vorstellungen. 
Ich  habe  aber  öfter  die  Erfahrung  gemacht,  dass  diese  von 
unserer  heutigen  Ärztewelt  so  hoch  bewertet  werden,  dass 
klare  klinische  Erfahrungen  davor  in  den  Hintergrund  treten 
müssen.  Ich  verweise  hier  auf  das,  was  ich  bei  den  Tripper- 
gelenken gesagt  habe.  Jedes  beliebige  Serum  führt  sich  spielend 
ein,  wofern  es  nur  eine  ,, wissenschaftlich  bakteriologische  Grund- 
lage" hat,  aber  gegen  das  einfachste,  durch  klinische  Erfahrung 
erprobte  Mittel  sträubt  man  sich  aufs  äusserste. 

Von  den  Kontraindikationen,  die  man  gegen  die  Stauungs- 
hyperämie bei  akuten  Entzündungen  aufgestellt  hat,  erwähne 
ich  zuerst  die 

Streptokokkeninfektionen. 

Ich  selbst  habe  mehrfach  erklärt,  dass  ich  bei  der  Seltenheit 
der  Streptomykose  in  Bonn  keine  grosse  Erfahrungen  über  diesen 
Gegenstand  habe.  Inzwischen  haben  sich  diese  aber  gemehrt 
und  besonders  ist  auch  von  anderer  Seite  über  hierher  gehörige 
Beobachtungen  berichtet  worden. 

Beim  Erysipel   sind,    wie   ich   schon  in  dem  Kapitel    über 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzünd.  und  Eiterungen  usw.      397 

dessen  Behandlung  mitteilte,    die  Ansichten  der  Ärzte  sehr  ver- 
schieden über  den  Wert  der  Stauungshyperämie. 

Inzwischen  aber  sind  von  v.  Brunni),  Habs^),  Heller^) 
und  mehreren  anderen  zweifellose  Erysipele  beschrieben,  die  an 
akut  entzündeten  Gliedern,  die  unter  Stauungshyperämie  standen, 
auftraten. 

V.  Brunn  beobachtete  unter  65  Fällen  von  akuter  Eiterung, 
die  er  mit  Stauungsh3rperämie  behandelte,  6  Fälle  von  Erysipel, 
Habs  unter  70  ausgewählten  meist  schweren  Fällen  einen.  Ich 
selbst  sah  ebenfalls  zwei  echte  Erysipele  unter  der  Stauungs- 
behandlung : 

72.  Ein  16jäliriger  junger  Mann  wurde  am  22.  XI.  1905  mit  einer 
schweren  rezidivierenden  Osteomyelitis  der  linken  Tibia  in  das  Johannis- 
liospital  avifgenommen.  Es  wurde  ein  Abscess,  der  Staphylokokken,  und, 
später  ein  zweiter,  der  Staphylokokken  und  Streptokokken  enthielt,  dTjrch 
einen  kleinen  Schnitt  gespalten  und  das  Leiden  mit  Stauungshyperämie  be- 
handelt. Am  5.  XII.  entstand  unter  dieser  Behandlimg  ein  Erysipel  am 
Fusse,  das  allmählich  bis  aiif  den  Oberschenkel  fortscliritt,  ohne  die 
Stauungsbinde,  die  weiter  verwandt  wurde,  zu  erreichen.  Am  10.  XII. 
war  das  Erysipel  unter  fortgesetzter  Stauungshyperämie  erloschen.  Ich 
entleerte  später  aus  der  Tibia  durch  Aufmeisselung  einen  grossen  und  einen 
kleineren  Knochenabscess. 

Ein  zweiter  Fall  von  Erysipel,  der  bei  einer  schweren  Pyäiuie 
unter  Stauungshyperämie  auftrat,  ist  unter  Nr.   74  beschrieben. 

Dieses  sind  die  beiden  einzigen  wahren  Erysipel ,  die  ich  unter 
vielen  Hunderten  Fällen  von  akuter  Eiterung  und  wohl  ebensovielen 
von  akuter  Entzündung,  die  ich  mit  der  Stauungsbinde  behandelt 
habe,  erlebte. 

Übrigens  sind  sämtliche  beobachtete  Erysipele  günstig  abge- 
laufen. 

Es  besteht  nach  diesen  Beobachtungen  kein  Zweifel,  dass  die 
Stauungshyperämie  ein  frisches  Erysipel  nicht  zu  verhüten  imstande 
ist,  ja  es  scheint,  nach  den  v.  Brunn'schen  Fällen,  dass  es  den  Aus- 
bruch dieser  Krankheit  sogar  erheblich  befördert;  denn  v.  Brunn 
sah  in  fast  10  Proz.  seiner  Fälle  Erysipel  auftreten.    Zunächst  liegt 


1)  V.  Brunn,  Über  die  Stautuigsbehandlung  bei  akuten  Entzündungen 
nach  den  bisherigen  Erfahrungen  der  v.  Bruns'schen  Klinik.  Beiträge  zur 
klinischen  Chirurgie.     46.  Bd.   3.  Heft. 

2)  Habs,  Erfahrungen  mit  Bier'scher  Stauungshyperämie  bei  akuten 
Eiterungen.    Wiener  klin.  Rvmdschau  1905.    Nr.  46. 

3)  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen  Ges.  für  Chirurgie.  I. 
S,  247. 


398  Spezieller  Teil. 

da  die  Vermutung  nahe,  dass  die  Stauungshyperämie  bei  ätio- 
logisch verschiedenen  Fällen  verschieden  wirkt.  Meine  eigenen 
Erfahrungen  beziehen  sich  ja  meist  auf  die  Staphylomykose.  Der 
günstige  Einfluss  der  Stauungshyperämie  auf  diese  Krankheit  ist 
ganz  unverkennbar.  Dasselbe  gilt  für  die  gonorrhoischen  Meta- 
stasen und  auch  für  die  Knochenmetastasen  des  Typhus,  von  denen 
ich  zwei  Fälle  prompt  unter  dem  Mittel  zurückgehen  sah.  Nun 
wäre  ja  möglich,  dass  unsere  und  Hochhaus'  Fälle  von  Erysipel, 
die,  wie  ich  oben  geschildert  habe,  durch  Stauungshyperämie  an- 
scheinend sehr  günstig  beeinflusst  wurden,  nicht  wegen,  sondern 
trotz  dieses  Mittels,  so  gut  verlaufen  wären,  und  dass  dieses  wohl 
die  Infektionen  mit  Staphylokokken,  Typhusbazillen  und  Gono- 
kokken heile,  gegen  die  Streptomykose  dagegen  unwirksam  sei. 
Gegen  diese  Anschauung  aber  sprechen  mit  grosser  Deutlichkeit 
eine  Reihe  unserer  Beobachtungen,  so  der  Fall  26,  wo  es  ge- 
lang, einen  heissen,  durch  Streptokokken  erzeugten  Abscess  kalt 
zu  machen;  der  Fall  71,  wo  wir  die  schwere,  durch  dieselben  Krank- 
heitserreger hervorgerufene  Gangrän  aufs  augenfälligste  gerade 
nur  so  Aveit  beschränken  und  verhüten  konnten,  als  die  Wirkung 
der  Stauungsbinde  reichte,  und  mehrere  Fälle  schnell  ausheilender, 
mit  Mastoiditis  komplizierter  Mittelohreiterungen,  bei  denen  gleich- 
falls Streptokokken  gefunden  wurden.  In  neuerer  Zeit  haben  wir 
noch  folgende  4  Fälle  von  Streptomykose  unter  Stauungshyperämie 
schnell  und  völlig  heilen  sehen:  eine  Osteomyelitis  des  Ober- 
schenkelknochens; sie  heilte  ohne  Nekrose;  drei  Sehnenscheiden- 
phlegmonen,  darunter  eine  schwere,  die  ebenfalls  sämtlich  ohne 
Nekrose  heilten.  In  einer  Reihe  von  Fällen,  die  aufgebrochen 
waren,  fanden  sich  Staphylo-  und  Streptokokken.  Diese  Fälle,  die 
mit  eröffneten  Abscessen  in  Behandlung  kamen,  sind  natürlich 
nicht  zu  verwerten. 

Auch  von  anderer  Seite  sind  zahlreiche  Streptomykosen  be- 
schrieben, die  unter  Stauungshyperämie  heilten.  Ich  glaube  des- 
halb, dass  im  Prinzip  die  Hyperämie  der  Streptomykose  gegenüber 
keine  andere  Rolle  spielt  als  bei  anderen  Infektionen  auch,  und  dass 
in  den  Fällen,  wo  unter  der  Stauungsbinde  ein  Erysipel  auftrat, 
irgend  ein  bisher  noch  nicht  erkannter  Fehler  in  der  Technik  des 
Verfahrens  gemacht  ist.  Ich  werde  in  dieser  Ansicht  bestärkt 
durch  meine  früheren  Erfahrungen,  die  ich  bei  aufgebrochenen 
Tuberkulosen  sammelte.  Ich  habe  in  dem  Kapitel  ,, Behandlung 
der  Tuberkulose"  erwähnt,  dass  ich  im  Jahre  1893  erschreckend 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzünd.   und  Eiterungen  usw.      399 

häufig  unter  der  Stauungsbinde  schwere  akute  Infektionen  und 
besonders  Erysipel  auftreten  sah.  Ich  erkannte  bald,  dass  daran 
lediglich  eine  verkehrte  Technik  schuld  war,  nämlich  zu  lange  fort- 
gesetzte und  zu  starke,  chronische  Ödeme  hervorrufende  Stauung. 
Sobald  ich  die  Technik  änderte,  habe  ich  bei  tuberkulösen  Glie- 
dern, trotz  der  gewaltigen  Anzahl  von  Fällen,  die  ich  behandelte, 
seit  dem  Jahre  1894  nicht  ein  einziges  Erysipel  mehr  gesehen. 

Wenn  ich  allerdings  gefragt  werde,  welches  der  technische 
Fehler  ist,  so  muss  ich  einstweilen  darauf  die  Antwort  schuldig 
bleiben.  Wahrscheinlich  ist  auch  hier,  wie  früher  bei  den  von  mir 
behandelten  tuberkulösen  Gliedern,  die  zu  alte  und  verbrauchte 
Odemflüssigkeit  verantwortlich  zu  machen.  Wissen  wir  doch  längst 
aus  zahlreichen  Erfahrungen,  dass  diese  den  Ausbruch  eines  Ery- 
sipels ausserordentlich  fördert. 

Auch  der  Umstand,  dass  ein  Beobachter  unter  der  geringen 
Anzahl  von  65  Fällen  ungefähr  doppelt  so  viele  Erysipele  be- 
obachtete als  alle  anderen  zusammen,  die  sich  über  die  Behandlung 
mit  Stauungshyperämie  geäussert  haben,  an  einem  vielmal  grösseren 
Materiale,  spricht  dafür,  dass  die  Eigenart  der  Technik  dabei  eine 
grosse  Rolle  spielt. 

Man  muss  eben  bedenken,  dass  die  ganze  Behandlung  noch 
so  jung  ist,  als  dass  die  Technik  unmöglich  genügend  ausgebildet 
sein  könnte. 

Dagegen  wirkt  die  Stauungshyperämie  nach  Sick^)  ,, geradezu 
deletär  bei  den  schweren  subkutanen  Streptokokkenphlegmonen". 
Er  beobachtete  dabei  verschiedene  Fälle,  wo  ausgedehnte  Gangrän 
der  Haut  eintrat. 

Ähnliche  Erfahrungen  machte  Nordmann •^)  bei  Fascien- 
phlegmonen,  die  durch  Streptokokken  hervorgerufen  waren. 
Nordmann  glaubt,  dass  sich  diese  Misserfolge  aus  den  ungün- 
stigen Ernährungs Verhältnissen  der  Fascien  erklären,  da  sich  an 
diesen  eine  stärkere  Hyperämie  überhaupt  nicht  erzeugen  lasse. 
Er  meint,  dass  in  seinen  Fällen  die  Stauungshyperämie  nicht 
gerade  geschadet  habe,  dass  aber  frühzeitige  ausgedehnte  Ein- 
schnitte schneller  zum  Ziele  geführt  hätten. 


1)  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen  Ges.  für  Chirurgie.  S.  226. 

2)  Nordmann,    Erfahrungen    über    Stauungshyperämie    bei    aliuten    Ent- 
zündungen.    Med.  Künik  1906.     Nr.   29. 


400  Spezieller  Teil. 

Diabetes. 

Von  mehreren  Seiten  ist  davor  gewarnt,  die  Stauungsbinde 
bei  Diabetes  anzuwenden.  Die  veröffentlichten  Fälle  sind  so  ein- 
wandsfrei,  dass  man  hier  vor  dem  Mittel  warnen  muss,  oder  doch 
nur  mit  äusserster  Vorsicht  es  anwenden  darf,  obwohl  auch  gün- 
stige Beobachtungen  vorliegen.  Ich  werde  in  einem  späteren 
Kapitel,  in  dem  von  der  Behandlung  der  diabetischen  Gangrän 
mit  Hyperämie  die   Rede  ist,   darauf  zurückkommen. 

Blutungen. 

Mehrmals  bin  ich  auch  gefragt  worden,  ob  die  Stauungs- 
hyperämie nicht  die  Gefahr  der  Nachblutungen  aus  Wunden, 
Geschwüren  und  Fisteln  vermehre.  Diese  Frage  kann  ich  nach 
meiner  Erfahrung  durchaus  verneinen.  Ich  habe  unter  den  vielen 
behandelten  Fällen  nur  in  einem  Nachblutungen  gesehen.  Es 
handelte  sich  um  eine  schwere  V-förmige  septische  Sehnenscheiden- 
phlegmone  der  Hand  bei  einem  Arbeiter,  der  im  ganzen  zweimal 
eine  massige  Blutung  aus  einer  Schnittwunde,  die  wir  angelegt 
hatten,  bekam.  Die  Blutung  stand  beide  Male,  sobald  die  Stau- 
ungsbinde entfernt  und  durch  einen  Kompressivverband  für  einige 
Stunden  ersetzt  war.  Im  übrigen  wurde  die  Stauungshyperämie 
ruhig  beibehalten  und  führte  zu  einem  glänzenden  Erfolge.  Sie 
erhielt  nicht  nur  die  Sehnen  am  Leben,  sondern  stellte  auch  die 
Funktion  der  Hand  im  vollen  Umfange  wieder  her. 

Blutungen  aus  septischen  Wunden  sind  aber  auch  ohne  Stau- 
ungshjrperämie  nichts  Seltenes. 

Abscesse  und  Decubitus  an  der  Stelle,  wo  die  Binde 

gelegen. 

Leser  1)  hat  über  einen  Fall  berichtet,  in  dem  die  Stauungs- 
binde  Schaden  angerichtet  hat.  Es  handelte  sich  um  pyämische 
Metastasen  in  einem  Fuss-  und  einem  Schultergelenke  bei  dem- 
selben Menschen.  Die  Pyämie  ging  aus  von  eiternden  Kopfwunden. 
Leser  behandelte  beide  Gelenke  mit  Stauungsbinden,  musste  sie 


1)  Leser,  Über  eine  Beobachtung  im  Gefolge  der  Bier'schen  Stauungs- 
hyperämie bei  akut  eitrigen  Prozessen.  Zentralblatt  für  Chirurgie  1905.  Nr.  17. 
S.  470. 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzünd.  und  Eiterungen  visw.      401 

aber  bald,  weil  starke  Schmerzen  genau  an  den  Schnürstellen  auf- 
traten, abnehmen.  In  der  Folgezeit  entwickelte  sich  nun  an  beiden 
Stellen,  genau  da,  wo  die  Binden  gesessen  hatten,  Abscesse.  Einen 
ganz  ähnlichen  Fall  beschreibt  Stich^).  Leser  nimmt  an,  dass 
die  Binden  die  gedrückten  Gewebe  geschädigt  und  damit  einen 
Locus  minoris  resistentiae  verursacht  hätten,  an  dem  im  Blute 
kreisende  Organismen  sich  ansiedeln  konnten. 

Die  Erklärung  Leser' s  ist  sehr  einleuchtend,  und  es  ist  nach 
dieser  Beobachtung  geboten,  in  ähnlichen  Fällen  Vorsicht  walten 
zu  lassen.  Aber  so  sehr  gross  scheint  mir  die  Gefahr  doch  nicht 
zu  sein;  denn  ausser  Leser  und  Stich  haben  weder  ich  noch 
andere  in  einer  stattlichen  Reihe  von  schweren  akuten  Allgemein- 
infektionen, bei  denen  wir  Stauungsbinden  verwandten,  etwas 
Derartiges  gesehen,  und  dass  es  bei  der  schwersten  Allgemein- 
infektion nicht  einzutreten  braucht,  beweist  der  noch  zu  schildernde 
Fall  74,  wo  an  den  verschiedensten  Körperstellen  Stauungsbinden 
angelegt  waren. 

Die  einzige,  vorübergehende,  ernstere  Schädlichkeit  erlebten  wir, 
abgesehen  von  den  beiden  beschriebenenen  Erysipelen,  im  Fall  16,  wo 
eine  akute  Osteomyelitis  des  Oberarmes  vorlag  mit  Vereiterung  des 
Schultergelenks,  und  zwar  infolge  eines  klaren  technischen  Fehlers. 
Hier  entstand  durch  den  stauenden  Schlauch  ein  Dekubitus  der 
Achselhöhle,  welcher  sehr  lange  Zeit  zur  Heilung  beanspruchte. 
Glücklicherweise  verdarb  er  uns  den  Erfolg  nicht,  weil  es  sich 
hier  um  einen  Fall  handelte,  wo  die  Stauungshyperämie  sehr 
schnell  die  Infektion  und  ihre  Folgen  unterdrückte.  Leider  stösst 
die  Stauungshyperämie  am  Schultergelenk  auf  Schwierigkeiten,  die 
bei  akuten  Vereiterungen  desselben  natürlich  besonders  gross  sind. 
Ich  glaube  aber,  dass  wir,  durch  jenen  Fall  gewarnt,  nicht  wieder 
etwas  Derartiges  erleben  werden.  Man  braucht  ja  den  stauenden 
Schlauch  nur  öfter  einmal  für  kurze  Zeit  abzunehmen,  um  den 
Dekubitus  zu  vermeiden. 

Venenthrombose. 

Habs^)  sah  einen  Fall,  wo  im  Anschluss  an  eine  aseptische 
Schussverletzung  des  Kniegelenks  mit  Venenthrombose  eine 
Lungenentzündung  auftrat,  die  er  als  embolische  auffassen  musste. 

1)  Verhandkmgen  des  35.  Kongresses  der  Detitschen  Ges.  für  Chirurgie  I. 
S.   228. 

2)  Ebenda.    S.   220. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  26 


402  Spezieller  Teil. 

Es  wäre  demnach  Venenthrombose  eine  Indikation  gegen  Stauungs- 
hyperämie. Ich  werde  noch  mitteilen,  das  dasselbe  für  die  Heiss- 
luftbehandlung  bei  frischer  Thrombose  gilt. 

Heller!)  behandelte  ein  gangränöses  Erysipel  des  Armes 
mit  sehr  gutem  Erfolge  mit  Stauungshyperämie.  Die  Sektion 
des  an  Lungenentzündung  verstorbenen  Mannes  wies  nach,  dass 
sämtliche  Armvenen  an  der  Stelle,  wo  die  Binde  gelegen  hatte, 
thrombosiert  waren. 

Robbers 2)  behandelte  eine  schwere  Pneumokokkeninfektion 
der  Hand  kurze  Zeit  mit  Stauungshyperämie.  Es  trat  Gangrän 
der  Hand  ein,  so  dass  der  Vorderarm  exartikuliert  werden  musste. 
Die  Gefässe  des  letzteren  waren  thrombosiert.  Robbers  lässt  es 
dahingestellt  bleiben,  ob  die  Pneumokokkeninfektion  oder  die 
Stauungsbinde  die  Gangrän  verursacht  habe.  Schon  vor  dem  An- 
legen der  Binde  bestand  eine  mächtige  Schwellung. 

Todesfälle,    die    wir    bei    Kranken    erlebten,    bei    denen 
Stauungshyperämie  angewandt  wurde. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  es,  die  Todesfälle,  die  unter 
oder  nach  der  Behandlung  mit  Stauungshyperämie  auftraten,  genau 
daraufhin  zu  prüfen,  ob  das  angewandte  Mittel  daran  schuld  ist. 
Ich  will  deshalb  alle  die  betreffenden  Todesfälle,  die  ich  erlebte,  genau 
mitteilen.  Dies  sind  ausser  dem  beschriebenen  Falle  7 1  folgende  Fälle. 

73.  Ein  14  jähriger  Knecht  erkrankte  am  15.  April  1904  vinter  Schüttel- 
frost und  heftigen  Schmerzen  im  rechten  Unterschenkel.  Er  fing  bald  an 
zu  delirieren  und  zeigte  Bewusstseinsstörungen.  Am  24.  April  1904  wurde 
er  aufgenommen.  Er  führte  wirre  Reden  und  antwortete  nicht  auf  Fragen. 
Atmung  und  Puls  waren  aufs  äusserste  beschleunigt,  die  Temperatur  (Achsel- 
höhlenmessung) bewegte  sich  zwischen  39°  und  40°.  Der  rechte  Unter- 
schenkel war  enorm  geschwollen,  gerötet  und  ödematös.  Es  war  ausgedehnte 
Fluktuation  zu  fühlen.  Im  Ätherrausche  wm-de  am  oberen  und  miteren 
Ende  des  Schienbeins  ein  Schnitt  von  je  2  cm  Länge  geführt.  Es  entleerte 
sich  massenhafter  fetttropfenhaltiger  Eiter,  der  Staphylokokken  enthielt.  Der 
Eiter  wurde  durch  Spüking  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  nach  Mög- 
lichkeit entleert.  Es  wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Der  Zustand 
des  benachbarten  Gelenks  war  wegen  der  kolossalen  ödematösen  Schwellung 
nicht  zu  beurteilen.  Vorübergehend  besserte  sich  der  Zustand  insofern,  als 
der  Kranke  klarer  wurde,  Fragen  verstand  und  sie  beantwortete,  dann  fiel 
er  in  seine  alte  Benommenheit  zurück.      Es  wurden  noch  das  vereiterte 

1)  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutsehen  Gesellschaft  für 
Chirurgie.     I.   S.  248. 

2)  Robbers,  Pneumokokken-  oder  Stauungsgangrän.  Deutsche  med. 
Wochenschr.      1906.      Nr.  16. 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei   akuten  Entzünd.   und  Eiterungen  usw.       403 

Fussgelenk  und  Kniegelenk  des  rechten  Beines  punktiert  und  ausgewaschen, 
das  ganz  vom  Periost  entblösste  Schienbein  in  ganzer  Länge  aufgemeisselt 
und  schliesslich  der  rechte  Oberschenkel  amputiert.  Am  2.  Mai  starb  der 
Kranke.  Die  Sektion  ergab  embolische  Eiterherde  in  Lungen  und  Nieren, 
Hepatisation  des  Unterlai3pens  der  rechten  Lunge,  Vereiterung  des  rechten 
Sterno-Klavikulargelenks  und  beginnende  Mediastinitis  anterior. 

Zweifellos  war  der  Mensch  bereits  septisch  und  pyämisch,  als 
er  eingeliefert  wurde.  Am  besten  hätten  wir  ihn  gar  nicht  be- 
handelt, oder  allenfalls  sofort  amputiert. 

74.  Ein  1^/2  jähriges  Kind  erkrankte  im  Anschluss  an  eine  Brandblase 
an  einer  schweren  Sepsis. 

Es  wurde  am  17.  Juli  1906  in  die  chirurgische  Klinik  aufgenommen. 
Es  war  ein  blasses,  sonst  kräftiges  Kind  mit  trockener  Zunge,  borkigen 
Lippen  und  hektisch  gerötetem  Gesichte.  Im  Vordergrunde  der  Erschei- 
nungen standen  ein  starker  Meteorismus  imd  profvise  Durchfälle,  die  so 
stark  waren,  dass  das  Kind  ständig  im  Kote  lag.  Die  Temperatur  bewegte 
sich  zwischen   40  imd   41°   (Achselmessung). 

Vor  der  rechten  Tibia  fanden  sich  unterhalb  der  Tuberositas  alle  Zeichen 
einer  heftigen  Entzündung.  Die  Diagnose  lautete:  Osteomyelitis  tibiae 
acuta,   allgemeine  Sepsis. 

Ein  Einschnitt  von  3  cm  Länge  in  die  entzündete  Partie  entleerte 
nur  etwa  einen  Teelöffel  dünnen  blutigen  Eiter,  ^  viel  weniger  als  wir  er- 
warteten. Der  Eiter  enthielt  Streptokokken.  Das  unter  dem  Abscess 
liegende  Schienbein  war  in  der  Ausdehnung  eines  Pfennigstückes  vom 
Periost  entblösst.  Es  wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet.  Die  Durch- 
fälle  dauerten  an. 

Am  23.  VII.  bildete  sich  unter  der  Stauungsbinde  am  rechten  Fusse 
ein  Erysipel,  das  rasch  bis  auf  den  Rumpf  fortschritt.  Da  der  Eiterungs- 
prozess  in  der  Tibia  inzwischen  ziemlich  abgelaufen  war,  und  das  Erysipel 
die  Binde  überschritten  hatte,  wurde  die  Stauungshyjjerämie  am  25.  VII. 
ausgesetzt.      Am    3.  VIII.    war    das    Erysipel   erloschen. 

Am  5.  VIII.  stellten  sich  die  ersten  Erscheinungen  einer  Thrombose 
beider  Venae  iliacae  ein.  Es  kam  der  Reihe  nach  zvi  folgenden  metastatischen 
Eitervm^gen :  im  Mittelohr,  im  rechten  Ellbogengelenke,  im  rechten  Schulter- 
gelenke, im  rechten  Auge  (Iritis).  Die  Gelenke  wurden  mit  kleinem  Schnitte 
eröffnet  und  an  beiden  sowie  am  Kopfe  wurde  Stauungshyperämie  eingeleitet. 

Am  17.  VIII.  starb  das  Kind.  Die  Sektion  ergab:  Thrombose  der  Vena 
Cava  und  beider  Venae  iliacae.  In  den  letzteren  war  der  Thrombus  eitrig 
zerfallen.  Eitrige  Metastasen  im  rechten  Schulter-,  Ellbogen-  und  Hüft- 
gelenke, an  den  Rippen,  in  den  Lungen,  in  der  Pleura,  im  Herzfleisch. 
Eitrige  Iritis. 

Die  rechte  Tibia  war  an  der  vorderen  Fläche  in  der  Ausdehnung  von 
1^/2  Fingerglied  vom  Periost  entblösst.  Der  Knochen  wurde  der  Länge 
nach  durchsägt,  es  fand  sich  diu'chaus  gesundes  Mark.  Die  Wunde  an  der 
Tibia  war  im  besten  Zustande 

Das  Mittelohr  wvirde  nicht  freigelegt. 

Die  Sektion  stellte  fest,  dass  unsere  Diagnose  Osteomyelitis 
falsch  war.     Der  Herd  am  Schienbein,  den  wir  gespalten  hatten, 

26* 


404  Spezieller  Teil. 

war  nichts  als  eine  subperiostale  kleine  Metastase  gewesen,  die 
auch  nach  unseren  alten  Regeln  durch  einen  3  cm  langen  Schnitt 
mehr  als  genügend  gespalten  war.  Sonst  hätte  man  sagen  können, 
wir  hätten  die  Aufmeisselung  der  Markhöhle  versäumt,  und  damit 
vielleicht  den  Tod  verschuldet.  Es  handelte  sich  hier  von  vorn- 
herein um  eine  schwere  Allgemeininfektion.  Dass  das  Kind  sie 
einen  Monat  lang  ausliielt,   ist  zu  verwundern. 

Auch  mit  der  Thrombose  der  Vena  cava  und  beider  Venae 
iliacae  hat  das  angewandte  Mittel  nichts  zu  tun,  denn  ihre  ersten 
Erscheinungen  traten  erst  11  Tage  nach  Aussetzen  der  Stauungs- 
hyperämie am  Beine  ein. 

75.  Ein  49jähriger  Mann  zog  sich  vor  8  Tagen  eine  Wunde  am 
rechten  Zeigefinger  zu,  die  er  nicht  beachtete.  Am  25.  V.  1905  schwoll 
der  rechte  Arm  plötzlich  stark  an,  es  zeigten  sich  rote  Streifen  an  der 
Haut,  die  Gegend  des  Ellbogens  und  der  Achselhöhle  schmerzte.  Er  wiirde 
deshalb  am  26.  V.  in  die  Klinik  aufgenommen. 

Der   ganze   rechte   Arm   war   ödematös   geschwollen   und   fühlte   sich 
heiss  an.     Die  sehr  dick  angeschwollenen  Finger  standen  in  Beugestellung 
und  waren  wenig  beweglich.     Am  Zeigefinger  befand  sich  eine  kleine,  fast 
verheilte   granulierende   Wunde.      Kubital-   imd  Axillardrüsen  waren   ge- 
v-'6  27  28  schwollen  und  schmerzhaft.    In  der  Haut  des  Armes  waren 

breite  gerötete  lymphangitische  Stränge.    Der  Mann  machte 
einen    schwer    kranken    Eindruck    und    war    so    aufgeregt, 
dass  ihm  Morphium  eingespritzt  werden  musste.    Am  rech- 
ten Arme  wurde  möglichst  hoch  oben  eine  Stauungsbinde 
angelegt,  die  (27.  V.)  eine  selir  starke  Rötung  und  Schwel- 
lung   und    3   Blasen    hervorrief.       Das    Allgemeinbefinden 
Taf  1  XTX       ^^^^  besser,  und  der  Kranke  hatte  seine  Schmerzen  verloren. 
Am  28.  V.  wurde  das  Allgemeinbefinden  wieder  schlechter. 
An   der    Streckseite   des   Armes   hatten   sich    8   neue,    mit    Serum   gefüllte 
Blasen  gebildet.     Des  Abends  war  der  Ivranke  wieder  sehr  aufgeregt  und 
starb  des  Nachts  ganz  plötzlich. 

Leider  steht  im  Sektionsprotokoll  nur:  ,,  Anatomische  Diagnose:  Aorten- 
stenose, Herzhypertrophie,  Narben  der  Niere,  Phlegmone  am  i'echten  Ober- 
arme." Ich  bin  deshalb  gezwungen,  den  genaueren  Sektionsbefund  aus  dem 
Gedächtnisse  nachzuholen,  der  aber  zutreffend  sein  dürfte,  da  mehrere  Ärzte, 
die  an  der  Sektion  teilnahmen,  ihn  richtig  befimden  haben. 

Beim  Einschneiden  in  den  stark  geschwollenen  Oberarm  tritt  überall 
stark  sulzig  infiltriertes  Unterhavitzellgewebe  zutage,  das  in  der  Gegend 
der  grossen  Lymphstränge  von  einzelnen  kleinen  Eiterherden  dm'chsetzt 
ist.  Der  grösste,  etwa  linsengrosse  Herd  findet  sich  dicht  oberhalb  des 
Ellbogengelenkes.  Eine  Thrombosierung  von  Gefässen  findet  sich  im 
Bereiche  des  ganzen  Armes  und  besonders  an  der  Stelle,  an  welcher  die 
Binde  gelegen  hat,  nicht  vor. 

Ausserdem  fand  sich  bei  der  Sektion  eine  schwere  Aortenstenose  (das 
Lumen  war  nur  federkieldick)  und  starke  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels. 


40,j 


381 
37 


i 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzünd.  und  Eiterungen  usw.      405 

Die  Sektion  zeigte,  dass  nicht  etwa  die  Spaltung  eines 
Abscesses  versäumt  war;  denn  die  vorhandenen  kleinen  Abscesse 
waren  so  geringfügig,  dass  sie  niemals  während  des  Lebens  aufge- 
funden wären,  und  im  günstigsten  Falle  ihre  Spaltung  nichts  ge- 
nützt hätte.  Die  schwere  Aortenstenose  erklärt  den  plötzlichen 
Tod  bei  der  akuten  Infektionskrankheit. 

76.  Ein  134  Jahre  altes  Kind  wiirde  schwer  krank  am  11.  VII.  1905 
in  die  Klinik  mit  einer  Phlegmone  am  rechten  inneren  Augenwinkel  ein- 
geliefert, die  gespalten  wTirde;  im  Anschluss  daran  wurde  es  mit  einer 
Stauungsbinde,  die  um  den  Hals  gelegt  wurde,  behandelt.  Am  16.  VII. 
stellten  sich  nach  vorübergehender  Besserung  Krampfanfälle  und  andere 
Hirnerscheinungen  ein.  Die  Stauungsbinde  wurde  deshalb  abgelegt.  '  Am 
21.  VII.  starb  das  Kind. 

Die  Sektion  ergab:  Im  rechten  Stirnhirn  ein  über  hühnereigrosser 
Tumor,  der  zentral  cystisch  erweicht  ist  und  peripher  aus  einem  grau- 
weissen,  ziemlich  festen  Gewebe  besteht.  Dieses  Tumorgewebe  ist  gegen 
die  zentrale  Cyste  hin  vielfach  nekrotisch  erweicht,  z.  T.  breiig.  Der  Tumor 
setzt  sich  gegen  die  Gehirnsubstanz  nicht  sehr  scharf  ab.  Er  wölbt  sich 
in  das  Vorderhorn  des  linken  Seitenventrikels  etwas  knollig  vor.  Er  setzt 
sich  ferner  nach  vorn  und  hinten  auf  das  Siebbein  und  durch  dasselbe  in 
die  Nasenhöhle  fort  als  eine  vorwiegend  breiige,  zerfetzte  Geschwulstmasse. 
In  die  Orbita  geht  er  nicht  hinein.  Beiderseits  starker  Hydrocephalus. 
Anatomische  Diagnose:     Gliom  des  Stirnhirnes. 

Die  Hirngeschwulst  hatte  bei  Lebzeiten  keinerlei  Erscheinungen 
gemacht,  die  ihre  Diagnose  hätte  stellen  lassen,  was  ja  bei  ihrem 
Sitz  und  dem  zarten  Alter  des  Kindes  wohl  verständlich  ist.  Die 
erweichte  und  vereiterte  Geschwulst  war  nach  aussen  durchge- 
brochen und  hatte  den  Eindruck  einer  schweren  Gesichtsphlegmone 
gemacht.  Dass  die  einige  Tage  angewandte  Stauungshyperämie 
mit  dem  tödlichen  Ausgange  nichts  zu  tun  hat,  brauche  ich  wohl 
nicht  auseinanderzusetzen. 

Auch  der  Tod  des  unter  Nr.  62  beschriebenen  Falles  von 
Hirnabscess  ist  nicht  auf  die  Anwendung  der  Stauungsbinde  zurück- 
zuführen. Sie  ist  im  ganzen  nur  5  Tage  bis  zur  operativen  Eröff- 
nung des  Abscesses  getragen  worden.  Es  war  kein  einziges  halb- 
wegs sicheres  Zeichen  für  einen  Hirnabscess  vorhanden.  Es  kam 
hinzu,  dass  die  Stauungshyperämie  die  Beschwerden  des  Kranken 
dermassen  linderte,  dass  ein  Arzt,  der  zu  jener  Zeit  zur  Operation 
geschritten  wäre,  sich  wohl  mit  der  AuvSräumung  des  Mittelohres 
begnügt  und  schwerlich  den  Schläfenlappen  des  Gehirns  frei- 
gelegt und  eröffnet  hätte.  Schliesslich  ist  der  Hirnabscess  ver- 
hältnismässig frühzeitig,  sobald  verdächtige  Symptome  auftraten, 
eröffnet  worden.    Die  Sektion  ergab  auch  nichts,  was  darauf  hin- 


406  Spezieller  Teil. 

gedeutet  hätte,  dass  das  angewandte  Mittel  einen  Schaden  an- 
gerichtet hätte,  insbesondere  weder  Meningitis  noch  Durchbruch 
in  den  Ventrikel. 

77.  Ein  1  Jahr  altes  Kind  wurde  am  20.  I.  1905  wegen  eingeklemmter 
Hernie  aufgenommen  und  operiert.  Es  hatte  als  Nebenbefund  eine 
chronische  eitrige  Entzündung  beider  Mittelohren,  die  nach  Angabe  der 
Eltern  schon  bald  nach  der  Geburt  aufgetreten  sein  sollte.  Die  Mittel- 
ohreiterung wurde  mit  Stauungshyperämie  behandelt.  Das  Kind  erkrankte 
an  Pneumonie  und  wiu-de  deshalb  in  die  medizinische  Klinik  verlegt,  wo 
es  später  verstarb.  Die  am  13.  III.  1905  ausgefülirte  Sektion  ergab  eine 
doppelseitige  katarrhalische  Pneumonie  als  Todesursache. 

Auch  hier  hatte  der  tödliche  Ausgang  weder  mit  der  an- 
gewandten Stauungshyperämie  noch  auch  mit  dem  Mittelohrleiden 
etwas  zu  tun. 

78.  Am  30.  IV.  1906  wurde  ein  45  jähriger  Arbeiter  schwer  krank  in 
die  chirurgische  Klinik  aufgenommen.  Eine  genaue  Anamnese  ist  bei  der 
starken  Benommenheit  des  Kranken  nicht  zu  erheben.  Er  gibt  schliesslich 
an,  dass  er  seit  4  Tagen  heftige  Schmerzen  im  rechten  Ohre  habe. 

Da  kein  Ausfluss  aus  diesem  Ohre  bestand  und  das  Trommelfell  stark 
gerötet  war,  wurde  sofort  die  Parazentese  gemacht,  die  reichlichen  Eiter 
entleerte.  Am  folgenden  Tage  \^airde  folgender  Befund  erhoben :  Der  Kranke 
macht  einen  heruntergekommenen  und  schwer  kranken  Eindruck.  Beide 
Trommelfelle  sind  stark  gerötet  und  geschwollen,  aber  nirgends  vorgewölbt. 
Aus  der  Parazenteseöffnung  im  rechten  Trommelfell  entleert  sich  stinkendes 
serös-eitriges  Sekret.  Im  linken  Trommelfell  sieht  man  eine  kleine  zentral 
gelegene  Öffnung.  Beim  Ausspritzen  des  Ohres  fliesst  reichlich  Spülwasser 
in  den  Nasenrachenraum.  Auffallend  war  das  im  Verhältnis  zum  Befunde 
sehr  stark  herabgesetzte  Hörvermögen.  An  den  Warzenfortsätzen  fand 
sich   nichts    Krankhaftes. 

Über  den  Liuigen  fand  man  die  Erscheinungen  eines  sehr  verbreiteten 
trockenen  Katarrhs,  an  den  Lippen  Herpes.     Die  Temperatur  betrug  40°. 

Es  wnrde  Kopfstauung  eingeleitet,  die  vom  Kranken  schlecht  ver- 
tragen wurde;  sie  musste  häufig  abgenommen  werden  und  wurde  nach 
4  Tagen  entfernt.  Die  Behandlung  beschränkte  sich  auf  Ausspülen  der 
nur  noch  wenig  eiternden  Ohren.  Lungen-  xuid  Ohrbefund  änderten  sich 
nicht,  die  Temperatur  blieb  hoch,  im  Vordergriinde  stand  eine  grosse  all- 
gemeine Abgeschlagenheit. 

Da  keinerlei  Erscheinimgen  von  Meningitis,  Sinusthrombose  oder 
Hirnabscess  bestanden,  so  glaubten  wir,  dass  es  sich  um  eine  otogene 
Sepsis  oder  Miliartuberkulose  handelte.  Auch  wiu-de  an  die  Möglichkeit 
einer  zentralen  Pneumonie  gedacht.  Der  hinzvigezogene  interne  Kollege 
konnte   sie  nicht  nachweisen,   hielt   sie   aber  für  möglicli. 

Am  7.  V.  starb  der  Kranke.  Die  Dura  war  stark  gespannt  imd  durch- 
scheinend, die  Pia  stark  getrübt  und  durchscheinend,  das  Tentorium  mit 
reichlicheiTi  fibrinösen  gelblichgrünen  Exsudat  bedeckt. 

Der  rechte  Siniis  transversus  war  mit  grünlichem,  schmutzigeni,  weichem 
Material  gefüllt,  das  an  der  Wand  festhaftete.     Sinus   longitudinaUs    und 


Kann  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Entzünd.  und  Eiterungen  usw.      407 

transversus  waren  frei.  Nach  Abhebung  der  Dura  zeigte  sich  der  Knochen 
an  der  tinteren  Hälfte  des  Felsenbeines  graugrünlich  und  gelblich  verfärbt. 
In  den  Zellen  des  Processus  mastoideus  und  im  Mittelohr  fand  sich  ein 
hellgelber   puriformer   Brei,    es   bestand   ausgedehnte   Bronchitis. 

Dieser  Fall  hat  uns  wegen  der  Diagnosenstellung  sehr  viel 
Kopfzerbrechen  verursacht.  Da  alle  Symptome  einer  Meningitis 
wie  eines  Hirnabscesses  fehlten,  stellten  wir  wegen  des  schweren 
Allgemeinzustandes  schliesslich  unter  Mithilfe  von  Eschweiler 
die  Diagnose,  dass  es  sich  entweder  um  eine  otogene  Sepsis  oder 
um  eine  Miliartuberkulose,  ausgehend  von  einer  tuberkulösen  Er- 
krankung des  Felsenbeines,  handle.  Deshalb  erhofften  wir  auch 
keine  Besserung  von  einer  Operation  und  unterliessen  sie  auch, 
als  die  Stauungshyperämie  bereits  ausgesetzt  war. 

Dann  habe  ich  noch  aus  dem  Gedächtnis  kurz  über  einen 
Todesfall  zu  berichten,  der  mir  in  Greifswald  vor  6  oder  7  Jahren 
vorkam. 

79.  Ein  älterer  Mann  wurde  mit  einer  schlimmen  Infektion  eines  ganzen 
Armes  und  mit  dem  Zeichen  schwerer  Sepsis  eingeliefert.  Ich  leitete 
Stauungshyperämie  ein.  Der  Mann  starb,  an  Sepsis.  Ich  habe  leider  die 
Krankengeschichte  nicht  erhalten  können  und  weiss  die  Einzelheiten  nicht 
mehr  genau.  Nur  so  viel  weiss  ich,  dass  die  Stauungshyperämie  nur  ein 
Versuch  bei  einem  verlorenen  Falle  war  und  an  seinem  Tode,  wie  die 
Sektion  ergab,  keine  Schuld  hatte. 

So  bin  ich  denn  in  der  glücklichen  Lage,  versichern  zu  können,  dass 
ich  bei  den  akuten  Entzündungen  und  Eiterungen,  abgesehen  von  den 
noch  nicht  klar  zu  beurteilenden  Erysipelen,  unter  unseren  Fällen 
nicht  einen  einzigen  erlebt  habe,  wo  die  Stauungshyperämie  bei  akuten 
Entzündungen  einen  ernstlichen  Schaden  angerichtet,  oder  gar  mit 
einiger  Wahrscheinlichkeit  den  Tod  eines  Menschen  verursacht  hätte. 
Dass  das  so  bleiben  wird,  will  ich  nicht  behaupten.  Es  ist  nicht 
einmal  wahrscheinlich.  Denn  bei  jeder  neuen  Behandlungsmethode 
muss  man  Lehrgeld  bezahlen,  und  ohne  gänzlichen  Verlust  von  Ge- 
sundheit oder  Leben  sind  auch  die  grössten  und  bedeutendsten 
Heilmethoden  niemals  eingeführt  worden.  Wieviel  Fälle  von  Kar- 
bolvergiftung hat  nicht  z.  B.  die 'Antisepsis  verschuldet!  Ja,  man 
braucht  nicht  einmal  an  solch  grosse  bahnbrechende  Mittel  zu 
denken.  Dasselbe  gilt  für  die  Technik  fast  jeder  einzelnen  Operations- 
methode ;  wieviel  Opfer  an  Gliedern  und  Leben  hat  nicht  ein  schein- 
bar so  einfaches  Verfahren,  wie  die  Einrenkung  des  kongenital 
luxierten  Hüftgelenks  es  darstellt,  gekostet,  ehe  es  bis  auf  die  jetzt 
erreichte  relative  Gefahrlosigkeit  gebracht  wurde. 


408  Spezieller  Teil. 

Man  glaube  deshalb  ja  nicht,  wie  ich  nochmals  betone, 
dass  nach  Einführung  der  Stauungshyperämie  die  Todesfälle  an 
septischen  Infektionen  aufhören  werden,  und  bedenke,  dass  bei 
lebensgefährlichen  Eiterungen  der  Wert  des  Lebens  hoch  über 
dem  des  befallenen  Gliedes  steht.  Wenn  ich  deshalb  den  Versuch 
gemacht  habe,  mit  Rücksicht  auf  eine  bessere  Funktion  Eiterungen 
mit  kleinen  Schnitten  zu  behandeln,  so  fällt  diese  Rücksicht  fort, 
sobald  die  Eiterung  das  Leben  in  Gefahr  bringt.  Hier  soll  man 
ausgiebig  spalten,  und,  wenn  es  nötig  ist,  auch  rechtzeitig  ampu- 
tieren. Freilich,  wann  man  bei  diesen  Zuständen  die  Amputation 
ausführen  soll,  ist  nicht  nur  Sache  der  Ansicht  und  der  Erfahrung 
des  einzelnen  Chirurgen,  sondern  sogar  des  Temperaments.  Ich 
persönlich  habe  einen  ausgesprochenen  Widerwillen  gegen  alle 
chirurgischen  Eingriffe,  die  den  Menschen  verstümmeln  und  ver- 
hässlichen,  und  bin  deshalb  in  Fällen,  wo  diese  Gefahr  vorliegt, 
aufs  äusserste  konservativ. 

Abbrechen  soll  man  die  Stauungshyperämie  bei  den  Fällen 
schwerster  Pyämie,  bei  denen  der  schwere  Allgemeinzustand  sich 
nicht  bessert  oder  sogar  noch  verschlimmert,  namentlich  wenn 
das  Glied  trotz  richtiger  Technik  keine  ordentliche  Stauungsreak- 
tion gibt. 


Behandlung    akuter  Entzündungen   und  Eiterungen 
mit  Schröpf  köpfen  und  ähnlichen  Saugapparaten. 

Schröpfköpfe  und  Saugapparate,  die  ich  sonst  zum  Hyperämi- 
sieren  sehr  häufig  gebrauchte,  habe  ich  bei  akut  entzündlichen 
Krankheiten  fast  nur  beim  Furunkel  vor  mehreren  Jahren  in  Kiel 
und  Greifswald  angewandt.  Ich  beabsichtigte  dabei  nicht  nur 
Hyperämie  hervorzurufen,  sondern  auch  den  Eiter  und  die  nekro- 
tischen Pfropfe  durch  die  verdünnte  Luft  herauszusaugen,  was  aus- 
gezeichnet gelang.  Besonders  hat  Til mann  in  der  Greif swalder 
Poliklinik  auf  meine  Anregung  hin  damit  ausgedehnte  Versuche 
gemacht.  Doch  war  er  mit  den  Resultaten  nicht  sonderlich  zu- 
frieden. Er  fand  die  Apparate  zu  schmerzhaft  für  den  Kranken 
und  die  erzeugte  Hyperämie  zu  energisch.  Die  Erfahrungen 
Tilmann's  haben  mich  damals  veranlasst,  diese  Behandlung  des 
Furunkels  wieder  aufzugeben.  In  neuerer  Zeit  aber  hat  Klapp 
dieses  Verfahren  in  der  hiesigen  chirurgischen  Pohklinik  wieder 


Behandl.  akuter  Entzündungen  und  Eiterungen  mit  Schröpfköpfen  usw.      4Q9 

aufgenommen,  hat  es  auf  alle  möglichen  Entzündungen  und  Eite- 
rungen ausgedehnt  und  die  Technik  vortrefflich  ausgebildet,  so  dass 
er  ausgezeichnete  Resultate  auf  diesem  Gebiete  aufweisen  konnte. 
Nach  Klapp's  Vorschriften  werden  die  Schröpfköpfe  bei  akuten 
örtlichen  Entzündungen  und  Eiterungen  täglich  %  Stunde  angelegt. 
Während  dieser  Sitzung  gestaltet  sich  die  Anwendung  so,  dass  das 
Saugglas  etwa  5  Minuten  auf  der  Entzündungsstelle  sitzen  bleibt 
und  dann  für  etwa  3  Minuten  abgesetzt  wird. 

Klapp  gibt  den  Rat,  bei  Furunkeln,  Karbunkeln  und  ähnlichen 
infektiösen  Eiterungen  den  Herd  und  seine  Umgebung  während  des 
Saugens  in  grosser  Ausdehnung  dick  mit  Fett  zu  bestreichen,  um 
eine  Aussaat  der  Bakterien  und  Infektion  der  benachbarten  Haar- 
balge zu  verhüten.  Aus  demselben  Grunde  wird  vor  und  nach  dem 
Saugen  die  ganze  in  Betracht  kommende  Gegend  sorgfältig  mit 
Benzin  gereinigt. 

Die  Gläser  dürfen  bei  akuten  Entzündungen  nur  mit  schwacher 
Luft  Verdünnung  angesetzt  werden.  Nur  so  ist  es  möglich,  unnötige 
Schmerzen  zu  vermeiden  und  die  richtige  Form  der  Hyperämie  zu 
erreichen. 

Die  lokalen  akuten  Entzündungen,  welche  bisher  dem  Saug- 
verfahren  mit  Erfolg  unterworfen  wurden,  sind:  Furunkel,  Kar- 
bunkel, Bubonen,  akute  Abscesse,  Mastitis,  Infiltrationen,  infizierte 
frische  und  ältere  Wunden,  Granulationsstellen,  deren  Granu- 
lationen nicht  frischrot  waren,  Insektenstiche,  Panaritien,  Parony- 
chien, Mundbodenphlegmonen  usf.,  in  sehr  grosser  Anzahl. 

Bei  Infiltrationen,  verschmutzten  frischen  und  infizierten  alten 
Wunden,  Panaritien  und  überhaupt  allen  Leiden,  wo  nur  Entzün- 
dung, nicht  aber  ein  Abscess  bestand,  wurde  ausschliesslich  die 
Saugbehandlung  in  der  beschriebenen  Weise  verwandt. 

Alle  Abscesse  wurden,  am  besten  unter  Chloräthylspray,  ge- 
öffnet. 

Die  Heilungsdauer  ist  ungleich  kürzer  als  bei  unseren  alten 
Methoden.  Furunkel  heilen  gewöhnlich  in  5,  Karbunkel  in  10  bis 
15  Tagen,  ohne  dass  ausser  der  Saugbehandlung  etwas  anderes  an 
ihnen  getan  wäre,  als  dass  die  Kuppen  über  den  einzelnen  Pfropfen 
mit  der  Pinzette  oder  mit  einem  Scherenschlage  abgenommen  wären. 

Furunkelabscesse  wurden  durch  einen  kleinen  Schnitt  eröffnet. 
Insbesondere  soll  dies  bei  den  häufigen  Schweissdrüsenabscessen 
der  Achselhöhle  geschehen  und  der  Eiter  gleich  durch  den  Schröpf  - 
kopf gut  abgesogen  werden. 


J.2Q  Spezieller  Teil. 

Diabetische  Furiinkel  und  Karbimkel  bessern  sich  nach  un- 
seren Erfahrungen  ebenfaUs  unter  dieser  Behandlung  schnell  und 
gut.  Sie  heilen  allerdings  etwas  langsamer,  und  zuweilen  zieht  sich 
die  Behandlung  in  die  Länge,  weil  sich  fortwährend  neue  bilden. 

Grube^).  dem  bei  der  Eigenart  seiner  ausgedehnten  Praxis 
in  Xeuenalu"  ein  grosses  Material  von  diabetischen  Furunkeln 
und  Karbunkehi  zur  Verfügung  steht,  äussert  sich  sehr  gimstig 
über  die  Behandlung  mit  Saugapparaten.  Er  sagt:  ,,Ich  kann 
niu-  hervorheben,  dass  das  Verfahren  gegenüber  dem  früheren 
viele  Vorzüge  hat,  die  hauptsächhch  darin  bestehen,  dass  es  sehr 
viel  schonender  ist,  schneller  zur  Heilung  führt  und,  in  schweren 
Fällen  angewandt,  eher  vor  dem  Auftreten  von  Koma  zu  schützen 
schemt."  Über  sehr  gute  Erfolge  beim  diabetischen  Karbunkel 
berichtet  auch  Croce-).  Dagegen  warnt  Collej'^),  Diabetiker 
mit  Stauungsbinden  und  Saugapparaten  zu  behandeln.  Von 
2  schweren  Diabetikern  erzeugte  bei  dem  einen  die  Bindenstauung 
Gangrän  der  Haut,  bei  dem  andern  vergrösserte  sich  die  Haut- 
gangrän, wegen  der  die  Stauungsbinde  angelegt  war,  rapide.  Die 
Behandlung  von  Karbunkeln  mit  der  Saugglocke  erzeugte  bei  dem 
einen  einen  grossen  Abscess  mit  Hautgangrän,  bei  dem  andern 
einen  dem  Rande  der  Glocke  entsprechenden  gangränösen  Ring. 

Diese  Erfahrungen  Colleys  mahnen  zur  Vorsicht  trotz  der 
von  anderer  Seite  erzielten  sehr  günstigen  Resultate.  Jedenfalls 
sollte  man  bei  diabetischen  Karbunkeln  die  Luftverdünnung  nicht 
zu  weit  treiben. 

Wie  schnell  ein  schwerer  Karbunkel  unter  der  Saugbehandlung 
heilen  kann,  möge  der  folgende  sehr  günstig  verlaufende  Fall  zeigen, 
der  in  der  hiesigen  KHnik  behandelt  wurde. 

SO.  Am  28.  III.  1905  wiu'de  ein  öSjäliriger  Mann  ixiit  einem  handteller- 
grossen  Karbunkel  über  der  rechten  Darmbeinschaufel  aufgenommen.  Der 
Karbiuikel  war  teils  mit  zahlreichen  Eiterpusteln  bedeckt,  teils  schon  mit 
nekrotischen  Pfropfen  durclisetzt.  Die  Umgebung  des  Karbunkels  war  in 
grosser  Ausdelmung  bläulich  verfärbt.  Die  noch  uneröffneten  Pusteln 
wurden  mit  einer  Schere  des  deckenden  Häutchens  beraubt,   eine  grosse 


1)  Grube,  Die  Anwendung  der  Hj-peräniie  nach  Bier  bei  einigen  Er- 
krankungen der  Diabetiker.     Müncliner  med.   Woehenschr.    1906.     Nr.   29. 

2)  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutsehen  Ges.  für  Cliirurgie  I. 
S.   224. 

3)  Co  Hey,  Beobachtungen  und  Betraehti_uigen  über  die  Behandlmig  akut 
eitriger  Prozesse  mit  Bier'scher  Statiungslij-perämie.  Münchner  med.  W. 
1906.    Xr.  8. 


Beliandl.   akuter  Entzündungen  und  Eiterungen  mit  Schröpfköpfen  usw.       ^l\ 

Saugglocke  wurde  umgestülpt  und  in  Tätigkeit  gesetzt.  Dabei  strömte  der 
Eiter  aus  den  zahlreichen  Löchern  wie  aus  einer  Giesskanne  heraiis.  Schon 
am  4.  IV.  hatte  die  Eiterung  aufgehört.  Da  aber  unter  der  Haut  deut- 
lich Fluktuation  zu  fühlen  war,  so  wiu'de,  in  der  Annahme,  dass  ein  sub- 
kutaner Abscess  vorläge,  ein  Einstich  gemacht.  Mit  der  Saugglocke  liess 
sich  aber  nur  etwas  dunkles  flüssiges  Blut  entleeren,  das  keine  Neigung 
zvim  Gerinnen  zeigte. 

Am  8.  IV.  wurde  der  Ki^anke  geheilt  entlassen. 

Der  schwere  Karbunkel  heilte  also  in  elf  Tagen.  Zufälliger- 
weise bot  derselbe  Kranke  ein  vorzügliches  Vergleichsobjekt  für 
die  Güte  der  verschiedenen  Behandlungsmethoden.  8  Wochen  vor 
der  Aufnahme  war  ihm  ein  ähnlicher  Karbunkel  am  Rücken  ge- 
spalten, der  bei  der  Entlassung  noch  nicht  verheilt  war.  Dagegen 
heilen  die  gefährlichen  Gesichtsfurunkel  nach  unserer  Er- 
fahrung viel  besser  unter  der  am  Halse  angelegten  Stau- 
ungsbinde als  mit  Schröpfköpfen. 

Subkutane  und  periosteale  Panaritien  werden,  wenn  man  nicht 
vorzieht,  sie  mit  der  Stauungsbinde  zu  behandeln,  in  dem  in  Fig.  19 


Fig.   19. 

abgebildeten  Saugglase  hyperämisiert,  das  Klapp  konstruierte. 
Es  steht  eine  verkleinerte  Ausgabe  unserer  grossen  Saugapparate 
dar.  Dies  Fingerglas  ist  der  Form  des  Fingers  nachgebildet,  trägt 
eine  grosse  Öffnung  für  den  Finger  und_eine  kleine  für  die  Luft- 
verdünnung. 

Der  luftdichte  Abschluss  wird  mit  einem  seiner  Kuppe  be- 
raubten Fingerling  aus  Gummi  hergestellt.  Man  hat  es  dann  ganz 
in  der  Hand,  je  nach  der  Dicke  des  entzündhch  geschwollenen 
Fingers  einen  mehr  oder  weniger  weiten  Fingerhng  zu  nehmen  und 
die  Öffnung  im  letzteren  gross  oder  klein  zu  gestalten.  Die  Luft- 
verdünnung geschieht  mit  einem  Gummiball,  der  im  zusammen- 
gedrückten Zustande  angeschlossen  wird.  Der  Wechsel  des  Luft- 
drucks wird  wie  beschrieben  ausgeführt.     Die  Patienten  können 


412  Spezieller  Teil. 

das  selbst  besorgen,  indem  sie  den  Gummiball  abwechselnd  sich 
füllen  lassen  und  ihn  nach  einiger  Zeit  wieder  zusammendrücken. 

Mit  gutem  Erfolge  hat  Klapp  Zahnfisteln  mit  dem  Schröpf - 
köpf  behandelt.  Ist  der  kariöse  Zahn  entfernt  und  liegt  kein  Se- 
quester des  Kiefers  vor,  so  heilen  die  Fisteln  ausnahmslos  schnell 
und,  was  von  grosser  Wichtigkeit  ist,  ohne  Entstellungen  zu  hinter- 
lassen, was  man  von  den  von  selbst  heilenden  Zahnfisteln  nicht 
sagen  kann.  Denn  diese  verursachen  oft  tief  eingezogene,  mit  den 
Knochen  verwachsene  und  sehr  hässliche  Narben.  Deshalb  war 
es  ja  auch  bei  den  Chirurgen  üblich,  die  Fisteln  zu  exstirpieren 
und  die  Wunde  zu  nähen.  Der  Schröpfkopf  aber  zieht  die  Fistel 
und  ihre  Umgebung  förmhch  heraus  und  verhindert  so  die  einge- 
zogene Narbe.  Die  guten  Erfolge  bei  Zahnfisteln  sind  von  zahn- 
ärztlicher Seite  bestätigt!). 

Vortreff hch  hat  sich  uns  und  anderen  (Frommer,  Lossen, 
Käfer  usw.)  die  Behandlung  von  allen  möglichen,  nach  Opera- 
tionen zurückgebliebenen  Fisteln  bewährt,  besonders  wenn  sie  von 
Fadeneiterungen  herrühren.  Die  Fäden  heilen  dann  noch  nach- 
träghch  ein,   oder  der  Schröpfkopf  saugt  sie  allmählich  heraus. 

Die  Saugbehandlung  hat  bei  den  akuten  Eiterungen  zwei  sehr 
grosse  Vorteile  vor  der  Bindenstauung: 

1.  entfernt  sie  auf  das  gründlichste  den  Eiter  und  schafft 
eine  wirksame,  offenbar  in  vieler  Beziehung  andere  Hyper- 
ämie ; 

2.  dürfte  sie  auch  in  der  Hand  des  Ungeschickten  und  Un- 
geübten gefahrlos  sein,  was  man  von  der  Bindenstauung 
nicht  behaupten  kann. 

Freilich,  falsch  anwenden  kann  man  die  Schröpfköpfe  auch. 
Das  geht  schon  daraus  hervor,  dass  unsere  eigenen  ersten  Versuche 
keine  besonders  glänzenden  Erfolge  zeitigten.  Es  sei  deshalb  hier 
nochmals  gesagt :  Die  Saugapparate  sollen  bei  akuten  Entzündungen 
sanft  angewandt  werden  und  sollen  weder  Schmerzen  noch  grössere 
Blutungen  hervorrufen.  Die  Luft  soll  nur  soweit  in  ihnen  ver- 
dünnt werden,  dass  sie  haften  bleiben,  während  bei  den  tuber- 
kulösen Erkrankungen  eine  stärkere  Luftverdünnung  erlaubt  und 
sogar  nützlich  ist.  In  der  Poliklinik  wissen  die  Patienten  sehr  bald, 
welcher  Arzt  die  Schröpfköpfe  richtig,  d.  h.  sanft  und  schonend, 
und  welcher  sie  falsch,  d.  h.  derb  und  mit  harter  Hand  aufsetzt. 

1)  J.  Witzel,  Die  Bier'sche  Stauung  iind  deren  Anwendung  als  Heilmittel 
in  der  Zahnheilkunde.     Zahnärztliche  Rundschau.     14.  Jahrg.  Nr.   19,  20,  21,  22. 


Behandl.  akuter  Entzündungen  und  Eiterungen  mit  Schröpfköpfen  usw.       433 

Vor  allem  ist  es  bei  Abscessen  nicht  mit  der  blossen  Eiter- 
absaugung  getan,  es  gehört  zur  Heilung  die  langdauernde  und 
sorgfältige  Hyperämisierung.  Das  geht  schon  daraus  hervor,  dass 
die  vereinzelten  Versuche  der  alten  Medizin,  den  Eiter  mit  Schröpf  - 
köpfen abzusaugen,  keine  Nachahmung  gefunden  haben,  und  dass 
sich  daraus  niemals  eine  anerkannte  Behandlungsmethode  gebildet 
hat.  Man  findet  nur  kurze  Bemerkungen,  dass  der  eine  oder  der 
andere  Arzt  sich  der  Schröpf  köpfe  bei  Abscessen  bedient  habe. 
So  liest  man  bei  Nicolaus  Florentinusi)  bei  der  Beschreibung 
der  Bubonen  die  Bemerkung,  dass  ausser  Behandlung  mit  Pflastern, 
Umschlägen  und  anderen  Mitteln  auch  die  ,,extractio  puris  cum 
incisione  et  suctione,  i.  e.  cum  ventosis  et  cum  eis,  qui  trahunt  pus 
post  sectionem  et  apertionem"  in  Betracht  kommt. 

Ich  beschreibe  als  Paradigma  für  das  Saugverfahren  die  Be- 
handlung der  akuten  puerperalen  Mastitis.  Es  eignet  sich  für 
alle  Stadien  dieser  Erkrankung,  für  die  beginnenden  Entzündungen 
und  ausgebildeten  Abscesse  sowohl,  wie  für  alte,  eiternde  Fisteln  und 
narbige  Verhärtungen. 

Bei  der  Mastitis  legt  man  eine  Saugglocke  (Fig.  11g  und  h)  an, 
deren  Durchmesser  etwa  2 — 4  cm  kleiner  ist  als  der  der  Brustdrüse. 
Die  Glocke  darf  einen  geraden  Rand  haben;  besser  ist  es,  wenn 
dieselbe  der  Form  der  Brustwand  entsprechend  ausgeschnitten  ist. 
Die  Kranke  drückt  den  Apparat  selbst  gegen  die  Brust  und  hält 
ihn  während  der  ganzen  Sitzung.  Wird  die  Luft  durch  eine  Saug- 
spritze oder  einen  Gummiball  in  der  Glocke  verdünnt,  so  sieht 
man,  wie  die  Brustdrüse  mehr  und  mehr  hineingezogen  wird.  Sie 
verfärbt  sich  bläuhch  rot  und  füllt  sich  strotzend  mit  Blut.  Die 
Hautvenen  schwellen  an.  Die  Kranke  hat  schliesslich  das  Gefühl, 
,,als  wolle  die  Brust  platzen".  Weiter  soll  die  Luft  Verdünnung 
nicht  getrieben  werden.  Der  ganze  Eingriff  soll  durchaus 
schmerzlos  verlaufen. 

In  frischen  Fällen  entleeren  sich  aus  der  Warze  in  einer 
Sitzung  etwa  30—60  ccm  Milch,  aus  Abscessen  und  Fisteln  zuerst 
reichlich  Blut  und  Eiter,  am  Schluss  der  Sitzung  eine  blutig-seröse 
Flüssigkeit. 

Die  gestaute  Milch  soll  gründlich  beseitigt  werden.  Saugt  die 
grosse  Glocke  sie  nicht  genügend  ab,  so  benutzt  man  ausserdem 
noch  den  bekannten  kleinen  Milchsauger.  Um  die  Milch  besser 
auszusaugen,    bedient    man    sich   zweckmässig   der    in    Fig.  11g 

1)   Gurlt,  Geschichte  der  Chirurgie.      Berhn  1898.      I.  Band.      S.  823. 


414  Spezieller  Teil. 

abgebildeten  längeren  Glocke  mit  geringerem  Durchmesser.  Wird 
die  Brustdrüse  in  die  Glocke  hineingesogen,  so  wird  sie  dadurch 
seitlich  komprimiert  und  die  Milch  so  herausgepresst. 

Auch  bei  der  Mastitis  tritt  die  schmerzstillende  Wirkung  der 
Hyperämie  in  augenfälligster  Weise  hervor.  Frauen,  die  wegen 
heftiger  Schmerzen  vorher  keine  Nachtruhe  fanden,  schlafen  nach 
der  ersten  Sitzung  ungestört  die  ganze  Nacht  durch.  Verschwinden 
die  Schmerzen  nicht,  so  ist  regelmässig  noch  ein  Abscess  vor- 
handen, der  der  Eröffnung  harrt.  Das  Ausbleiben  der  Schmerz- 
linderung ist  in  dieser  Beziehung  geradezu  von  diagnostischer  Be- 
deutung. Der  umgekehrte  Schluss  ist  nicht  zulässig;  denn  zuweilen 
verliefen  unter  der  Saugbehandlung  vorhandene  oder  entstehende 
Abscesse  ohne  Schmerzen. 

Abscesse  werden  stets  geöffnet  und  zwar,  wie  schon  für 
andere  Eiterungen  beschrieben,  nur  durch  einen  Einstich  von 
^ — 1  cm  Länge  unter  Chloräthylspray.  Jeder  neue  Abscess  wird 
auf  gleiche  Weise  behandelt.  Die  kleinen  Einschnitte  sind  von 
besonderer  Bedeutung,  weil  gerade  bei  der  Brustdrüse  Narben 
und  Verlust  an  Drüsengewebe  zu  vermeiden  sind.  Der  Eiter 
muss  jedesmal  sehr  gründlich  abgesogen  werden.  Zu- 
weilen ist  es  zweckmässig,  hier  neben  der  grossen  Glocke  noch 
den  gewöhnlichen  Schröpf  köpf  zu  benutzen,  der  häufig  den  Eiter 
viel  besser  und  gründlicher  entfernt.  Hat  dies  kleine  und  lokal 
wirkende  Instrument  das  Hindernis  für  die  Entleerung  entfernt, 
so  fördert  gleich  nachher  die  grosse  Saugglocke  wieder  reichlich 
Eiter  zutage.  Das  muss  in  jedem  einzelnen  Falle  ausprobiert 
werden. 

Vor  jeder  neuen  Sitzung  muss  man  sich  überzeugen,  dass  die 
angelegte  Stichöffnung  nicht  verlegt  ist.  Krusten,  die  sie  ver- 
schliessen,  werden  mit  der  Pincette  oder  der  Knopfsonde,  tiefere 
Hindernisse  durch  eine  in  die  Abscesshöhle  vorsichtig  eingeführte 
schlanke  Kornzange  beseitigt.  Stichi)  beobachtete  mehrmals,  dass 
trotz  dieser  Massnahmen  der  Eiter  beim  Saugen  nicht  abfloss. 
Dagegen  ergoss  sich  sofort  ein  Strom  von  Eiter,  wenn  er  ein  feines 
Drainrohr  einführte  und  dann  die  Glocke  überstülpte.  Er  rät  in 
solchen  Fällen,  wo  offenbar  eine  lebhafte  Granulationswucherung 
eine  Art  von  Ventilverschluss  verursacht  hat,  für  einige  Tage  ein 


1)  Stich,    Zur   Behandlung  akuter   Entzündungen   mittels   Stauungshyper- 
ämie.   Berl.  kl.  W.  1905.    Nr.  49  u.  50. 


Behandl.   akuter  Entzündungen  und  Eiterungen  mit  Schröpfköpfen  usw.      415 

kleines  Drainrohr  einzulegen.  Wir  haben  diesen  Rat  bewährt 
gefunden. 

Durch  neu  entstandene  Abscesse  soll  man  sich  nicht  verleiten 
lassen,  die  Behandlung  vorzeitig  aufzugeben  und  grosse  und  ver- 
stümmelnde Operationen  an  ihre  Stelle  treten  zu  lassen.  Wir 
haben  Heilungen  ohne  alle  Entstellung  gesehen  in  Fällen,  wo  wir 
8 — 10  Abscesse  hintereinander  mit  kleinem  Schnitt  eröffnet  haben. 

In  der  ersten  Zeit  wird  die  Saugglocke  täglich  y^  Stunden 
lang  so  angewandt,  dass  immer  nur  5  Minuten  h3rperämisiert,  dann 
eine  Pause  von  3  Minuten  eingeschoben,  dann  wieder  5  Minuten 
hyperämisiert  wird  usw.  Ist  die  Absonderung  aus  Fisteln  und 
Schnittöffnungen  spärlich  und  serös  geworden,  so  werden  auch  die 
Sitzungen  dementsprechend  verkürzt  und  seltener  vorgenommen. 

In  der  Zwischenzeit  zwischen  2  Sitzungen  wird  die  Brustdrüse 
durch  einen  aseptischen  Verband  geschützt. 

Die  Saugbehandlung  der  Mastitis  erfüllt  alle  Forderungen,  die 
man  an  eine  ideale  Behandlung  stellen  kann.  Sie  saugt  den  Eiter 
und  die  Milch  ab  und  hyperämisiert  in  sehr  wirksamer  Weise. 
Sie  stillt  dadurch  die  Schmerzen,  unterdrückt  die  Infektion,  löst 
alte  Verhärtungen  und  bringt  sie  zur  Resorption.  Sie  führt 
regelmässig  zur  vollen  Wiederherstellung  der  Brustdrüse 
und  unterscheidet  sich  dadurch  sehr  wesentlich  von  der  meist 
üblichen  chirurgischen  Behandlung,  deren  kosmetische  und  funk- 
tionelle Erfolge  sehr  schlecht  sind.  Denn  diese  beanspruchte  eine 
lange  Heilungsdauer  und  führte  zu  starker  narbiger  Schrumpfung 
der  Drüse,  die  ihre  Funktion  aufs  schwerste  schädigte,  sie  hässlich 
und  ausserdem  noch  für  die  Entstehung  eines  Carcinoms  empfäng- 
lich machte. 

Nicht  minder  übertrifft  das  Saugverfahren  die  alte  Behandlung 
mit  Kataplasmen  und  kleinen  Einschnitten,  weil  sie  eine  viel  wirk- 
samere Form  der  Hyperämie  erzeugt,  die  Eiterung  beschränkt,  an- 
statt sie  zu  vermehren,  und  für  gründliche  Entfernung  des  Eiters 
sorgt.  Auch  hier  ist  also  aufs  schönste  dem  Grundsatze  genügt, 
der  uns  bei  allen  unseren  hyperämisierenden  Verfahren  leitete: 
Möglichste  Vermeidung  jeder  Verstümmelung  und  Ver- 
hässlichung,  möglichste  Wiederherstellung  der  Funktion 
mit  möglichst  kleinen  und  möglichst  wenig  quälenden 
Eingriffen. 

Es  ist  übrigens  interessant,  dass,  wie  es  scheint,  auch  diese 
Behandlung  der  Mastitis  einen  Vorläufer  in  der  Volksmedizin  hat. 


416  Spezieller  Teil. 

Ein  russischer  Kollege,  der  hier  an  der  Klinik  weilte,  um  die  Be- 
handlung mit  hjrperämisierenden  Mitteln  zu  sehen,  erzählte,  dass 
in  einigen  Gegenden  Südrusslands  an  Mastitis  erkrankte  Weiber 
sich  ganz  im  Beginne  der  Erkrankung  grosse  Töpfe  über  die  Brust 
stülpen,  in  denen  sich  etwas  brennendes  Petroleum  befindet,  und 
dass  sie  von  der  .Wirksamkeit  dieses  grossen  Schröpfkopfes  sehr 
überzeugt  sind. 

Ich  gebe  zum  Schluss  einige  Beispiele  von  verschiedenen 
Formen  der  Mastitis  puerperalis  und  ihrer  Behandlung  mit  der 
Saugglocke  und  beginne  mit  2  Fällen,  in  denen  das  Verfahren 
eine  beginnende  Mastitis  zur  Rückbildung  brachte. 

81.  Ein  26jäliriges  Dienstmädchen  kain  am  2.  März  1905  in  die  Be- 
handlung mit  der  Angabe,  dass  sie  am  23.  Juni  1904  geboren  und  seitdem 
das  Kind  mit  der  linken  Brust  gestillt  habe. 

In  der  Nacht  vom  1.  auf  2.  März  bekam  sie  starke  Schmerzen  in  der 
linken  Brust,  so  dass  sie  keinen  Schlaf  fand.  Die  Beschwerden  steigerten 
sich  in  den  nächsten  Tagen,  und  es  traten  Kopfschmerzen  und  Fieber- 
erseheinungen  auf.  Es  fand  sich  eine  sehr  starke  Vergrösserung  der  linken 
Brust,  die  überall  selir  schmerzhaft  war.  In  ihrer  luiteren  Hälfte  fand  sich 
ein  Infiltrat.    Die  Haut  war  darüber  gerötet. 

Am  3.  März  wurde  mit  der  Saugbehandlimg  begonnen.  Es  entleerten 
sich  30  ccm  Milch,  die  Sclimerzen  gingen  darauf  zurück  und  stellten  sich 
naclimittags  4  Uhr  wieder  ein,  nachdem  sie  auf  Befehl  ihrer  Dienstherrschaft 
wieder  gearbeitet,  z.  B.  Fenster  geputzt  hatte. 

Deshalb  erfolgte  am  4.  März  die  Avifnahme  in  die  Klinik,  wo  die  Saug- 
behandlung fortgesetzt  wurde.  Es  entleerte  sich  dabei  unter  gleichzeitiger 
Benutzung  der  gewöhnlich  gebräuchlichen  Milchpumpe,  eine  grosse  Menge 
Milch.  Die  Schmerzhaftigkeit  Hess  daraufhin  sehr  nach,  die  Brustdrüse 
verkleinerte  sich,  vom  Infiltrate  war  mu'  noch  wenig  zu  merken.  Am  5.  März 
war  die  linke  Brustdrüse  völlig  weich,  nirgends  mehr  druckempfind  licli  und 
auf  die  Grösse  der  rechten  zurückgegangen.  Die  Saugbehandlung  wurde 
noch  einige  Tage  fortgesetzt. 

82.  Am  9.  Februar  1905  kam  eine  Kranke  der  hiesigen  Frauenklinik,  die 
vor  9  Tagen  geboren  hatte  und  deren  Wochenbett  bisher  normal  verlaufen 
war,  in  Behandlung.  Sie  hatte  am  Abend  vorher  Schmerzen  in  der  linken 
Brust  bekommen.  In  ihrer  unteren  Hälfte  fand  sich  ein  erhebliches,  avif 
Druck  empfindliches  Infiltrat. 

Die  sofort  aufgenommene  Saugbehandlung  beseitigte  die  ganze  Krank- 
heit in  zwei  Tagen;  am   11.  Februar  wurde  die  Kranke  geheilt  entlassen. 

Die  meisten  Fälle,  die  wir  beobachteten,  waren  bereits  absce- 
diert  oder  abscedierten  während  der  Behandlung. 

83.  Eine  23jährige  Frau  bekam  im  unmittelbaren  Anschluss  an  eine 
Geburt  eine  linksseitige  akute  Mastitis.  Am  9.  Mai  1905  wui'de  sie  aiif- 
genommen.     Die  linke  Brustdrüse  erschien  etwa  dopjoelt  so  gross  als  die 


Behandl.   akuter  Entzündungen  und  Eiterungen  mit  Schröpfköpfen  usw.      4^7 

rechte  luid  war  sein-  verhärtet.  Im  imteren  inneren  Quadranten  fühlte  man 
undeutliche  Fluktuation.  Die  Drüse  wurde  einer  Saugbehandlung  unterzogen. 
Danach  war  am  folgenden  Tage  die  Fluktuation  sehr  viel  deutlicher  ge- 
worden. An  der  betreffenden  Stelle  wurde  ein  1  cm  langer  Einstich  gemacht, 
wobei  sich  im  Strahl  etwa  ^  Liter  Eiter  entleerte.  Bei  der  Anwendung  der 
Saugglocke  floss  weiter  eine  reichliche  Menge  mit  Blut  gemischten  Eiters  ab. 
Die  Stichöffnung  verschloss  sich  mehrmals  durch  Blutgerinnsel  iind  Schorfe, 
so  dass  sie  gewöhnlich  erst  durch  eine  eingeführte  Kornzange  wieder  geöffnet 
werden  musste.  Am  11.  Mai  ^vurde  noch  ein  zweiter  Abscess  gespalten. 
Am  17.  Mai  kamt  beim  Saugen  kein  Eiter  mehr.  Die  Brustdrüse  war  weich 
und  nirgends  mehr  druckempfindlich.  Die  Frau  wurde  in  ambulante  Be- 
handlung entlassen.  Am  19.  Mai  hatte  sich  nochmals  unter  dem  noch  nicht 
verheilten  Einstich  Eiter  angesammelt,  so  dass  die  Öffnung  nochmals  mit 
der  Kornzange  hergestellt  werden  musste.  Die  Glocke  sog  dünnflüssigen 
Eiter  an.  Am  28.  Mai  wurde  die  Frau  geheilt  entlassen.  Die  Brustdrüse 
war  weich  und  völlig  schmerzlos. 

84.  Ein  25 jähriges  Dienstraädchen  erkrankte  im  Anschluss  an  eine 
Geburt  an  einer  linksseitigen  akuten  Mastitis.  Sie  wurde  am  3.  Mai  1905 
in  die  Chirurgische  Klinik  aufgenommen.  Die  linke  Brustdrüse  war  in 
der  Tinteren  Hälfte  stark  geschwollen,  gerötet,  schmerzhaft  und  verhärtet. 
Das  Mädchen  machte  einen  schwerkranken  Eindruck.  Die  Körpertemperatm" 
war  stark  erhöht.  Der  Puls  betrug  120  Schläge..  Es  wurde  zunächst  die 
Saugbehandlung  eingeleitet.  Die  Kranke  fühlte  sich  danach  erleichtert. 
Das  Allgemeinbefinden  besserte  sich  imd  die  Temperatixr  sank.  Am  6.  Mai 
stellte  sich  aber  eine  höhere  Fiebersteigerung  ein,  und  es  war  deutlich 
Fluktuation  zu  fülilen.  Der  Abscess  wurde  durch  einen  Stich  geöffnet,  es 
entleerte  sich  reichlich  dicker  Eiter.  Die  Saugbehandlung  wurde  fortgesetzt. 
Auch  liier  verschloss  sich  die  Stichöffnung  zuweilen,  so  dass  sie  mit  der 
Knopfsonde  geöffnet  werden  musste.  Am  24.  Mai  wurde  die  Kranke  geheilt 
entlassen.  Die  Brustdrüse  war  überall  weich  und  nirgends  druckempfindlich. 
Die  vom  Einstich  herrührende  Narbe  war  kaum  zu  sehen.' 

Tafel  XX  zeigt  den  Verlauf  der  Temperattir. 

Der  folgende  Fall  beweist,  dass  sich  auch  alte  und  verschleppte 
Fälle  noch  mit  Erfolg  mit  der  Saugglocke  behandeln  lassen: 

85.  Eine  Frau  erkrankte  wenige  Tage,  nachdem  sie  ein  Kind  geboren, 
an  einer  rechtsseitigen  Älastitis.  Nach  Ölinnschlägen  brach  ein  Abscess 
auf  der  Innenseite  der  Brustwarze  durch.  Vor 
4  Wochen  wurden  in  einem  Krankenhause  Ein- 
schnitte in  die  Brust  gemacht,  und  die  Frau  wurde 
nach  dreiwöchentlichem  Krankenlager  von  dort 
ungeheilt  entlassen. 

Am  6.  März  1905  kam  sie  in  die  Behandlung 
der  hiesigen  Poliklinik.  Die  rechte  Brust  fand  sich 
in  folgendem  Zustande:  Im  äusseren  oberen  Qua- 
dranten ist  die  Brust  stark  vorgewölbt  und  derb 
anzufühlen  wie  eine  bösartige  Geschwulst.  In  der 
Brust   sind  drei  radiär  gestellte,   bis   8  cm  lange  Tafel  XX. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  27 


3V     4    .5    6    7     8    9     IC 

{«■■■■■■B       ■■    m 

40 

^■■■■■■H           ■■      ■ 

«■■■■■■I.«          MB     ■ 

BMBBBBBf              BB     B 

39 

BalBBBftWi               BB     B 

BH'BBBW«!               BB      B 

BBBBBflk'l               BB      B 

38 

BB.aUWBB               BB      B 

BBlFiBMBB             1BB      B 

BBWBHBB               BB      B 

BBBBBBB               .«B     B 

37 

BB  BBBBB                k»Ef      B 

BBBBBBB                BW      B 

BBBBBBB               BB      B 

BBBBBBB               BB      B 

BBBBBBB               BB      B 

36 

^IQ  Spezieller  Teil. 

und  3  cixi  breite  schlecht  granulierende  Schnittwunden  sichtbar.  Die  Haut 
um  die  Warze  ist  stark  verdünnt,  diese  selbst  fast  verstrichen.  Die 
Kranke  hatte  lebhafte  Schmerzen  und  war  appetitlos. 

Die  Krankheit  besserte  sich  unter  Saugbehandlung  sehr  schnell.  Die 
Schmerzen  verschwanden  schon  nach  der  ersten  Sitzung,  um  am  20.  März 
nach  einer  starken  Anstrengung  noch  einmal  wiederzukehren,  gleichzeitig 
waren  die  zwei  der  schon  fast  verheilten  Schnittwunden  Avieder  auf- 
gebrochen und  entleerten  dicken  Eiter.  Am  16.  Mai  waren  alle  Wunden 
verheilt  und  die  früher  steinharte  Brust,  bis  auf  eine  Verhärtung  im  Bereiche 
der  Operationsnarben,  überall  weich  und  unempfindlich  geworden. 

Die  Vortrefflichkeit  der  Saugbehandlung  der  Mastitis  ist  mit 
verschwindenden  Ausnahmen  allgemein  anerkannt. 


Ich  erwähnte  schon  im  allgemeinen  Teile,  dass  mehrere  Ohren- 
ärztei),  Sondermann,  Spiess  und  Muck,  in  letzter  Zeit  das 
Saugverfahren  in  der  Absicht,  damit  gleichzeitig  zu  hyperämisieren 
und  Sekrete  abzusaugen,  bei  Krankheiten  der  Ohren,  der  Nase  und 
ihrer  Nebenhöhlen  angewandt  haben  und  über  gute  Erfolge  be- 
richten. Ich  selbst  habe  keine  Erfahrungen  über  die  betreffende 
Behandlung  bei  diesen  Krankheiten,  da  ich  das  mir  seit  214  Jahren 
in  dieser  Beziehung  zur  Verfügung  stehende  nicht  allzu  reichliche 
Material  lediglich  benutzt  habe,  um  die  Bindenstauung  daran  zu 
studieren.  In  der  vorigen  Auflage  schrieb  ich  noch:  ,,Es  liegt  ja 
nahe,  auch  bei  Erkrankungen  des  Auges  die  Bindenstauung  durch 
den  viel  bequemeren  Saugapparat  zu  ersetzen.  Aber  da  müsste 
man,  bei  der»  Feinheit  und  Zartheit  des  zu  behandelnden  Organes 
mit  grösster  Vorsicht  vorgehen.  Wenn  man  über  das  gesunde 
Auge  einen  grossen  Schröpfkopf  stülpt  und  die  Luft  in  ihm  stark 
verdünnt,  so  empfindet  man  ein  sehr  unangenehmes  Gefühl." 
Inzwischen  ist  die  Technik  der  Saughyperämie  am  Auge  von 
Augenärzten  sehr  gut  ausgebildet  worden,  so  dass  ihrer  Anwendung 
am  Auge  nichts  mehr  im  Wege  steht.  Die  ausführlichsten  Unter- 
suchungen über  diesen  Gegenstand  stammen  von  Hoppe^).  Er 
fand,  dass  ein  negativer  Druck  von  20 — 40  mm  Quecksilber  bei 
Krankheiten  des  Auges  angezeigt  ist.  Überschreitet  man  diese 
Grenzen  nicht,  so  ist  der  ganze  Vorgang  des  Saugens  durchaus 


1)  Siehe  diese  Abhandlung  S.  82  11.  8.3. 

2)  Hoppe,  Über  den  Einfluss  der  Saugliyperämie  auf  das  gesmide  Auge 
und  den  Verlauf  gewisser  Augenkrankheiten.  Münchner  med.  Wochensehr.  190G. 
Nr.   40. 


Kurzer  Rückblick  nach  meinen  vind  anderer  Ärzte  Erfahrungen  usw.  419 

nicht  unangenehm  für  das  behandelte  Auge.  Hoppe  ver- 
bindet Glocke  und  Ball  des  Saugapparates  durch  einen  dick- 
wandigen Gummischlauch,  von  dem  eine  Abzweigung  zu  einem 
Quecksilbermanometer  führt,  welcher  den  jeweiligen  negativen 
Druck  in  der  Saugglocke  anzeigt.  Ein  solches  Manometer,  das 
ich  beim  Auge,  Avegen  seiner  Feinheit  für  sehr  angebracht  halte, 
dürfte  bei  anderen  Körperteilen,  wo  man  es  auch  empfohlen  hat, 
überflüssig  und   zu   kompliziert   sein. 

Einen  ganz  ähnlichen  Apparat  wie  Hoppe  empfahl  ungefähr 
zu  derselben  Zeit  Hesse^).  Auch  er  arbeitet  mit  einem  Saugnapf, 
dessen  Ränder  der  anatomischen  Form  der  Umgebung  des  Auges 
entsprechend  ausgeschnitten  und  mit  einem  Manometer  verbunden 
sind.  Auch  Hesse  hält  einen  etwa  gleichen  negativen  Druck 
wie  Hoppe   (20 — 50  mm   Quecksilber)  für  nötig. 

Nach  Hesse's  Angaben  nehmen,  abweichend  von  den  schon 
erwähnten  Angaben  Wessely's,  wenigstens  bei  offener  Lidspalte, 
neben  den  oberflächlichen  auch  die  tiefen  Gefässe  des  Auges 
an  der  Erweiterung  teil. 

Sowohl  Hesse  wie  Hoppe  hatten  gute  Erfolge  bei  der  Be- 
handlung von  Augenkrankheiten  mit  Saugapparaten. 


Kurzer  Rückblick  nach  meinen  und  anderer  Ärzte 
Erfahrungen  bei  akuten  Eiterungen. 

Noch  vor  11/2  Jahren  standen  wir  mit  unseren  Erfahrungen 
über  die  Stauungshyperämie  bei  akuten  Eiterungen  und  Ent- 
zündungen fast  völlig  allein  da.  Inzwischen  ist  aber  über  diesen 
Gegenstand  eine  ausserordentlich  reichliche  Literatur  entstanden. 
Die  hauptsächlichsten  Arbeiten  gebe  ich  in  der  Fussnote*)  an, 
soweit  sie  sich  nicht  auf  spezielle  Kapitel  beziehen  und  dort  schon 


1)  Hesse,  Die  Stauungshyperämie  im  Dienste  der  Augenheilkunde.  Central- 
blatt  für  praktische  Augenheilkunde   1906.     Juniheft. 

*)  1.  Arnsperger,  Erfahrungen  mit  Bier'scher  Stauung  bei  akuten  Eite- 
rungen.   Münch.  med.  W.  1905.    Nr.  51. 

2.  V.  Brunn,  Über  die  Stauungsbehandlung  bei  akuten  Entzündungen  nach 
den  bisherigen  Erfahrungen  der  v.  Brvins'schen  Klinik.  Beiträge  zur  kl. 
Chirurgie.    Bd.  45.     S.  845. 

3.  Danielssen,  Über  die  Bedeutung  der  Bier'schen  Stauungsbehandlung 

27* 


420  Spezieller  Teil. 

erwähnt  sind,  oder  noch  erwähnt  werden.  Auf  Vollständigkeit 
macht  diese  Literatur  über  sieht  keinen  Anspruch.  Vor  allem 
mache  ich  auf  die  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  aufmerksam,  auf  dem  zahlreiche  Redner 
ihre  Erfahrungen  mitgeteilt  haben. 

Im  grossen  und  ganzen  sind  die  erwähnten  Ärzte  zu  ähnlichen 
Resultaten  gekommen  wie  wir.  Nur  sehr  wenige  sprechen  sich 
ungünstig  über  die  Wirkung  der  Stauungshyperämie  aus.  Unter 
ihnen  ist  besonders  Lex  er  zu  erwähnen,  über  dessen  Einwände 
ich  schon  ausführlich  berichtet  habe.  In  erster  Linie  sind  für 
die  Güte  des  Verfahrens  ja  entscheidend  die  Sehnenscheiden- 
phlegmonen.       Darin    stimmen    nun    fast    alle   Berichte   überein, 

akuter  Entzündungen  für  die  chirvirgische  Poliklinik  und  den  praktischen  Arzt. 
Münch.  med.  W.  1905.    Nr.  48. 

4.  Derlin,  Beitrag  zur  Behandlving  akuter  Eiterungen  mit  Bier'scher 
Stauungshyperämie.    Münch.  med.  W.  1905.    Nr.  29. 

5.  Habs,  Erfahrungen  mit  Bier'scher  Stauungshyperämie  bei  akuten 
Eiterungen.    Wiener  klinische  Rundschau.  1905.    Nr.  46. 

6.  van  Lier,  Behandling  van  akute  Ontstekeningen.  Nederlandsch  Tijd- 
schrift  voor  Geneeskunde  1905.    II.  Tl.    Nr.  24. 

7.  Lossen,  Bier'sche  Stauungshyperämie  bei  Sehnenscheidenphlegmonen. 
Münch.  med.  W.  1905.    Nr.  39.    S.  1878. 

8.  Ranzi,  Über  die  Behandlung  akuter  Eiterungen  mit  Stauungshyperämie. 
Wiener  kl.  W.  1906.    Nr.  4. 

9.  Hempel,  Die  Bier'sche  Stauungshyperämie  und  ihre  Anwendungs- 
weise bei  akuten  Eiterungsprozessen.     Deutsche  med.  W.  1905.     S.  1858. 

10.  Stich,  zur  Behandlung  akuter  Entzündungen  mittels  Stauimgshyperämie. 
Berliner  kl.  W.  1905.    Nr.  49  u.  50. 

11.  Volk,  Zur  Therapie  der  entzündlichen  Leistendrüsen.  Wiener  med. 
Presse.     1905.    S.  2322. 

12.  Guth,  Die  Behandlung  entzündlicher  Erlo-anliungen  mit  Saugapparaten 
in  der  Praxis.     Prager  med.  W.     31.  Band.  Nr.  3.     1906. 

13.  Colley,  Beobachtungen  und  Betrachtungen  über  die  Behandlung  akut 
eitriger  Prozesse  mit  Bier'scher  Stauungshyperämie.  Münchner  med.  W. 
1906.    Nr.  6. 

14.  Herhold,  Anwendung  der  Stauungshyperämie  bei  akut  eitrigen  Pro- 
zessen im  Garnisonlazarett  Altena.    Münch.  med.  W.  1906.    Nr.  6. 

15.  Frommer,  Über  die  Bier'sche  Stauung  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  postoperativen  Behandlung  und  der  Altersgangrän.  Wiener 
klinische  W.  1906.    Nr.  8. 

16.  Jerusalem,  Bier'sche  Stau-  und  Saugbehandlung  in  der  Kassenpraxis. 
Wiener  klinische  Rundschau.    1906.     Nr.   25. 

17.  Nordmann,  Erfahrungen  über  Stauungshyperämie  bei  akuten  Ent- 
zündungen.    Medizinische  Klinik.    1906.     Nr.   29. 


Kurzer  Rückblick  nach  meinen  und  anderer  Ärzte  Erfalu'ungen  usw.      42 1 

dass  man  einen  sehr  hohen  Prozentsatz  der  Sehnen,  deren 
Scheiden  regelrecht  vereitert  waren ,  durch  die  Stauungs- 
hyperämie  lebendig  und,  was  viel  wichtiger  ist,  funktionstüchtig 
erhält.  Einige  Ärzte  stellen  Betrachtungen  darüber  an,  ob  sie 
nicht  hier  und  da  bei  schon  eitrigen  Sehnenscheidenphlegmonen 
durch  unser  altes  Verfahren  gerade  so  gute  oder  bessere  Resultate 
erzielt  hätten.  An  die  richte  ich  die  Frage:  Haben  Sie  denn  über- 
haupt es  jemals  gesehen,  dass  eine  in  Eiter  gebadete  Sehne  bei 
schon  tagelang  bestehender  Phlegmone  lebendig  und  funktions- 
tüchtig blieb  ?  Ich  habe  es  bei  so  vorgeschrittenen  Phlegmonen  nie 
gesehen,  bei  den  ganz  beginnenden  habe  ich  es  hier  und  da  er- 
lebt, besonders  wenn  die  Infizierten  Ärzte  waren,  die  sehr  früh  zur 

18.  Grube,    Die    Anwendung    der    Hyperämie    nach    Bier    bei    einigen    Er- 
Icrankungen  der  Diabetiker.     Münch.  med.  W.    1906.     Nr.   29. 

19.  Enderlen,  Behandlung  des  Furunkels,  Karbunkels  und  der  Phlegmone. 
Deutsche  med.  W.   1906.     Nr.  42. 

20.  Lindenstein,    Erfahrungen   mit   der    Bier'schen    Stauung.      Münchner 
med.  W.   1906.     Nr.   38. 

21.  Heller,  Beobachtungen  bei  der  Behandlung  entzündlicher  Prozesse  mit 
der  Bier'schen  Stauung.     Med.   Klinik   1906.     Nr.   22. 

22.  Rubritius,  Über  die  Behandlung  akuter  Entzündungen  mit  Stauungs- 
hyperämie.     Beiträge  zur  klin.   Chirurgie   1906.     48.  Band.      2  H. 

23.  Catheart,    On   Biers'   treatment   of   acute   inflammation   etc.      Scotish 
medical  and  surgical  Journal.   April    1906. 

24.  Polini,  Stasi  alla  Bier.     Gazetta  internationale  di  Medicina.  1906.  Nr.  84. 
Daselbst   eine   genaue   Übersicht   der   italienischen    Literatur. 

25.  Beer,  The  therapeutic  value  of  artificial  localized  hyperämia  etc.    Medical 
Record.   1906.     25.  August. 

26.  Hoppe,   Die   Behandlung  von  Unfallschäden   und   deren   Folgen  durch 
den  Chirurgen.     Med.   Klinik.   1906.     Nr.   44. 

27.  Bonheim,  Über  die  Behandlung  akuter  Entzündungen  durch  Hyperämie 
nach  Bier.      Hamburger  ärztlicher  Verein.     Münchner  med.   W.    1906.      Nr.    18. 

28.  Engländer,   Eitrige   Brustdrüsenentzündvmg  bei   einer   Stillenden   usw. 
Centralblatt  füi*  Gynäkologie   1906.     Nr.    16. 

29.  LTllmann,  Über  Stauungs-  und  Saugtherapie  usw.     Berliner  kl.  W.  1906. 
Nr.   18  und  19. 

30.  V.     Pezold,     Furunkelbehandlung     mittels     Bier'scher     Saugapparate. 
Deutsche  militärärztliche  Zeitschrift.    1906.     Nr.    6. 

31.  Breuer,  The  Bier  treatment  by  Hyperaemia.    Medical  Record.    1906. 
24.  Februar. 

32.  Lexer,  Zixr  Behandlung  akuter  Entzündungen  mit  Stauungshyperämie. 
Münchner  med.   W.    1906.      Nr.    14. 

33.  Bestelmeyer,    Erfahrungen   über   die   Behandlung   akut   entzündlicher 
Prozesse  iTiit  Stauungshyperämie  nach  Bier.     Münchner  n:ied.  W.   1906.     Nr.   14. 

34.  Manninger,  Die  Heilung  lokaler  Infektionen  mittels  Hyperämie.    Würz- 
biorger  Abhandlungen.     VI.   Band,   6.   Heft   1906. 


422  Spezieller  Teil. 

Operation  kamen  und  mit  grosser  Energie  nachher  Übungen  vor- 
nahmen, um  die  verwachsene  Sehne  wieder  beweghch  zu  machen. 

Von  einigen .  Kollegen  bin  ich  gefragt  worden,  ob  nicht  viel- 
leicht mehr  das  Unterlassen  der  Tamponade,  als  die  Stauungs- 
hyperämie  die  bedrohte  Sehne  gerettet  hätte.  Diese  Frage  kann 
ich  aus  einer  reichlichen  Erfahrung  verneinen.  Ich  habe  früher 
eine  geraume  Zeit  lang  statt  der  grossen,  die  ganze  infizierte  Seh- 
nenscheide spaltenden  Schnitte  eine  Anzahl  kleiner  angewandt, 
die  an  den  Fingern  ausserdem  noch  seitlich  angelegt  wurden.  Ich 
tamponierte  nicht  oder  legte  höchstens  hier  und  da  einen  kleinen 
Gazestreifen  ein  und  liess  täglich  langdauernde  Handbäder  nehmen. 
Aber  bei  den  wirklich  entwickelten  Phlegmonen,  bei  denen  die 
Stauungshyperämie  noch  weit  über  die  Hälfte  der  Sehnen  erhält, 
wurden  sie  regelmässig  nekrotisch. 

Dasselbe  geschieht,  wenn  diese  Phlegmonen,  wie  das  bei  den 
Laien  üblich  ist,  mit  Wärmemitteln  behandelt,  im  übrigen  aber 
nur  mit  kleinen  Schnitten  eröffnet  werden  oder  von  selbst  durch- 
brechen. Sie  ,, heilen"  so  zuweilen  ebenso  gut  oder  noch  besser 
aus,  als  sie  der  Chirurg  mit  langen  Schnitten  und  dem  ganzen 
Apparate  der  Antiphlogose  ,, heilt",  aber  auch  hier  zieht  man  später 
als  ,,Wurm"  die  abgestorbenen  Sehnen  aus  den  Fisteln.  Die  durch 
Wärme  erzeugte  Hyperämie  ist  eben,  wie  ich  schon  mehrfach  ent- 
wickelt habe,  für  frische  akute  Entzündungen  nicht  die  richtige 
Form  und  der  natürhchen  Stauungshyperämie  nicht  im  entfernte- 
sten gewachsen. 


3.5.  Th orbecke,  Die  Behandlung  der  puerperalen  Mastitis  mit  Stauungfi- 
hyperämie.     Med.   Ivlinik.    1900.     Nr.   37  und  38. 

36.  Lämmerhirt,  Die  Behandlung  mit  Stauungshyperämie  nach  Bier  in 
der  Hand  des  praktischen  Arztes.      Med.   Ivlinik.    1906.      Nr.    15. 

37.  König,  Über  Stauungsl  ehandlung  der  Epididymitis  gonorrhoica.  Med. 
I^inik.    1906.     Nr.   24. 

38.  Böhme,  Kurzer  Bericht  über  durch  Bier' sehe  Staiiung  mit  Saug- 
glocken bei  Bubonen  etc.  erzielte  Erfolge.  Centralblatt  für  die  Kranldieiten 
der  Harn-  und  Sexualorgane.    1906.    17.   Band.   7.  Heft. 

39.  Bum  und  Ulimann  auf  dena  gemeinschaftlichen  Kongress  d.  deutschen 
balneologischen  Ges.   usw.     Wiener  kl.   W.    1906.     Nr.    14,   15,    16. 

40.  Laccetti,  Dua  casi  di  flemmone  etc.  Gazetta  internazionale  di  medicina. 
1906.     No.   88. 

41.  Stiass  ny ,  Ein  Beitrag  zur  Prophylaxe  und  Therapie  der  Mastitis.  Gynä- 
kologische Rundschau.    1907. 

42.  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen  Ges.  für  Chirurgie,  I. 
1906.     S.   220—226. 


Kurzer  Rückblick  nach  meinen  und  anderer  Ärzte  Erfahrungen  usw.      423 

Über  4  schwere  Vereiterungen  des  Kniegelenks  (darunter  3 
traumatische)  berichtet  Habs.  Sie  alle  heilten  durch  Stauungs- 
hyperämie  mit  voller  Funktion  aus.  Sie  sind  an  Beweiskraft  durch- 
aus meinen  oben  geschilderten  Fällen  von  Vereiterungen  grosser 
Gelenke  an  die  Seite  zu  stellen.  Auch  von  anderen  sind  gute 
Erfolge  bei  Gelenkeiterungen  berichtet. 

Sehr  verschieden  waren  die  Erfolge  der  Berichterstatter  bei 
der  akuten  Osteomyelitis,  genau  wie  bei  unseren  Fällen.  Offenbar 
kommt  es  bei  dieser  Krankheit  neben  der  mehr  oder  weniger 
grossen  Virulenz  der  Krankheitserreger  vor  allem  auf  eine  sehr 
frühzeitige  Behandlung  an. 

Auch  mit  der  Behandlung  akuter  Eiterungen  durch  Schröpf- 
köpfe hatten  andere  Ärzte,  die  sie  anwandten,  ganz  ähnliche  Er- 
folge wie  wir. 

Durchweg  bestätigt  ist  auch  meine  Behauptung,  dass  die 
Hyperämie  den  Entzündungsschmerz  stillt  und  nicht,  wie  man  all- 
gemein behauptete,  ihn  hervorruft ;  ebenso  von  mehreren  Seiten, 
dass  eine  richtig  ausgeführte  Stauungshyperämie  keine  Verschlech- 
terung, sondern  eine  Verbesserung  der  Ernährung  bedeutet. 

Ich  glaube  deshalb  die  alte  und  bisher  gänzlich  unentschiedene 
Streitfrage,  ob  die  Entzündung  ein  nützlicher  oder  ein  schädlicher 
Vorgang  sei^),  durch  ein  einfaches  praktisches  Experiment  im 
ersteren  Sinne  entschieden  zu  haben.  Und  das  ist  erst  einmal  die 
Hauptsache.     Ich  halte  es  deshalb  auch  für  kleinlich,  wenn  man 


1)  Seit  der  jetzt  mehr  und  mehr  diu'ch dringenden  Anerkenmuig  der  Wirkung 
der  Stauungshyperämie  bei  Entzündungen  besinnen  sich  eine  ganze  Reihe  kluger 
Leute  darauf,  dass  sie  eigentlich  schon  lange  gewusst  haben,  dass  die  Entzün- 
dung etwas  Nützliches  sei,  während  sie,  als  ich  in  dieser  Beziehung  noch  ein 
Prediger  in  der  Wüste  war,  schwiegen.  Von  Ärzten  der  verschiedensten  Rich- 
tungen (Allo-  vmd  Homöopathen,  Natiorärzten  etc.)  habe  ich  Zuschriften  in  diesem 
Sinne  bekommen.  Als  ob  das  etwas  Neues  wäre!  Genau  wie  beim  Fieber  hat 
man  sich  auch  bei  der  Entzündiuig  in  dieser  Beziehung  hin  und  her  gestritten. 
Es  ist  ja  doch  ganz  natürlich,  dass  weiterblickende  Ärzte  und  Laien  einem  so  ele- 
mentaren Natuxvorgange,  wie  ihn  die  Entzündimg  darstellt,  ihre  ganze  Auf- 
merksamkeit zuwandten  und  ihn  von  den  verschiedensten  Seiten  betrachteten. 
Die  Frage  ist  deshalb  auch  uralt.  Welcher  prinzipielle  Unterschied  besteht 
denn  dazwischen,  wenn  der  Natiu-mensch  den  bösen  Geist,  der  seiner  Ansicht 
nach  in  den  Körper  gefahren  war,  dm-ch  die  Entzündung  und  das  Fieber  aus- 
treiben lässt,  oder  wir  Bakterien,  Gifte  und  andere  Schädlichkeiten?  Feind  vmd 
Verteidiger  haben  den  jeweiligen  AnschauLUigen  entsprechend  gewechselt  und 
sind  vielfach  miteinander  verwechselt.  Aber  es  ist  viel  leichter,  eine  Streitfrage 
aufzustellen,  als  sie  zu  lösen. 


424  Spezieller  Teil. 

die  Frage  aufwirft  und  weitläufig  erörtert,  ob  man  eine  oder  die 
andere  entzündliche  Krankheit  besser  mit  Stauungshyperämie  oder 
mit  dem  alten  Verfahren  behandelt  hätte.  Das  ist  gar  nicht  der 
Kernpunkt  der  Sache,  sondern  es  kommt  darauf  an,  ob. das  Prinzip 
richtig  ist. 

Es  ist  ja  selbstverständlich,  dass  man  auf  dem  so  überaus 
grossen  Gebiete,  das  der  hyperämisierenden  Behandlung  zufällt, 
nicht  gleich  überall  glänzende  Erfolge  erwarten  darf,  um  so  mehr,  als 
ich  doch  bis  vor  kurzem  mit  meinen  Schülern  in  dieser  Beziehung 
fast  ganz  allein  dagestanden  habe.  Der  einzelne  Mensch  und  die  ein- 
zelne Schule  geben  sich  bald  aus  und  bleiben  stehen.  Es  bedarf 
der  Erfahrungen  und  der  Mitarbeit  vieler,  um  den  Fortschritt  zu 
verbürgen.  Dieser  ist  von  einer  Verbesserung  der  Indikations- 
stellung und  von  einer  Verbesserung  der  Technik  zu  erwarten. 
Ich  halte  es  gar  nicht  für  unmöglich,  dass  man,  um  die  Hyperämie 
bei  Entzündungen  zu  verstärken,  nicht  sogar  noch  einfachere  und 
brauchbarere  Mittel  findet,  als  die  Stauungsbinde  und  den  Saug- 
apparat. 

Vorderhand  halte  ich  sie  allerdings  für  die  besten  Mittel. 
Aber  auch  diese  zu  beherrschen,  ist  nicht  so  einfach.  Ich  habe 
seit  der  Zeit,  dass  ich  die  Stauungsbinde  anwende,  es  mindestens 
zwanzigmal  erlebt,  dass  vortreffliche  Ärzte  an  Kranken,  die  ich 
von  ihnen  in  Behandlung  bekam,  das  Verfahren  so  verkehrt  aus- 
geführt hatten,  wie  nur  irgend  möglich.  Man  macht  eben  immer 
wieder  die  alte  Erfahrung,  dass  scheinbar  einfache  Dinge  sehr 
schwer  erlernt  werden.  Dafür  gibt  es  genug  Beispiele.  Man  denke 
nur  an  die  Antisepsis.  Sehr  viele  haben  es  in  ihrem  Leben  nicht 
gelernt,  sich  richtig  die  Hände  zu  waschen.  Berücksichtigt  man 
dabei,  dass  durchgreifende  Neuerungen  bei  zahlreichen,  in  Schul- 
meinungen befangenen  Leuten  auf  prinzipiellen  Widerstand  stossen 
und  ihnen  höchst  unsympathisch  und  unbequem  sind,  so  versteht 
man  viele  Misserfolge. 

Für  eine  wirklich  erspriessliche  Behandlung  der  akuten  ent- 
zündlichen Krankheit  müssen  zwei  Vorbedingungen  erfüllt  werden : 
Einmal  müssen  wir  sie  sehr  frühzeitig  in  Behandlung  bekom- 
men, wie  ich  das  an  den  verschiedensten  Stellen  dieses  Buches 
schon  betont  habe.  Diese  Forderung  muss  sich  durchführen  lassen. 
Wir  erziehen  das  Publikum  dazu,  sich  bei  akuter  Appendicitis  in 
den  ersten  24  Stunden  operieren  zu  lassen,  sollte  es  da  der  ver- 
einigten Einwirkung  der  Ärzte  nicht  gelingen,  es  zu  erziehen,  sich 


Behandlung  nicht  infektiöser  Krankheiten  mit  Hyperämie.  425 

bei  akuten  Entzündungen  noch  früher  zu  melden,  um  sich  nicht 
operieren  zu  lassen? 

Dann  muss  man  sich,  da  es  sich  bei  unserer  Behandlung  nicht 
um  eine  Schablone  handelt,  selbst  um  die  Fälle  bekümmern  oder 
sie  einem  Assistenten  in  die  Hände  geben,  der  Lust  und  Liebe  zur 
Sache  und  vor  allem  Erfahrung  und  Gewissenhaftigkeit  besitzt. 
(Es  ist  vielfach  Mode  geworden,  die  ,, septischen  Fälle"  dem  jüngsten 
und  unerfahrensten  Assistenten  anzuvertrauen.)  Sonst  wird  man 
nichts  erreichen,  als  ein  an  und  für  sich  gutes  Verfahren  in  Ver- 
ruf zu  bringen. 

Die  Hyperämiebehandlung  hat  ein  merkwürdiges  Schicksal 
gehabt.  Zuerst  erkannte  man  die  aktive  Hyperämie  an,  die  passive 
wurde  totgeschwiegen.  Erst  seit  dem  vorletzten  Chirurgenkongresse, 
wo  ich  das  Verfahren  der  Stauungshyperämie  einer  grösseren  An- 
zahl von  Fachgenossen  zeigte,  hat  man  angefangen,  sich  damit  zu 
beschäftigen,  obwohl  ich  eigentlich  damals  nur  wenig  prinzipiell 
Neues  gesagt  habe,  was  ich  nicht  geraume  Zeit  vorher  schon  ausge- 
sprochen hätte.  Nun  aber  nimmt  man  sich  ihrer  mit  einem  unge- 
meinen Eifer  an.  Da  liegt  die  Gefahr  nahe,  dass  man  wieder  die 
anderen  Formen  der  Hyperämie  gänzlich  vernachlässigt.  Die  Ge- 
fahr ist  um  so  grösser,  als  für  sehr  viele  unserer  bakteriologisch 
geschulten  Ärzte  eigentlich  nur  noch  Infektionskrankheiten  ,, inter- 
essant" sind.  Ich  möchte  aber  nicht,  dass  aus  dem  weiten  allge- 
meinen System  der  Hyperämiebehandlung  ein  einzelnes  Kapitel 
herausgerissen  und  einseitig  gepflegt  wird.  Die  Hyperämie  ist 
eben  kein  spezialistisches,  sondern  ein  allgemein  physiologisches, 
die  Selbstheilung  unterstützendes  Mittel.  Wir  sollen  lernen,  das 
heilende  Blut  nach  unseren  Wünschen  je  nach  Bedarf  zu  lenken, 
einmal  es  abzudämmen,  um  die  Gewebe  mit  seinen  Bestandteilen 
zu  überschwemmen,  ein  anderes  Mal  es  im  lebhaften  Strome  durch- 
zujagen, um  sie  zu  reinigen  und  auszuwaschen. 


Behandlung  nicht  infektiöser  Krankheiten  mit 

Hyperämie. 

Bei  der  Behandlung  nicht  infektiöser  Krankheiten  steht  im 
Vordergrunde  die  aktive  Hyperämie,  die  durch  heisse  Luft  erzeugt 
wird,  wenn  man  auch  viele  derselben  ebensogut,  einige  noch  besser 
mit  Stauungshyperämie  behandelt. 


426  Spezieller  Teil. 

Ich  kann  mich  hier  wesentHch  kürzer  fassen,  als  bei  der  Be- 
handhing der  lokalen  Infektionskrankheiten,  Denn  die  Heissluft- 
behandlung  ist  allgemein  anerkannt  und  bedarf  kaum  noch  der 
besonderen  Empfehlung,  ja  sie  gehört  jetzt  zu  den  Modemitteln; 
es  gibt  nur  wenige  Krankheiten,  bei  denen  man  sie  nicht  wenigstens 
einmal  versucht  hätte.  Ihre  Technik  ist  ferner  ganz  ausserordent- 
lich einfach,  so  dass  man  ausser  bei  Gefühlslähmungen  bei  einiger 
Aufmerksamkeit  kaum  einen  erheblichen  Schaden  damit  anrichten 
kann.  Ebenso  ist  die  Technik  der  auch  bei  nicht  infektiösen  Krank- 
heiten häufig  mit  Nutzen  zu  verwendenden  Stauungshyperämie  hier 
sehr  viel  einfacher  und,  was  die  Hauptsache  ist,  ungefährlicher.  Bei 
der  Behandlung  der  Infektionskrankheiten  dagegen  liegen  die  Ver- 
hältnisse wesentlich  anders.  Man  hat  sich  reichlich  ein  Jahrzehnt  lang 
um  die  Stauungsbehandlung  kaum  gekümmert,  sie  gehörte  zu  den 
Behandlungsmethoden,  die  in  den  Augen  der  meisten  meiner  Fach- 
genossen ,, selbstverständlich"  und  ,, natürlich"  nichts  taugten.  Die 
Nachprüfung  von  ihrer  Seite  ergab  denn  auch,  wenn  sie  überhaupt 
vorgenommen  wurde,  ,, natürlich"  dementsprechende  Resultate,  und 
die  Erfolge,  über  die  ich  berichtete,  waren  Phantastereien  oder 
sogar  Schwindel.  Ich  habe  deshalb  in  der  theoretischen  und  prak- 
tischen Ausarbeitung  dieser  Methode  mit  meinen  Schülern  fast 
ganz  allein  dagestanden.  Wenn  sich  nun  in  letzter  Zeit  hier  auch 
ein  sehr  wesentlicher  Umschwung  bemerkbar  macht,  so  hielt  ich 
es  doch  für  notwendig,  alle  in  Betracht  kommenden  Einzelheiten 
der  Behandlung  mit  Stauungshyperämie  sehr  gründHch  auseinander- 
zusetzen und  meine  Behauptungen  mit  ausführlichen  Kranken- 
geschichten zu  belegen.  Es  war  dies  um  so  wichtiger,  als  die 
Technik  der  Stauungshyperämie  lange  nicht  so  einfach  und  so 
schablonenhaft  ist,  als  die  der  Heissluftbehandlung,  und  ein  Un- 
wissender und  Ungeschickter  auf  diesem  Gebiete  nicht  nur  nichts 
erreicht,  sondern  sogar  grosses  Unheil  anrichten  kann. 

Da  alles  dieses  bei  der  Behandlung  der  gleich  zu  schildernden 
Leiden  nicht  in  Betracht  kommt,  glaube  ich  in  der  folgenden  Dar- 
stellung fast  ganz  auf  Krankengeschichten  verzichten  und  mich 
auf  die  Mitteilung  der  Tatsachen  beschränken  zu  können,  zumal 
ich  der  aktiven  Hyperämie  im  allgemeinen  Teile  einen  grossen 
Platz  eingeräumt  habe.  Auch  dies  war  notwendig,  weil  man  sich 
über  die  Wirkung  dieses  Mittels  falsche  Vorstellungen  und  schwer 
ausrottbare  Vorurteile  gebildet  hatte,  so  dass  ich  in  seiner  theo- 
retischen Erklärung  auch  lange  Zeit  ganz  allein  gestanden  habe. 


Behandl.  der  chron.   Versteifungen  insbes.  der  Gelenkversteifungen.      427 


Behandlung  der  chronischen  Versteifungen 
insbesondere  der  Gelenk  Versteifungen. 

Sehr  überzeugend  sind  die  Erfolge,  welche  die  Behandlung  mit 
Hyperämie,  aktiver  wie  passiver,  bei  allen  möglichen  Gelenkver- 
steifungen, mögen  sie  nun  die  Folge  von  chronischem  Gelenk- 
rheumatismus, Arthritis  deformans,  von  Verletzungen  oder  akuten, 
besonders  gonorrhoischen  Entzündungen  sein.  In  erster  Linie  ist 
bei  diesen  Leiden  die  aktive  durch  heisse  Luft  erzeugte  Hyper- 
ämie am  Platze,  aber  wir  werden  bei  der  Besprechung  der  einzel- 
nen Krankheiten  sehen,  dass  auch  die  Stauungshyperämie  und 
unsere  Saugapparate  hier  häufig  mit  grossem  Nutzen  angewandt 
werden  1). 


Chronischer  Gelenkrheumatismus. 

Die  günstige  Wirkung  der  heissen  Luft  auf  den  chronischen 
Gelenkrheumatismus  ist  trotz  der,  wie  wir  noch  sehen  werden, 
recht  bescheidenen  Erfolge  so  allgemein  anerkannt,  dass  es  gänzlich 
überflüssig  ist,  dafür  Belege  aus  der  schon  reichlich  angeschwollenen 
Literatur  vorzubringen. 

Man  wendet  den  Heissluftapparat  bei  den  einzelnen  versteiften 
Gelenken  in  der  Regel  1  Stunde  täglich  an.  Sind  sehr  viele  Ge- 
lenke erkrankt,  so  kann  man  sie  natürlich  nicht  alle  lokal  mit 
Hitze  behandeln,  das  würde  viel  zu  angreifend  für  den  Kranken 
sein.  Man  wählt  die  schlimmsten  Gelenke  aus  und  behandelt  diese. 
Dabei  ist,  wie  ich  schon  im  allgemeinen  Teile  erwähnte,  von 
mehreren  Beobachtern  festgestellt,  dass  auch  die  nicht  behandelten 
Gelenke  sich  gleichzeitig  mitbesserten.  Die  Erklärung  für  diese 
Erscheinung  habe  ich  schon  gegeben. 

Wieviel  Gelenke  wir  bei  Rheumatismus  täglich  mit  heisser 
Luft  behandeln  dürfen,  richtet  sich  durchaus  nach  dem  Kräfte- 
zustande.  Bei  sehr  kräftigen  an  chronischem  Rheumatismus  aller 
Gelenke  der  4  Glieder  erkrankten  Personen  kann  man  beispiels- 


1)  Langemak  (Über  Jute-Fliess-Verbände.  Münchner  med.  Woch.  1904. 
Nr.  43)  empfiehlt  zur  Hyperämisierung  versteifter  Gelenke  neuerdings  Jute- 
Fliess-Verbände.  Dieselben  wurden  von  Gocht  auf  d.  Kongress  d.  Deutschen 
Gesellschaft  für  orthopädische  Chirurgie  1904  sehr  gelobt. 


428  Spezieller  Teil. 

weise  folgendermassen  verfahren:  Des  Morgens  wird  jedes  Bein  in 
einem  Heissluftkasten,  der  das  ganze  Glied  bis  zur  Mitte  des 
Oberschenkels  einschliesst,  je  eine  halbe  Stunde,  des  Nachmittags 
jeder  Arm  bis  zum  Schultergelenk  in  einem  anderen  Kasten  in 
gleicher  Weise  behandelt.  Man  wartet  ab,  ob  die  nicht  be- 
handelten Hüft-,  Schulter-  und  Wirbelsäulengelenke  sich  nicht  von 
selbst  mitbessern.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  wechselt  man  ab, 
man  behandelt  an  einem  Tage  die  genannten  Gelenke,  wie  erwähnt, 
und  am  folgenden  nimmt  man  Hüft-  und  Schultergelenke  vor.  Für 
die  erkrankte  Wirbelsäule  benutzt  man  am  besten  eine  der  be- 
schriebenen Heissluftduschen. 

Diese  zweistündige  Behandlung  sehr  ausgedehnter  Körperteile 
ist  aber  in  höchstem  Masse  angreifend  für  den  Rheumatiker,  und 
nur  ganz  kräftige  Naturen  halten  sie  auf  die  Dauer  aus.  Ich  habe 
mehrere  Leute  gesehen ,  die  durch  eine  so  energische  Be- 
handlung in  höchstem  Grade  körperlich  heruntergekommen 
und  nervös  geworden  waren.  Man  wird  sich  deshalb  in  der  Regel 
täglich  auf  wenige  Gelenke  beschränken  und  abwechseln  müssen, 
wenn  man  es  nicht  vorzieht,  die  Heissluftbehandlung  mit  anderen 
weniger  angreifenden  hyperämisierenden  Verfahren  zu  verbinden. 
Darauf  habe  ich  schon  öfter  hingewiesen. 

Sind  nur  wenige  Gelenke  erkrankt  oder,  was  häufiger  vor- 
kommt, nur  ein  oder  wenige  Gelenke  so  hochgradig,  dass  sie  dem 
Kranken  Beschwerden  machen,  während  die  übrigen  zwar  auch 
nicht  gesund,  aber  doch  beschwerdefrei  sind,  so  behandele  ich 
gewöhnlich  ein  Gelenk  täghch  1  Stunde  im  Heissluftkasten,  aber 
auch  hier  richte  ich  mich  ganz  nach  dem  Kräftezustande  des  Kran- 
ken. Ist  er  sehr  schwächlich,  so  begnüge  ich  mich  mit  einer  halb- 
stündigen Sitzung. 

Sobald  die  Heissluftbehandlung  einige  Wochen  oder  Monate 
dauernd  durchgeführt  ist,  mache  ich  eine  Pause  von  1 — 4  Wochen. 
Während  dieser  Zeit  werden  die  kranken  Gelenke  mit  Priess- 
nitz'schen  Umschlägen,  die  des  Nachts  getragen  werden,  behandelt, 
wenn  ich  nicht  andere,  stärker  hjrperämisierende  Mittel  anwende. 

Ich  ermahne  auch  hier  wieder  die  Ärzte,  die  chronischen 
Rheumatismus  behandeln,  die  Stauungshyperämie  nicht  zu  ver- 
gessen, die  ich  schon  ebensolange  wie  die  heisse  Luft  gegen  diese 
Krankheit  verwende.  Sie  gibt  besonders  bei  den  akuten  Anfällen, 
denen  der  chronische  Rheumatiker  zuweilen  ausgesetzt  ist,  und 
bei  den  kleinen  Gelenken,   besonders  bei  Ellbogen-,   Hand-   und 


Behandl.   der  chron.  Versteifungen  insbes.  der  Gelenkversteifungen.      429 

Fingergelenken  sehr  häufig  weit  bessere  Resultate,  als  die  Heiss- 
luftbehandlung.  Beim  Kniegelenk  habe  ich  wenig  Erfolge  von 
der  Stauungshyperämie  gesehen,  hauptsächlich  wohl,  weil  in 
diesem  Gelenke  bei  Rheumatikern  die  Hyperämie  meist  schwer 
zu  erreichen  ist.  Dagegen  sind  die  Erfolge  bei  den  Fussgelenken 
wieder  besser. 

Die  Stauungsbinde  wird  10 — 22  Stunden  täglich  getragen. 
Ein-  oder  besser  zweimal  täglich  wird  das  Ödem  durch  Massage 
und  Hochlagerung  entfernt.  Es  handelt  sich  hier  weniger  um  eine 
kunstgerechte  Massage,  als  um  ein  einfaches  Wegstreichen  des 
Ödems.  Ich  halte  dies  für  nötig,  weil  die  Stauungshyperämie  nur 
die  Versteifungen  löst,  aber  nicht  resorbiert.  An  Hand  und  Vorder- 
arm kann  man  sich  vorteilhaft  zur  Beseitigung  des  Ödems  der 
Quecksilbermassage  nach  Hofmeisteri)  bedienen.  Dabei  taucht 
der  Kranke  Hand  und  Vorderarm  in  langsamem  Rhythmus  tief  in 
einen  mit  Quecksilber  gefüllten  Eisenzylinder.  Das  Quecksilber 
übt  einen  starken  und  sanften  Druck  auf  das  Glied  aus  und  be- 
seitigt das  Ödem  sehr  schnell.  Das  Verfahren  ist  sehr  gut  und 
wird,  wie  mir  scheint,  viel  weniger  angewandt,  als  es  verdient. 
Ich  kann  H of  meist er's  günstige  Erfahrungen  durchaus  bestätigen. 
Übrigens  stehe  ich  nicht  an,  auch  dieses  Mittel  zu  den  stark 
hyperämisierenden  zu  zählen.  Denn  durch  die  plötzliche  Be- 
seitigung des  Ödems  werden  die  Gefässe  vom  Druck  entlastet  und 
erweitert,  besonders  aber  macht  der  starke  Druck  des  Quecksilbers 
bei  jedem  tiefen  Eintauchen  den  peripheren  Teil  des  Gliedes 
vorübergehend  blutleer.  Dieser  Blutleere  folgt  alsdann  jedesmal 
die  reaktive  Hj^erämie. 

Die  Stauungsh3rperämie,  die  man  gegen  den  chronischen 
Rheumatismus  verwendet,  rnuss  so  stark  sein,  dass  ein  deutliches 
Ödem  der  Glieder  auftritt,  sonst  nützt  sie  wenig. 

Die  Stauungshyperämie  hat  vor  der  Heissluftbehandlung  den 
grossen  Vorzug,  dass  sie  an  den  Kräftezustand  des  Kranken  gar 
keine  Anforderungen  stellt.  Ihre  Wirkung  fällt  beim  chronischen 
Rheumatismus  häufig  nicht  sofort  in  die  Augen,  sondern  erst  nach 
Wochen.  Sie  ist  deshalb  nicht  so  bestechend  wie  die  Heissluft- 
behandlung, von  der  die  Kranken  häufig  schon  nach  der  ersten 
Sitzung  angeben,  dass  das  Glied  geschmeidiger  und  schmerzloser 


1)  Hofmeister,    Ein    neues    Massageverfahren.      Beiträge    zur    klinischen 
Chirurgie.     36.  Band.     2.  Heft.     1902. 


430  Spezieller  Teil. 

ist.  Aber  es  ist  vielleicht  kein  Zufall,  dass  ich  gerade  meine 
besten  Dauererfolge  beim  chronischen  Rheumatismus  vor- 
wiegend mit  Stauungshyperämie  erzielt  habe,  die  mit  grosser  Konse- 
quenz jahrelang  —  allerdings  immer  mit  eingeschobenen  Pausen  — 
fortgesetzt  wurde. 

Beim  schweren  chronischen  Rheumatismus  zahlreicher  Gelenke 
verfahre  ich  praktisch  meist  in  folgender  Weise:  Knie-,  Hüft-  und 
Schultergelenke  werden  mit  heisser  Luft,  Ellbogen-,  Hand-  und 
Fingergelenke,  häufig  auch  die  Fussgelenke  mit  Stauungshj^erämie 
und  gleichzeitigem,  täglich  zweimal  wiederholtem  Wegstreichen  des 
Ödems  behandelt.  Der  Gebrauch  der  der  Hjrperämie  unterworfenen 
Gliedmassen  wird  dadurch  nicht  im  mindesten  beschränkt. 

Will  man  sich  von  der  Besserung  der  Funktion  der  mit 
Stauungshyperämie  behandelten  Gelenke  überzeugen,  so  muss  man 
natürlich  erst  das  Ödem  vollständig  abziehen  lassen.  Denn 
ödematöse  Glieder  sind  an  sich  steif  und  ungelenk. 

Auch  unsere  Saugapparate  sind  zuweilen  mit  Nutzen  beim 
chronischen  Gelenkrheumatismus  zu  verwenden,  besonders  wenn 
schwere  Versteifungen  vorliegen.  Indessen  soll  man  allzu  gewalt- 
same Bewegungen  beim  chronischen  Gelenkrheumatismus  auch  in 
dem  milde  wirkenden  Saugapparat  vermeiden;  denn  die  rheuma- 
tischen Gelenke  werden,  wie  ich  verschiedentlich  beobachtet  habe, 
durch  allzu  eingreifende  Mobilisierungsversuche  gewöhnlich  ver- 
schlimmert. 

Ich  selbst  habe  gewaltsame  Streckungen  und  Beugungen  der- 
selben in  Narkose  niemals  vorgenommen,  habe  aber  verschiedene 
Fälle  gesehen,  wo  dies  von  anderer  Seite  geschehen  war,  und  wo 
die  übelsten  Verschlimmerungen  danach  gekommen  waren.  Ich 
lege  deshalb  Gewicht  darauf,  dass  auch  die  Mobilisierung  chronisch 
rheumatischer  Gelenke  ausserordentlich  schonend  und  allmählich 
erfolgt.  Auch  vor  der  langen  Ruhigstellung  derartiger  Gelenke 
möchte  ich  auf  das  dringendste  warnen.  Sie  ist  gewöhnlich  von 
einer  Verschlimmerung  und  einer  verminderten  Gebrauchsfähigkeit 
der  Glieder  gefolgt.  Ich  sehe  darauf,  dass  der  Rheumatiker  wo- 
möglich nicht  vom  Gebrauch  seiner  Glieder  und  insbesondere 
vom  Gehen  abkommt,  und  versuche  deshalb,  auch  wenn  er  sehr 
schwer  versteift  ist,  ihn  nach  Möglichkeit  wieder  auf  die  Beine  zu 
bringen,  indem  ich  ihn  zuerst  am  Gehstuhl,  später  auf  Krücken  sich 
bewegen  lasse. 


Behandl.   der  chron.   Versteifungen  insbes.   der  Gelenkversteifungen.      4g  \ 

Im  Gegensatz  zu  meinen  obenerwähnten  Beobachtungen 
hat  Neumanni)  empfohlen,  zu  Ankylosen  neigende  Gelenke, 
auch  die  mit  Arthritis  deformans  behafteten,  in  Narkose 
gewaltsam  zu  bewegen  und  sie  sofort  einer  hyperämisierenden  Be- 
handlung auszusetzen.  Ich  gehe  wohl  nicht  fehl,  wenn  ich  an- 
nehme, dass  Neu  mann  hier  zur  Arthritis  deformans  zählt,  was  ich 
zum  chronischen  Gelenkrheumatismus  zu  rechnen  gewohnt  bin,  dass 
wir  also  dieselbe  Gelenkversteifung  im  Auge  haben.  Neu  mann 
umgibt  die  gewaltsam  bewegten  Gelenke  sofort,  noch  während  der 
Kranke  sich  in  Narkose  befindet,  mit  einem  Fango -Umschlag,  dann 
mit  einem  Spirituswickel,  der  alle  paar  Stunden  gewechselt  wird, 
und  schon  am  Nachmittage  des  ersten  Tages  werden  die  schmerz- 
haften und  geschwollenen  Gelenke  im  Heissluftapparate  behandelt. 
Neben  dieser  Behandlung  werden  möglichst  bald  passive  Bewe- 
gungen vorgenommen.  N e u  m  ann  berichtet  über  sehr  gute  Erfolge, 
die  er  mit  diesem  Verfahren  erzielte.  Ich  selbst  habe  keine  Er- 
fahrung darüber. 

Ich  hätte  mich  noch  kurz  über  die  Erfolge  der  hyperämi- 
sierenden Behandlung  bei  chronischem  Gelenkrheumatismus  aus- 
zusprechen. 

Mit  einer  Statistik  kann  ich  leider  nicht  aufwarten.  Ich  muss 
mich  deshalb  begnügen,  den  Allgemeineindruck,  den  ich  von  dieser 
Behandlung  bekommen  habe,  kurz  mitzuteilen.  Ich  habe  eine  sehr 
reichliche  Erfahrung  über  diese  Krankheit,  weil  ich,  ich  möchte 
sagen,  das  Unglück  gehabt  habe,  in  den  Ruf  eines  Spezialisten  für 
die  Behandlung  des  chronischen  Gelenkrheumatismus  zu  kommen, 
und  deshalb  vielfach,  besonders  von  Privatpatienten  aufgesucht  bin, 
die  die  allerverschiedensten  Behandlungsmethoden  ohne  Erfolg 
durchprobiert  hatten.  Ich  muss  leider  bekennen,  dass  im  allge- 
meinen auch  bei  unserer  Behandlung  die  Erfolge  höchst  massig 
waren.  Ich  habe  eigentlich  nur  3  Fälle  von  ziemlich  schwerem 
chronischen  Rheumatismus  gesehen,  die  annähernd  geheilt  sind.  In 
der  ersten  Auflage  dieses  Buches  berichtete  ich,  dass  ich  nur  eine 
wirkliche  Heilung  erlebt  hätte.  Nach  genauer  Nachforschung  muss 
ich  auch  diese  Behauptung  zurücknehmen.  Die  Kranke  hält  sich 
für  vollständig  geheilt,  nach  Auskunft  des  Arztes  aber  handelt  es 


1)  Neumann,  Das  ,,brisenient  force"  und  seine  Nachbehandlung  mit 
Thermotherapie.  Ärztliche  Mitteilungen  aus  und  für  Baden.  58.  Jahrgang. 
Nr.  2.     1904. 


_j.32  Spezieller  Teil. 

sich  nicht  um  eine  vollständige  Heilung  im  anatomischen  Sinne, 
sondern  nur  um  ein  vollständiges  Befreitsein  von  Beschwerden. 
Die  betreffende  Dame,  die  an  einem  schweren  chronischen  Rheu- 
matismus litt,  hat  durch  jalu"elange  hyperämisierende  Behandlung 
den  vollen  Gebrauch  ihrer  Glieder  wieder  erlangt.  Sie  kann  z.  B. 
ungehindert  Berge  steigen,  während  sie  früher  nur  mit  Hilfe  von 
Stöcken  sich  mühsam  fortschleppen  konnte.  Über  2  ähnhche  Re- 
sultate bei  Leuten,  die  ebenfalls  unsere  Behandlung  jahrelang 
durchgeführt  haben,  ist  mir  neuhch  berichtet.  Es  ist  bemerkens- 
wert, dass  diese  3  Patienten  sehr  schwer  erkrankt  waren,  im  jugend- 
hchen  Alter  (20 — 30  Jahren)  standen,  und  dass  der  Erfolg  vor 
allen  Dingen  durch  Stauungshyperämie  erzielt  ist. 

Trotz  der  im  ganzen  jämmerhchen  Erfolge  scheint  aber  immer- 
hin che  hjrperämisierende  Behandlung  von  allen  noch  che  beste  für 
den  chronischen  Gelenkrheumatismus  zu  sein,  und  fast  regel- 
mässig ist  wenigstens  eine  bedeutende  Besserung  des  Leidens  und 
besonders  der  subjektiven  Beschwerden  zu  erzielen.  So  habe  ich 
denn  auch  oft  gesehen,  dass  Kranke,  denen  die  Behandlung  zu  lang- 
weilig wurde  und  die  sie  deshalb  abbrachen,  später  gezwungen 
wurden,  darauf  zurückzukommen,  weil  sie  sich  überzeugt  hatten, 
dass  andere  Behandlungsmethoden  noch  viel  weniger  leisten. 


Arthritis  deformans. 

Ich  will  hier  nicht  darauf  eingehen,  den  Unterschied  zwischen 
chronischem  Rheumatismus  und  Arthritis  deformans  zu  begründen. 
Ich  muss  sagen,  dass  es  mir  in  den  meisten  Fällen  nicht  gelingt, 
beide  Krankheiten  scharf  zu  unterscheiden.  Ich  habe  mir  redhche 
Mühe  gegeben,  mich  durch  das  Studium  der  Literatur  über  diese 
Gelenkerkrankungen  zu  belehren,  bin  aber  dadurch  nicht  viel 
klüger  geworden.  Es  herrscht  hier  ein  unglaubhcher  Wirrwarr, 
und  es  scheint  mir  in  vielen  Fällen  Geschmackssache  zu  sein, 
was  man  unter  Arthritis  deformans  und  was  unter  chronischem 
Gelenkrheumatismus  verstehen  will.  Ich  bekomme  Fälle  von 
zweifelloser  Arthritis  deformans  selten  zu  sehen.  Ich  glaube  auch 
sie  mit  ähnlichen  Erfolgen  wie  dem  chronischen  Gelenkrheumatis- 
mus der  hyperämisierenden  Behandlung  unterworfen  zu  haben. 

Von  anderer  Seite  wird  behauptet,  dass  die  Arthritis  deformans 
sich  viel  weniger  für  Heissluft-  und  Stauungsbehandlung  eigne  als 


Behandl.   der  chron.   Versteifungen  insbes.   der  Gelenkversteifungen.      433 

der  chronische  Rheumatismus  (H  a  b  s,  B  um,  Laqueur,  v.  Leyden 
und  Lazarus  in  ihren  schon  erwähnten  Arbeiten). 


Traumatisch  versteifte  Gelenke. 

Viel  bessere  Heilerfolge  als  bei  den  genannten  Krankheiten 
erzielt  man  bei  den  traumatisch  versteiften  Gelenken.  Auch  sie 
haben  wir  besonders  der  Heissluftbehandlung  unterworfen.  Die 
Technik  ist  genau  dieselbe,  wie  ich  sie  beim  chronischen  Gelenk- 
rheumatismus geschildert  habe,  nur  kann  man  hier  gewöhnlicli,  da 
es  sich  meist  um  ein  Gelenk  und  kräftige  Personen  handelt,  mit 
einer  einstündigen  Heissluftbehandlung  täglich  beginnen.  Bei  dem 
traumatisch  versteiften  Gelenk  fällt  meist  sofort  besonders  die  sub- 
jektive Besserung  in  die  Augen.  Die  Kranken  behaupten,  dass  sie 
die  Schmerzen  schnell  verlieren  und  die  Beweglichkeit  bedeutend 
zunimmt. 

Auch  beim  traumatisch  versteiften  Gelenk  kann  man  mit  Vorteil 
die  Stauungsbinde  anwenden.  Nachdem  ich  schon  früher  durch 
Saugapparate  günstige  Erfolge  dabei  erzielt  hatte,  führte  mein 
früherer  Assistent,  Stabsarzt  Dr.  Blecheri),  dieselbe  Behandlung 
auch  für  die  traumatischen  Gelenkversteifungen  ein,  die  ich  für  die 
rheumatischen  bereits  übte.  Ich  verweise  auch  mit  Bezug  auf  die 
Stauungsbehandlung  dieser  Leiden  auf  die  beim  chronischen  Ge- 
lenkrheumatismus empfohlene  völlig  gleiche  Technik. 

Sudeck 2)  hat  diese  Beobachtungen  Blecher's  bestätigt. 
Sudeck  ist  der  Ansicht,  dass  die  Versteifungen  der  Gelenke  nach 
Entzündungen  und  Verletzungen  von  der  von  ihm  festgestellten 
Knochenatrophie,  die  damit  verbunden  ist,  abhängen,  und  glaubt, 
dass  die  Stauungshyperämie  durch  Vermehrung  der  Knochen- 
neubildung wirke. 

Diese  Ansicht  ist  sehr  einseitig ;  denn  unter  anderem  atrophieren 
nach  jenen  Krankheiten  auch  die  Knochen,  aber  sie  leiden  durch- 
aus nicht  allein,  denn  die  Weichteile  sind  auch  atrophisch.  Nun 
habe  ich  schon  mehrfach  erwähnt,  dass  bei  der  hyperämisierenden 
Behandlung  auch  die  Weichteilatrophie  sich  bessert.   Es  ist  deshalb 


1)  Blech  er,  ÜVjer  den  Einfluss  der  künstlichen  Blutstauung  auf  Gelenk- 
steifigkeiten  nach  Trauma  und  längerer  Imniobilisation.  Deutsehe  Zeitselirift 
für  Chirurgie.     60.  Band. 

2)  1.   c. 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  28 


434  Spezieller  Teil. 

durchaus  willkürlich,  hier  die  Knochenatrophie  als  die  schuldige 
Ursache,  mit  deren  Verschwinden  auch  die  Versteifung  sich  bessere, 
in  den  Vordergrund  zu  schieben.  Denn  ich  habe  Versteifungen  sehr 
schlimmer  Art  sich  unter  hyperämisierender  Behandlung  bessern 
sehen,  die  im  Röntgenbilde  nicht  Atrophie,  sondern  Hypertrophie 
des  Knochens  zeigten,  vor  allem  aber  auch  Versteifungen,  welche 
offenbar  rein  die  Weichteile  betrafen,  so  bei  Sehnen-  und  Haut- 
narben, welche  durch  Panaritien  entstanden  waren.  Ferner  habe 
ich,  wie  schon  erwähnt,  knotige  Verdickungen  der  Sehnen  infolge 
von  gonorrhoischen  Entzündungen  unter  Hyperämie  verschwinden 
sehen. 

Ich  lege  deshalb  nach  wie  vor  grosses  Gewicht  auch  auf  die 
auflösende  Wirkung  der  Hyperämie,  welche  wir,  wie  schon  erwähnt, 
mehrfach  direkt  haben  beobachten  können.  Dass  daneben  unbe- 
dingt noch  andere  Dinge  wirksam  sind,  habe  ich  nie  bezweifelt.  So 
habe  ich  schon  mehrfach  erwähnt,  dass  ich  glaube,  dass  die  seröse 
Durchtränkung  und  Quellung  geschrumpfter  Weichteile  dabei  eine 
Rolle  spielt,  und  vor  allem  die  grosse  mit  der  Hyperämie  verbundene 
Schmerzlinderung.  Sonst  wäre  es  gar  nicht  zu  verstehen,  dass 
steife  Gelenke  schon,  nachdem  sie  eine  Stunde  hyperämisiert  sind, 
viel  beweglicher  sein  können.  Dass  daneben  auch  die  rein  passive 
Ernährung  des  Knochens  eine  Rolle  spielen  kann,  will  ich  nicht 
bezweifeln.  Von  allen  in  Betracht  kommenden  Dingen  ist  dies  aber 
am  wenigsten  bewiesen.  Dass  Atrophien  nach  Beseitigung  der 
Krankheitsursache  schnell  verschwinden,  ist  nicht  wunderbarer,  als 
dass  sie  durch  den  Ausbruch  der  Krankheit  mit  unglaublicher 
Schnelligkeit  entstehen.  Wir  kennen  aber  die  Gründe  weder  für  das 
eine,  noch  für  das  andere. 

Besonders  wirksam  sind  bei  traumatischen  Gelenkversteifungen 
die  im  allgemeinen  Teil  beschriebenen  orthopädischen  Saugappa- 
rate, und  zwar  unter  ihnen  in  erster  Reihe  der  technisch  am  besten 
ausgebildete  Handapparat  für  Versteifungen  der  Finger  und  des 
Handgelenks.  Der  Apparat  darf  bei  diesen  Leiden  sehr  energisch 
angewandt  werden,  und  wir  haben  mit  ihm  die  besten  Erfolge  erzielt. 
Ich  verweise  auf  die  im  allgemeinen  Teil  genau  beschriebene 
Technik. 

Übrigens  ist  unsere  Behandlung  nicht  nur  bei  Versteifungen, 
sondern  auch  bei  allen  möglichen  anderen  Folgezuständen  von 
Gelenkverletzungen  im  höchsten  Grade  wirksam.  Ich  nenne  hier 
die   so   ausserordentlich   häufigen   mannigfaltigen   Veränderungen 


Behandl.  der  chron.   Versteifungen  insbes.   der  Gelenkversteifungen.      4:35 

und  Beschwerden,  die  nach  Verletzungen  der  Gelenke  und  besonders 
des  Kniegelenkes  zurückbleiben,  z.  B.  die  so  gemeine  Gonitis  crepi- 
tans.  Ich  habe  die  letztere  in  einer  sehr  grossen  Anzahl  von  Fällen 
zwar  nicht  geheilt,  aber  doch  so  gebessert,  dass  die  Beschwerden 
vollständig  verschwanden  oder  doch  wenigstens  sehr  erheblich  ge- 
mildert wurden.  Ich  behandele  die  Gonitis  crepitans  in  erster 
Linie  mit  heisser  Luft,  in  zweiter  Linie  mit  dem  hyperämisierenden 
Saugapparate.  Die  Behandlung  mit  der  Stauungsbinde  hat  mir 
keine  besonderen  Erfolge  gegeben,  wie  überhaupt  das  Kniegelenk 
aus  mir  nicht  recht  erkenntlichen  Gründen  sich  für  die  Behandlung 
mit  Stauungshyperämie  am  allerwenigsten  eignet. 

Ich  habe  noch  kurz  der  ebenfalls  recht  häufigen  Beschwerden, 
besonders  des  Kniegelenks,  zu  erwähnen,  die  nach  Verletzungen 
zurückbleiben  und  die  ausser  einer  vielleicht  geringen  Atrophie 
keinerlei  objektiven  Befund  bieten.  Den  eine  Unfallrente  suchen- 
den Arbeiter  pflegt  man  in  solchen  Fällen  abzuweisen.  Bei  Leuten, 
die  kein  Interesse  daran  haben,  Beschwerden  zu  heucheln  oder  zu 
übertreiben,  behilft  man  sich  mit  der  Verlegenheitsdiagnose  Neurose, 
Meniskusverletzung  oder  etwas  Ähnlichem.  Ich  habe  gerade  in 
letzter  Zeit  besonders  bei  Offizieren,  Landwirten  und  Sports - 
leuten  ausserordentlich  häufig  solche  Fälle  gesehen  und  wage  kein 
Urteil  darüber  abzugeben,  um  was  es  sich  hier  eigentlich  handelt. 
Glücklicherweise  sind  diese  Fälle  meist  auch  ohne  Diagnose 
mit  sehr  guten  Erfolgen  mit  hyperämisierenden  Mitteln  und  zwar 
vor  allen  Dingen  mit  heisser  Luft  und  allmählich  gesteigertem 
Gebrauch  des  kranken  Gelenks  zu  behandeln.  Ich  lege  auf  den 
Gebrauch  grosses  Gewicht,  weil  ich  der  Ansicht  bin,  dass  die 
Krankheit  dieser  Leute,  die  von  einem  Arzte  zum  andern  laufen, 
häufig  durch  die  Behandlung  unterhalten  wird.  Überall  werden 
ihnen  Ruhe  und  Schonung,  Bettliegen,  fixierende  Verbände,  Kom- 
pression und  Gummistrumpf,  zuweilen  auch  Operationen  angeraten. 
Durch  diese  Massregeln  wird  die  Schwäche  vermehrt  und  den 
Leuten  das  Vertrauen  zu  ihren  Gliedern  genommen. 

Mit  ähnlichen  Erfolgen  wie  bei  Versteifungen  der  Gelenke  be- 
nutzt man  auch  die  hyperämisierende  Behandlung  bei  solchen  der 
Weichteile,  vorausgesetzt,  dass  es  sich  nicht  um  alte  und  starre 
Narben  handelt. 


28* 


436  Spezieller  Teil. 


Gonorrhoische  Gelenkversteifungen. 

Leider  sieht  man  heutzutage  noch  sehr  häufig  die  schwersten 
Versteifungen  der  Gelenke  nach  Gonorrhoe.  Es  kommt  dies  vor 
allem  daher,  dass  die  Ärzte  in  frischen  Fällen  die  von  mir  schon 
seit  13  Jahren  empfohlene  hyperämisierende  Behandlung,  ins- 
besondere die  Stauungshyperämie,  nicht  anwenden,  und  dassdies  Ver- 
fahren bis  vor  kurzem  in  Lehrbüchern  und  Abhandlungen  besonders 
auch  von  solchen  Autoren,  die  den  Ruf  ganz  spezieller  Kenntnis 
dieser  Krankheit  gemessen,  vollständig  ignoriert  wurde.  Es  wurde 
vor  allen  Dingen  die  Ruhigstellung  dieser  Gelenke  empfohlen,  das 
sicherste  Mittel,  um  sie  zur  Versteifung  zu  bringen.  Ich  hoffe, 
dass  hier  Wandel  geschaffen  wird,  wenn  die  Ärzte  erst  einmal 
gelernt  haben,  bei  akuten  Fällen  die  Stauungshyperämie  anzu- 
wenden, und,  wie  ich  es  empfohlen  habe,  entweder  gar  nicht  oder 
nur  vorübergehend  die  Gelenke  feststellen  und  statt  dessen  früh- 
zeitig Bewegungen  mit  ihnen  vornehmen.  Auch  bei  der  gonor- 
rhoischen Versteifung  erzielt  man  ähnlich  wie  bei  der  traumatischen 
weit  bessere  Erfolge  als  bei  der  durch  chronischen  Rheumatismus 
und  Arthritis  deformans  bedingten.  Zu  verwenden  sind  alle  Formen 
der  Hyperämie,  besonders  aber  die  aktive,  durch  heisse  Luft  er- 
zeugte, die,  wie  ich  schon  erwähnte,  nur  bei  den  akuten  und  sub- 
akuten  Fällen  durch  die  Stauungshyperämie  weit  übertroffen  wird. 


Behandlung  der  Skoliose. 

Hierher  gehört  auch  die  von  Klapp  eingeführte  Behandlung 
der  Skoliose  mit  heisser  Luft.  Denn  schliesshch  besteht  kein  grund- 
sätzlicher Unterschied  zwischen  einem  versteiften  Gelenke  und  seinen 
die  Knochen  und  die  Weichteile  betreffenden  Folgezuständen  und 
der  Skoliose.  Auch  bei  ihr  verlangen  wir,  dass  die  angewandte  Be- 
handlung zunächst  die  Steifigkeit  beseitigt.  Dies  tut  nun  die  Heiss- 
luftbehandlung  der  Skoliose  in  der  Tat  in  hervorragendem  Masse, 
wie  uns  eine  reichliche  Erfahrung  gelehrt  hat.  Nicht  nur  konnten  die 
behandelnden  Ärzte  objektiv  eine  grössere  Beweglichkeit  der  Sko- 
liose feststellen,  sondern  ganz  allgemein  gaben  die  behandelten 
Kinder  an,  wenn  man  sie  fragte  (ohne  etwas  in  sie  hineinzu- 
examinieren),  wie  sie  sich  nach  der  Heissluftbehandlung  befänden. 


Behandlving  frischer  subkutaner   Verletzungen.  437 

dass  sie  sich  geschmeidiger  fühlten.  Ich  glaube,  dass  diese  Be- 
handlung bei  der  Skoliose  der  Massage  nicht  nur  gleichkommt, 
sondern  sie  sogar  übertrifft.  Es  kommt  hinzu,  dass  es  bei  dem 
Massenbetrieb  in  den  Kliniken  gar  nicht  möglich  ist,  die  Massage 
gründlich  in  jedem  einzelnen  Falle  auszuüben.  In  der  chirurgi- 
schen Klinik  in  Bonn  werden  in  der  letzten  Zeit  täglich  60  und 
mehr  Kranke  mit  Skoliose  behandelt.  Obwohl  dafür  ausser  dem  Auf- 
sicht führenden  Assistenten  2  Turnlehrerinnen  und  eine  Masseuse 
zur  Verfügung  stehen,  so  ist  es  doch  unmöglich,  da  dasselbe  Per- 
sonal noch  für  die  anderen  orthopädischen  Fälle  gebraucht  werden 
muss,  jeden  einzelnen  Fall  genügend  und  richtig  zu  massieren, 
während  ja  die  Turnübungen  sich  sehr  wohl  in  grösseren  Abtei- 
lungen vornehmen  lassen.  Ähnlich  wird  es  wohl  in  anderen  Kli- 
niken sein,  wo  häufig  noch  ein  geringeres  Ärzte-  und  Gymnasten- 
personal  vorhanden  ist.  Angeblich  wird  alles  massiert,  es  kann 
aber  unmögHch  gründlich  gemacht  werden.  Unter  solchen  Um- 
ständen erscheint  es  mir  wichtig,  ein  Ersatzmittel  zur  Verfügung 
zu  haben,  welches  gestattet,  mit  sehr  geringer  Bedienung  eine 
grössere  Anzahl  Skoliotischer  auf  einmal  zu  behandeln. 

Da  ein  verhältnismässig  grosser  Körperteil  der  Hitze  aus- 
gesetzt wird,  so  dauert  die  Behandlung  nur  20  Minuten.  Eine 
längere  Ausdehnung  würde  zu  angreifend  sein.  Unmittelbar  nach 
der  Sitzung  beginnen  die  Turnübungen,  die  in  leichten  billigen 
Turnanzügen  und  in  einem  geräumigen  und  gut  gelüfteten  Saale 
stattfinden. 

Übrigens  ist  die  Heissluftbehandlung  hier  nur  eine  Unter- 
stützung der  in  erster  Linie  in  Betracht  kommenden  gymnastischen 
Übungen. 


Behandlung  frischer  subkutaner  Verletzungen. 

Ich  glaube  die  Behandlung  frischer  Verletzungen  mit  aktiver 
Hyperämie  —  sie  kommt  hier  hauptsächlich  in  Betracht  — 
am  besten  an  der  Hand  einiger  Knochenbrüche  (des  Radius 
und  der  Malleolen)  schildern  zu  können. 

Der  frische  Radiusbruch  wird  zunächst,  wenn  es  nötig  ist  in 


_J.;]f^  Spezieller  Teil. 

Narkose  oder  unter  Schleich'sclier  Infiltrations-Anästhesiei), 
rücksichtslos  reponiert.  Zeigt  das  gleich  darauf  aufgenommene 
Röntgenbild,  dass  die  Enden  noch  nicht  gut  aneinanderstehen, 
so  wird  die  Reposition  so  lange  fortgesetzt,  bis  die  richtige  Stellung 
erreicht  ist.  Nach  dem  Vorgange  von  F.  Petersen  wird  der  Radius- 
bruch nicht  geschient,  sondern  einfach  in  eine  Mitella  gelagert. 
Die  gut  reponierten  Knochenenden  pflegen  sich  so  zu  verzahnen, 
dass  ein  fester  Verband  in  der  Regel  unnötig  ist.  Schon  am  ersten 
Tage  wird  Hand  und  Vorderarm  für  eine  Stunde  in  einen  Heiss- 
luftkasten  gebracht,  und  dieses  Verfahren  täglich  wiederholt.  Diese 
Behandlung  ist  ausserordentlich  wirksam.  Sie  nimmt  sehr  bald 
die  Schmerzen  und  gestattet  dem  Kranken,  gleich  Bewegungen  im 
Handgelenk  und  in  den  Fingergelenken  ohne  Beschwerden  vorzu- 
nehmen. 

Die  Malleolenfraktur  wird  ebenfalls,  immer  unter  Kontrolle 
des  Röntgenbildes,  rücksichtslos  in  Narkose  oder  unter  Rücken- 
marksanästhesie reponiert,  bis  die  Enden  gut  aneinander  stehen. 
Dann  wird  ein  Gehgipsverband  nach  Krause  angelegt.  Nachdem 
derselbe  10  Tage  gelegen  hat,  wird  er  in  eine  vordere  und  eine 
hintere  Schale  zerschnitten  und  Fuss  und  Unterschenkel  werden 
täglich  der  Heissluftbehandlung  unterworfen.  Nach  10  Tagen  ist 
die  Festigkeit  des  Bruches  schon  so  weit  gediehen,  dass  eine  Ver- 
schiebung der  Knochenenden  nicht  mehr  zu  befürchten  ist.  Im 
Heissluftkasten  werden,  falls  der  Kranke  bei  der  Lagerung  auf  den 
gepolsterten  Halbschalen  unserer  Apparate  noch  Beschwerden  emp- 
findet, was  selten  der  Fall  ist,  alle  Bequemlichkeiten  für  das  ver- 
letzte Glied  angebracht.  Während  der  Behandlung  bewegt  der 
Kranke  aktiv  das  Fussgelenk;  das  schmerzstillende  Verfahren  er- 
laubt ihm  dies.  Nach  jeder  Sitzung  werden  die  Halbschalen  aus 
Gips  wieder  angelegt  und  mit  einer  Binde  festgewickelt. 

In  gleicher  Weise  werden  Verletzungen  der  Weichteile,  die  zu 
grösseren  Blutergüssen  führen,  mit  ausgezeichneten  Erfolgen  im 
Heissluftkasten  behandelt;  vor  allem  nenne  ich  hier  die  frischen 
Distorsionen  der  Gelenke. 

Die  heisse  Luft  wirkt  bei  allen  diesen  Verletzungen  wohl  haupt- 
sächlich durch  Lösung  und  schnelle  Resorption  der  Gewebstrüm- 
mer  und  besonders  der  Blutergüsse,  die,  wie  ich  schon  im  allge- 

1)  Vorausgesetzt,  dass  man  die  unmittelbare  Umgebung  der  Knochen  und 
des  Periosts  gut  infiltriert,  lässfc  sich  der  Radiusbruch  unter  Schleich'scher 
Anästhesie  sehr  wohl  schmerzlos  reponieren. 


Behandlung  frischer  subkutaner  Verletzungen.  489 

meinen  Teil  auseinandersetzte,  bei  Epiphysenbrüchen  und  bei 
Weichteilverletzungen  schädlich  sind.  Meines  Erachtens  ist  die 
aktive  Hyperämie  durch  heisse  Luft  hier  ein  der  Massage  minde- 
stens ebenbürtiges,  wahrscheinlich  sogar  ihr  weit  überlegenes 
Mittel.  Die  erstere  hat  ferner  den  Vorzug,  dass  sie  unendlich  viel 
schonender  und  angenehmer  für  den  Verletzten  und  technisch  viel 
leichter  auszuführen  ist  als  die  letztere.  Ich  empfehle  deshalb  die 
Heissluftbehandlung  angelegentlichst  für  derartige  Leiden. 

Bei  Blutergüssen  in  die  Weichteile  habe  ich  auch  langdauernde 
Stauungshyperämie  in  Verbindung  mit  Massage,  wie  mir  scheint, 
mit  grossem  Vorteile  angewandt.  Das  gestaute  Blut  löst  die  Er- 
güsse, und  die  Massage  bringt  sie  zur  Resorption.  Die  Heissluft- 
behandlung schien  7nir  aber  schon  deshalb  besser,  weil  sie  viel 
einfacher  ist. 

In  neuerer  Zeit  ist  die  Stauungshyperämie  aber  von  Wessel^) 
auch  gegen  alle  möglichen  frischen  subkutanen  Verletzungen  auf 
Grund  einer  ausgedehnten  Erfahrung  sehr  angelegentlich  emp- 
fohlen worden.  Wessel  erwähnt  besonders  das  sehr  schnelle 
Schwinden  des  traumatischen  Schmerzes,  -was  auch  wir  hier,  wie 
bei  anderen  schmerzhaften  Leiden,  bestätigen  können.  Er  sah 
ferner,  dass  allerlei  Blutergüsse,  besonders  auch  solche  in  die  Ge- 
lenke, sehr  schnell  resorbiert  werden,  dass  keine  Versteifung  und 
keine  Muskel-  und  Knochenatrophien  eintreten,  wenn  er  Stauungs- 
hyperämie anwandte.  Er  glaubt  deshalb,  dass  das  Verfahren  das 
beste  Mittel  gegen  Verletzungen  ist,  einschliesslich  der  frischen 
Frakturen,  von  denen  er  eine  grössere  Anzahl  mit  vortrefflichem 
Erfolge  behandelte. 

Wessel  empfiehlt  bei  grossen  Blutergüssen  nicht  sofort  nach 
der  Verletzung  die  Stauungshyperämie  einzuleiten,  um  nicht  die 
Blutung  zu  vermehren,  sondern  vorher  einige  Tage  Kompression 
anzuwenden. 

Schon  vor  Wessel  hatten  Momburg  und  Deutschländer 
Stauungshyperämie     bei     frischen     Knochenbrüchen     angewandt. 

Momburg 2)     behandelte    damit     eine     grosse    Anzahl     von 


1)  Wessel,  Om  den  Bier'ske  Stasehyperaemibehandling  og  dens  Anvendelse 
saerlig  ved  traumatiske   Lidelser.     Hospitalstidende   1906. 

2)  Momburg,  Über  Stauungshyperämie  bei  der  Behandlung  der  Fuss- 
geschwulst.  Freie  Vereinigung  der  Chirurgen  Berlins,  144.  Sitzung  vom  9.  Juni  1905. 
Centralblatt  für  Chirurgie.  1905.  Nr.  6,  S.  152  und  Deutsche  militärärzthche 
Zeitschrift.    1904,  Heft   1. 


440  Spezieller  Teil. 

Frakturen  und  von  Periostitis  der  Metatarsen  (sog.  Fussgeschwulst 
der  Soldaten).  Er  kürzte  die  Behandlungsdauer  mit  diesem  Mittel 
ganz  erheblich  ab.  Rezidive,  die  bei  der  alten  Behandlung  sehr 
häufig  waren,   kamen  höchst  selten  vor. 

Deutschländer ^)  berichtet  über  eine  Anzahl  frischer  Frak- 
turen, die  zum  Teil  zu  orthopädischen  Zwecken  operativ  hergestellt 
waren,  die  er  mit  Stauungshyperämie  behandelte.  Auch  er  fand, 
dass  dies  Mittel  die  Heilung  des  Knochenbruches  wesentlich  ab- 
kürzt, die  Schmerzhaftigkeit  herabsetzt,  die  Callusbildung  be- 
schleunigt und   Gelenkversteifungen  verhindert. 

Diese  günstigen  Beobachtungen  machen  weitere  Versuche 
mit  Stauungshyperämie  bei  frischen  Verletzungen  wünschenswert. 
Ich  selbst  habe  über  die  Leistungsfähigkeit  dieses  Mittels  bei 
frischen  Frakturen  keine,  bei  anderen  frischen  Verletzungen  da- 
gegen reichliche  Erfahrung.  Ich  konnte  mich  bei  letzteren  nicht 
überzeugen,  dass  die  Stauungshyperämie  der  einfacher  anzuwen- 
denden heissen  Luft  überlegen  sei. 


Hyperämie  als  resorbierendes  Mittel. 

Es  ist  in  den  meisten  Fällen  schwer  zu  sagen,  welche  Eigen- 
schaft der  Hyperämie  die  Heilung  oder  Besserung  hervorruft. 
Meist  dürfte  sie  durch  verschiedene  ihr  im  allgemeinen  Teil 
zugeschriebene  Einflüsse  wirken.  Bei  den  folgenden  Krankheiten 
spielt  indessen  wohl  die  Steigerung  der  Resorption  die  Hauptrolle. 
Nach  den  Ausführungen  im  allgemeinen  Teil  ist  es  klar,  dass  für 
diesen  Zweck  der  Resorption  hauptsächlich  die  aktive  Hyperämie 
in  Betracht  kommt. 

Behandlung  der  Ödeme. 

Neben  den  Gelenkversteifungen  waren  Ödeme  des  verschieden- 
sten Ursprungs  die  Krankheitserscheinungen,  bei  denen  ich  zuerst 
heisse  Luft  mit  Erfolg  angewandt  habe.     Ich  machte  zuerst  die 


1)  Deutscliländer,  Über  die  Anwendung  der  Stauungshyperämie  bei 
orthopädischen  Operationen.  Zeitschrift  für  ärztliche  Fortbildung.  1906.  Nr.  9  mid 
Die  Behandlung  der  Knochenbrüche  mit  Stauungshyperämie.  Zentralblatt  für 
Chirurgie.   1906.     Nr.   12. 


Hyperämie  als  resorbierendes  Mittel.  .\  |  | 

Beobachtung,  dass  die  durch  die  Stauungshyperämie  künstlich  her- 
vorgerufene ödematöse  Schwellung  unter  gleichzeitiger  Heissluft- 
behandlung  schnell  verschwand.  Vor  allem  aber  benutzte  ich  die 
letztere  zur  Beseitigung  der  nach  frischgeheilten  Frakturen  ganz 
regelmässig  auftretenden  Ödeme.  Das  Mittel  ist  hier,  wie  ich  aus 
reichlicher  Erfahrung  versichern  kann,  ganz  hervorragend  wirksam, 
viel  wirksamer  als  Massage,  Kaltwasserbehandlung,  Einwicklungen 
und  orthopädische  Mittel.  Es  beseitigt  ferner  ganz  vortrefflich 
die  nach  Frakturen  zurückbleibenden  subjektiven  Beschwerden,  die 
Schmerzhaftigkeit  und  Steifigkeit  der  Gelenke,  die  Schwere  und 
Müdigkeit  der  Glieder.  Ich  kann  deshalb  die  Heissluftbehandlung 
für  diese  Leiden  aufs  angelegentlichste  empfehlen.  Die  Technik 
bietet  keinerlei  Besonderheiten. 

Behandlung  von  Gelenkergüssen. 

Die  Heissluftbehandlung  hat  sich  gut  bewährt  zur  Resorption 
von  Gelenkergüssen.  Klappt)  und  Schaffer^)  haben  über  die  in 
der  Greif swalder  Klinik  damit  gemachten  Erfahrungen,  die  damals 
60  Fälle  betrafen,  berichtet.  Seitdem  sind  von  uns  eine  ganze 
Reihe  von  Gelenkergüssen  auf  dieselbe  Weise  behandelt  und  zwar 
mit  sehr  befriedigenden  Erfolgen.  Wiedmann^)  berichtet  über 
eine  grössere  Anzahl  (30)  Fälle,  die  Martin  in  Cöln  behandelte. 
Hier  ergab  die  Heissluftbehandlung  in  80%  volle  Heilung.  Aller- 
dings gelingt  es  durchaus  nicht  immer,  den  Gelenkerguss  zum  Ver- 
schwinden zu  bringen  oder  seine  Wiederkehr  zu  verhüten.  Ich 
halte  aber  dieses  Mittel  für  eins  der  besten,  das  wir  besitzen.  Sein 
grosser  Vorteil  besteht  darin,  dass  das  kranke  Gelenk  nicht  fest- 
gestellt und  dem  Patienten  erlaubt  wird,  Bewegungen  mit  demselben 
auszuführen.  Ja  wir  haben  sogar  mehrere  Fälle  von  chronischem 
Kniegelenkshydrops  mit  Erfolg  ambulant  behandelt.  Das  Vermeiden 
der  Feststellung  der  Gelenke  scheint  mir  insofern  einen  grossen 
Vorteil  zu  bieten,  als  man  häufig  sieht,  dass  Ergüsse,  die  bei  fest- 
gestellten Gelenken  verschwunden  waren,  sofort  wieder  auftreten, 
wenn  man  den  Kranken  Bewegungen  machen  oder  aufstehen  lässt. 


1)  Klapp,  Die  Behandliing  von  Gelenkergüssen  mit  heisser  Luft.     Münch. 
med.  Wochenschr.  1900. 

2)  Schaffer,  derselbe  Titel.    Inaug.-Diss.    Greifswald  1902. 

3)  Wiedmann,    Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Behandhuig  des  trauma- 
tischen Kniegelenksergusses.    Inaug.-Diss.    Bonn  1904. 


U2 


Spezieller  Teil. 


Ebenso  wie  wässerige  kann  man  blutige  Gelenkergüsse  mit 
gutem  Erfolge  mit  heisser  Luft  behandeln.  Wir  sehen  auch  hier, 
wie  in  den  meisten  Fällen,  in  denen  die  hyperämisierende  Be- 
handlung wirksam  ist,  dass  das  schnelle  Schwinden  der  Schmerzen 
und  Beschwerden  immer  das  hervorragendste  und  beste  Zeichen  ist. 

Für  die  Gelenkergüsse,  die  durch  akute  Infektionen  hervorge- 
bracht werden,  eignet  sich  dagegen  wieder  viel  besser  die  Stauungs- 
hyperämie.  Man  sieht  darunter  oft  die  prallsten  Ergüsse  in  wenigen 
Tagen  verschwinden. 


Behandlung  der  Elephantiasis. 

Ich  habe  die  Heissluftbehandlung  bei  der  Elephantiasis  mit 
sehr  wechselnden  Erfolgen  angewandt.  In  der  ersten  Auflage  be- 
richtete ich  über  folgenden  sehr  günstig  verlaufenden  Fall. 

86.  Eine  28jährige  Frau  bemerkte  vor  18  Jahren,  dass  am  äusseren 
Knöchel  des  linken  Fusses  eine  Schwellung  auftrat,  die  sich  allmählich 
vergrösserte  und  verbreiterte  und  besonders  nach  mehreren  Geburten  schnell 
zunalim.  Am  3.  Juli  1900  wurde  sie  mit  einer  ungeheuren  Elej)hantiasis 
des  ganzen  linken  Beines  und  beginnender  Elephantiasis  des  rechten  Unter- 
schenkels aufgenommen.  Das  linke  Bein  wairde  vom  4. — 28.  Juli  täglich 
1  Stunde  lang  im  Heissluf tkasten,  der  das  ganze  Glied  einschloss,  behandelt. 
Wie  stark  das  Bein  gewesen  ist  und  welchen  Erfolg  die  Heissluftbehandlung 
hatte,  geht  aus  folgenden  Messungen  hervor: 

Der  Umfang  des  Gliedes  betrug 

am  3.  Juli 
67,5  cm 


Unterhalb  der  Leistenbeuge 
Mitte  des  Oberschenkels  .  . 
Oberhalb  der  Kniescheibe  . 
Unterhalb  der  Kniescheibe 

Mitte  der  Wade 

Knöchel 

Lisfranc'sches  Gelenk     .    . 


67,0 
67,5 
53,0 
49,5 
34,0 
28,5 


am  28.  Juli 

Abnahme 

56,0  cm 

11,5  cm 

60,0     „ 

7,0    „ 

51,0    „ 

16,5    „ 

42,0    „ 

11,0    „ 

42,0    „ 

7,5    „ 

29,5    „ 

4,5     „ 

25,5    „ 

3,0     „ 

Während  der  Behandlung  verlor  die  Frau  9^  Pfund  an  Gewicht. 
Das  Bein  war  gegen  früher  kaum  wieder  zu  erkennen.  Die  Kranke  be- 
kam einen  Heissluftapparat  mit  nach  Hause.  Ob  und  mit  welchem  Er- 
folge sie  ihn  verwandt  hat,  ist  unbekannt. 

Ich  will  indessen  nicht  verschweigen,  dass  seitdem  zwei  weitere 
Fälle  von  Elephantiasis  behandelt,  aber  durch  die  Heissluftbe- 
handlung nur  vorübergehend  gebessert  wurden.  Solange  die  Kran- 
ken lagen  oder  sich  nur  wenig  bewegten,  war  ihr  Erfolg  ganz  un- 
verkennbar, sobald  sie  aber  ihren  kranken  Gliedern  grössere  An- 


Beliaiidlung  der  Keloido.  44/) 

strengungen  zumuteten,  trat  die  Schwellung  wieder  in  alter  Weise 
auf.  Ich  verfüge  nicht  über  Erfahrung  genug,  um  ein  endgültiges 
Urteil  über  den  Wert  des  Mittels  bei  der  Elephantiasis  abgeben 
zu  können. 


Auch  sonst  habe  ich  die  aktive  Hyperämie  bei  den  verschieden- 
sten Krankheiten  in  Anwendung  gezogen,  wo  eine  Resorption  von 
Ödemen  und  Exsudaten  erwünscht  erschien.  Vor  allem  benutze 
ich  sie  auch,  um  die  Ödeme  und  Infiltrationen  der  Haut  bei  Varicen 
und  Beingeschwüren  zu  beseitigen.  Davon  soll  in  einem  der 
nächsten  Kapitel  die  Rede  sein. 


Behandlung  der  Keloide. 

Auf  Anregung  des  Herrn  Kollegen  Thomas  in  Cöln,  der  mir 
mitteilte,  dass  er  bei  Keloiden  sehr  gute  Erfahrung  mit  der  Stau- 
ungshypeTämie  gemacht  habe,  wandten  wir  auch  mehrfach  dies 
Mittel  bei  Keloiden  mit  ausgezeichnetem  Erfolge  an.  Da  bei  unseren 
Fällen  die  kranken  Stellen  am  Halse  und  am  Rumpfe  sassen,  so 
wurden  Saugapparate  angewandt.  Folgender  Fall  möge  als  Bei- 
spiel dienen. 

87.  Eine  44jährige  Fravi  kam  im  Juni  1906  in  die  chirurgische  Klinik 
mit  der  Angabe,  sie  habe  sich  am  24.  VI.  1905,  also  vor  einem  Jahre,  bei  der 
Explosion  einer  Spiritusmaschine  ausgedehnte  Brandwunden  an  Gesicht, 
Hals,    Brust  und   Armen  zugezogen. 

Es  fanden  sich  an  der  rechten  Halsseite  ein  14  cm  langes,  brandrotes 
Keloid  mit  starker  Wulstung,  weitere  4 — 5  cm  breite  bis  zu  13  cm  lange, 
bandartige  und  ebenfalls  stark  gewulstete  und  hochgerötete  Keloide  auf 
der  Aussenseite  der  rechten  Mamma,  multiple  kleinere  Keloide  mit  dem- 
selben Charakter  auf  der  Brust-  und  Rückenseite.  Das  grösste  Keloid 
fand  sich  auf  der  Innenseite  des  rechten  Oberarms  mit  den  Durchmessen;! 
14  :  11  cm.  Alle  Keloide  waren  sehr  schmerzhaft,  die  Frau  fand  Tag  und 
Nacht  vor  Jucken,  Brennen  und  Schmerzen  keine  Ruhe  und  war  deshalb 
in   ihrem   Allgemeinzustand   stark   hei'untergekommen. 

Alle  Keloide  wurden  nun  in  Saugbehandlung  genommen.  Es  war 
oft  nicht  leicht,  für  die  multiplen  Keloide  entsprechende  Gläser  zu  finden. 
Wenn  die  Gläser  sassen,   sah  die  Frau  wie  mit  Gläsern  gespickt  aus. 

Schon  nach  den  ersten  Sitzungen  Hessen  die  Schmerzen  nach,  das 
Jucken  xmd  Brennen  hörte  auf  und  sie  fand  wieder  Ruhe.  Allmählich 
blassten  die  Keloide  ab  und  verloren  an  Wulstung. 


444  Spezieller  Teil. 

Am  15.  I.  1907,  also  ein  halbes  Jahr  nach  Beginn  der  Behandhing  boten 
die  sämtlichen  Keloide  ein  gänzlich  anderes  Bild.  Sie  waren  blass,  weich 
und   abgeflacht.      Die   Frau    ist   dauernd   gänzlich   frei   von   Beschwerden. 

Einen  ganz  ähnlichen  Fall  von  Keloid  behandelte  Wessel^). 
Aus  einer  Schnittwunde  am  Finger  entwickelte  sich  ein  bohnen- 
grosses  Keloid.  Dies  war  rotbraun  verfärbt  und  so  schmerzhaft, 
dass  die  Kranke  nachts  nicht  schlafen  konnte.  Wessel  behandelte 
das  Keloid  mit  einer  Stauungsbinde.  Schon  nach  2  Tagen  waren 
die  Schmerzen,  nach  22  Tagen  das  ganze  Keloid  verschwunden. 

Hierher  gehört  auch  wohl  die  Beobachtung  Heidenhain's^), 
der  aus  Wunden,  die  unter  Stauungshyperämie  geheilt  waren, 
sehr  weiche  Narben  entstehen  sah. 

Bei  der  grossen  Hartnäckigkeit  der  Keloide  sind  weitere  Ver- 
suche mit  Stauungshyperämie  sehr  wünschenswert. 


Behandlung  der  Tendovaginitis   crepitans. 

Ich  will  in  dieser  Auflage  der  Tendovaginitis  crepitans  ein 
besonderes  Kapitel  widmen,  weil  wir  in  nunmehr  64  Fällen  mit 
hyperämisierender  Behandlung  Erfolge  gehabt  haben,  die  unsere 
früheren  besonders,  was  die  Schnelligkeit  der  Heilung  anlangte, 
bedeutend  übertrafen.  Wir  haben  beide  Formen  der  Hyperämie 
mit  Nutzen  angewandt,  aktive  und  passive,  glauben  aber  mit  der 
letzteren  bessere  und  schnellere  Erfolge  erzielt  zu  haben.  Das 
Knarren  und  die  Schmerzen  verschwinden  nach  wenigen  Tagen, 
um  nicht  wiederzukehren. 

Die  Technik  bietet  nichts  Besonderes.  Man  kann  ruhig,  nach- 
dem man  das  richtige  Liegen  der  Stauungsbinde  festgestellt  hat, 
den  Kranken  ambulant  behandeln,  da  Gefahren  wie  bei  akuten 
zur  Eiterung  führenden  Entzündungen  hier  nicht  bestehen.  Die 
gute  Wirkung  hyperämisierender  Behandlung  der  Tendovaginitis 
crepitans  ist  auch  von  anderer  Seite  hervorgehoben  worden. 


1)  Wessel,   Om  den  Bier'ske   Stasehyperaemibehandling  og  dens  Anven- 
delse   saerlig   trauinatiske    Lidelser.      Hospitalstidende.    1906. 

2)  Heidenhain,   Verhandlungen  des   35.   Kongresses  der  Deutschen  Ges. 
für  Chirvu-gie  I.     S.   237. 


Behandlung  von  Hautkrankheiten.  —  Behandlung  von  Neuralgien  usw.        445 

Behandlung  von  Hautkrankheiten. 

Der  Hautkrankheiten  gedenke  ich  kurz,  um  zu  weiteren  Ver- 
suchen auf  diesem  Gebiete  anzuregen.  Ich  habe  eine  Reihe  von 
Hautkrankheiten  mit  sehr  gutem  Erfolge  mit  hyperämisierenden 
Mitteln  behandelt,  unter  anderen  solche,  an  denen  schon  hervor- 
ragende Spezialisten  sich  vergeblich  abgemüht  hatten,  zum  Bei- 
spiel: zahlreiche  akute  und  chronische  Ekzeme.  Für  die  ersteren 
hat  sich  die  passive,  für  die  letzteren  die  aktive  und  passive  Hyper- 
ämie bewährt. 

Eine  äusserst  hartnäckige  Akne  des  Gesichtes,  die  eine  junge 
Dame  sehr  entstellte,  verschwand  nach  erfolglosen  Versuchen  mit 
Saugapparaten,   nach  konsequnet   angewandter  Kopf  Stauung. 

Eine  exotische  Nagelkrankheit,  die  nach  sachkundiger  An- 
sicht auf  mykotischer  Grundlage  beruhen  sollte  und  lange  ver- 
geblich behandelt  war,  besserte  sich  schnell  unter  Heissluft- 
behandlung. 

Ritter  sah  Psoriasisf lecke  unter  Heissluftbehandlung  ver- 
schwinden. 

Colleyi)  beobachtete,  dass  Ekzeme  sehr  gut  unter  Stauungs- 
hyperämie heilten,  und  glaubt,  dass  das  Mittel  auf  diesem  Ge- 
biete schöne  Erfolge  zeitigen  werde. 

Von  spezialistischer  Seite  hat  sich  bisher  meines  Wissens 
niemand  über  dies  Gebiet  geäussert. 


Behandlung  von  Neuralgien  und  sonstigen  Schmerzen 
durch  Hyperämie. 

Ich  habe  an  den  verschiedensten  Stellen  dieses  Buches  aus- 
führlich auseinandergesetzt,  dass  von  allen  Wirkungen,  welche  die 
Hyperämie  ausübt,  die  schmerzstillende  wohl  die  sinnfälligste  ist. 
So  hat  sie  sich  denn  auch  bei  verschiedenen  schmerzhaften  Er- 
krankungen ohne  nachweisbare  anatomische  Veränderungen, 
besonders  bei  Neuralgien,  wirksam  erwiesen.  Bei  den  letz- 
teren ist  die  aktive  Hyperämie  offenbar  ein  weitaus  besseres 
Mittel  als  die  passive.     Ich  habe  jene,  ebenso  wie  viele  andere 


1)  Colley,  Beobachtungen  und  Betrachtungen  über  die  Behandlung  akut- 
eitriger  Prozesse  mit  Bier'scher  Stauungshyperämie.  Münchner  med.  W.  190G.  Nr.6. 


_J.J.ß  Spezieller  Teil. 

Ärzte,  mit  Erfolg  gebraucht  gegen  zahlreiche  Fälle  von  Lumbago, 
Ischias  und  Trigeminusneuralgie.  Lumbago  und  Ischias  behandele 
ich  in  der  Regel  in  dem  in  Figur  4  dargestellten  Becken- 
heissluftkasten,  wobei  der  Kranke  auf  dem  Bauche  liegt  und  ihm 
der  Apparat  übergestülpt  wird,  oder  für  unbeholfene  Kranke  den 
auf  S.  37  beschriebenen,  von  C.  Eschbaum  hergestellten  stuhl - 
förmigen  Apparat.  Dass  man  bei  Lumbago  auf  Becken-  und 
Lendengegend  einwirken  muss,  ist  selbstverständlich,  aber  auch  bei 
Fällen  von  Ichias  hat  sich  der  beschriebene  Beckenkasten  im  all- 
gemeinen weit  wirksamer  erwiesen  als  Apparate,  welche  das  ganze 
Bein  bis  an  die  Hüfte  einschliessen. 

Trigeminusneuralgie  haben  wir  auf  sehr  einfache  Weise  be- 
handelt. Wir  liessen  die  heisse  Luft  aus  unserem,  auf  Seite  48 
beschriebenen  und  abgebildeten  Apparate  gegen  die  kranke  Ge- 
sichtshälfte strömen.  Wer  eine  elektrische  Heissluftdusche  nach 
Frey  oder  Hahn  zur  Verfügung  hat,  wird  diese  lieber  anwenden, 
weil  der  Kranke  nicht  durch  die  Verbrennungsprodukte  des  Spiritus 
und  des  Gases  belästigt  wird. 

Übrigens  lasse  ich  in  der  letzten  Zeit  die  Neuralgien  des 
Trigeminus  und  Ischiadicus  hauptsächlich  mit  der  von  Frey 
empfohlenen  Heissluftmassage  behandeln. 

Es  ist  mir  gelungen,  noch  eine  ganze  Reihe  von  Trigeminus- 
neuralgien,  bei  denen  alle  möglichen  anderen  Mittel  erschöpft,  und 
die  deshalb  der  Klinik  zur  Operation  überwiesen  waren,  allein  mit 
heisser  Luft  oder  der  noch  wirksameren  Heissluftmassage  ohne 
jeden  operativen  Eingriff  zur  Heilung  zu  bringen.  Will  man  durch 
Hitze  allein  einen  günstigen  Erfolg  erzielen,  so  muss  man  häufig 
sie  sehr  energisch  einwirken  lassen,  unter  Umständen  bis  zu  einer 
Verbrennung  1.  Grades. 

Gegen  Trigeminusneuralgie  habe  ich  auch  die  Stauungshjrper- 
ämie  angewandt,  die,  wie  ich  schon  beschrieben  habe,  durch  ein 
am  Halse  angebrachtes  Gummiband  hervorgerufen  wurde,  aber 
keinen  Erfolg  damit  erzielt.  In  2  Fällen,  wo  die  passive  Hyper- 
ämie versagte,  führte  die  aktive  noch  zum  Ziele. 

Dagegen  haben  wir  die  Stauungshyperämie  mit  gutem  Erfolge 
gebraucht  bei  allerlei  Arten  von  Kopfschmerzen,  besonders  bei 
anämischen.  Sie  wirkt  aber  auch  günstig  bei  Kopfschmerzen  aus 
sonstigen  Ursachen,  auch  wenn  sie  durch  eitrige  oder  tuberkulöse 
Meningitis  verursacht  wurden. 

Mich    wundert,    dass    diese    Wirkung    der    Hyperämie    nicht 


Hyperämisierende  Behandl.  v.  Krankheiten  des  Zentralnervensystems  usw.      44-7 

schon  mehr  ausgenutzt  ist.  Nur  Neu^)  hat  vor  kurzem  darüber 
berichtet.  Er  sagt:  „Bei  Kopfschmerzen,  nervösen  wie  anämischen, 
Hess  mich  die  Stauungshyperämie  eigentHch  niemals  im  Stich." 
Ich  muss  Neu  darin  beipf hebten,  dass  man  das  Stauungsband 
bei  Kopfschmerzen  nicht  allzu  fest  anziehen  soll. 


Hyperämisierende  Behandlung  von  Krankheiten  des 
Zentrahiervensystems  insbesondere  des  Gehirns.^) 

Dieses  Kapitel  hat  wesentlich  den  Zweck,  Psychiater  und  Neu- 
rologen anzuregen,  Versuche  mit  der  hyperämisierenden  Behand- 
lung von  Krankheiten  des  Zentralnervensystems  anzustellen.  Ich 
glaube  wohl,  dass  man  auf  diesem  Gebiete,  das  wissenschaftlich 
ebenso  interessant,  wie  arm  an  wirklichen  Heilmitteln  ist,  vielleicht 
durch  künstliche  Hyperämie  recht  gute  Resultate  erzielen  könnte. 
Ich  habe  den  Anfang  schon  vor  einer  Reihe  von  Jahren  gemacht 
und  verweise  auf  meine  damals  veröffentlichte  Arbeit 2). 

Es  fragt  sich,  welche  Form  der  Hyperämie  man  bei  Gehirn- 
leiden anwenden  soll.  Ich  glaube,  dass  bei  dem  heutigen  Stande 
der  Technik  am  wirksamsten  die  um  den  Hals  gelegte  Gummibinde 
sein  wird.  Ob  Schmieden's  oben  beschriebener  grosser  Saug- 
apparat hier  brauchbar  ist,  muß  die  Erfahrung  zeigen.  Vielleicht 
sind  auch  einfache  Saugglocken  zu  verwerten,  die  man  auf  das 
Schädeldach  setzt.  Den  Einwand,  dass  Saugapparate  nicht  durch 
den  knöchernen  Schädel  hindurch  auf  das  Gehirn  wirken  könnten, 
lasse  ich  nicht  gelten.  Ich  wiederhole  hier,  was  ich  schon  öfter 
betont  habe,  dass  diese  Saugwirkung  offenbar  bis  in  grosse  Tiefen 
hyperämisierend  wirkt.  Immerhin  ist  das  noch  reine  Versuchs - 
Sache. 


1)  Neu,  Über  die  Anwendung  künstlich  erzeugter  Hyperämie  des  Gehirns 
bei  Geisteslirankheiten.     Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschr.    1906.     Nr.   15. 

2)  Unter  den  folgenden  Krankheiten  sind  vielleicht  auch  Infektionskrank- 
heiten mitbegrif f en ;  von  der  Chorea  z.  B.  wissen  wir  nicht,  ob  sie  nicht  eine  In- 
fektionskrankheit darstellt. 

3)  Bier,  Über  den  Einfluss  künstlich  erzeugter  Hyperämie  des  Gehirns 
und  künstlich  erzeugten  Hirndrucks  auf  Epilepsie,  Chorea  vmd  gewisse  Formen 
von  Kopfschmerzen.  Mitteilungen  aus  den  Grenzgebieten.  7.  Band.  II.  u. 
III.  Heft.     1900. 


448  Spezieller  Teil. 

Über  aktive  Hjrperämie  des  Gehirns  durch  Hitze  und  vor  allem 
durch  heisse  Luft  habe  ich  keine  Erfahrung.  Auch  das  ist  noch 
reine  Versuchssache. 

Ich  habe  bisher  in  erster  Linie  günstige  Erfolge  von  der  Hals- 
stauung bei  der  Chorea  minor  gesehen.  Ich  behandelte  im  ganzen 
5  Fälle.  Bei  einigen  war  der  Erfolg  unverkennbar.  Folgende 
sind  meine  beiden  am  günstigsten  verlaufenen  Fälle: 

88.  Ein  Tjäliriger  Bauernsohn  wvirde  am  18.  April  1899  wegen  einer 
Einpyemfistel  in  die  chirurgische  Klinik  zu  Greifswald  aufgenommen.  Es 
war  ein  blasser,  abgemagerter  Knabe,  der  infolge  einer  Lungenentzündung 
ein  Empyem  davongetragen  hatte,  das  auswärts  mit  Resektion  einer  Rip2:)e 
behandelt  war.  Da  die  Fistel  sich  nicht  schliessen  wollte  vmd  dauernd 
eine  etwa  faustgrosse  Höhle  bestand,  wurden  am  3.  Mai  die  3  die  Höhle 
deckenden  Rippenabsclinitte  entfernt.  Operation  und  Wundheilung  verliefen 
normal. 

Am  16.  Mai  wurde  der  Knabe  unruhig  und  appetitlos,  am  29.  Mai 
zeigten  sich  die  Erscheinungen  der  Chorea  minor.  Der  Kranke  machte 
unkoordinierte  Bewegungen  mit  Händen  und  Füssen  und  schnitt  Grimassen. 
Der  Schlaf  blieb  gut.  In  den  nächsten  Tagen  entwickelte  sich  eine  sehr 
schwere  Chorea.  Der  Befund  am  7.  Juni  lautet:  Der  Knabe  zeigt  die 
äusserste  Unruhe.  Neben  den  gewöhnlichen  choreatischen  Bewegungen 
wirft  er  den  ganzen  Oberkörper  hin  und  her,  schleudert  die  Beine 
umher  und  ist  gänzlich  unfähig  ein  Glied  zu  gebrauchen,  so  dass  er  ge- 
füttert werden  muss.  Auch  die  Augenmuskeln  sind  von  Krankheit  er- 
griffen. Des  Nachts  schläft  der  Knabe  kaum  und  schreit  häufig  auf.  Er 
muss  Tag  und  Nacht  bewacht  werden. 

Für  den  Ausbruch  der  Krankheit  Hess  sich  keine  Ursache  finden, 
insonderheit  bestand  weder  ein  Gelenkrheumatismus  noch  ein  Herzfehler. 
Vom  10.  bis  15.  Juni  schlief  der  Knabe  überhaupt  nicht  mehr.  Nur  mit 
der  grössten  Mülie  Hessen  sich  ihm  geringe  Speisen  einlöffeln.  Er  war 
gänzlich  unfähig  zu  sprechen  und  machte  auf  Fragen  erfolglose  Versiiche 
zu  antworten.  Es  blieb  bei  einem  unverständlichen  Lallen.  Der  Knabe 
war  infolgedessen  aufs  äusserste  verfallen. 

Bei  diesem  Zustande  wiuxle  dem  Knaben  am  15.  Juni  eine  Stauungs- 
binde tun  den  Hals  gelegt,  welche  er  naorgens  und  nachmittags  je  2  Stunden 
trug.  Sie  wiu"de  sehr  gut  vertragen  und  brachte  eine  starke  venöse  Hyper- 
ämie hervor.  Danach  nahm  die  Unrulie  sichtlich  ab,  und  der  Knabe  schlief 
am  Tage  2  Stunden.  Des  Nachts  stellte  sich  dagegen  die  alte  Unruhe 
wieder  ein,  und  der  Knabe  schlief  nicht. 

Seit  dem  16.  Juni  wurde  die  Stauungsbinde  dauernd  getragen.  Der 
Kranke  schlief  danach  im  Laufe  des  Tages  imd  der  Nacht  mit  grossen 
Unterbrechungen  5%  Stunden,  die  Bewegungen  wurden  ruhiger,  doch  war 
die  Sprache  noch  gänzlich  unverständlich. 

Das  Leiden  besserte  sich  alsdann  sehr  schnell.  Schlaf,  Appetit  und 
Sprache  kehrten  wieder.  Am  21.  Juni  lag  der  Knabe,  wenn  er  sich  un- 
beobachtet glaubte,  fast  gänzlich  ruhig,  antwortete  verständlich  auf  Fragen 
und  konnte  seine  Hände  wieder  gebrauchen. 


Hyperämisierende  Behandl.  v.  Krankheiten  des  Zentralnervensystems  usw.      449 

Seit  dem  23.  Juni  traten  choreatische  Bewegungen,  wenn  der  Knabe 
ruhig  lag,  überhaupt  nicht  mehr  auf.  Der  Knabe  konnte  feste  Speisen 
selbständig  geniessen,  nur  Flüssigkeiten  vergoss  er  noch  etwas,  wenn  er 
sie  zum  Munde  führen  wollte.  In  der  Folgezeit  trat  noch  Muskelunruhe 
avif  beim  Versuche,  Gegenstände  zu  fassen,  und  bei  seelischen  Erregungen 
(z.  B.  Verbandwechsel).  Seit  dem  12.  Juli  war  die  Krankheit  vollständig 
erloschen. 

Der  interne  Kollege,  den  ich  damals  zu  diesem  Falle  konsultierte, 
erklärte  ihn  für  sehr  schwer  und  hielt  sogar  die  Prognose  qvioad  vitam 
für  bedenklich. 

89.  Ein  12jähriger  Knabe  machte  anfangs  November  eine  schwere 
Endokarditis  durch.  Ende  November  stellten  sich  leichte  choreatische  Be- 
wegungen im  Gesicht  und  im  rechten  Bein  ein,   die  dauernd  zunahmen. 

Am  14.  I.  1906  kam  der  Knabe,  nachdem  er  innerliche  Kuren  ohne  Er- 
folg versucht  hatte,  in  meine  Behandlung  im  hiesigen  Johannishospitale. 
Der  Kranke  hatte  eine  avisgesprochene,  wesentlich  auf  die  rechte  Seite 
bescliränkte  Chorea.  Beim  Gehen  schleuderte  und  drehte  er  das  rechte 
Bein  vmter  starker  Streckung  nach  auswärts  und  machte  dabei  lebhafte 
schleudernde  Bewegungen  mit  dem  rechten  Arm  und  der  rechten  Hand.  Mit 
der  rechten  Gesichtshälfte  schnitt  er  Grimassen.  Ähnlich  verhielt  er  sich 
beim  Liegen  im  Bett.  Nur  war  hier,  wenn  plötzlich  der  Arzt  ins  Zimmer 
trat,  die  Unrulie  noch  grösser  und  allgemeiner.  Der  Knabe  schnellte  mit 
dem  ganzen  Körper  in  die  Höhe,  und  beim  Niederlegen  drehte  er  sich  un- 
geschickt auf  die  Seite.  Er  sprach  übereilt,  etwas  abgebrochen,  aber  deut- 
lich.    Er  bietet  nebenbei  alle  Zeichen  der  Mitralinsufficienz. 

Der  Knabe  konnte  nicht  gut  einschlafen.     Der  Schlaf  war  unruhig 
und  tinterbrochen. 

Am  14.  I.  wurde  eine  Stauungsbinde  am  Halse  angelegt  und  22  Stvmden 
getragen.      Sie  brachte  eine  beträchtliche  Hyperämie  des  Kopfes  hervor. 

Der  Kranke  schlief  sofort  viel  besser.  Die  Zuckungen  hatten  aixi 
andern  Tage  an  Häiifigkeit  und  Stärke  bedeutend  nachgelassen.  Die 
22  stündige  Stauung  wurde  fortgesetzt.  Schon  am  18.  I.  waren  die  chorea- 
tischen  Bewegungen  gänzlich  verschwunden.  Am  19.  I.  stand  der  Knabe 
auf.  Von  der  Krankheit  war  keine  Spxu*  mehr  vorhanden.  Der  Sicher- 
heit halber  wurde  die  Stauungshyperämie  noch  fortgesetzt.  Vom  19.  I.  bis 
26.  I.  noch  während  der  Nacht,  von  da  ab  bis  zxwa  2.  II.  noch  eine  Stunde 
täglich  angewandt.  Die  hartnäckige  Chorea,  die  bisher  stets  an  Stärke 
zugenommen  hatte,  heilte  also  unter  Staxumgshyperämie  in  3  bis  4  Tagen 
vollkommen  aus. 

Ich  will  aber  nicht  verschweigen,  dass  die  übrigen  3  Fälle  nicht 
so  günstig  verliefen.  Einer  von  ihnen  scheidet  aus,  weil  nur  noch 
Spuren  der  Chorea  beim  Beginn  der  Behandlung  bestanden  und 
ich  den  Verlauf  der  Krankheit  nicht  zu  Ende  beobachten  konnte. 
Von  den  beiden  übrigen  schweren  Fällen  von  Chorea  kam  der  eine 
5  Tage  nach  Ausbruch  der  Krankheit  in  Behandlung.  Er  heilte 
in  30  weiteren  Tagen  unter  der  Behandlung  mit  Stauungsbinde  voll- 

Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel.  29 


450  Spezieller  Teil. 

kommen  aus.  Das  kann  man  immerhin  noch  als  einen  guten  Erfolg 
bezeichnen,  um  so  mehr  als  der  sofortige  beruhigende  Einfluss  des 
Mittels  sehr  überzeugend  war.  Im  letzten  Falle  dagegen  scheint 
die  Stauungshyperämie  zu  versagen.  Es  handelt  sich  um  einen 
Knaben,  den  ich  jetzt  schon  5  Wochen  mit  Stauungshyperämie  be- 
handele, ohne  dass  er  sich  weiter  gebessert  hätte,  als  nach  einfacher 
Bettruhe  auch  zu  erwarten  gewesen  wäre.  Bei  einem  Falle  von  Hun- 
tington'scher  Chorea,  den  ich  seit  längerer  Zeit  behandele,  ist  die 
Wirkung  zweifelhaft.  Die  Eltern  halten  den  Knaben  für  ganz 
wesentlich  gebessert,  seine  Erzieherin  leugnet  jeglichen  Einfluss. 
(Briefliche  Mitteilung.)  Ich  behandelte  noch  folgenden  Fall  von 
symptomatischer  Chorea,  hervorgerufen  durch  Hirntuberkel,  der, 
wie  zu  erwarten  war,  ungünstig  verlief. 

90.  Eine  13jährige  Kutscherstochter  wurde  am  4.  April  1900  wegen 
Tuberkulose  des  linken  Fersenbeines  aufgenommen. 

Am  14.  Mai  fiel  bei  dem  Mädchen  ein  eigentümlich  starrer  Blick, 
Ängstlichkeit  und  Unruhe  bei  dem  Verbandwechsel  auf,  wobei  un- 
willkürlich der  Stuhl  abging.  Die  Nächte  vorher  war  der  Schlaf  schon  un- 
ruhig. In  der  Nacht  vom  14.  zum  15.  Mai  warf  sich  die  Kranke  lebhaft 
hin  und  her  und  schlief  wenig.  Am  15.  Mai  zeigte  sich  eine  deutliche 
auf  die  linke  Ivörperhälfte  beschränkte  Chorea.  Es  wurde  eine  Stauungs- 
binde am  Halse  angelegt.  Danach  gingen  die  Bewegungen  zurück,  der 
Schlaf  wurde  ruhiger.  Seit  dem  18.  Mai  traten  Zuckungen  nur  noch 
beim  Verbandwechsel  auf,  und  der  Schlaf  war  ganz  ruhig.  Es  fiel  avif, 
dass  seit  dem  7.  Mai  sich  Temperatursteigerungen  einstellten. 

Seit  dem  21.  Mai  fingen  die  choreatischen  Bewegungen  wieder  an. 
Die  Temperatur  stieg  höher  und  bewegte  sich  zwischen  38°  und  39°.  Die 
Kranke  verfiel  schnell  und  starb  am  13.  Juni.  Die  Sektion  ergab: 
Tuberkulose  des  linken  Fersenbeines,  der  Liuigen  und  des  Darmes  (die 
beiden  letzten  ohne  alle  Erscheinungen  verlaufen)  und  zahlreiche  Tuberkel 
des  Gehii'ns. 

Alles  in  allem  glaube  ich,  dass  unsere  Erfolge  bei  der  Chorea 
immerhin  derartige  sind,  dass  man  zu  weiteren  Versuchen  auf 
diesem  Gebiete  raten  kann. 

Auch  gegen  Epilepsie  habe  ich  die  Kopf  Stauung  in  11  Fällen 
verwandt.  Ich  habe  in  meiner  oben  erwähnten  Abhandlung  schon 
10  Fälle  beschrieben,  konnte  aber  nur  über  vorübergehende  nicht 
sehr  bedeutende  Besserungen  in  einigen  Fällen  berichten.  Neuer- 
dings aber  habe  ich  einen  elften  Fall  behandelt,  der  eine  so  ent- 
schiedene Besserung  zeigt,  dass  er  mich  ermuntert  hat,  neue  Ver- 
suche anzustellen,  von  denen  ich  mir  allerdings  nicht  allzuviel  ver- 
spreche. Immerhin  sind  auch  geringe  und  vorübergehende  Besse- 
rungen bei  einer  so  trostlosen  Krankheit  auch  schon  etwas  wert. 


Hyperämisierende  Behancll.  v.  Krankheiten  des  Zentralnervensystems  usw.      45]^ 

91.  Ein  55 jähriger  Architekt,  der  aus  gesunder  Familie  stammt,  er- 
litt die  verschiedensten  Kopfverletzungen.  In  seinem  Gewerbe  wurde  er 
mehrmals  durch  herabstürzende  Ziegelsteine  oberflächlich  am  behaarten 
Kopfe  verwundet.  Einmal  erhielt  er  einen  heftigen  Stockschlag  über  den 
Kopf.  Im  Jahre  1890  wiui-de  er  aus  nächster  Nähe  mit  einem  Revolver 
in  die  rechte  Jochbeingegend  geschossen.  Die  Kugel  wurde  nicht  entfernt. 
Die  Wunde  heilte  schnell.  1 1^2  Jahre  später  traten,  zunächst  nächtlich, 
epileptische  Krämpfe  auf.  Der  Kranke  stiess  einen  Schrei  aus,  hatte  Schaum 
vor  dem  Munde,  knirschte  mit  den  Zähnen,  wurde  bewusstlos  und  verletzte 
sich  öfters.  Die  KrämjDfe  kamen  plötzlich  und  hatten  tonischen  Charakter. 
Beginn  derselben  an  einem  bestimmten  Körperteile  wurde  nie  beobachtet. 
Ausserdem  litt  der  Kranke  an  sehr  zahlreichen  Schwindelanfällen.  So  zog 
sich  die  Krankheit  mit  geringen  Schwankvmgen  hin,  bis  seit  6  Monaten 
sich  das  Leiden  entschieden  verschlimmerte.  Die  Schwindel-  und  Krampf- 
anfälle vermehrten  sich,  imd  der  Mann  fiel  häufig  auf  der  Strasse  hin.  Er 
wurde  sehr  vergesslich,  vernachlässigte  sein  Geschäft,  machte  Tagesausflüge, 
von  denen  er  nachher  nichts  mehr  v^usste,  war  abwechselnd  sehr  unrvihig 
und  schlafsüchtig  und  hatte  fast  ständig  Kopfschmerzen. 

Am  16.  I.  1906  wLU-de  er  in  das  hiesige  Johannishospital  aufgenom- 
iTien.  Er  ist  ein  hagerer,  bis  auf  sein  Kopfleiden  gesunder  Mann.  Der 
behaarte  Kopf  ist  mit  mehreren  Hautnarben  bedeckt,  die  nichts  Besonderes 
bieten.  Vom  Einschuss  vor  dem  rechten  Ohre  ist  kaum  etwas  zu  sehen. 
Am  Zu.ngenrande  befinden  sich  Narben.  Das  llöntgenbild  zeigt,  dass  die 
Kugel  dicht  unterhalb  der  Schädelkapsel  unmittelbar  vor  der  Wirbelsäule 
liegt.  Einige  Splitter  des  Geschosses  sitzen  näher  der  Oberfläche.  Die 
Untersuchung  des  Nervensystems  ergab  nichts  Nennenswertes. 

Am  17.  I.  hatte  der  Kranke  mehrere  Schwindelanfälle  nach  einer  un- 
ruhigen Nacht.  In  der  darauffolgenden  Nacht  ebenfalls  mehrere  Schwindel- 
und  einen  Krampfanfall. 

Da  das  Geschoss  für  eine  operative  Entfernung  sehr  ungünstig  sass, 
so  wurde  von  einem  blutigen  Eingriffe  abgesehen,  zumal  derselbe,  selbst 
wenn  er  technisch  gut  gelungen  wäre,  wohl  kavim  an  dem  Leiden  etwas 
geändert  hätte.  Ich  legte  dem  Kranken  deshalb  am  Abend  des  19.  I.  zu- 
nächst probeweise  für  3  Stunden  eine  stauende  Halsbinde  an.  Der  Kranke 
hatte  eine  ruhige  Nacht.  Vom  20.  I.  ab  bis  zum  28.  L,  dem  Tage  der 
Entlassung,  wau'de  die  Stauungsbinde  8 — 10  Stunden  täglich  getragen.  Der 
Kranke  hatte  in  der  ganzen  Zeit  weder  Krampfanfälle  noch  Kojjfschmerzen, 
an  5  Tagen  keinen,  an  3  Tagen  je  einen  und  an  einem  Tage  2  leichte 
Schwindelanfälle. 

Wer  sich  näher  für  die  Beobachtungen  interessiert,  die  ich 
bei  Anwendung  der  Kopfstauung  bei  Epilepsie  machte,  möge  sie 
in  meiner  erwähnten  Arbeit  in  den  ,, Grenzgebieten"  nachlesen. 
Von    Psychiatern    hat   Neu^)    diese   Versuche  nachgeprüft,    aber 

1)  Neu,  Über  die  Anwendung  künstlich  erzeugter  venöser  Hyperämie  des 
Gehirns  bei  Geisteskrankheiten.  Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschr.  1906. 
Nr.  15  und  Die  Zirkulations-  und  Druckverhältnisse  im  Gehirn  nach  Einleitung- 
künstlich   erzetigter   Hyperämie   des   Kopfes.      Neurologisches   Centralblatt    1907. 

29* 


452  Spezieller  Teil. 

ebenso  wie  ich  weder  Besserungen  von  Bedeutung  noch  VerschUm- 
merungen  dabei  gesehen. 

Ich  bin  aber  der  Ansicht,  dass  es  auch  sonst  in  psychiatrischen 
KKniken  noch  Fälle  genug  gibt,  bei  denen  man  mit  Aussicht  auf 
Erfolg  das  hyperämisierende  Verfahren  versuchen  könnte.  Ich  denke 
hier  in  erster  Linie  einerseits  an  Zustände  von  nervöser  und 
geistiger  Aufregung  jeder  Art  und  andererseits  an  Melancholie.  Im 
wesentlichen  wird  es  sich  ja  hier  nur  um  eine  günstige  sympto- 
matische Beeinflussung  handeln  können,  da  eine  wirkliche  Heilung 
so  tief  in  der  Konstitution  des  Kranken  liegender  Fehler,  wie  sie 
die  gemeine  Epilepsie  und  gewisse  Formen  der  Melancholie  dar- 
stellen, wohl  kaum  zu  hoffen  ist.  Ich  habe  vor  7  Jahren  vergeblich 
versucht,  mir  bekannte  Psychiater  für  solche  Versuche  mit  Kopf- 
stauung zu  interessieren.  Allerdings  begegnete  man  damals  noch 
der  Stauungshyperämie  und  besonders  der  des  Kopfes  fast  all- 
gemein mit  grossem  Misstrauen  oder  mit  offenbarem  Hohne. 
Neu  hat  sich  seit  kurzem  der  Sache  angenommen.  Er  be- 
stätigt, wie  schon  erwähnt,  meine  Beobachtungen  über  die  hervor- 
ragende Besserung  von  Kopfschmerzen  durch  die  Stauungsbinde. 

Auch  melancholische  Zustände  schienen  Neu  eine  Besserung 
durch  Stauung  zu  erfahren,  dagegen  sah  er  keinen  Erfolg  bei  ma- 
nischen und  depressiven  Zuständen. 

Die  Psychiater  erinnere  ich  daran,  dass  sie  unbewusst  bei  dem 
früher  vielfach  verbreiteten  ,, ableitenden  Verfahren"  bei  zahlreichen 
Hirnkrankheiten  Hyperämie  angewandt  haben.  Besonders  gilt  dies 
von  der  sehr  energischen  Ätzung  der  Kopfhaut  mit  Tartarus  stibia- 
tus-Salbe,  ein  Verfahren,  das  man  wegen  seiner  Roheit  (häufig 
wurde  dabei  der  Knochen  nekrotisch)  fast  gänzlich  verlassen  hat. 
Wahrscheinlich  erreicht  die  unschädlichere  Stauungsbinde  den- 
selben Zweck  nicht  nur  einfacher,   sondern  auch  viel  wirksamer. 

Von  verschiedenen  Seiten  sind  hyperämisierende  Verfahren 
gegen  die  Seekrankheit  versucht  worden.  Schon  vor  mehreren 
Jahren  erzählte  mir  ein  Kollege,  dass  er  die  Kopf  Stauung  dagegen 
mit  Erfolg  angewandt  habe.  In  neuerer  Zeit  habe  ich  dasselbe  von 
einem  amerikanischen  Arzte  gehört.  Durch  die  Presse  ging  vor 
einiger  Zeit  die  Nachricht,  dass  der  Reisende  Eugen  Wolff  heisse 
Kopfkompressen  gegen  die  Seekrankheit  verwandt  hat.  Ein  kom- 
plizierter, auf  demselben  Prinzip  beruhender  elektrisch  angeheizter 
Apparat  wird  von  dem  Kunstmaler  Kappmeier  aus  Capri 
empfohlen. 


Hyperämisierende  Behandl.  v.  Krankheiten  des  Zentralnervensystems  usw.      45.'] 

Ich  selbst  habe  kein  Urteil  über  die  Wirksamkeit  dieser 
Mittel  bei  Seekrankheit. 

Auch  das  Rückenmark  zu  hyperämisieren  dürfte  nicht  un- 
möglich sein.  Höchst  wahrscheinlich  wird  die  aktive  Hyperämie 
durch  auf  die  Aussenf  lache  des  Rückens  angebrachte  Wärmemittel, 
die  ja  bei  Krankheiten  der  Wirbellsäule,  wie  mich  zahlreiche  Er- 
fahrungen gelehrt  haben,  bis  zur  Tiefe  der  Wirbelkörper  dringt, 
auch  das  Rückenmark  mitbetreffen. 

Dasselbe  dürfte  für  die  passive  Hyperämie  der  Saugapparate 
gelten.  Wenigstens  habe  ich  sie  vor  einer  Reihe  von  Jahren  mit 
ganz  augenscheinlichem  Erfolge  gegen  schmerzhafte  Spondyliten 
angewandt.  Neuerdings  habe  ich  diese  Versuche  mit  besseren 
Apparaten  und  gleichen  Resultaten  wieder  aufgenommen.  Die 
Kranken  versichern  übereinstimmend,  dass  die  Schmerzen  sofort 
nach  der  Anwendung  der  Apparate  gemildert  oder  verschwunden 
sind.  Wahrscheinlich  werden  sie  also  auch  auf  das  Rückenmark 
einwirken. 

Zweifellos  schaffen  wir  eine  vorübergehende  Hyperämie  des 
Rückenmarks  und  wohl  auch  des  Gehirns  durch  die  Quincke'sche 
Lumbalpunktion,  wenn  wir  grosse  Mengen  Flüssigkeiten  ablassen, 
in  demselben  Sinne,  wie  die  Entleerung  eines  Ascites  Hyperämie 
der  Bauchorgane,  die  des  pleuritischen  Exsudates  Hyperämie  der 
Pleura  und  der  Lungen  hervorruft. 

Die  Stauungshyperämie  des  Kopfes  durch  ein  um  den  Hals 
gelegtes  Gummiband  wirkt  offenbar  sehr  stark  auf  die  Saftströmung 
im  Rückenmark  und  in  seiner  Umgebung  (Liquor  cerebrospinalis) 
ein.  Wie  ich  in  der  erwähnten  Arbeit  in  den  Grenzgebieten  be- 
schrieben habe,  erzeugt  die  Kopfstauung  eine  dauernde  Vermeh- 
rung des  Stromes  des  Liquor  cerebralis  nach  dem  Rückenmark  hin 
und  führt  dort  zu  einer  dauernden  Druckerhöhung. 

Alle  diese  Dinge  bedürfen  noch  der  genaueren  Untersuchung. 

Wahrscheinlich  hat  man  in  früheren  Zeiten  auch  schon  das 
Rückenmark  durch  die  beliebten  ,, ableitenden"  Mittel,  Ferrum 
candens,  Fontanellen,  Haarseile,  die  man  in  der  Gegend  der 
Wirbelsäule  anbrachte,  unbewusst  hyperämisiert. 

In  erster  Linie  käme  eine  hyperämisierende  Behandlung  des 
Rückenmarks  in  Betracht  bei  der  ganz  frischen  Poliomyelitis  acuta. 


454  Spezieller  Teil. 

Anwendung  heisser  Luft  bei  Gefässkrankheiten. 

Ein  alter  Streit  dreht  sich  darum,  ob  die  Erweiterung  der  Ge- 
fässe,  welche  nach  künsthcher  Blutleere,  Hitze  und  ähnlichen  Ein- 
wirkungen vorkommt,  als  Lähmung  oder  Erregung  der  Gefässnerven 
bzw.  der  Gefässe  zu  deuten  sei. 

Für  die  reaktive  Hyperämie  nach  künstlicher  Blutleere,  wo 
die  erstere  Auffassung  ganz  unbestritten  galt,  glaube  ich  über- 
zeugend nachgewiesen  zu  haben,  dass  es  sich  dort  keineswegs  um 
eine  Lähmung  handelt.  Aus  Analogie  schliesse  ich,  dass  es  sich 
nach  der  Wärmeeinwirkung,  solange  keine  Verbrennung  vorliegt, 
geradeso  verhält.  Ist  aber  diese  Erweiterung  durch  Hitze  ein 
aktiver  Vorgang,  so  haben  wir  ein  Mittel  in  der  Hand,  ähnlich  wie 
durch  starke  Kälteeinwirkung,  einen  mächtigen  Reiz  auf  die  Ge- 
fässe auszuüben. 

Dies  geschieht  ja  auch  schon  lange  bei  einer  Menge  von 
hydrotherapeutischen  Behandlungen.  Ich  glaube  aber,  dass  auch 
auf  diesem  Gebiete  die  Einwirkung  sehr  heisser  Luft  das  weitaus 
wirksamste  Mittel  ist.  So  sah  ich  darunter  häufig  bei  Zirkulations- 
störungen nach  Frakturen  nicht  nur  das  Ödem,  sondern  auch  die 
Blaufärbung  der  Haut  viel  schneller  schwinden,  als  nach  irgend 
einem  anderen  Mittel.  Aus  diesem  Grunde  habe  ich  die  heisse 
Luft  besonders  gebraucht  zur 

Behandlung  der  Varicen  und  ihrer  Folgezustände. 

Mir  scheint,  dass  die  Varicen  an  sich  durch  lange  Zeit  fort- 
gesetzte Heissluftbehandlung  verkleinert  und  gebessert  werden.  Vor 
allem  aber  ist  das  Verfahren  angezeigt  bei  den  unangenehmen  Folge - 
zuständen  der  Varicen,  z.  B.  der  Thrombose. 

Ganz  frische  Thrombosen  habe  ich  niemals  mit  heisser  Luft 
behandelt,  ich  wartete  einige  Zeit  ab,  bis  die  sie  begleitenden  Ent- 
zündungserscheinungen abgeklungen  waren  und  die  Thrombose 
nicht  weiter  fortschritt,  oder  gar  schon  in  der  Rückbildung  begriffen 
war.  Dann  wandte  ich  für  1  Stunde  täglich  die  Heissluftbehand- 
lung an. 

Dagegen  widerrate  ich  dringend,  dieses  Mittel  bei  Throm- 
bosen tieferer  Venen,  z.  B.  der  Vena  femoralis,  vor  Ablauf  von 
6  Monaten  nach  Eintritt  der  Gerinnung  anzuwenden.  Ich  erlebte 
es,  dass  ein  Mann,  der  mehrere  Monate  vorher  an  Thrombose  der 


Anwendung  heisser   Luft  bei  Gefässkranklieiten.  455 

Vena  femoralis  erkrankt  war,  schon  längst  wieder  herumging  und 
nur  an  Ödem  und  Blaufärbung  des  betreffenden  Gliedes  litt,  unter 
Heissluftbehandlung  eine  Embolie  der  Arteria  pulmonalis  bekam 
und  plötzlich  verstarb. 

Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  die  mächtige  Blutzirkulation, 
die  die  Heissluftbehandlung  verursacht,  den  schon  festen  Thrombus 
wieder  erweicht  und  losgerissen  hat.  Bei  den  oberflächlichen  Haut- 
venen  aber  ist  die  Gefahr  der  Embolie,  wie  schon  andere  Er- 
fahrungen gezeigt  haben,  ausserordentlich  gering.  Deshalb  habe  ich 
mich  auch  nie  gescheut,  bei  dieser  Krankheit  entstehende  Thromben 
durch  die  aktive  Hyperämie  zur  Lösung  und  zur  Resorption  zu 
bringen.  Bei  älteren  Thrombosen  der  Vena  femoralis  ist  dagegen 
die  Heissluftbehandlung  ein  ganz  vortreffliches  Mittel.  Ich  habe  eine 
ganze  Reihe  schwerer  Fälle  damit  schnell  und  nachhaltig  gebessert. 

Neben  den  Thromben  sind  es  die  Infiltrationen  und  vor  allem 
die  Ödeme  der  Haut,  die  durch  die  Heissluftbehandlung  meist  sehr 
schnell  vertrieben  werden.  Ich  kann  auf  Grund  einer  sehr  reichen 
Erfahrung  deshalb  das  Verfahren  für  Varicen  und  ihre  Folge - 
zustände  angelegentlich  empfehlen.  Ich  habe  besonders  in  der 
Privatpraxis  Leuten  wieder  zum  ungehinderten  Gebrauch  ihrer 
Beine  verholfen,  die  jahrelang  invalide  waren.  Gleichzeitig  be- 
stehende Geschwüre  sind  kein  Grund  gegen  diese  Behandlung. 

Dieselben  Erfolge  erzielte  ich  bei  einer  eigentümlichen  und 
unangenehmen  Gefässkrankheit  der  Beine,  die  ich  in  Pommern 
häufig  sah,  die  zu  Beingeschwüren  und  zu  Ekzemen  führt,  und 
die  man  zu  den  varikösen  Erkrankungen  zählt.  Zwar  finden  sich 
die  grossen  Venen  dabei  nur  wenig  erweitert,  aber  beim  Stehen  tritt 
sofort  eine  starke  Blaufärbung  und  venöse  Stauung  in  der  Haut 
der  Unterschenkel  auf,  die  zu  all  den  bekannten  Erscheinungen 
führt,  die  schwere  Varicen  nach  sich  ziehen. 

Wahrscheinhch  handelt  es  sich  hier  um  eine  Erkrankung  der 
kleinen  Venen  und  wahrscheinlich  sogar  der  Kapillaren. 

Auch  in  diesen  hartnäckigen  Fällen  hat  uns  die  heisse  Luft 
ausgezeichnete  Dienste  getan. 

Behandlung    drohender    oder    ausgesprochener    seniler 
und   diabetischer  Gangrän. 

In  mehreren  Fällen  habe  ich  diabetische  und  arteriosklerotische 
Gefässkrankheiten  des  Fusses  und  des  Unterschenkels,  die  zu 
Brand  des  Gliedes  zu  führen  drohten,  d.  h.  sich  kalt  anfühlten. 


4-56  Spezieller  Teil. 

blau  gefärbt  und  ödematös  geschwollen  waren  und  hier  und  da 
schon  verdächtige  schwarze  Flecken  zeigten,  mit  heisser  Luft  be- 
handelt und  ganz  regelmässig  einen  bedeutenden  Rückgang  der  be- 
drohlichen Erscheinungen  gesehen,  so  dass  die  befallenen  Glieder 
wieder  gebrauchsfähig  wurden.  Natürlich  muss  man  hier  die 
äusserste  Vorsicht  walten  lassen,  um  bei  der  darnieder  liegenden 
Zirkulation  keine  Verbrennungen  zu  erzeugen.  Die  Gefahr  ist  um 
so  grösser,  als  die  Sensibilität  der  Haut  bei  den  in  Rede  stehenden 
Krankheiten  gewöhnlich  aufs  äusserste  herabgesetzt  ist.  Ich  habe 
immer  mit  sehr  geringen  Hitzegraden  angefangen  und  bin  nicht 
über  90  Grad  gestiegen.  Hatte  der  Kranke  die  geringsten  Un- 
bequemlichkeiten, so  wurde  die  Temperatur  sofort  herabgesetzt. 
Auch  soll  man  in  diesen  Fällen  die  Heissluftbehandlung  nur  dann 
anwenden,  wenn  man  sie  entweder  selbst  überwacht,  oder  ein  sehr 
zuverlässiges  Personal  zur  Verfügung  hat.  Intelligente  Kranke 
finden  allerdings  den  Hitzegrad,  den  sie  ertragen  können,  sehr 
bald  selbst  heraus,  so  dass  man  ihnen  die  weitere  Behandlung  über- 
lassen kann.  Niemals  soll  man  auch  in  solchen  Fällen  verabsäumen, 
sich  von  der  Sensibilität  der  Haut  zu  überzeugen.  Ist  sie  er- 
heblich herabgesetzt,  so  soll  man  vorsichtig  mit  ganz  kurzen 
Sitzungen  (von  10  Minuten)  beginnen  und  erst  allmählich  bis  zu 
einer  Stunde  steigen. 

Merkwürdigerweise  macht  man  bei  diesen  schweren  Gefäss- 
erkrankungen  die  Erfahrung,  dass  die  heisse  Luft,  trotz  der  sehr 
behinderten  Zirkulation,  Schweissabsonderung  und  der  Farbe  nach 
zu  urteilen,  eine  hochgradige  arterielle  Hyperämie  hervorbringt. 

Ich  glaube,  dass  bei  den  in  Rede  stehenden  Krankheiten  die 
Hyperämie  auf  zwei  verschiedene  Weisen  wirkt.  Einmal  löst  wahr- 
scheinlich der  lebhafte  Blutstrom  die  krankhaften  Wucherungen 
der  Intima  und  bringt  sie  zur  Resorption,  dann  aber  werden  die 
Gefässe  durch  den  heftigen  Reiz  der  grossen  Hitze  in  hervor- 
ragender Weise  geübt. 

Jedenfalls  scheint  mir  die  heisse  Luft  eins  der  vornehmsten 
Mittel  zu  sein,  krankhafte  und  versagende  Gefässe  zu  üben  (eine 
Art  Gymnastik  der  Gefässe).  Man  braucht  dabei  nicht  lediglich 
an  die  Arterien  und  Venen  zu  denken.  Ich  glaube,  in  meiner  mehr- 
fach erwähnten  Arbeit  über  die  Entstehung  des  Kollateralkreislaufs 
nachgewiesen  zu  haben,  dass  bei  der  Hyperämie,  die  durch  Er- 
weiterung der  Gefässe  entsteht,  die  Kapillaren  ganz  hervorragend 
beteiligt  sind. 


Anwendung  heisser  Luft  bei  Gefässkrankheiten.  457 

Ich  bin  überhaupt  der  Ansicht,  dass  Kapillarerkrankungen  viel 
häufiger  sind  und  eine  viel  grössere  Rolle  spielen,  als  man  denkt. 
Wir  kennen  Endothelerkrankungen  im  Herzen,  in  den  Arterien 
und  in  den  Venen.  Da  aber  das  Gefässendothel  ein  einziges  zu- 
sammenhängendes Rohr  bildet,  das  in  den  Kapillaren  am  ausge- 
dehntesten ist  und  dort  auch,  weil  die  eigentliche  Arbeit  des  Blutes 
erst  in  den  Kapillaren  beginnt,  am  meisten  angestrengt  wird,  so 
ist  es  eine  einfache  Forderung  der  Logik,  anzunehmen,  dass  auch 
dieser  Teil  des  Endothelrohres  von  Krankheiten  ergriffen  wird. 
Ich  könnte  mit  Beobachtungen  aufwarten,  die  solche  Erkrankungen 
sehr  wahrscheinHch  machen,  will  es  aber  unterlassen,  weil  es  nicht 
zu  unserem  Thema  gehört. 

Übrigens  habe  ich  einen  Fall  von  schon  entwickelter  und  zwei 
von  diabetischer  Gangrän  mit  der  Stauungsbinde  behandelt.  Einer 
von  den  letzteren  litt  an  einer  fortschreitenden  Phlegmone,  aus- 
gehend von  Sehnen-  und  Knochennekrosen  am  Fuss;  er  starb  im 
Coma  diabeticum,  bevor  man  ein  Urteil  über  die  Wirkung  des 
Mittels  fällen  konnte.  Die  beiden  übrigen  Fälle  verliefen  günstig. 
Die  unbedeutende  Gangrän,  die  einmal  eine  kleine  Zehe,  ein- 
mal die  Haut  der  Ferse  betraf,  demarkierte  sich  schnell.  Einen 
Schaden  habe  ich  nicht  von  dem  Mittel  gesehen.  Wie  ich  schon 
bemerkte,  warnen  dagegen  Colleyi)  und  Habs 2)  vor  der  An- 
wendung der  Stauungsbinde  bei  Diabetikern.  Co  Hey  behandelte 
zwei  schwere  Diabetiker  wegen  Gangrän  mit  der  Stauungsbinde. 
Bei  dem  einen  erzeugte  der  geringste  Bindendruck  Gangrän  der 
Haut,  der  andere  vertrug  zwar  leidlich  die  Binde,  aber  die  peri- 
phere  Hautgangrän  vergrösserte  sich  rapide. 

Habs  sah  eine  eben  beginnende  diabetische  Gangrän,  die  er 
mit  Stauungshyperämie  behandelte,  einen  foudroyanten  Verlauf 
nehmen. 

Dagegen  berichten  Körte^)  und  Rubritius^)  über  günstige 

1)  Colley,  Beobachtungen  und  Betrachtungen  über  die  Behandlung  akut- 
eitriger Prozesse  mit  Bier'scher  Stauungshyperämie.  Münchner  med.  Wochenschr. 
190G.     Nr.   6. 

2)  Habs,  Verhandltmgen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen  Gesellschaft 
für  Chirurgie  L     S.   220. 

3)  Verhandlungen  des  35.  Kongresses  der  Deutschen  Ges.  für  Chirurgie  I. 
S.   221. 

4)  Rubritius,  Die  Behandlung  akuter  Entzündungen  mit  Stauungshyper- 
ämie.    Beiträge  zior  klinischen  Chirurgie.     48.   Band,   2.  Heft. 


^58  Spezieller  Teil. 

Erfolge,  die  sie  mit  der  Stauungsbinde  bei  diabetischer  Gangrän 
erzielten. 

Wie  man  sieht,  sind  also  die  Ansichten  auf  diesem  Gebiete 
noch  sehr  widersprechend.  Da  aber  Ärzte,  die  das  Stauungs- 
verfahren sehr  gut  beherrschen,  so  schlechte  Erfahrungen  damit 
gemacht  haben,  ist  mindestens  die  grösste  Vorsicht  notwendig; 
man  sollte  die  Stauungsbinde  bei  solchen  Versuchen  höchstens 
stundenweise  anwenden  und  muss  oft  mit  der  Schnürstelle  wechseln. 

Wie  es  scheint,  sind  dagegen  nachteilige  Wirkungen  der  Stau- 
ungsbinde bei  der  senilen  Gangrän  bisher  nicht  beobachtet  worden. 
Habs  teilt  mit,  dass  er  bei  vielen  an  Arteriosklerose  leidenden 
Menschen  Stauungshyperämie  anwendete,  ohne  einen  Nachteil 
davon  zu  sehen,  und  dass  bei  4  Fällen  von  Altersgangrän,  die  er 
mit  der  Stauungsbinde  behandelte,  die  Gangrän  nicht  weiter  f ort- 
schritt, sondern  sich  demarkierte. 

Auch  Fromm eri)  erzielte  bei  4  Fällen  seniler  Gangrän  gute 
Erfolge  mit  Stauungshyperämie.  Er  fand,  dass  unter  dieser  Be- 
handlung sehr  schnell  die  Schmerzen  schwanden,  die  Bewegungs- 
fähigkeit  der  Glieder  wieder  eintrat,  die  Geschwüre  sich  reinigten 
und  nekrotische  Teile  sich  abstiessen. 


Behandlung  der  Erfrierungen. 

Ritter 2)  hat  gegen  Erfrierungen  die  heisse  Luft  empfohlen. 
Nach  seiner  Ansicht  ist  die  nach  Kälteeinwirkung  auftretende 
Hyperämie  nicht  etwas  Schädliches,  sondern  sie  unterstützt  im 
Gegenteil  die  Regeneration  der  durch  die  Kälte  geschädigten 
Zellen.  Denn  bei  jeder  Erfrierung,  auch  der  1.  Grades,  tritt,  wie 
die  Epidermisabschilferung  zeigt,  und  wie  ausserdem  durch  mikro- 


1)  Frommer,  Über  die  Bier'sche  Stauung  mit  besonderer  Berücksich- 
tigung der  postoperativen  Behandlung  und  der  Altersgangrän.  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1906.    Nr.  8. 

2)  Ritter,  Die  Behandlung  der  Erfrierungen.  Deutsche  -  Zeitschrift  für 
Chirurgie.  Bd.  58,  und:  Weitere  Erfahrungen  über  die  Behandlung  der  Er- 
frierungen mit  künstlicher  Hyperämie.  Corresponclenzblatt  des  Ärzte-Vereins 
des  Reg. -Bez.   Stralsund,  und: 

Hanusa,  Über  die  Behandlung  lokaler  Erfrierungen  mit  passiver  und 
aktiver  Hyperämie. 


Behaiidlung  der  Ei-frierungeii.  45V) 

skopisclie  Beobachtungen  festgestellt  ist,  eine  Schädigung  und 
eine  gewisse  Nekrose  der  Zellen  ein.  Ritter  erzielte  die  besten 
Erfolge  mit  heisser  Luft.  Dieselbe  beseitigt  bald  die  bekannten, 
unangenehmen  subjektiven  Erscheinungen  der  Erfrierung,  beson- 
ders das  Jucken,  und  bringt  Frostbeulen  und  Geschwüre,  ebenso 
wie  die  Blaufärbung  der  erkrankten  Glieder  in  kurzer  Zeit  zur 
Heilung. 

Man  könnte  wegen  der  Beseitigung  der  Blaufärbung  versucht 
sein,  die  Wirkungen  heisser  Luft  im  Sinne  der  im  vorigen  Kaj)itel 
behandelten  Gefässübung  zu  erklären.  Aber  Ritter  wies  nach, 
dass  auch  die  passive,  durch  eine  Stauungsbinde  erzeugte  Hyper- 
ämie ebenfalls  sehr  wohltätig  auf  die  Heilung  der  Erfrierung  ein- 
wirkt. Es  dürfte  also  Ritter's  Ansicht  zutreffend  sein,  dass  es 
sich  hier  mehr  um  eine  Beförderung  der  Regeneration  der  durch 
die  Kälte  geschädigten  Zellen  handelt. 

Ritter  machte  seine  ersten  Versuche  in  der  damals  unter 
meiner  Leitung  stehenden  Greif swalder  chirurgischen  Klinik.  Ich 
habe  mich  selbst  von  seinen  ausgezeichneten  Erfolgen  überzeugt 
und  kann  die  vortreffliche  Wirkung  der  heissen  Luft  auf  Er- 
frierungen aus  späterer  eigener  Erfahrung  nur  bestätigen. 

Die  Technik  der  Heissluftbehandlung  bei  Erfrierungen  bietet 
nichts  Besonderes. 


Die  Heissluftbehandlung  hat  eine  sehr  grosse  Verbreitung  ge- 
wonnen. Ausser  bei  den  genannten  den  Chirurgen  in  erster  Linie 
angehenden  Krankheiten  hat  man  sie  z.  B.  angewandt  bei  gynä- 
kologischen Leiden  (para-  und  perimetritischen  Exsudaten,  an- 
deren chronischen  Entzündungen,  Bauchdeckenfisteln),  bei  Haut-, 
Augen-,  Ohren-,  Nasen-  und  inneren  Krankheiten.  Es  würde  zu 
weit  führen,  dies  alles  aufzuzählen,  zumal  mir  naturgemäss  auf 
diesen  Gebieten  die  nötige  Erfahrung  fehlt.  Ich  kann  aber  zu 
meiner  Befriedigung  feststellen,  dass  man  fast  ausnahmslos  die 
von  mir  im  allgemeinen  Teile  der  heissen  Luft  zugeschriebenen 
und  ursprünglich  im  wesentlichen  an  chirurgischen  Leiden  be- 
obachteten Wirkungen  vollauf  bestätigt  hat. 

Ich  habe  noch  lange  nicht  alle  Leiden  aufgeführt,  gegen  die 
wir  selbst  heisse  Luft  verwandt  haben  (z.  B.  die  Behandlung  der 
kontrakten  Plattfüsse).     Um  aber  ein  Beispiel  davon  zu  geben, 


460  Spezieller  Teil. 

in  welcher  Vielseitigkeit  unser  Mittel  zu  verwenden  ist,  führe 
ich  die  Anzahl  der  in  einem  Monate  in  den  mir  unterstellten 
Krankenhäusern  verabreichten  Heissluftbäder  und  Heissluft- 
duschen  an: 

Sie  betrugen  in  der  chirurgischen  Klinik  und  Poliklinik  850 
und  im  Johannishospital  271,  d.  h.  also  in  einem  Monate  über  1100. 

Weitaus  die  meisten  Heissluftbäder  wurden  ambulant  ver- 
abreicht. Aus  dem  bedeutenden  uns  zuströmenden  Kranken- 
materiale  geht  wohl  am  besten  die  grosse  Popularität  und  daraus 
wieder  die  Wirksamkeit  des  Verfahrens  hervor. 

Vor  allem  aber  ist  es  durch  dieses  Heilverfahren  dem  prak- 
tischen Arzt  ermöglicht,  eine  grosse  Anzahl  von  Leiden,  die  er 
früher  den  mediko-mechanischen  Instituten  zuwies,  oder  deren 
Träger  aus  eigenem  Antriebe  den  Spezialisten  aufsuchten,  selbst 
zu  behandeln.  Denn,  wie  gesagt,  die  Technik  der  Heissluft- 
behandlung  und  der  dazu  gehörige  Apparat  ist  ungemein  einfach, 
und  was  spezialistischer  Eifer  daran  kompliziert  hat,  ist,  wenn 
nicht  überflüssig,  doch  mindestens  unwesentlich.  Aus  diesem 
Grunde  glaube  ich  auch,  dass  trotz  aller  Vervollkommnungen  die 
nach  dem  Prinzipe  meiner  ursprünglichen  Kästen  hergestellten  ein- 
fachen Apparate  sobald  nicht  aus  der  Praxis  verschwinden  werden. 


Schluss. 


Ich  hoffe,  dass  es  mir  gelungen  ist,  die  Grundzüge  einer  Lehre 
von  der  Wirkung  und  Anwendung  der  Hj^erämie  zu  entwerfen, 
welche  so  gut  wissenschaftlich  begründet  ist,  wie  irgend  eine  andere 
unserer  modernen  Heilmethoden,  und  welche  den  Vorzug  hat,  dass 
sie  einfach  und  logisch  ist.  Mir  scheint,  dass  es  auch  genügend 
ausgereifte  Ansichten  und  Beobachtungen  sind,  welche  ich  vorge- 
bracht habe;  denn  ich  beschäftige  mich  mit  diesen  Dingen  seit 
nunmehr  15  Jahren  und  habe  eine  sehr  grosse  Anzahl  von  Krank- 
heitsfällen mit  Hyperämie  behandelt,  so  dass  den  meisten  meiner 
Beobachtungen  eine  ausserordentlich  reiche  Erfahrung  zugrunde 
liegt. 

Ich  glaube,  dass  die  praktische  Anwendung  der  Hyperämie  die 
allgemeinste  und  umfassendste  Heilmethode  darstellt,  die  es  gibt; 
denn  ich  wüsste   kein  einziges  Mittel,   welches  in  gleicher  Viel- 


Schluss.  ^.ß]^ 

seitigkeit  bei  den  mannigfaltigsten  Krankheiten  mit  Erfolg  zu 
gebrauchen  wäre.  Ich  habe  ja  in  dieser  Arbeit  schon  so  viele  ver- 
schiedene Leiden  beschrieben,  die  ich  mit  hyperämisierenden 
Mitteln  behandelt  habe,  dass  es  manchem  scheinen  dürfte,  ich  sei 
darin  viel  zu  weit  gegangen.  Ich  bin  auch  überzeugt,  dass  eine 
reichlichere  Erfahrung  mich  zwingen  wird,  meine  Ansichten  noch 
vielfach  zu  ändern  und  manches  von  dem,  was  ich  in  diesem  Buche 
gesagt  und  empfohlen  habe,  zurückzunehmen.  Es  wäre  wunder- 
bar, wenn  es  anders  wäre.  Andererseits  aber  glaube  ich,  dass  ein 
Mittel,  dessen  sich  die  Natur  in  so  überreichem  Masse  zur  Beseiti- 
gung aller  möglichen  Schädigungen  bedient,  eine  noch  viel  aus- 
gedehntere Verwendung  gestattet. 

Ferner  glaube  ich  überzeugend  dargetan  zu  haben,  dass  man 
unbewusst  viel  länger,  als  es  eine  Geschichte  gibt,  von  hyper- 
ämisierenden Mitteln  reichlich  Gebrauch  gemacht  hat,  und  dass  in 
vielen  alten  Volksmitteln,  die  man  leichtherzig  über  Bord  geworfen 
hat,  weil  man  sich  ihre  Wirkung  nicht  erklären  konnte,  doch  ein 
guter  Kern  steckt i). 


1)  ,,Die  Geschichte  zeigt,  dass  die  Anschauungen  der  Späteren  immer 
wieder  auf  Punkte  zurückkommen,  welche  die  frühere  Beobachtung  schon  er- 
ledigt zu  haben  glaubte."  Virchow  in  seiner  Vorrede  zu  „Gesammelte  Ab- 
handlungen zur  wissenschaftlichen  Medizin".    Hamm  1862. 


Nauienverzeielmis. 


Alexander  377. 
Amitin,   Sarah  22. 
Arndt  249. 
Arnsperger  300,  419. 
Asher   167. 
Avierbach   194,   196. 
Aiispitz  63,   65,   66. 

Bachmann  241. 

BalU  27. 

Bamberger  204,  205,  253. 

Bardenheuer  234,  339,348, 
387,   394. 

Barry   174. 

Banmgarten,  v.  140,  141, 
142,  146,  147,  352. 

Bätimler  20. 

Beck  220. 

Beer  421. 

Behring,  v.    145,    155. 

Bell  84. 

Berger   191. 

Berginann,  v.   202. 

Bernai'd,    Claude    172. 

Bering  47. 

Bestelmeyer  421. 

Bezold  365,   375. 

Bidder  208. 

Bie   126. 

Bier  16,  20,  24,  32,  40, 
41,  43,  65,  73,  74,  76, 
81,  102,  127,  158,  177, 
211,  235,  245,  254,  292, 
301,   353,   358,  447. 

Billroth   182. 

Blatin  85. 

Blecher  433. 

Böhme  422. 

Bonheim  421. 


Bonnard  91. 

Bonnet  228. 

Bordet  245. 

Braam  Houckgeest  21. 

Braun  175. 

Brehmer  240,   247. 

Breuer  421. 

Broca  203. 

Brockhoff  367. 

Brown-Siquard  23,   209. 

Brunn,   v.    141,    397.   419. 

Bruns  59. 

Buchner  7,  121,  143,  144, 

158,   183,  217,   245. 
Bvim   135,   219,   321,   422, 

433. 
Bm-n-Murdoch  341. 
Burwinkel  254. 
Busch   122. 

Catheart  421. 

Chabbas   130. 

Chretien  31. 

Chvosteck  79,   80. 

Clado  32,   33,   156. 

Cohn  213. 

Cohnheim    66;     129,     131, 

163,  209,   213. 
Cohnstein  166. 
CoUey  141,  410,  420,  445, 

457  ff. 
Cooper   174. 
Cornet   144. 

Croce  339,  348,  393,  410. 
Czylharz    175,    176,    177. 

Damascelli  218. 
Danielsen   299,    339,   491. 
Danilewski  222,  223,  224. 


Darwin  2,   3,   8,    12. 
Dehio  246,   247. 
Derlin  420. 
Dettweiler  240. 
Deutschländer  439. 
Dittrich  241. 
Donath   175,    176,    177. 
Dumreicher,  v.   57 — 60, 

216. 
Dusch,  V.   253. 

Eckhardt  222. 
Ehrlich  8. 
Emminghaus   129,    130, 

131. 
Enderlen  421. 
Engländer  421. 
Erpenbeck  92. 
Eschbaum  33,  37,  41,  42, 

48,  83,  85,  86,  101.  106, 

416. 
Eschweiler  361,  371,  3  7  5£f., 

407. 
Esmarch,  v.l6,  43,  66,  154, 

169,      176,      270,      286. 

318. 
Eulenburg    84,     85,     192, 

196. 
Evens  u.  Pistor  89. 
E versmann  88. 
Ewald  24,   27. 
Eymann  253. 

Farre  252. 
ricinus  90,  93,  94. 
Einsen   126,   127,   292. 
Fischer  205. 
Fleischmann  376. 
Florentinus,  Nicolaus  413. 


Namenverzeichnis. 


463 


Fodor,  V.   143. 
Forchhammer   126. 
Franck,  Fran^ois  20 — 22, 

115. 
Fränkel   105,    106. 
Frerichs  252. 
Friedländer  245. 
Frey  46,   47,   49,   446. 
Frommer    294,    412,    420, 

458. 
Frömmelt  253. 
Fuchs   124. 

Oalenus    111. 
Garre  266. 
Gerdeck  303. 
Göbel  244. 
Gocht  427. 

Goldscheider   193,   243. 
Goltz  24,  27. 
Gonitschewsky   131. 
Grawitz  78,   80. 
Grawitz,   P.    200,    201. 
Grube  410,   421. 
Grünhagen   130. 
Gurlt  85,  413. 
Guth  78,   420. 
Guyot  226. 

Habs     276,     295,     321  ff., 

353,  356,  393,  397,  401, 

420ff.,   433,  457. 
Haffter   118. 
Hahn  47,   416. 
Halm  47,   243. 
Hamburger  145,  146,  150, 

166,   217. 
Hanvisa  458. 
Harvey  57. 
Haslauer  376. 
Hebra   124. 
Heidenhain  129,  165,  166, 

441. 
Heile   186,    187,   244. 
Heine  375. 
Heineke   186,   244. 
Heinz   121. 
Helferich  60, 198,  202,  206, 

207,  210,  211,  214,  216. 


Heller,  A.    144. 

Heller  348,  354,  397,  402, 

421. 
Hempel  420. 
Henle  77,   276,   387. 
Herhold  420. 
Herz   149,   150. 
Hesse  419. 
Hessing  268. 
Heyde   140,    142. 
Hiebel   150. 
Hildebrandt   173. 
Hilzinger  41. 
Hippokrates   93,    111. 
Hirsch  321  ff. 
Hitzig  195,   204. 
Hochhaus   354,   388,   398. 
Hoffa  355. 
Hoffheinz  29. 
Hofmann   147,   281. 
Hofixieister  429. 
Hornberger   154,    159. 
Hoppe  380,  388,  418,^421. 
Hunter  6,    198,   209. 
Huntington  450. 

Isemer  374,   376. 
Israel  204. 

Jakob   243. 

Jakoby  292. 

Janet   125. 

Jankowsky   129. 

Jerusalem  299,   339,   420. 

Johnson  80. 

Joseph,  E.   141,   147,   152, 

294,   355. 
Joseph   178,   220. 
Jourdan  91. 
Junod89— 94,   115. 

Käfer  412. 
Kant  3,   4. 
Kappmeier  453. 
Kapsammer  218. 
Kauffmann  382. 
Kellog  46. 

Keppler    320,    360,    369, 
374. 


Kiefer-Kornfeld  40. 

Kirchhoff  276. 

Klapp  22,  40,  43,  81,  85, 

105,  106,  108,  109,  167, 

168,170—175,  266,  278, 

280,    281,    286,    289 ff., 

395,  408 ff.,  441. 
Kleine  177. 
Kjioxley  Sibley  43. 
Koch   160. 
Kohlhardt    80,     81,     176, 

177. 
Kolster  236. 
König  315,  422. 
Körner  369. 
Körte  457. 
Kossa,  V.    172. 
Köster   15. 
Kothe   150. 
Kozlowski   78. 
Krause  28,  34,  38,  39,  51, 

204,  438. 
lixeM,  V.   246. 
I&ies,  V.   27. 
Kryger,  v.   254. 
Kuhn      89,      128,      254, 

293. 
Küster  352. 

Laccetti  422. 
Lahmann  240. 
Lamarck  8. 

Lamberger   45,   46,    53. 
Lämmerhirt  422. 
Landerer  242,   243. 
Landois  78,    183,   245. 
Langemak  427. 
Langenbeck,  v.   202,  205. 
L  angmann   176. 
Laqueur  142,  321,  433. 
Lassar  132. 
Laurie   190. 
Lazarus    78,    146,    322ff., 

433. 
Leber  6,    130,    183,    198. 
Lebert  253. 
Legros  209. 
Leichtenstern  23. 
Leo  293. 


464 


Namenverzeichnis . 


Lesage   192,   196. 

Leser  400. 

Lexer,  v.   52. 

Leuwer  83. 

Lewaschew  23. 

Lexer    147,     178,     393ff., 

420. 
Lej^den,  v.   78,   146,   254, 

322ff.,  433. 
Liebernieister   11,   18. 
Liek  224,  225,   399. 
Lier,  van  420. 
Lindemann  45. 
Lindenstein  339,  347,  421. 
Link  293. 
Litten  213. 
Lommel  25. 
Lossen  412,  420. 
Louis  252. 
Löwenhardt  157. 
Löwy  243. 
Luchsinger   172. 
Ludwig   128,    129,    165. 
Luxemburg  321. 

Ulagendie  93. 
Maninger  276,   421. 
Marchand  6. 
Marcuse  41. 
Martüi  25,   68,  441. 
Masskow   193. 
Matthes  23,  24,  114,  246. 
Meissner   150. 
Meltzer   176. 
Mendelsohn  20,  28,  51. 
Mensonides   1 30. 
Menzer  322. 

Metschnikoff  7,   146,  217. 
Middeldorpf  191,   192. 
Mikulicz  243,   276. 
Moll  199. 
Mombvirg  439. 
Moser  187. 
Muck  82,  88,  418. 
Müller  388. 
Munck  167. 
Muscatello   168,   218. 

Nasse  218. 


Natimaim   112,    113,    116. 
Neu  447,  451. 
Neumann  6,  431. 
Nicoladoni  57,  58,  60,  204, 

216. 
Nicolai  213. 
Niehaus  354. 
Nordmann  347,  348,  355, 

399,  420. 
Nötzel  139,  140,  144,  150, 

151,  259,  352. 

Ollier  203,  205. 
Oppenheim  196. 
Orlow  165,   166. 
Örtel  240. 
Örtel-Bonn  303. 
Otto  254. 

Paget    190,    198,    202. 
Pare,   Ambroise    57,    216. 
Paschen   150. 
Pasehutin  128,   129. 
Payr  354. 
Pekelharing  130. 
Penzo  204,  209,  219,  220, 

225,   226. 
Perthes  83. 
Petersen  438. 
Pezold,  V.  421. 
Pflüger  7,  249. 
Pick  25. 
Pietrowski  24. 
Pistor,  Evens  u.   89. 
Plaskuda  56,   112,  244. 
Polini  421. 
PoUtzer  370. 
Preyer  161. 
Pribram  46. 

Prießnitz    126,    251,    428. 
Prym  88,  388. 
Pugliese   131,   132. 

Quervin   266. 
Quincke  33,   453. 

Ranzi  339,  420. 
Ravidnitz  98. 
Rautenberg   18,   29. 


Recklinghausen,    v.     165, 

166,   168. 
Redlich   194,    195,    196. 
Reineboth  80,   81. 
Reitler  39,   51. 
Renner  380. 
Ribbert  7. 

Richter   144,   242,   243. 
Riedel  263. 
Ritter  67,   135,   174,   226, 

227,  445,  458. 
Riva-Rocci  77. 
Robbers  402. 
Rogowicz   129,   130. 
Rokitansky   252,   253. 
Roth  39,  40. 
Rotter  348. 
Roux  209,   212. 
Rübe  85,  86. 
Rubritius  421,  457. 
Rudolph  88. 
Rühle  253. 
Rust  122. 

Sachs  2,   6. 

Salzwedel   121. 

Sämisch  378. 

Samuel  66,  115,  119,  218, 

220,   223,   224. 
Sarjeant  43. 
Sassetzky   172. 
Schaff  er  441. 
Schede   116. 
Schiff  209. 

Schleich  135,   178,  439. 
Schlikoff  154. 
Schmieden   110,   447. 
Schneider  203. 
Schrakamp   7. 
Schramm   126. 
Schreiber   18,   29,   30,   39, 

41,  49. 
Schroth  241. 
Schüller  23,  113,  114,  116, 

207,   208,   210,   214. 
Schviltze  253. 
Schulz  248,  249. 
Schwalbe  271. 
Schweninger  240. 


Namenverzeichnis. 


465 


Schwering   123. 
Senftleben  222. 
Sick  352,   354. 
Siemerling   196. 
Sinitzin     221,     222,     223, 

224. 
Snellen  221,  223,   224. 
Sommer   150. 
Sondermann  82,  418. 
Spieß  82,  418. 
Sprengel  3. 
Spronk   150. 
Stalherm  253. 
Stanley  202. 
Starling   166. 
Stenger  375ff. 
Stiassny  422. 
Stich  295,  339,  348,  393, 

401,  414,  420. 
Stirling  209. 
Stricker  66. 
Strohmeyer  204. 
Sudeck  104,  184,  331,  433. 
Sulzer   168. 

Tallermann    20,     30,     34, 
43—45,  56,   157. 


Talma   213. 

Taylor  48. 

Thiem   156. 

Thomas  (Köln)    181,   443. 

Thomas  59,  60,  216,  234. 

Thomsa   131. 

Thorbecke  422. 

Tiling,  V.   321. 

Tilmann  261,  408. 

Tillmanns  321. 

Tomasche wski  78. 

Traube  253. 

Travers  252. 

Tyndall   156. 

Ulimann    158,     160,    227, 

421. 
Unverricht   86,    136,    137. 

Virchow    209,     212,    221, 

239,  461. 
Voit  167. 

Volk  420.  '       ^ 

Volkmann  179. 
Vulpian  209. 

Walsh  30,   31. 


Wassermann  293. 
Weber,  O.    221,  223,  224. 
Wechsberg  117,   118. 
Wegner   168. 
Weigert  227,  229,   233. 
Welander   160. 
Weiss  84. 
Wessel  439,  444. 
Wessely     119,     120,     142, 

143,   381. 
Westenhöfer  254. 
Widal   119,   143. 
Wiedmann  441.    - 
Wilde  369. 
Wilson  39,    157. 
Winternitz  23,  24,  80,  114, 

240. 
Witzel,  J.   412 
Wolff,  Evigen  452. 
Wolff   128. 

Wölfler  169,  170,  171,  354. 
Wolter   122. 

Ziegler  3,    199. 
Zülzer   116,   118,   123. 
Zuntz   196. 


Bier,  Hyperämie  als  Heilmittel. 


30 


Inhaltsverzeichnis. 


Ableitung  s.   Derivans. 
A bscesse,  Keimfreiwerden  dvirch  Hy- 
perämie  143,   147,   306. 

—  kalte  unter  künstlicher  Stauungs- 
hyperämie 2o5ff.,   265ff. 

—  heisse  bei  künsthcher  Stauungs- 
hyperämie 256 ff.,  Umwandlung  in 
kalte  305. 

—  Schröpfkopfbehandkmg  263,  409. 

—  Verschwinden  unter  Stauungsbe- 
handlung 306. 

Abschnürung  ii.  Resorption   177. 

Abschwäch ung,  der  Bakterien  durch 
Hyperämie  139ff.,  158,  178,  217, 
243  ff. 

Abtötung  der  Bakterien  durch  Hype- 
rämie s.  Abschwächung. 

Abwehrvorrichtungen  des  Körpers 
7,   140,  294. 

—  Versagen  derselben  9. 
Adaption     der     Knochenbruchenden 

234. 
Aderlass  u.   Chlorose  216. 

—  u.   Blutverbesserung  241. 
Adstringentien  als  Hyperämiemittel 

124. 

Aetherrausch  310,   331. 

Agglutinine   119,    143,   245. 

Akne  u.   Saugbehandlung  445. 

Akromegalie   190. 

Albuminurie  79,  nach  Transfusion 
246. 

Albumosen  243,   246. 

xA.lexine  7,    144. 

Alkaligehalt  des  Blutes  u.  Stauungs- 
hyperämie  145. 

Alkoholverband,  Salzwedels  121, 
158. 

Allgemeinbehandlung  240ff. 


Allgemeinerscheinungen  b.  Heiss- 
luftbehandlung  52  ff.,  bei  An  wen - 
dving  Jimodscher  Stiefel  91. 

Allgemeinnarkose  310. 

Amputation  tuberkulöser  Glieder  263, 
265. 

Amyloidentartung  ii.  konservative 
Behandlung  265. 

Anämie  u.  Hautreizmittel  116ff.,  121. 

—  u.  Resorption  175,   178. 

—  u.   Kopfschmerzen  416. 
Aneurysma  u.  Knochenverlängerung 

204. 
Angiektasie  u.  Knochenverlängerung 

204. 
Angiom   u.    Haarwachstum    198. 
Anpassung  8. 
Antikörper  7,    142ff. 
Antiphlogisten  6,  56,  152—156,  294, 

299,   339,  422. 
Antisepsis   155,  424. 
Antiseptica  264. 
Antistreptokokkenser um  322. 
Apparate   zur   Druckregulation   78. 

—  zur  Gelenkmobilisation   102  ff. 

—  Heissluft  32  ff. 

—  Henle'scher  77. 

—  zur  Hyperämisierung  des  KopfesllO. 

—  Junod's  89ff. 

—  Muck's  für  die  Nase  82. 

—  Pendel   105. 

—  Saug-  z.  Hj^perämisieren  94ff.,  104. 
— '■  entlastende  bei  Tuberkulose  267. 

—  Hessing'sche  268. 
Appendicitis,  Resorption  d.  Abscesse 

307. 

Appetit,  vermelirter  nach  Trans- 
fusion 245. 

Arthritis  deformans  136,  431  ff. 


Inhaltsverzeichnis. 


467 


A  r  z  n  e  i  ni  i  1 1  e  1  w  i  r  k  u  n  g  2  4  8  ff . 

Assimilation   183,    185. 

Antr uniempyem  369. 

Atmosphärendruck  in  Saugappa- 
raten   86,    90,    94,    99,    lOOff.,    104. 

Atrophie  der  Knochen   104,   433. 

Augenkrankheiten  u.  Stauungsbe- 
handlung 378ff..   418. 

Ausschabung  u.  Sekundärinfektion 
265  ff. 

—  Schädlichkeit  derselben   281. 
Autodigestion   181. 
Autolyse   181,   186. 

Badekuren  242. 
Baktericidie   des   Blutes    142. 

—  und  Alkaligehalt  des  Blutes  145. 
Bakterien,    Stoff  Wechselprodukte    u. 

Stauungshyperämie   144,   314. 

—  -proteine  246. 

—  -gifte  u.  Knochennekrose  b.  Osteo- 
myelitis 347. 

—  u.   Stauungsbehandlung  393  ff. 
Balneotherapie  23. 

Bamb Visstäbe  als   Schröpfköpfe   84. 

Bauchoperation  u. Nucleinsäure  243. 

Beeinflussung,  günstige,  verschie- 
dener Krankheiten  durch  Blut- 
injektion 246. 

BehandKmg,    alte   Methoden    112. 

—  poliklinische  der  Tuberkulosen  268. 

—  ambulante  der  Tuberkulose  diu-ch 
den  praktischen  Arzt  269. 

Beugesehnenscheiden  Phlegmo- 
nen s.   Sehnenscheidenphlegmonen. 

Beugung  versteifter  Gelenke   102. 

Beweglichkeit  entzündeter  Gelenke 
u.  Stauungshyperämie  156,  300,  315, 
325. 

Bezolds  Erkrankung  365,   375. 

Bindegewebsnarben,  Bildung  der- 
selben u.  Stauungshyperämie  217. 

—  Neubildung  u.  Stauungshyperämie 
144. 

—  Vermehrimg  u.  Staiiung  201,  u.  chro- 
nische Entzündung  202,  u.  Blut- 
erguss  235. 

Binden  der  Glieder  56.   93. 
Bindenstauung,  Technik  249,  254 ff.. 


s.  auch  Stau ungs binde  u.  Stauungs- 
hyperämie. 

—  bei  akuten  Entzündungen  u.  Eite- 
rungen der  Glieder  293  ff. 

—  u.   Decubitus   75,   400. 
Biologie  2. 

Blut,  Baktericidie  desselben  142,  144, 
243  ff. 

—  im  Entzündungsherd   142. 

—  als  Kühlstrom   17,   25ff.,    185. 

—  schlechtes  13. 

—  Alkalescenz  u.  Ernährung  145. 

—  -bahn  u.   Lymphstrom   119. 

—  -druck  u.  Hyperämie   121. 

—  -einspritzung  235,   246. 

—  -erguss  u.  Entzündvmg  229,  352, 
u.  Knochenbruch  233 ff.,  u.  Binde- 
gewebsneubildung  235,  als  Zellen- 
nahrung 235,  u.  Heissluftbehand- 
kmg  439. 

—  -gefässe  u.  Resorption   165  ff. 

—  -gerinnsei  u.  Hyperämie   180. 

—  -ki-eislauf   111,    159. 

—  -leere,  künstliche  65 ff.,  73, 159,  u.  Re- 
sorption 142,  144,  u.  Entgiftung  176, 
177,  anstatt  Stauungshyperämie  270. 

—  -neubildung  u.   Aderlass  216. 

—  -Strom  von  Frosch  u.  Fledermaus 
112,  im  Organismus  86. 

—  -Verbesserung  238ff.,  241. 

—  -Verteilung  a.  d.   Leiche   137. 

—  -Zersetzung  52,   78,   81. 
Blutungen   54,   durch   Diapedese    66, 

diorch  Saugapparate  94,  98 ff.,  unter 
Hyperämiebehandlung  400. 

Bogenlicht,  Finsen's   127. 

Brand  75,  der  Zehen  nach  Stauungs- 
hyperämie 270. 

Brei  als  Hyperämie  mittel   17. 

Brutöfen,  Guyot's  226. 

B  üb  o  n  e  n  u.  Schröpf  köpf  behandlung 
409. 

Cellularpathologie  239ff. 

Gentralnervensystem  u.  Hautreize 
113. 

Cerebrospinal-Meningitis  u.  Stau- 
ungsbehandlung 382. 

Chloräthylspray  310. 

30* 


468 


Inhaltsverzeichnis. 


Chlorose  u.   Aderlass   216. 

Cholesteatome  u.  Kopfstauung  .371. 

Chorea  74,  448ff.,  Huntington'sche 
450. 

Coxitis,  Behandlung  mit  Saugappa- 
raten 88., 

Dacryocystitis    74,    u.    Stauimgsbe- 

handlimg  379. 
Dampf,  warmer  90. 
Darwinsche  Lehre  2 ff.,    12. 
Deassimilation   183. 
Decongestion  20ff.,    136. 
Decubitus  75,  u.  Bindenstauung   400. 
Degeneration  der  Muskeln   193. 
Demarkation,     beschleunigt     durch 

Heissluftbehandlimg   158,   251,   311, 

457. 
Derivans  22,  120ff.,  127,  136ff.,  244, 

452. 

—  Saugglas  als  83,   91  ff. 

—  chemische  86,   lllff. 
Derivation  116,   118,   154. 
Diabetes  u.Hyperämiebehandlung  400, 

410,   455. 

Differentialluftthermometer   150. 

Diphtherie    u.    Stauungsbehandhmg 
388. 

Dreiwegehahn  88. 

Druckpumpe  mit   Schwungrad   110. 

Druckverband,  Volkmann's   179. 

Drüsenepithel  u.  Stauungshyperämie 
198ff. 

entzündungen  u.  Stauungshyperämie 

256,  289,  u.  Schröpfkopfbehandlung 
290. 

Durchspül ving,  Gewebs-  m.  Ödem- 
flüssigkeit  147. 

Dusche,  Heisshift-,  Kaltluft-  47,  446. 

Einspritzung  vonBlut  in  Gewebe  235. 
Eisbeutel  als  Hyperämiemittel  154. 
Eiter,  Schröpfköpfe  zum  Ansaugen  des 

Eiters  82 ff. 
Eiter  ungu.  Stauungshyperämie  7  6, 1 5 1 . 

—  akute  u.  Bindenstauung  293 ff.,  301, 
309. 

—  akute  und  ilxre  chirurgische  Behand- 
kmg  309  ff. 


—  progrediente  394. 

—  Erfalirungen  bei  akuten  E.   4 19  ff. 
Ei  weiss  im  Urin  bei   Stauiuig  81. 

—  -zimahme    im    Karamerwasser    119. 

—  -zerfall  bei  Transfusion  245. 
Ekzeme,   akute,    bei   akuten   Gelenk- 
tuberkulosen 276. 

—  u.  Hyperämiebehandlung  445. 
Elektrizität  als  Hyperämiemittel  17, 

126. 
Elektromotor  an  Saugapparaten  82. 
Elektrotherm  46. 
Elektrothermogen  47. 
Elephantiasis    179,    202,    ii.    Heiss- 

luftbehandlung  442. 
Ellbogengelenk,   Mobilisationsappa- 

rat   107. 

—  Heilung  des  tuberkulösen  275. 
Embryotrophe  228,   235ff. 
Endotoxine   178,  394ff. 
Entgiftung    u,   künstlicher    Blutleere 

176ff. 
Entziehungskuren  241. 
Entzündung  als  nützlicher  Vorgang 

6,   148,  423. 

—  akute  am  Kopf  74. 

—  akute    durch    chemische    Reizmittel 
115,   124ff. 

—  durch  Verbrühung   115,    118. 

—  Ausbleiben    derselben     als    Reflex- 
wirkung  115. 

—  Lymphstrom   129. 

—  u.    Stauungshyperämie    153 ff.,    156, 
293  ff. 

—  u.  Stromverlangsamung  153 ff.,  159, 
164. 

—  u.  Arbeitseinstellung   161. 

—  u.  Gewebseinschmelzung  181  ff.,  230. 

—  u,  Regeneration   163,   230. 

—  durch  Bluteinspritzung  235,   246. 

—  akute,   durch  Zimtsäure   242ff. 

—  akute,  u.  Infektionskrankheiten  245. 

—  akute,    bei   Anwendung   künstlicher 
Stauungshyperämie  256,  293  ff. 

—  u.   Stauungsbehandlung,  s.  d. 
Entzündungsherde      u.      Stauungs- 

hj'-perämie  217. 

—  reize,  künstliche,  n.  Knochenwachs- 
tum 205  ff. 


Inhaltsverzeichnis. 


469 


Enzyme    144,    183ff.,    186,    244. 
Epididy  mitis,     akute     gonorrh.,     u. 

Stauungshyperämie  74. 
Epilepsie  450ff. 
Epispastica   lllff. 
Epithel  Wachstum   u.   venöse  Stauung 

197  ff. 
Erbrechen  4. 
Erfrierung  u.   künstliche  Hyperämie 

226ff.,  458. 
Ernährung  241,  u.   Hyperämie  185. 

—  Störung  derselben  bei  künstlicher 
Stauungshyperämie  137  ff.,  147,  153, 
391  ff. 

Erregung,    reflektorische,    der    Hirn- 

gef  ässe   113. 
Erweichung,  Knochen-   104ff. 
Erysipel      bei     künstlicher     Stauung 

(Tuberkulose)  76,  151,  256ff.,  398. 

—  u.   Lupus   127. 

—  u.  Stauungsbehandhuig  353,  397. 
Exerzier knochen  u.  Bluterguss  234. 
Existenzfähigkeit   12. 
Exsudate,  perimetritische  und  Heiss- 

luftbehandlung  459. 

Fascienphlegmonen  u.  Stauungs- 
behandlung 399. 

Fermentwirkung   181. 

Fernwirkung  der  Hautreize  115ff., 
244. 

—  der  Entzündung   118  ff. 
Ferrum  candens  453. 
Fettinfiltration    der    Muskeln    193, 

196. 
Fieber  als  natiü-liches  Heilmittel  5,  245. 

—  -verlauf  u.  Stauiingshyperämie  155, 
178,   312ff. 

—  künstliches  245  ff. 

Finger,  schnellender,  u.  Hyperämie- 
behandlung  180. 

Fingergelenke,  Stauungsbehandhing 
akut  vereiterter  330. 

Fisteln,  Stauungsbehandlung  bei  F. 
des  Hodens  74. 

—  Saugebehandlung  derselben  264,  280, 
411. 

Flächenberührung,  verminderte,  bei 
Gelenken   135. 


Fledermaus,  Blutstrom  bei  ders.  112. 

Fleischnahrung  u.   Bhitalkalescenz. 

Folgezustände  akuter  Infektionen 
u.  Heissluftbehandlung  251,  311. 

Fontanellen   124,   244,  453. 

Frakturen,  komplizierte  u,  fehlender 
Bluterguss  234,  u.  Heissluftbehand- 
lung 437  ff. 

Frosch,  Blutstrom  bei  demselben  112. 

Frühoperation  bei  Osteomyelitis  u. 
Stauiongsbehandlung  348. 

Funktion,  gvite,  u.  konservative  Be- 
handlung 272  ff. 

Furunkel  behandlung  durch  Saug- 
glocken 87 ff.,  280,  408 ff. 

—  des  Gesichts  u.  Stauungsbehandlung 
411. 

Fussgelenk,  Apparat  zur  Mobilisation 
des  versteiften  F.    106. 

—  Tuberkulose  des  F.  261,  268,  u.  Aus- 
heilung 275. 

Fussgeschwulst  u.  Stauungsbehand- 
lung 440. 

Galvanoskop    u.    Hauttemperatur- 
messung  150. 

Gangrän,  senile  u.  diabetische  455. 

Gefahren  bei  der  Stauungsbehand- 
lung 389  ff. 

Gef ässkrankheiten  u.  Hyperämie- 
behandlung 454  ff. 

Gef  ässneubildung  durch  Schröpf - 
kopfbehandlung  282. 

Gehirnkrankheiten  u.  Hyperämie- 
behandlung 447  ff. 

Gelenkerkrankungen  47,   149. 

—  rheumatisch  versteifte  G.  104  ff., 
traumatisch  versteifte  G.  104ff.,  433. 

Gelenkrheumatismus  20,  149,  427, 
u.    Stauungsbehandlung   323. 

—  -entzündungen.  akute   157. 

—  -Versteifungen  135,  138,  u.  Hyper- 
ämiebehandlung 180,  251,  311,  319, 
u.  Heissluftbehandkmg  427 ff.  436 
(Gonorrhoe),   u.    Röntgenlicht    187. 

—  -wuchervmgen  u,  Hyperämie   180, 

—  -tuberkulöse,  Behandlung  derselben 
251  ff.,  in  verschiedenen  Lebens- 
altern 265,  u.  hochakute  Entzündung 


470 


Inhaltsverzeichnis. 


derselben  vuiter  Stauungsbehandking 
276. 

—  -tripper  u.  StaiiungsbehandhingS  1 5f  f . 
-Vereiterungen  u.  Stauungsbehand- 
lung   324  ff. 

—  -erguss  u.  Heissluftbehandlung  441. 
Gesichtsfurunkel    u.    Stauungsbe- 
handlung 411. 

Gewebsresorption   165ff. 

Gichtanfall,  akuter,  u.  Stauungsbe- 
handlung 352. 

Gif twirkungu.  Konzentration  178. 

Gipsverbände  u.  Stauungsbehandlung 
257. 

Glüheisen    als    Derivans    122 ff.,    244. 

Glühlichtbäder   127. 

Gonitis  crepitans   435. 

Gonorrhoe  134,  149,  157ff.,  161,  180. 

—  gonorrhoische  Gelenke  u.  Stauvings- 
behandlung  315 ff.,  u.  Heissluftbe- 
handlung 436. 

Granulation    54,    256,    264,    278ff. 

—  durch  Heissluft  beschleurügte  Gr.- 
Bildung   158,   311. 

Granulatio nsgewebe  u.  Schröpfkopf 
281  ff. 

Haarseile  124,  453. 

Haar  wachs  tum    u.    venöse    Stauung 

195  ff. 
Hämatvirie   119. 

—  nach  Transfusion  246. 
Hämoglobinurie  79,   81. 
Hämolyse   119,   143. 
Hämolysine  245. 
Hämospasie  90ff.,   94,    115. 
Handgelenk,     Apparat     zur    Mobili- 
sation  vertiefter   H.    102ff.,    109. 

Handgelenktuberkulose  261,  267, 
271ff.,   u.   Ausheilung  275. 

Handsaugpumpe   110. 

Handtuchverband  297. 

Hatitkrankheiten  u.  Hyperämiebe- 
handlung 445. 

Hautquecksilber  thermometer  149. 

Hautreizmittel   112ff.,    116. 

—  chemische   111  ff. 

—  u.  Lokalwirk^mg  116,  121,  u.  Fern- 
wirkung  1 1 5  ff . 


Hautspannung  98. 

temperatm-    50,     62,     65,    98,     118. 

149ff..    192. 
Heilfieber  245. 
Heilserum  u.  Hyperämie  323. 
Heilung  bei  Tuberkulose  275. 
Heilungsvorgänge,  natürliche  4,   7, 

14,    148,   308. 

—  u.    Stauungshyperämie   162. 
Heilungsdauer   der   Tuberkulosen 

u.   Stauungsbehandlung  278. 

Heilwirkung  der  Hitze  durch  Blut- 
strombeschleunigung  28,  127,  425, 
durch  Schweissverluste  28. 

Heissluf tapparate  20,  32ff.,  Knie 
35,  Fuss  35,  Schulter  36.  Becken  36, 
fixierte  Skoliosen  43,  Rücken  37. 

—  Universalapparate  40. 

—  elektrische  45. 

Heissl uftbäder,  Einfhiss,  lokaler  u. 
allgemeiner  30,  49,  auf  Puls  und  At- 
mung 51,  auf  Hauttemperatur  50, 
auf  Blutkreislauf  54. 

—  u.  Verbrennungen  51  ff. 

—  u.  Hautverfärbungen  52. 

—  u.  Schwächezustände  53. 

—  u.  giftige  Verbrennungsprodukte  53. 

—  Anwendungsdauer  54. 
Heissluftbehandlung,  Erfrierungen 

227,  458. 

—  Folgen  akuter  Infektionskrankheiten 
251,   311. 

—  Blutergüsse  zur  Resorptionsbeförde- 
rung 352. 

—  chron.   Gelenkrheumatismus  427  ff. 

—  Gelenkversteifungen  432  ff. 

—  Skoliose  436. 

—  frischer  subkutaner  Verletzungen 
437  ff. 

—  Ödeme  440,  Gelenkergüsse  441,  Ele- 
phantiasis 442,  Hautkrankheiten 
445,  Gefässerkrankungen,  Gangrän 
454. 

Heissluftdusche  46,  48,  416. 

—  u.   Entzündung   160,   352. 

—  u.  Tuberkulose   156 ff. 
Heissluftmassage  47,   416. 
Heizquelle  33,    Bedienung  38.   Modi- 
fikationen 38  ff. 


Inhaltsverzeichnis. 


471 


Herzfehler    u.     Lungentuberkulose 
252ff. 

Herzklopfen  u.  Heissluf tbehandlung 
53. 

Herztätigkeit   u.    Hautreize    112. 

Heuschnupfen  u.  Stauungsbehand- 
lung 388. 

Hirnabscess  374. 

Hochlagerung  u.  Resorption  173. 

Hodentuberkulose  257,  287. 

Humoralpathologie  239ff. 

Hustenanfall  4. 

Hydrämie  u.  Lymphstrom   129. 

Hydrops  tuberculosus  u.  Jodoform- 
glyzerin 266. 

Hydrotherapie  23,   99. 

Hygiene,  allgemeine   241. 

Hygrom,  tuberkulöses  u.  Stauungs- 
behandlung 288 ff.,  u.  Schröpf kopf- 
behandlung  289. 

Hyperämie  (s.  a.  Stauungshyper- 
ämie) bei  Lebenserscheinungen  13. 

—  funktionelle   14,   228. 

—  künstliche  Erzeugung  derselben  15. 

—  chemische  luid  physikalische  Eigen- 
schaften  14. 

—  reaktive  16,  24,  26,  67,  100,  118, 
222,  454. 

—  —  u.  Resorption   170. 

—  durch  Miiskeltätigkeit   17. 

—  durch  chemische    Mittel    17,    lllff. 

—  durch  Wärme   17,   24. 

—  durch  heisses  Wasser  19. 

—  ohne  Vermittlung  des  Nervensystems 
23  ff. 

—  Temperaturoptimum  29. 

—  Fernwirkung  derselben  31. 

—  als  Schmerzstillungsmittel  88,  120, 
134ff.,    155,    184,   249,   423. 

—  gemischte  88,    101. 

—  u.   Seitendruck   114. 

—  durch  innere  Mittel   125  ff. 

—  u.  Infektionskrankheiten  136,    147  ff. 

—  u.  bakterientötende  Wirkung  139 ff., 
158. 

—  durch  Eisbeutel   154. 

—  u.   Resorption   164 ff.,   438. 

—  u.   Schweissabsonderung   185. 

—  u.  Heilserum  323. 


—  aktive  5. 

—  —  Erzeugung  derselben   16. 

—  —  funktionelle  u.   Infektionskrank- 

heiten 161,  U.Hypertrophie  189. 

—  —  Begriff  derselben   162  ff. 

u.  Resorption  164 ff.,  \i.  Beschleu- 
nigung derselben  171  ff. 

—  —  u.  auflösende Wirkving  179 ff.,  434. 
u.  Wachsttmi  208  ff. 

—  —  u.   Regeneration  21 6  ff. 

—  passive,   Erzeugung  derselben    15, 

55,  u.  Gefahren  80,  Technik  75 ff. 
(s.  a.  Stauungshyperämie). 

—  —  bei  Knochenbrüchen  56ff.,   225. 

—  —  durch     die     Stauungsbinde     60, 

leichte  H.    61,  starke  H.   63. 

—  —  u.  Tiefenwirkung  65,   116ff. 

—  —  u.   Tuberkulosebehandlung   70, 

251  ff. 

—  —  u.  Anwendungsdauer  bei  Tuber- 

kulose 70. 

—  —  Stauungsbehandlung  am  Arm  68, 

^    Schulter  71,  Bein  73,   Kopf  73, 
Hoden  74. 

—  —  u.  Derivation  lllff. 

—  —  u.   Schweissabsonderung  185. 

—  —  durch  Schröpfköpfe,  s.  diese. 
Hyperleukocytose  243ff. 
Hypertrophie  u.  Hyperämie  189. 

—  entzündliche  227,   233. 

—  funktionelle  229. 

—  Übungsh.   229. 

Immunität  7,   252ff. 

Immunisierung   119,    142ff. 

Impftuberkulose  und  ihre  Ver- 
hütung 280. 

Incision  bei  Sehnenscheidenphlegmo- 
nen  309,   311,   331,  339. 

Induration,    cyanotische    199. 

—  braune  201. 

Infektion  wachsender  Körperteile  161. 

—  künstliche  243  ff. 
Infektionserreger  7. 

—  -krankheiten  58,  238.,  u.  Stau- 
ungshyperänaie    152 ff.,   250 ff. 

—  -gefahr  offener  Tuberkulosen  266. 
I  nf  iltr  atio  ne  n  u.Schröpfkopfbehand- 

lung  409. 


472 


Inhaltsverzeichnis. 


Injektion,   intravenöse  u.   künstUche 

Entzündung  243  ff. 
Insektenstiche     u.      Schröpfkopfbe- 

handlixng  409. 
Jodoformglyzerin  u.  kalte  Abscesse 

256ff.,  266,  u.  Spina  ventosa  286. 
Jodtinktur   111. 
Ischias  416. 

Kalkarbeiter  u.  Tuberkulose  145. 
Kallusbildung  57,  u.  Stauungshyper- 
ämie 206 ff.,   216,   219. 

—  u.  Nervendurchschneidung  21 8  ff, 
Kältereiz  20. 
Kaltluftdusche  26. 
Kammerwasserb.Entzündimgenll9. 

—  u.  Blutdruck  130. 

—  u.  Hyperämie   142. 
Kapellaren  99,  Erkrankungen  457. 
Kapselbazillen,  Friedländer's,  vi. 

Milzbrandinfektion  245. 

Karbunkel,  Saugbehandlung  280,410. 

Kataplasmen   160,   251. 

Keloide  181,  u.  Schröpfkopfbehandlung 
443. 

Keratitis  u.  Stauungsbehandhmg  380. 

Klimawechsel  242. 

Kniegelenk,  Apparate  zur  Mobili- 
sation desselben   107  ff. 

—  piierperale  Entzündung  desselben 
u.  Stauvmgsbehandlung  324. 

—  Erkrankungen  unbekannten  Cha- 
rakters 435. 

Knochenabscess  u.  Stauungsbehand- 

l-ang  351. 
Knochenbruch   u.  Hyperämie  225. 

—  u.   Bluterguss  233. 
Knochenneiibildung   185. 
Knochentuberkulose  u.  Schroth- 

sche  Kur  241. 

—  u.    Stauungsbehandlxong   288. 

—  u.  operative  Entfernung  289. 
Knochennekrose  347. 
Kollateralkreislauf    Uff.,    99,    159. 
Kompensationsstörung  15ff. 
Kompressen   160. 
Kongestion  136. 

Kontrakturen,  Behandlung  m.  Saug- 
apparaten  104,    109. 


—  nach  Gelenkerkrankvuig  268. 

—  der  Muskeln  138. 
Konzentration  u.    Giftwirkung   178. 
Kopf,    Apparat    zum    Hyperämisieren 

HO. 

—  -schmerzen  134,  anämische  416. 

—  -Stauung  358  ff. 
Krampfadern  u.  grosse  Saugapparate 

93. 

Krankheitssymptome  als  Lebens- 
erscheinungen 11. 

Kreislauf  bei  Behandig.  mit  Junod's 
Stiefeln  91. 

—  -Verbesserung  227. 

—  -Störungen  unter  Stauung  153,  künst- 
liche Kreislaufstörungen  in  d.  Niere 
213. 

Kühlstrom,  Blut  als  17,  25ff.,  185. 
Kulturvölker  u.  Schröpfköpfe  82,  89. 
Kürbis  als  Schröpf  köpf  84. 

Lebenserscheinungen  5,    12. 

tätigkeit  249. 

Leber,  Stauungs-  200 ff. 
Leukocyten,  Ansammlung  derselben 
u.  Stauimgshyperämie  143,  146,  250. 

—  u.  Gewebsauf lösung   181  ff. 
Leukocytose  242ff. 
Leukotaxis   187,  243ff. 
Lichtbehandlung   126ff. 

bäder  242. 

Lokalanästhesie   u.  Resorption  175. 

—  bei  kleinen  Operationen  264,   310. 
Lokalwirk  VI  ng     der     Hautreizmittel 

116. 
Luft,  heisse,  zur  Wärmeerzeugung  17, 
19  ff. 

—  -temperatur  u.  Erträglichkeitsgrenze 
17. 

—  -dusche  47. 

—  -Verdünnung  zum  Eiteransaugen  82, 
durch  Hitze  84,  durch  Saugkraft  84, 
89,  91,  96 ff.,  102,  durch  Kautschuk- 
ballon 85. 

—  -druck,  äusserer,  bei  grossen  Saug- 
apparaten 96,  s.  a.  Atmosphären- 
druck. 

—  -druck  u.   Orthopädie   101. 

—  -kissen  in   Saugapparaten    104. 


Inhaltsverzeichnis. 


^73 


bäder  242. 

.Lumbago     u.     Schröpf  köpfe     136,    u. 

Heissluftbehandlung    416. 
Lumbalpunktion  453. 
Lungen,  Stauungs-  200  ff. 

—  -tuberkulöse  u.  Schröpfkopfbehand- 
lung 88,  u.  Transfusion  246, 
u.  Pulmonalstenose  252 ff.,  schwere 
Lungentuberkulose  u.  konservatives 
Verfahren  265,  u.  Hyperämiebehand- 
lung 292ff.,  unter  Kuhn' scher  Saug- 
maske 293. 

Lupus   u.    Lichtbehandlung    126 ff. 

—  u.    Stauungsbehandlung   288. 

—  u.    Erysipel  u.   Transfusion   127. 

—  u.  Albumosen  246. 

—  u.    Saugbehandlung   291  ff. 
Lymphadenitis     296,     u.    Stauungs- 
behandlung 384. 

Lymphangitis  296. 

Lymphe  130,  Gerinnungsfähigkeit  131. 

Lymphoides    Gewebe    vi.    Röntgen- 

^  Ucht   186 ff. 
Lymphstauung  75,   202. 
Lymphstrom   u.    Blutdruck    128. 

—  u.  Hyperämiemittel   128. 

—  VI.  Nervendiu-chschneidung  128  ff. 

—  u.    Temperaturerhöhung    129. 

—  u.    Stau\ingshyperämie    131. 

—  u.   Entzündimg   132. 

—  u.  Resorption   165  ff. 

Manometer  an  Juno  d's  Stiefeln  90, 93, 

in  grossen  Saugapparaten   104. 
Massage  als  Hyperämiemittel  17,  am 

Auge  382. 
Mastitis  161,  u.  Saugbehandlung  413. 
Mastoiditis   74,   u.   Kopfstauung  362, 

Bezold's  Erkrankung   365. 
Melancholie  u.  Stauungsbeh.   452. 
Milchsäure,  Verminderung  der  Blut- 

alkalescenz   145. 
Milchzucker,     Resorptionsversuche 

167  ff. 
Milz,  Stammgs-   198 ff. 
Milzbrandu.  Stauungsbehandlung 352. 
Milzbrandbakterien  u.    Hyperämie 

139ff.,  u.  BlutalkaU  145. 
Mittelohreiterung  74. 


—  akute  u.   Kopf  Stauung  361  ff. 

—  u.  akute  Mastoiditis  362. 

—  chronische  u.   Kopf  Stauung  372. 

—  u.   Schröpf  köpf  behandlung  376. 
Mobilisation  versteifter  Gelenke  101. 

—  Apparate  zur   102  ff. 
Moor  als  Hyperämiemittel   17. 
Moxen  124. 
Mundbodenphlegmonen  u.Schröpf- 

kopfbehandlung  409. 
Muskelatrophie  76,    190. 

—  -kontraktiu-en   138. 

—  -gewebe  u.  venöse  Stauung  196ff. 

—  -degeneration   193. 

—  -hypertrophie   194  ff. 

—  -Pseudohypertrophie   190ff. 

—  -Zuckungen  191  ff. 

—  -Steifigkeit  64. 

Narbenerweichung  u.  Hyperämie  181, 
198. 

Nase,  Ivrankheiten  d.  82,  Saugbehand- 
lung derselben  83,  87  ff. 

Naturheilkunde  240,  423. 

—  -Völker,  Schröpfköpfe  bei  diesen  82, 
84,   92. 

Nebenhöhlen  der  Nase,  Saugbehand- 
lung 82. 
Nekrose  u. Stauungshyperämie  154, 3 12. 

—  u.  Entzündungsreiz  202. 

—  bei  Sehnenscheidenphlegmonen  338. 

—  bei  Osteomyelitis  342  ff. 
Neuralgie  134,   136,  415. 
Neuritis  u.  Stauungsbehandking  321. 
Niere,  Stauungs-  200 ff. 

—  künstliche  Kreislaufstörungen  in  der- 
selben 213. 

Nucleinsävire  243. 

Ödem  61,  71,  76,  110,  117,  130,  135, 
151,   156. 

—  u.  Seitendruck  114,  u.  Heissluftbe- 
handlvmg  249,  312,  440. 

—  Stauungs-  u.  seine  bakterientötende 
Kraft   141,   145,   151,   178,   183. 

—  Bakterienfreiheit  des  entzündlichen 
152. 

Ödematisierung  und  verlangsamte 
Resorption   178. 


174 


Inhaltsverzeichnis. 


Ofen,  Clado's  32. 

Ohnnaachtenbei  Heisshif t behandlnng 
53,  bei  Behandkmg  mit  Junod's 
Stiefel  91  ff. 

Ohrenerkrankung  s.  Mittelohr  418. 

Operationswunden  u.  Stauungsbe- 
handlung 303. 

Orthopädie  mittels  Luftdruck   101. 

Osmose   177,   236. 

Osteomyelitis,  akute  161,  u.  Stau- 
\mgsbehandlung  308,  341  ff.,  423,  u. 
Frühoperation  348,  rezidivierende 
349 ff.,  u.  miliare  Abscesse  351. 

Otitis  s.   Mittelohr. 

O  xydationsvorgänge  230ff. 

Panaritien  u.  Stauiongsbehandlung 
307,  u.  Schröpfkopfbehandlung  409, 
u.   Sehnenscheidenphlegmonen  339. 

Parästhesien  u.  Stauungsbehandhuig 
258,   268. 

Paronychien  u.  Schröpf  köpf  behand- 
lung  409. 

Parotitis  acuta  u.  Stauiingsbehand- 
lung  383. 

Par  ulis  74,  u.  Stauungsbehandlung  385. 

Peritonitis  u.  Röntgenstrahlen  187. 

Perkussionb.Knochenbrüchen59,234. 

Pflanzennahrung  u.  Blutalkalescenz 
145. 

Phagocytose  u.  venöse  Stauimg  146, 
236. 

Phlegmonen  u.  Stauungsbehandlung 
307,  399,  s.  a.  Sehnenseheidenphleg- 
mone. 

Phlogosin  u.  vermehrtes  Haarwachs- 
tum  198. 

Pilocarpin  243. 

Plattfüsse,  kontrakte  u.  Heissluft- 
behandlung  459. 

Pleuraempyem  u.  Behandlung  mit 
Saugapparaten  83. 

Pleuritis  86. 

—  u.  Schröpfkopfbehandlung  136. 

—  Erguss  bei  PL  u.  Punktion  126. 
Pneumokokken  Infektion    402. 
Poliomyelitis  acuta  453. 
Pollutionen     u.    künstliche     Hoden- 
stauung  199. 


Pol y therm  40. 

Praxis,  ärztliche  250. 

Priessnitz'  Umschlag   126,   251. 

Pronation,  Apparate  zur  Ausführung 
derselben   105  ff. 

Pseudarthrosen  56,  234. 

Pseudohypertrophie  der  Muskeln 
190,   193,   196. 

Psoriasis  u.  Hyperämiebehandlg.  445. 

Pulmonalstenose  u.  Lungentuber- 
kulose 252  ff. 

Puls  bei  Behandig.  mit  Junod's  Stiefel 
90. 

Punktion,  günstiger  Einf luss  der  P. 
auf  Bauchfelltuberkulose. 

—  u.  Plevu-itis  als  Hyperämiewirkung 
126. 

—  bei  osteomyelitischen  Abscessen 
342 ff.,   350. 

Purinbasen  187. 
Pustulantia  111. 
Pyridinbasen  53. 

Quecksilbermanometer  77. 
Q viecksilber massage  429. 

R  a  c  h e  n  k r  a  n  k  h  e  i  t e  n  u.  Schröpf kopf- 

behandlung  82. 
Reagenzglasversuche   142ff. 
Reaktionsvorgang  68,   148. 

—  Ausbleiben  desselben   149. 
Recidive   bei   geheilten   Tviberkulosen 

275. 
Reflexerregbarkeit  bei  muskulö.ser 

Pseudohypertrophie   1 9 1  ff . 
Regeneration    u.    Entzündung     103, 

227,   233. 

—  u.   Stauungshyperämie    216ff.,    220, 

225,  232. 
Reiskörperchen  288. 
Reitknochen  234. 
Reize  232ff.,  249. 

Reizmittel,  chemische u. Regeneration 

226,  333. 

—  chemische  u.  mechanische  R.  u. 
Ivnochenwaehstum  203 ff.,   233. 

Resektion  tuberkulöser   Glieder   263, 

265. 
Resorption  u.  Schweissverlust  20 f. 


Inhaltsverzeichnis. 


475 


—  u.   Heisskift   31,    164,    352. 

—  verlangsamte,  durch  Saugglocken  83, 
88. 

—  u.   Hyperämie   120,    155. 

—  u.   Entzündung   160. 

—  u.  Beeinflussung  ders.    169 ff. 

—  u.   Hochlagerung   173. 

—  u.   Stauungshyperämie   173 ff. 

—  u.  Anämie   175,   178. 

—  u.  Abschnürixng   177. 

—  u.  Lymphstrom  179. 
Resorptionsversuche   166ff. 

—  -nachweis  durch  Milchzucker  167  ff. 
— ■  -Vorgänge   165  ff. 

Revulsion20ff.,91ff.,  lllff.,  124,244. 
Resultate,  verschiedene, bei Staviungs- 

behandlung  298. 
Rheumatismus    98.    136,    s.    Gelenk- 
rheumatismus. 

—  VI.   Schroth'sche  Kur  241. 
Riesenwuchs   189. 

R  ö  n  t  g  e  n  1  i  c  h  t  u .  Stauungshyperämie 
127. 

—  u.   lymphoides   Gewebe    186 ff. 

—  u.  Gelenkversteifungen  187. 

—  u.  Leukocytose  244. 
Rtibefacientia  111. 
Rückenmarksanästhesie  310. 
Rüekgratsver krümmung    u.   Lun- 
gentuberkulose 252ff. 

Ruhigstellung  krankerGelenke 266 ff . 
325. 

Säfte,  schlechte   13,    112. 
Sandbad,  heisses   17,   19. 

—  u.   Gewichtsverlust  28. 

Sauerstoff  Verarmung   100. 

Saugapparate,  Behandlung  mit  den- 
selben 85ff.,  für  die  Nase  82,  Pleura- 
empyem 83. 

—  mit  Gummiballon  85,  mit  Spritze  84, 

—  grosse  S.  89ff.,  104,  115,  282,  zum 
Hyperämisieren  94 ff.,  ztir  Behand- 
lung des  Handgelenkes  102ff.,  109, 
des  Fussgelenkes  106,  des  Knie- 
gelenkes 107,  109,  des  Ellenbogen- 
gelenkes 107,  109,  der  Spina  ventosa 
286. 

—  u.    akvite   Infektion   282. 


—  u.   chronisches  Ödem   285  ff. 

—  bei  Lungentuberkiuo.se  293. 
Saugbehandlung   s.    Schröpfkopf. 
Saugen  mit  dem  Munde  84,   92. 

—  als  Schmerzstillungsmittel   136. 
Saugmaske,   Kuhn'sche  293. 
Saug  pumpe,  grosse,  mit  Schwungrad 

110. 
Saugspritze,   Geschichtliches  84. 

—  Junod's  90. 

Schlamm   als   Hyperämiemittel    17. 
Schlangenbissu.  Abschnürung  1 7 7 ff . 
Schlauch,  Henle'scher  297-. 
Schmerzen     u.     Stauungshyperämie 
258. 

—  u.  Saugapparate  104,  u.  Hyperämie 
120. 

S  c h  m  e r  z  s  t  i  1 1  u  n  g  als  Hyperämiewir- 
kung 120,  299.   323ff. 

—  thermische   136. 

Schnupfen     v;.     Stauungsbehandlung 

387. 
Schornstein,   Quincke's  33. 
Schröpfkopf    (s.     a.     Saugapparate), 

Hj'^perämie  diirch  denselben  81,  86, 

127.   164. 

—  aus  Metall  vxnd  Glas  85. 

—  -formen  87  ff. 

—  VI.     Behandlung     vergifteter     Wun- 
den  174  ff. 

—  u.   Sequester  263. 

—  u.  Abscesse  264. 

—  Technik   278ff.,    281,    291,   408ff. 

—  Reinigung  279. 

—  u.   Granulationsgewebe  281. 

—  u.  Gefässneubildung  282. 

—  -behandlung  u.  Drüsenentzündungen 
290. 

—  —  VI.   Lupus  291. 

—  —  infizierterOperationswunden  305, 

352. 

u.   Furunkel   352,   408  ff. 

u.  Karbunkel  352,  410. 

—  —  infektionsverdächtiger     frischer 

Wunden  354 ff. 

—  —  von  Ohreiterungen  376. 

—  —  von  Eiterungen  u.  Entzündungen 

408  ff. 

—  —  bei  Ohren-  u.  Augenkrankheiten 


476 


Inhaltsverzeichnis. 


418,    Keloiden    443,    Akne    445, 

Spondylitis  453. 
Schröpfstiefel  Junod's  89. 
Schroth'sche  Kur  241. 
Schuhform  des   Schröpf kopfes   82. 
Schultertuberkulose  257. 
Schüttelfrost  u.  Transfusion  245. 
Schutzkräfte     der     Blutbestandteile 

143. 
Schweisssekretion  29,    185. 

—  u.   Teniperaturoptimiim   29. 

—  -Verdunstung   18,    100. 

—  -Verlust  u.    Resorption    28  ff. 
Schwitzbett  Quincke's  33. 
Secrete,     Ansaugen     diirch     Schröpf- 
köpfe 82. 

Seebäder  u.  Tuberkulose  242. 
Seekrankheit  452. 
Sehnenscheidenphlegnionen    138, 

u.  Stauungsbehandlung  307,   330ff., 

394. 

—  tuberkulöse  ii.  Stauungsbehandlung 
288.  u.  Eröffnimg  durch  kleine 
Schnitte   309,   311,  331,  420  ff. 

Seitenkettentheorie  8. 
Sekundärinfektion  u.  Ausschabvmg 

265. 
Senfteig  111,   127. 

—  u.  Blutkreislauf  113,  u.  Hämaturie 
118. 

Sensibilität   bei   Pseudohypertrophie 

der  Muskeln   191  ff. 
Sequesterausstossung  262 ff. 

—  -einheihing  bei  Osteomyelitis  acuta 
346. 

Serumbehandlung  143   (subcut.),   242. 

Skoliose  u.  Heissluftbehandlung  436. 

Sondierung  265. 

Sonnenbäder  242. 

Spermin  243. 

Spina     ventosa,     Behandlung     mit 

grossen  Saugapparaten  286. 
Spitzf ussstellung  268. 
Spondylitisbehandlung  mit  Schröpf- 

köpfen  88,  453. 
Staphylokokken     u.     Hyperämie 

140. 
Stauung,  kalte  68,  weisse  75,   133. 

—  venöse,  u.  Kiiochenwachstum  195  ff. 


Stauvingsbinde  68,  127,  s.  a.  Binden- 
stauung  u.    Stauungshyperämie. 

—  u.  Resorption   173 ff. 

—  u.    Tuber kulinreaktion    174. 
Stauungshyperämie  16,  56ff.,   164, 

184. 

—  Technik  69ff.,  75, 137, 249, 258,  261, 
263,  264,  269,  270,  277,  288,  294, 
300,   318,   358  (Kopfstauung). 

—  bei  Knochenbrüchen  56. 

—  mit  Junod's  Stiefel  93. 

—  dm-ch  Schröpf  köpfe  83,   86. 

—  U.Erysipel. 7 6,    151,   256. 

—  u.  Ernährungsstörvmgen  137,  139, 
146ff.,   232. 

—  u.  bakterientötendeM^irkungT40, 146. 

—  u.  Blutalkaligehalt   145. 

—  u.  Nekrosen   154. 

—  u.  Resorption    173ff.,    314,    352. 

—  u.    Fieberverlauf    178,    312ff. 

—  u.    Ernähnmg    184,    188ff. 

—  u.   Stickstoff ausscheidung   187. 

—  u.  Epithelialgewebe   197  ff. 

—  u.    Muskelhypertrophie    197  ff. 

—  u.   Haarwachstum    197  ff. 

—  u.  secernierendes  Drüsengewebe  1 98f  f . 

—  u.  Milchsekretion   199. 

—  u.  Entzündungsherde  217. 

—  u.  Kallusbildung  216,  219. 

—  u.  Erfrierungen  227. 

—  u.   Tuberkulosebehandlung  251  ff. 

—  u.   heisse  Abscesse   256,    305. 

—  u.  kalte  Abscesse255ff.,265ff.,277ff. 

—  VI.   Sepsis  257. 

—  u.   Zehenbrand  270. 

—  als  konservatives  Verfahren  277. 

—  bei  akuten  Entzündungen  und  Eite- 
riingen   an   den   Gliedern    293 ff. 

—  u.  Neiu-itis  321. 

—  u.   akuter  Gelenkrhevimatismus  323. 

—  u.  Erysipel  353. 

—  bei  frischen  infektionsverdächtigen 
Wunden  354. 

—  bei  Lues  u.   Tetanus  356. 

—  bei  akuten  Eiterungen  des  Mittel- 
ohrs 361  ff. 

—  bei  Augenkrankheiten  378. 

—  bei  akuter  Cerebrospinal-Meningitis 
382. 


Inhaltsverzeichnis . 


47^ 


—  bei  akuter  Parotitis  383. 

—  bei   akuter   Lymphadenitis    384. 

—  bei  Parulis  385  ff. 

—  bei  Schnupfen  (Heu-)  387. 

—  bei  Diphtherie  388. 

—  bei  TonsiUiten  388. 

—  GefährUchkeit  389ff. 

—  Kontraindikationen,    angebl.    396ff. 

—  Todesfälle  402. 

—  bei  clironischem  Gelenkrheumatis- 
niixs  428. 

—  bei  traumatischen  Versteifvingen  433. 

—  bei  frischen  Verletzungen  439,  Ten- 
dovaginitis  crepitans  444,  Haut- 
krankheiten 445,  Neuralgien  410, 
Gehirnkrankheiten  447. 

Stauungslunge  200 ff.,  arterielle  Hy- 
perämie derselben   15. 

Stauungsödem  141,   145,   151. 

Sterilisation,  diskontinuierliche    156. 

Stickstoffausscheidung  ii.  Stau- 
ungshyperämie  187. 

Stiefel,  Junod's  89. 

Stoffwechselprodukte,  bakterielle, 
u.    Stauungshyperämie    144. 

Streckung  versteifter  Gelenke  103 ff. 

Streckverband  u.  Stauungshyper- 
ämiebehandlung 257,   268. 

Streptokokken  u.  Stauungshyper- 
ämie  139,   393 ff.,  396. 

Stromverlangsamung  u.  Entzün- 
dung 153 ff.,  164,  u.  Hyperämie  250. 

Supination,  Apparate  z\xc  105 ff. 

Suppurantia  111. 

Syphilis  242,  u.  Stauungsbehandlung 
356. 

Tamponade,  Schädlichkeit  derselben 
264,   281,   311,  331,  422. 

Technik  der  Bindenstauung  s.  Stau- 
ungshyperämie . 

—  der     Schröpfkopfbehandlung     s.    d. 
Teleologe,  der  Ai'zt  als  Iff. 
Teleologie  Iff. 

—  anthropocentrische   Iff. 
Temperatur,    Höhe    der    ertragenen 

17  ff. 

—  Toleranzgrenze  30. 

—  u.  Resorption  172. 


—  -messung  mit  thermoelektrischen 
Nadeln  121. 

—  -erhöhung  u.   Lymphstrom   129, 

—  u.    künstliche    Infektion    245. 

—  -Optimum  29. 

—  der  Haut  nach  Heissluftbehandlung 
50,  bei  Stauung  62,  65,  in  Saug- 
apparaten 98,  bei  Entzündung 
118. 

—  u.  Hautreize   118. 

—  -erniedrigung  (lokale)  u.  Stauungs- 
behandlung 257,  u.  allgem.  Tempe- 
raturerniedrigung 312  ff. 

Tendovaginitis   crepitans   444. 
Tenotomie  u.  Bluterguss  236. 
Tetanus  u.  Stauungsbehandlung  356. 
Thermometer    zur    Hautteiuperatur- 

messung   149  ff. 
Thermophore   17,    19,   251. 
Thränenstrom  4. 
Thrombosen.  Hypertrophie  193ff. 

—  u.   Hyperämiebehandlung  454. 
Tiefenwirkung  der  chemischenHaut- 

reizmittel   116ff.,    120. 

—  des  Glüheisens   122  ff. 
Tierhörner  als  Schröpf  köpfe  84. 
Tonsillen   u.   Schröpf  köpf  behandlung 

88. 
Tonsillitis    u.     Stauungsbehandlung 

380. 
Toxine  der  Tuberkulosen  395. 
Transpiration  in  Junod's  Stiefel  90. 
Transfusion  79,  81,  183,  Tierblut-Tr. 

245  ff. 

—  u.  Lupus   127. 
Trigeminusneuralgie  416. 
Trippergelenke  u.  Stauungsbehand- 
lung 3 15 ff.,  s.  a.  Gonorrhoe. 

Trommelstockfinger  204ff. 
Tuberkulinwirkung   144. 

—  -reaktion  u.  Stauungshyperämie 
174. 

Tuberkulose  149,  des  Hodens  74,  257, 
287. 

—  Infektionsgefahr  offener  T.   266. 

—  u.   Kalkarbeiter   145. 

—  u.   chronisches  Ödem   258,   285. 

—  der  Gelenke  70. 

—  u.  Erysipel  76,  151,  2ö6ff.,  398. 


478 


Inhaltsverzeichnis. 


—  u.    Heisshiftbehandking    156. 

—  des  Schlütergelenks  257,   272. 

—  des  Fiissgelenks  261,  272. 

—  des  Handgelenks  261,   267 — 271. 

—  der  Sehnenscheiden  288. 

—  des  Ellenbogengelenks  272. 

—  des  Ivniegelenks  272. 

—  der  Ivnochen  288. 

—  der  Haut  288. 

—  der  Drüsen  288. 

Typhvis,  gegen  T.  immunisierte  Tiere 
119. 

—  -agglutinine   143. 

Übelkeiten  bei  Behandl.  m.  Junod's 

Stiefel  91. 
Unterdrück   im   saugenden    Schröpf - 

köpf  86. 
Uterinmilch  236. 

Vakuumkessel  110. 

Variation  der  Arten   12. 

Varicen  77,  454. 

Vasomotorenlähmvmg  u.  Lymph- 
strom   129. 

Venenthrombose  u.  Hypertrophie 
190  ff. 

—  bei   Stauungsbehandltuig   401. 

—  u.  Heissluftbehandlung  454. 

Ventousen  89. 

Verbandtechnik  bei  der  Stauungs- 
hyperämie 257,  264,  281,  297.  311, 
325. 

Verbrennung  27,  30,   51. 

Verbrühen   115,    118. 

Verla ngsamung  des  Blutstromes  bei 
Entzündtmg   153  ff.,   159. 

Vesicantia   111. 

Versteifungen  s.  Gelenkerkrank- 
ungen, Apparate  zur  Mobilisation 
versteifter   Gelenke   102  ff. 

—  tuberkulöse  Gelenke    105. 

—  chronische,   der  Gelenke   135,    138. 

—  nach  Infektionskrankheiten  155,  u. 
Heissluftbehandlung  251,   311. 

—  u.  Rulügstellung  267,  318. 

—  II.   Heissluftbehandhuig  427  ff. 


Vitalisten   12. 

Volksmedizin  240,  250,  415,  haut- 
reizende Mittel  in  derselben   111. 

Volumsvermehrung  der  Glieder  d. 
Hitze  22. 


Wachstum      u.     Stauungshj^perämie 

189ff. 
Wärme  als  Hyperämiemittel  17 ff.,  86, 

160. 
gefühl  89. 

—  -reize  20. 

Wasser,  heisses,  als  Hyperämiemittel 
19,  251. 

—  als  Hautreiz   114,   249. 
Wasserärzte  22. 

Was  s  erb  ad,  heisses,  als  Hyperämie- 
mittel 261. 

Wasserheilkunde   20,   54,    114,    162. 

Wechseldusche,   schottische   47. 

Wilde' scher  Schnitt  369 ff. 

Wundbehandlung,  aseptische  mit 
reizenden  Mitteln  357. 

Wunden,  Behandlung  infizierter  W. 
mit  Heissluft  158,  mit  dem  Schröpf- 
kopf 305,  frischer  infektionsverdäch- 
tiger mit  hyperämisierenden  Mitteln 
355  ff. 

Wundheilung  8ff. 


Zahnfisteln     u.     Schröpf  köpf  behand- 

lung  411. 
Zentralnervensystem  u.  Narkotika 

161. 

—  u.  Kopfstauung  bei  Tetanus  357. 

—  Krankheiten     desselben    u.    Hyper- 
ämiebehandlung 447  ff. 

Zimtsäure   144,   242. 
Zirkulationsstörung   99,    144,    151, 
155,   u.   Eingeweide    199  ff. 

—  -Veränderung  148. 

—  unter   Stauungshyperämie    258. 

—  bei  grossen  Abscessen  309. 
Zweckmässigkeit  2ff.,    12,    149. 
Zylinder,  Junod's  90. 


Spamersche  Buchdruckerei  in  Leipzig-R. 


l^P-  ^  ^oM 


'tri 


QO  - 


.^v^ 


^/t-  ö'  -^o 


«CV 


^o 


-^aO' 


o : 


o  ■- 


o     O