Skip to main content

Full text of "Algerien, Tunesien, Tripolitanien"

See other formats


Aiigewaudte  Geogniphie. 


Hefte  zur  Verbreitung  geographischer 

Kenntnisse  in  ihrer  Beziehung  zum  Kultur- 

und  Wirtschaftsleben. 


Redaktion :  Professor  Dr.  Karl  Dove,  Jena. 


V.  Serie.     S.  Heft. 
Moritz  Schanz:   Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien. 


Halle  a.  S. 

Gebauer-Schwetschkc  Druckerei  und  Verlag  m.  b.  H 
1905. 


x^..^^U^yf^f 


Algerien 
Tunesien 
Tripolitanien. 


Von 


Moritz  Schanz. 


Halle  a.  S. 

Gebauer-Schwetschke   Druckerei  und  Verlag  m.  b.  H. 
1905. 


Lßy  DAOEN  EM  ßy  NACHTEN 
2>  o  lANO  oy  Moo  By  krachtcn 
En  OMVERSLETEt>1  ZXT 


*V^ 


?969l'! 


ISO 


Algerien. 


Das  heutige  Algerien  entspricht  ungefähr  dem  alten  Geschichte. 
„Numidien",  unter  welchem  Namen  man  im  Altertum, 
ursprünglich  ohne  scharfe  Grenzen,  das  ganze  Hinterland 
der  nordwestafrikanischen  Küste  bezeichnete  und  zwar  nach 
seinen  Bewohnern,  den  „Nomaden",  d.  h.  unsteten  Reiter- 
völkern, die  in  den  heutigen  Berbern  fortleben.  Zur  Zeit  des 
zweiten  punischen  Krieges  finden  wir,  durch  den  Ampsaga 
(Ued  el  Kebir)  geschieden,  zwei  große  Stämme,  im  Westen 
bis  zum  Muluchat  (Muluja)  das  an  Mauretanien  grenzende 
Gebiet  der  Massäsylier,  im  Osten  bis  an  den  Tusca  (jetzt 
Ued  es  San)  das  an  Karthagischen  Besitz  grenzende  Gebiet 
der  Massylier,  während  im  Süden  das  Atlasgebirge  diese 
Numidier  von  dem  Lande  der  Gätuler  und  des  inneren 
Libyens  trennte.  Am  Ausgang  des  3.  Jahrhunderts  vor  Chr. 
stand  das  westliche  Numidien,  der  weitaus  größere  Teil, 
unter  der  Herrschaft  des  Syphax,  der  östliche  unter  Masi- 
nissa,  Sohn  des  Gala,  der  mit  Hülfe  der  Karthager  sich 
des  ihm  widerrechtlich  entzogenen  Thrones  bemächtigt  hatte 
und  daher  deren  Verbündeter  war,  während  Syphax,  der  in 
Siga,  nahe  der  Tafna,  residierte,  auf  selten  der  Römer  stand, 
mit  denen  er  207  vor  Chr.  ein  Bündnis  schloß.  Als  er  aber 
infolge   seiner   Verheiratung   mit   Sophonisbe,    der   Tochter 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  1 


Hadrubals,  auf  die  Seite  Karthagos  herübergezogen  wurde 
und  Masinissa  vertrieb,  suchte  dieser  Hülfe  bei  den  Römern, 
welche  204  unter  Scipio  in  Afrika  landeten.  Syphax  wurde 
wiederholt  besiegt  und  endlich  gefangen,  sein  Reich,  als  Dank 
Roms,  201  an  Masinissa,  den  Fürsten  der  Massylier,  über- 
tragen, welchem  die  Karthager  alles  herausgeben  mußten, 
was  einst  zu  Numidien  gehört  hatte,  d.  h.  das  ganze,  bislang 
unter  karthagischer  Oberherrschaft  stehende  Küstengebiet  bis 
zur  großen  Syrte,  sodaß  von  dieser  bis  zum  Grenzfluß  Mu- 
luchat,  mit  Ausnahme  des  eigentlichen  karthagischen  Gebiets 
zwischen  dem  Tusca  und  der  kleinen  Syrte,  das  ganze  Land 
an  Masinissa  kam.  Dieser  schuf  zum  ersten  Male  ein  Reich 
Numidien,  dessen  Hauptstadt  zunächst  Hippone,  von  den 
Römern  später  Hippo  regius  genannt,  nahe  dem  heutigen 
Bone,  seit  Micipsa  Kartha,  von  den  Römern  Cirta  genannt, 
das  heutige  Constantine  war.  Masinissas  Grabmal  ist 
vermutlich  das  noch  heute  existierende,  eigenartige  Mauso- 
leum der  „Medrassen"  nördlich  von  Batna. 

Drei  Söhne  Masinissas  teilten  sich  nach  dessen  149 
erfolgtem  Tode  in  das  Reich,  das  auch  nach  Karthagos  Fall 
146  bestehen  blieb,  und  nach  dem  Tode  zweier  Brüder  ver- 
einigte Micipsa  unter  seinem  Zepter  wieder  ganz  Numidien, 
welches  er  119  unter  zwei  Söhne  und  seinen  Neffen  Jugurtha 
teilte.  Nach  der  Vernichtung  des  letzteren,  welcher  die 
Alleinherrschaft  an  sich  zu  reißen  trachtete,  gaben  die  Römer 
im  Jahre  106  den  Teil  Numidiens  westlich  vom  Nasavath 
(Ued  Sahel  oder  Sumam)  an  Mauretanien,  Ost-Numidien  bis 
zum  Tusca  aber  an  zwei  numidische  Prinzen,  während  das 
Syrtengebiet  unter  römische  Herrschaft  gestellt  wurde.  Juba  I., 
ein  Enkel  Micipsas,  hielt  sich  im  Bürgerkrieg  zwischen  Pom- 
pejus  und  Caesar  treu  zu  ersterem,  als  er  aber  in  der  Schlacht 
bei  Thapsus  besiegt  wurde  und  sich  darauf  tötete,  wurde 
auch    Numidien    als  Africa   nova  -     im   Gegensatz   zu    der 


—     3     — 

„alten"  karthagischen  Provinz  At'rica  vetus  —  dem  Römischen 
Reiche  einverleibt  und  erhielt  als  Präfekten  den  Geschichts- 
schreiber Sallustius,  der  das  Land  erbarmungslos  plünderte. 
Im  Jahre  30  vor  Chr.  machte  Augustus  Numidien  wieder  zu 
einem  selbständigen  Königreich  unter  Juba  II.,  und  als  er 
diesem  im  Jahre  26  auch  Mauretanien  zuteilte,  beließ  er  ihm 
Westnumidien  bis  zum  Ampsaga,  während  der  kleinere  öst- 
liche Teil  Numidiens  zwischen  Ampsaga  und  Tusca  mit 
Africa  vetus  zusammen  zu  einer  Provinz  Africa  verschmolzen 
wurde.  Jubas  II.  Grab  ist  wahrscheinlich  der  rätselhafte 
Bau  des  sogenannten  „tombeau  de  la  Chretienne"  nahe 
Scherschel. 

Bei  der  Einverleibung  Mauretaniens  in  das  Römische 
Reich  durch  Claudius  im  Jahre  42  nach  Chr.  und  der  Teilung 
in  West-  und  Ost-Mauretanien  umfaßte  das  letztere  unter  dem 
Namen  Mauretania  Caesariensis  mit  der  Hauptstadt  Jol 
Caesarea  (heute  Scherschel)  das  Gebiet  zwischen  Muluchat 
und  Ampsaga,  während  das  Land  zwischen  Ampsaga  und 
Tusca,  bis  dahin  Verwaltungsbezirk  der  Provinz  Africa,  unter 
Septimus  Severus  um  das  Jahr  200  nach  Chr.  als  selbständige 
Provinz  Nu  midi a  eingerichtet  wurde  und  eine  solche  auch 
unter  der  diocletianischen  und  constantinischen  Monarchie 
blieb.  Mauretania  Caesariensis  dagegen  wurde  297  unter 
Diocletian  in  die  größere  westliche  Hälfte  unter  dem  bis- 
herigen Namen  und  mit  der  Hauptstadt  Jol,  und  in  dem 
östlichen  Teil  Mauretania  Sitifensis  mit  dem  Hafen  Saldae 
(jetzt  Bougie)  und  der  Hauptstadt  Sitifi  (jetzt  Setif)  getrennt. 
Unter  Kaiser  Maxentius  wurde  Cirta  311  vollständig  zerstört, 
aber  schon  im  folgenden  Jahre  von  Konstantin  dem  Großen 
wieder  aufgebaut  und  nach  ihm  Constantine  genannt. 

Das  Land  befand  sich  während  der  Kaiserzeit,  ebenso 
wie  Africa  vetus,  im  blühendsten  Zustand  und  hatte,  als 
das    Christentum    eindrang,    viele    völkerreiche   Städte,    im 

r 


-     4     - 

4.  Jahrhundert  allein  123  Bischofssitze;  neben  den  Residenzen 
Jol,  Sitifi  und  Constantine  waren  besonders  wichtig  Icosium, 
das  heutige  Algier,  Ruscurium,  das  heutige  Dellis  und 
Hippo  regius  bei  Bone;  im  Innern  Lambesia  (Lambessa) 
und  Theveste  (Tebessa);  die  in  neuester  Zeit  vorgenommenen 
Ausgrabungen  in  Lambessa  und  dem  nahen  Timegad  haben 
prächtige  Reste  der  Römerzeit  zutage  gefördert,  und  selbst 
bis  in  die  Sahara  hinein  war  man  vorgedrungen,  z.  B.  nach 
dem  heutigen  Biskra. 

Bei  der  Teilung  des  Römischen  Reiches  im  Jahre  395 
kam  Numidien  mit  ganz  Nordwestafrika  zusammen  an  das 
weströmische  Reich,  aber  bald  darauf  unter  die  Herrschaft 
derVandalen,  deren  Führer  Geiserich  zunächst  Saldae  zur 
Hauptstadt  seines  afrikanischen  Reiches  machte,  das  aller- 
dings keinen  langen  Bestand  haben  sollte.  Nachdem  Nord- 
afrika 534  in  die  Hände  der  Byzantiner  gefallen  war, 
welche  gegen  die  wieder  erstarkenden  Eingeborenen  nicht 
viel  mehr  als  einige  Küstenstädte  zu  halten  vermochten,  er- 
oberten im  Jahre  708  die  Araber  auch  Numidien  und  zer- 
störten den  Rest  der  blühenden  Kultur  aus  der  Römerzeit, 
den  die  Vandalen  allenfalls  noch  übrig  gelassen  hatten. 
Nachdem  die  Araber  ihre  Herrschaft  befestigt,  erhob  sich 
zwar  auch  das  dem  mittleren  Maghreb  zugeteilte  Numidien 
von  neuem,  aber  doch  nicht  wieder  zur  früheren  Blüte. 

Den  Emiren  der  arabischen  Khalifen  folgten  die  selb- 
ständigen arabischen  Dynastien  der  Edrisiden  ab  790  in 
Maghreb  el  Aska,  welche  auch  Aghadir,  das  heutige  Tlem- 
sen,  in  West -Algerien  beherrschten,  und  der  Aglabiten  ab 
800  im  mittleren  Maghreb,  welche  909  durch  die  Fatimiden 
gestürzt  wurden,  die  zeitweilig  wieder  ganz  Nordafrika  unter 
ihrem  Zepter  vereinigten. 

Im  10.  Jahrhundert  zerfällt  Algerien  in  verschiedene 
Teile.     Etwa    um    902    gründeten    aus    Spanien    kommende 


—      D      — 

maurische  Kaufleute  unter  der  Ägide  der  Edrisiden  von  Tlem- 
sen  die  Handelsstation  Oran,  die  zunächst  manche  Kämpfe 
mit  den  benachbarten  Stämmen  zu  bestehen  hatte.  Unter 
Zeiri  (auch  Ziri  und  Zori  geschrieben)  aus  dem  Stamme  der 
Beni  Mesghanna,  dem  Gouverneur  von  Aschir,  einer  Provinz 
des  mittleren  Maghreb,  erhält  dessen  Sohn  Bologgin  um  die 
Mitte  des  Jahrhunderts  die  Erlaubnis,  die  drei  Städte  Miliana, 
Lemdia  (heute  Medea)  und,  etwa  im  Jahre  940,  AI  Dschesair, 
das  heutige  Algier  zu  gründen,  und  die  Dynastie  der  Zei- 
ri den  gewinnt  in  verschiedenen  ihrer  Zweige  ausgedehnte 
Herrschaft  in  Nordafrika;  so  regieren  in  Constantine  die 
ihnen  verwandten  Hammadiden.  Gleichfalls  im  10.  Jahr- 
hundert faßte  der  Berberstamm  der  Bedschaia  festen  Fuß  in 
dem  alten  Saldae,  das  er  nach  seinem  Stammnamen  Bud- 
schaia  (Bugia,  Bougie)  benannte,  und  das  bald  eine  so 
hohe  Bedeutung  erlangte,  daß  man  es  als  „Klein -Mekka" 
bezeichnete;  der  Platz  wurde  ein  wichtiges  Entrepot  im  Ver- 
kehr zwischen  Nordafrika  und  der  Christenheit.  Seine  alte 
hohe  Stellung  im  Maghreb  behielt  aber  besonders  Aghadir, 
und  zwar  nicht  nur  unter  den  Ifreniden,  welche  hier  von 
954 — 1080  herrschten,  sondern  auch  unter  den  Almoraviden 
und  den  Almohaden,  welch'  letztere  sogar  um  1152  den 
von  da  ab  Tlemsen  genannten  Platz  zur  glänzenden  Resi- 
denz ihres  großen  afrikanischen  Reiches  machten. 

Etwa  um  1248  wurden  die  Almohaden  in  Tlemsen  von 
dem  Statthalter  Ghamarassan  vom  dort  ansässigen  Zenata- 
stamm  der  Abd-el-Wad  verdrängt,  dem  Stifter  der  Dynastie 
der  Zianiden  oder  Abdelwahiden,  die,  mit  einem  kurzen 
Zwischenreich  der  Meriniden  (1299—1307  und  1337—1359) 
mit  allmählich  abnehmendem  Machtgebiet  und  Glanz  bis 
1553  regierten  und  sich  die  jetzigen  Provinzen  Oran  und 
Algier  unterwarfen,  allerdings  ausschließlich  der  Gebiete  von 
Oran,   Tenes,   Algier  und  Bugia,    die  sich  zu  unabhängigen 


Staatsgebilden  entwickelt  hatten,  in  der  Folge  aber  auch  dem 
Königreich  TIemsen  tributpflichtig  wurden. 

Die  Stadt  Algier  entwickelte  sich  zunächst  nur  langsam; 
als  die  Spanier  1302  mit  vier  Schiffen  hier  erschienen,  fanden 
sie  nur  eine  befestigte  Umwallung  ohne  jeden  Handel  vor, 
und  sie  begnügten  sich  damit,  die  im  Hafen  liegende  Fels- 
insel des  Penon  in  Besitz  zu  nehmen.  Die  1342  aus  Italien, 
1380  aus  Holland  und  die  aus  anderen  Staaten  vertriebenen 
Juden,  sowie  die  aus  Spanien  fliehenden  Mauren  mögen  dazu 
beigetragen  haben,  Algiers  Handel  zu  entwickeln,  und  auch 
der  aufblühende  Seeraub  trug  dazu  bei,  die  Bedeutung  des 
Platzes  zu  heben. 

Die  Seeräuberei  gab  schließlich  aber  Spanien  will- 
kommenen Anlaß  zum  Eingreifen.  Im  Jahre  1505  ließ 
Ferdinand  der  Katholische  zunächst  das  nahe  Oran  liegende, 
1477  von  den  Portugiesen  aufgegebene  Mersa  el  Kebir 
besetzen,  und  1509  erschien  Kardinal  Ximenez,  der  Anstifter 
dieses  neuen  Kreuzzugs,  persönlich  in  Afrika,  um  die  Stadt 
Oran  zu  belagern  und  im  selben  Jahre  einzunehmen.  An- 
fang 1510  unterlag  den  Spaniern  auch  Bugia,  und  die 
Städte  Dellis,  Mostaganem  und  TIemsen  waren  nicht  in  der 
Lage,  ernstlichen  Widerstand  zu  leisten  und  wurden  Spanien 
tributpflichtig.  Auch  vor  Algier  erschien  1510  eine  Truppen- 
macht unter  dem  Gouverneur  von  Oran  und  zwang  den 
Emir  der  Metidscha,  Selim  Ben  Teumi,  in  einem  Vertrage 
zu  der  Verpflichtung,  die  Christen  auszuliefern,  die  Unter- 
stützung der  Piraterei  aufzugeben  und  zehn  Jahre  lang  Tribut 
an  Spanien  zu  bezahlen;  zur  Überwachung  dieser  Bedingungen 
errichteten  und  besetzten  die  Spanier  ein  Fort  auf  der  im 
Hafen  liegenden  Insel,  dem  Peüon. 

Selim  aber  rief  dagegen  1516  die  verhängnisvolle  Hülfe 
türkischer  Korsaren  an,  welche  etwa  um  1510  begonnen 
hatten,   die  nordafrikanische  Küste  zu    plündern,    1514  den 


—     7     - 

Genuesen  Dschidschelli  wegnahmen  und  die  Gelegenheit 
gern  ergriffen,  unter  ihrem  Führer  Horuk  Barbarossa  nach 
Algier  zu  kommen,  freihch  nicht  als  Befreier.  Horuk  machte 
sich  vielmehr  bald  selbst  zum  Herrscher  der  Stadt,  ließ 
Selim  erdrosseln  und  besetzte  1516-1517  auch  Medea, 
Tenes,  Mostaganem  und  Tlemsen,  während  seine  Flotten 
die  Küsten  Spaniens  und  Italiens  auf  das  grausamste  brand- 
schatzten und  verwüsteten.  Karl  V.  sandte  deshalb  Ver- 
stärkungen nach  Oran,  und  mit  Hülfe  dieser  gelang  es,  Horuk 
1518  zunächst  aus  Tlemsen  zu  vertreiben  und  dann  auf 
seiner  Flucht  zu  töten. 

Die  Korsaren  aber  wählten  als   ihren  Führer  nunmehr 
Horuks  Bruder,   Cheireddin,  der,  von  Spaniern   und  Einge- 
borenen gleichmäßig  bedroht,  Rückhalt  an  der  Pforte  suchte, 
sich  1519   unter  deren   Lehnshoheit  stellte  und   vom  Sultan 
Selim  1.  als  Beg  oder  Bei  (-  „Herr")  von  Algier  eingesetzt 
wurde.     Mit  Hülfe    der  von  Konstantinopel   gesandten  Ver- 
stärkungen von   2000  Mann  bekämpfte    er   die  Spanier   er- 
folgreich   zur  See    und    vertrieb    sie   1530    auch    aus  ihrem 
Inselfort    im   Hafen    von  Algier;    diese  Insel    selbst    ließ    er 
dann    durch    eine,    aus    den    Trümmern    der    geschleiften 
Festung    hergestellten    Mole,    an    welcher   30000    Christen- 
sklaven  drei   Jahre  lang  arbeiteten,    mit  dem  Festland  ver- 
binden nnd  die  Stadt  umwallen.     Nachdem  Cheireddins  Ein- 
mischung in  Tunis  1534  durch   die  Spanier  vereiteU  und  er 
selbst  1536  nach  Konstantinopel  zurückberufen  wurde,  folgte 
ihm  in  Algier  der  Eunuch  Mohammed  Hassan  Pascha,  und 
die  algerischen  Piratenschiffe  bildeten   mehr  und   mehr  den 
Schrecken  der  Christen   am  Mittelmeer.     Kaiser  Karl  V.  be- 
schloß deshalb  1541    einen    neuen  Strafzug  nach  Afrika,   an 
dem    er   diesmal    sogar   persönlich  teilnahm,    begleitet   von 
370  Schiffen  und  30000  Mann;  am  30.  Oktober  landete  die 
Expedition  bei  Algier,  mußte  aber,  nachdem  ein  furchtbares 


Unwetter  ihr  Lager  und  viele  Schiffe  zerstörte,  unter  schweren 
Verlusten  abziehen.  So  dauerten  die  Raubzüge  der  alge- 
rischen Korsaren  lustig  fort.  Dem  nächsten  Pascha,  Chei- 
reddins  Sohn  Hassan,  folgte  1552  ein  Araber  aus  Egypten, 
Salah  Reis  Pascha,  welcher  1553  auch  Tlemsen  eroberte 
und  verwüstete  und  1555  durch  eine  schmähliche  Kapitulation 
des  Grafen  Peralta  das  spanische  Bugia  gewann,  sodaß  in 
Algerien  nur  noch  Oran  spanisch  blieb.  Nachdem  1561  ein 
spanisches  Heer  im  Westen  von  Algerien  vernichtet  worden 
war,  planten  die  Korsaren  auch  die  Eroberung  Marokkos 
und  die  Gründung  eines  großen  nordafrikanischen  Reiches; 
doch  machten  die  Spanier  den  Sultan  von  Marokko  auf  die 
Gefahr  aufmerksam,  und  den  Franzosen  gelang  es,  den 
Großherrn  in  Konstantinopel  so  eifersüchtig  auf  die  Begler- 
begs  zu  machen,  daß  er  diese  1587  durch  Paschas  mit 
nur  dreijähriger  Amtsdauer  ersetzte.  Die  Janitscharen-Miliz 
wirkte  aber  im  Jahre  1600  das  Recht  aus,  einen  Agha  oder 
Dei  (eigentlich  „Oheim")  aus  ihrer  Mitte  zu  erwählen,  der 
insbesondere  ihr  Befehlshaber  sein  und  mit  dem  Pascha  die 
Gewalt  teilen  sollte.  Je  mehr  die  Säbelherrschaft  in  Algier 
zur  Blüte  kam,  umsomehr  führte  der  vom  Sultan  ernannte 
Pascha,  der  meist  landfremd  und  einflußlos  blieb,  nur  noch 
eine  Scheinherrschaft,  und  schon  von  1659  ab  machten  sich 
die  Deis  so  unabhängig  von  der  Gewalt  der  Paschas,  daß 
die  Engländer  1662  mit  dem  Dei  einen  Vertrag  abschlössen, 
und  der  letzte  Pascha  wurde  1669  von  den  Janitscharen 
verjagt. 

Nachdem  man  mit  den  Eroberungen  bis  an  die  marok- 
kanische Grenze  und  bis  zur  Wüste  vorgerückt,  wurde  die 
Regentschaft,  deren  Hauptstadt  Algier  blieb,  in  die  drei 
Beiliks  Mascara,  später  Oran,  Titeri  mit  dem  Hauptort 
Medea  und  Constantine  eingeteilt.  Die  Begs,  ebenso  wie 
später  die  Deis,  folgten  sich  meist  überaus  schnell  und  ver- 


—     9     — 

blichen  selten  eines  natürlichen  Todes;  ihre  Geschichte  ist 
eine  fast  ununterbrochene  Folge  von  Ermordungen,  Kriegen, 
Erpressungen  und  tyrannischen  Handlungen  aller  Art,  nach 
außen  wie  nach  innen. 

Nur  Frankreich,  daß  sich  aus  Gründen  seiner  euro- 
päischen Politik  mit  der  Pforte  freundlich  gestellt  hatte,  ver- 
stand anfangs  auch  einigermaßen  mit  Algier  auszukommen, 
hatte  durch  Marseiller  Kaufleute  schon  1520  1560  gegen 
jährliche  Abgaben  das  ausschließliche  Recht  der  Korallen- 
fischerei bei  La  Calle,  Kap  Roux  und  später  auch  bei  Collo 
erworben,  das  bald  zugunsten  der  Compagnie  d'  Afrique 
erneuert  wurde,  und  war  auch  schon  seit  1557  durch  einen 
Konsul  in  Algier  vertreten,  während  England  damit  erst 
1580  folgte. 

Aber  da  die  algerische  Raubflotte  allmählich  zu  der 
stattlichen  Zahl  von  300  Schiffen  anwuchs,  welche  ihr  Ge- 
werbe nicht  lässig  betrieben,  so  folgten  sich  die  Konflikte 
mit  fremden  Mächten  immer  häufiger,  und  leider  zogen  letz- 
tere dabei  fast  regelmäßig  den  kürzeren.  Angriffe  auf  Algier 
seitens  der  Holländer  1624  und  der  Engländer  1620, 
1655,  1669,  1670  und  1675  blieben  ohne  jeden  dauernden 
Erfolg,  und  ebensowenig  vermochten  die  Franzosen  durch 
drei  Bombardements  der  Stadt  in  den  Jahren  1682,  1683 
und  1688  die  Unterdrückung  der  Seeräuberei  zu  erreichen, 
sodaß  man  sich  allerseits  zu  dem  schimpflichen  Ausweg  be- 
quemte, Frieden  und  Ruhe  von  den  Piraten  zu  erkaufen,  und 
zwar  teilweise  sogar  durch  Lieferung  von  Kanonen,  Munition 
und  anderem  Kriegsmaterial  an  die  Seeräuber.  Brauchte  der 
Dei  aber  Geld,  so  erklärte  er  einfach  den  Krieg  an  irgend 
eine,  ihm  gerade  passende  Nation  und  zwang  diese,  ihm 
unsinnige  Abstandssummen  zu  zahlen,  oder  er  veranlaßte 
auch  recht  häufigen  Wechsel  in  der  Person  der  Konsuln, 
damit  sich  die  üblichen  „Antrittsgeschenke"  oft  wiederholten. 


—     10     — 

Der  Dei  Ibrahim  eroberte  1708  auch  Oran  von  den  Spaniern, 
das  diese  1732  allerdings  noch  einmal  zurücknahmen  und 
stark  befestigten. 

Der  Dei  Baba  Ali  hatte  sich  inzwischen  seit  1710, 
bis  auf  einige  nebensächliche  Formalitäten,  gänzlich  unab- 
hängig gemacht,  bezahlte  keinen  Tribut  mehr,  und  die  Pforte 
hörte  auf,  eigene  Paschas  für  Algerien  zu  ernennen.  Alge- 
rien bildete  seitdem  einen  reinen  Soldatenstaat  unter  dem 
von  den  Janitscharen  gewählten  und  von  der  Pforte  be- 
stätigten und  zum  Pascha  erhobenen  Dei,  dem  ein  Diwan 
oder  Staatsraat  von  60  Beamten  zur  Seite  stand. 

Nachdem  die  Spanier  1775  ihre  letzte  große  Expe- 
dition unter  General  O'Reilly  nach  Algier,  1783  und  1784 
ebenso  vergeblich  zwei  Bombardements  der  Stadt  unter- 
nommen hatten,  gaben  sie  Oran,  welches  1790  durch  ein 
Erdbeben  fast  völlig  zerstört  worden  war,  1792  endgültig  in 
friedlichem  Vergleich  auf,  und"3as  algerische  Raubnest  konnte 
den  christlichen  Mächten  nach  wie  vor  Trotz  bieten  und 
sich  die  schwächeren  tributpflichtig  machen;  Tribut  bezahlten 
u.  a.  das  Königreich  beider  Sizilien,  Toskana,  Sardinien, 
Portugal,  Dänemark  und  Schweden;  Hannover  und  Bremen 
gaben  ansehnliche  Gratifikationen,  und  selbst  England  be- 
quemte sich  bei  jedem  Konsulswechsel  zu  einem  „Geschenk" 
von  600  Pfund  Sterling.  Die  gefangenen  Seeleute  und  Pas- 
sagiere aber  verfielen  der  Sklaverei,  aus  der  sie  nur  gegen 
schwere  Summen  gelöst  werden  konnten,  und  alle  Vor- 
stellungen der  christlichen  Mächte  blieben  unbeachtet.  Zwar 
war  die  See-  wie  Landmacht  Algiers  im  Laufe  des  18.  Jahr- 
hunderts ganz  wesentlich  zurückgegangen,  sodaß  ein  durch- 
greifendes Vorgehen  irgend  einer  Großmacht  unschwer 
Erfolg  gehabt  haben  würde,  aber  man  hatte  in  Europa 
genug  mit  seinen  Kämpfen  untereinander  zu  tun,  und  wenn 
man  von  Algier  nur  gerade  selbst  in  Ruhe  gelassen  wurde, 


—    n    — 

war  man  gar  nicht  böse,  wenn  dieses  den  Handel  des  lieben 
Nachbars  schädigte. 

Franivreichs  Bruch  mit  der  Türi<ei  durch  Napoleons 
Zug  nach  Egypten  veranlaßte  auch  den  Dei  von  Algier 
gegen  in  seinem  Gebiet  wohnende  französische  Konsuln, 
Priester  und  Gewerbetreibende  zu  harten  Maßregeln ,  die 
Napoleon  im  Jahre  1800  zu  dem  Angebot  eines  Friedens- 
geldes von  300000  Piastern  bewogen.  Da  aber  die  Pforte 
damit  nicht  einverstanden  war,  verwies  der  Dei  1801  alle 
Franzosen  des  Landes  und  verjagte  auch  die  französischen 
Korallenfischer  aus  La  Calle;  dieses  Fischereiprivileg  pach- 
teten 1807  für  zehn  Jahre  gegen  eine  jährliche  Summe  von 
11000  Pfund  Sterling  die  Engländer,  allerdings  nicht,  um  es 
selbst  auszubeuten,  sondern  nur,  um  die  Franzosen  hier 
fernzuhalten. 

Auch  die  Amerikaner  hatten  sich,  seitdem  sie  unab- 
hängig geworden ,  eine  Reihe  von  Unbilden  und  Kriegs- 
erklärungen seitens  der  algerischen  Machthaber  gefallen 
lassen  und  den  Frieden  ebenso  erkaufen  müssen,  wie  die 
europäischen  Staaten;  schließlich  empörte  man  sich  in 
Washington  aber  doch  gegen  weitere  Tributzahlungen,  der 
amerikanische  Kommodore  Decatur  schlug  am  20.  Juni  1815 
bei  Cartagena  die  algerische  Flotte  und  erlangte  in  einem 
Vertrag  mit  dem  überraschten  Dei  die  Unverletzlichkeit  der 
amerikanischen  Flagge. 

Als  dann  aber  1816  auch  die  Engländer  eine  Flotte 
unter  Lord  Exmouth  nach  dem  Mittelmeer  schickten,  um 
den  Seeraub  der  Barbareskenstaaten  zu  unterdrücken,  lehnte 
der  Dei  von  Algier  Unterhandlungen  darüber  ab  und  ließ 
am  23.  Mai  1816  die  Mannschaft  von  359  italienischen 
Booten,  welche  die  Korallenfischerei  gepachtet  hatten  und 
unter  englischer  Flagge  in  Bone  lagen,  überfallen  und  nieder- 
metzeln.    Lord  Exmouth,  dem  sich  auch  ein  niederländisches 


—     12     — 

Geschwader  angeschlossen,  bombardierte  daraufhin  am  27. 
August  1816  Algier,  verbrannte  die  gesamte  dort  befindliche 
Piratenflotte  und  zwang  den  Dei  am  nächsten  Tage  zu  dem 
Versprechen,  die  Christensklaverei  für  immer  abzuschaffen 
und  die  zur  Zeit  in  seinem  Gebiet  gefangen  gehaltenen 
1200  Christen  zu  befreien. 

Aber  schon  1817  wagten  sich  algerische  Seeräuber 
wieder  bis  in  die  Nordsee  und  nahmen  Schiffe  der  Mächte 
weg,  welche  ihnen  weder  Tribut,  noch  Geschenke  bewilligt 
hatten,  der  englische  Konsul  in  Algier  wurde  nach  wie  vor 
unwürdig  behandelt,  und  der  letzte,  1818 — 1830  herrschende 
Dei  Hussein  bemühte  sich,  seine  Piratenflotte  wieder  mög- 
lichst zu  vermehren. 

Wiederholte  Verletzungen  der  französischen  Flagge  und 
1823  der  Wohnung  des  französischen  Konsularagenten  hatten 
auch  die  französische  Regierung  schon  gegen  den  Dei 
Hussein  gereizt,  als  dieser  von  Frankreich  eine  hohe  Summe 
für  Getreide  forderte,  welches  zwei  algerische  Juden  Bakri 
und  Busnah  während  der  egyptischen  Expedition  geliefert 
hatten.  Sein  hierauf  bezüglicher  Brief  an  den  König  von 
Frankreich  blieb  ohne  Antwort.  Als  nun  zum  Beiramfest, 
am  27.  April  1827,  der  Dei  die  Konsuln  empfing,  frug  er 
den  französischen  Vertreter  nach  der  Ursache  dieses  Still- 
schweigens, und  als  Deval  recht  taktlos  erwiderte,  ein  König 
von  Frankreich  könne  sich  nicht  soweit  herablassen,  mit 
einem  Dei  von  Algier  zu  korrespondieren,  schlug  er  ihm 
mit  dem  Fliegenwedel  ins  Gesicht  und  erging  sich  in 
Schmähungen  gegen  den  König.  Nun  erschien  ein  franzö- 
sisches Geschwader  vor  Algier,  nahm  den  französischen 
Konsul  auf  und  begann,  da  der  Dei  das  französische  Ulti- 
matum ablehnte,  die  Blockade  am  12.  Juni  1827;  der  Dei 
ließ  dagegen  die  zum  Behuf  der  Korallenfischerei  bei  Bone 
gegründeten  französischen  Niederlassungen  zerstören.    Nach- 


—     13     — 

dem  die  schwächliche  Blockade  drei  Jahre  lang  nur  den 
Spott  der  Piraten  herausgefordert  hatte,  entschloß  sich  die 
französische  Regierung,  die  einen  auswärtigen  Erfolg  wünschte, 
1830  endlich,  eine  große  Unternehmung  gegen  Algier  auszu- 
rüsten und  sandte  unter  dem  Oberkommando  des  Generals 
Bourmont,  des  Kriegsministers,  eine  Flotte  von  75  Kriegs- 
schiffen mit  37  500  Mann  des  Landheeres;  die  Expedition 
wurde  am  14.  Juni  in  der  Bucht  von  Sidi  el  Ferruch,  west- 
lich der  Stadt  Algier,  ungehindert  ausgeschifft  und  zwang 
nach  verschiedenen  glücklichen  Kämpfen  am  5.  Juli  1830  die 
Stadt  Algier  zur  Übergabe.  Hussein  Dei  verzichtete  auf  die 
Herrschaft;  dafür  wurde  ihm  sein  Privatvermögen  belassen 
und  die  freie  Wahl  seines  Wohnorts  außerhalb  Algeriens  ge- 
währt; er  reiste  mit  seinem  Harem  und  Gefolge  bereits  am 
10.  Juli  ab,  zunächst  nach  Neapel,  dann  nach  Livorno,  von 
wo  er  sich  später  nach  Egypten  begab.  Die  türkischen 
Janitscharen  wurden,  teils  sofort,  die  verheirateten  kurze  Zeit 
darauf,  nach  Smyrna  transportiert,  den  übrigen  Einwohnern 
Achtung  der  Religion  und  des  Eigentums,  Freiheit  des  Han- 
dels und  der  Gewerbe  zugesichert,  die  Christensklaverei, 
sämtliche  Tribute  der  fremden  Staaten  und  alle  Monopole 
für  immer  abgeschafft. 

So  war  denn  endlich  mit  geringer  Mühe  das  Raubnest  be- 
zwungen, welches  jahrhundertelang  ganz  Europa  in  Schrecken 
gehalten  hatte,  und  die  50  Millionen  Francs,  die  man  im 
Staatsschatz  vorfand,  genügten  reichlich,  die  Kosten  der  E.x- 
pedition  zu  decken.  Das  Land  freilich  mußten  die  Franzosen 
erst  noch  erobern,  und  das  erwies  sich  als  schwieriger,  als  an- 
gesichts der  elenden  Lage  eigentlich  erwartet  werden  konnte. 
War  Algerien  durch  die  lange  Mißwirtschaft  doch  völlig  ver- 
armt, seine  gesamte  Handelsbewegung  überstieg  damals  nicht 
3^  _•  Millionen  Mark  im  Jahre,  die  einzigen  Plätze  von  Be- 
deutung waren  Algier,  Blidah,  Bone  und  Scherschel,  währen! 


—     14     — 

im  Innern  allgemein  Mißtrauen  und  Streit  untereinander 
herrschten.  Aber  der  islam  bildete  das  Bindeglied  zähen 
Widerstandes,  Araber  und  Berber  vergaßen  vorübergehend 
ihren  alten  Rassenhaß,  die  während  der  Türkenherrschaft 
fast  vollständig  unabhängig  gebliebenen  Berberstämme  wehr- 
ten sich  gegen  die  neuen  Eindringlinge,  wie  gegen  die 
früheren,  und  die  endgültige  Eroberung  des  Landes,  dem  ein 
allgemein  anerkannter  Häuptling  fehlte,  forderte  noch  große 
Opfer  an  Blut  und  Geld. 

Das  Schlimmste  war,  daß  Frankreich  während  der 
nächsten  zehn  Jahre  überhaupt  zu  keinem  festen  Entschluß 
darüber  kam,  ob  es  nur  einige  Küstenpunkte  Algeriens  be- 
setzen, oder  das  ganze  Land  nehmen,  und  sodann,  ob  man 
das  Land  durch  Beis  regieren  lassen  oder  unter  direkte  fran- 
zösische Verwaltung  stellen  solle.  Der  Dei  von  Algier  war 
zwar  schnell  genug  entfernt  worden ,  aber  dessen  drei  Va- 
sallen, die  Beis  von  Oran,  Tjteri  und  Constantine,  waren 
geblieben.  Zunächst  war  man  nicht  abgeneigt,  sich  mit  einer 
Art  Schutzherrschaft  über  die  verschiedenen  Beis  begnügen 
zu  wollen,  indem  man  sich  teils  mit  den  alten  verständigte, 
teils  neue  einsetzte.  Der  Bei  Mustapha  von  Titeri  ließ  sich 
von  Prankreich  belehnen,  Hassan,  Bei  von  Oran,  bat  selbst 
um  eine  französische  Besatzung,  und  nur  der  Bei  Achmed 
von  Constantine  zeigte  eine  feindliche  Haltung.  Mersa  el 
Kebir  im  Westen  und  Bone  in  Osten  wurden  vorläufig  durch 
französische  Landtruppen  besetzt.  Bald  sollte  es  zu  Ver- 
wicklungen kommen,  und  zwar  veranlaßte  Bourmonts  Un- 
geschick zunächst  offene  Feindseligkeit  des  Beis  von  Titeri. 
Bereits  am  23.  Juli  stießen  die  Franzosen  bei  Blidah  auf 
einen  vom  Bei  veranlaßten  Aufstand,  als  der  Sturz  Karls  X. 
durch  die  Ju  li- Revolution  eine  Stockung  in  den  franzö- 
sischen Unternehmungen  verursachte.  Bourmont,  der  zu 
den  Bourbonen   hielt,   zog  sämtliche  französische  Truppen- 


-     15     — 

teile,  deren  Disziplin  eine  sehr  lockere  geworden  war,  nach 
der  Stadt  Algier  zurück,  wurde  selbst  aber,  nachdem  sich 
Flotte  und  Heer  für  die  neue  Regierung  erklärten,  durch 
Marschall  Clauzel  ersetzt.  Am  liebsten  allerdings  hätte  die 
Juli-Regierung  die  lästige  und  gefahrvolle  Eroberung  über- 
haupt wieder  aufgegeben,  schon  um  mit  England  in  guten 
Beziehungen  zu  bleiben,  das  sie  von  Anfang  an  mit  scheelen 
Augen  ansah,  aber  man  wagte  es  nicht,  weil  die  öffentliche 
Meinung  eine  tatkräftige  äußere  Politik  forderte.  Immerhin 
dachte  man  zunächst  nur  an  eine  beschränkte  Besetzung 
Algeriens. 

Der  energische  Clauzel  begann  sofort  mit  Erweiterung 
des  Gebiets  durch  Streifzüge  in  das  Innere,  nahm  persönlich 
im  November  1830  Blidah  und  verfolgte  und  schlug  darauf 
in  den  Bergen  den  Bei  Mustapha  von  Titeri,  an  dessen 
Stelle  er  in  Medeah  einen  Bei  seiner  Wahl  einsetzte, 
während  General  Damremont  im  Dezember  Oran  besetzte 
lind  der  Bei  Achmed  von  Constantine  durch  ein  Dekret 
für  abgesetzt  erklärt  wurde.  Clauzel  belehnte  nun  einen 
Bruder  des  Beis  von  Tunis,  Sidi  Mustapha,  mit  den  beiden 
Provinzen  Oran  und  Constantine  gegen  einen  an  Frankreich 
zu  zahlenden  jährlichen  Tribut  von  je  einer  Million  Francs. 
in  Paris  erblickte  man  aber  darin  eine  Überschreitung  seiner 
Befugnisse,  auch  fand  man  dort  das  ganze  Unternehmen  wieder 
einmal  zu  weit  gehend  und  rief  deshalb  Clauzel  schon  1831 
ab;  die  Armee  in  Afrika  wurde  für  aufgelöst  erklärt,  und 
man  beließ  dort  nur  eine  Besatzungsdivision  unter  Befehl 
des  Generals  Berthezene,  der  mit  den  schwachen,  ihm  zur 
Verfügung  stehenden  Mitteln  nur  notdürftig  das  wenige  bisher 
Erreichte  sichern  konnte  und  sich  bald  wieder  nach  Frank- 
reich zurückzog. 

Das  Kabinett  Casimir  Pe'rier,  das  Ende  1831  ans  Ruder 
kam,  erneuerte  und  verstärkte  zwar  die  afrikanische  Armee, 


—     16     — 

traf  aber  in  dem  Befehlshaber  Savary,  Herzog  von  Rovigo, 
(lg31_33)  die  denkbar  unglückhchste  Wahl  für  eine  Mission, 
die  neben  Energie  auch  besondere  Intelligenz,  Takt  und  be- 
rechnende Zurückhaltung  erforderte.  Unter  dem  alten  Hau- 
degen des  Kaiserreichs  wurde  zwar  1832  Bone  erobert  und 
1833  Arzeu,  Mostaganem  und  Bougie  besetzt,  aber 
gleichzeitig  durch  übereilte  Neuerungen  große  Verwirrung 
angerichtet,  und  zahlreiche  Konfiskationen,  militärische  Ex- 
zesse und  brutale  Behandlung  reizten  die  verschiedenen  Klas- 
sen der  Bevölkerung,  die  Araber,  Berber  und  Kuluglis,  statt 
sie  durch  kluge  Politik  voneinander  zu  trennen,  zu  gemein- 
samem Widerstand  gegen  die  fremden  Eindringlinge  an. 
Savarys  Gewaltstreiche  brachten  bald  ganz  Algerien  in  Auf- 
ruhr, und  als  ein  besonders  gefährlicher  Feind  erhob  sich  im 
Westen  der  1807  als  Sprößling  einer  Priesterfamilie  geborene 
Abd  el  Kader,  der  sich  durch  seine  Tüchtigkeit  und  sein 
weitverbreitetes  Ansehen  zum  Emir  von  Mascara  empor- 
geschwungen hatte,  einen  Rückhalt  am  Sultan  von  Marokko 
fand  und  den  „heiligen  Krieg"  gegen  die  Franzosen  erklärte, 
deren  Herrschaft  nicht  weiter  reichte,  als  ihre  Kanonen. 

Savary  zog  sich  schon  im  März  1833  wegen  schwerer 
Krankheit  zurück,  und  auf  Veranlassung  der  Kammern  wurde 
eine  Kommission  eingesetzt,  um  die  Zustände  in  der  Kolonie 
zu  prüfen.  Infolge  dieser  Untersuchung  entschied  man  sich 
für  die  fernere  Behauptung  Algeriens,  und  eine  Ordonnanz 
vom  22.  Juli  1834  verordnete,  das  eroberte  Gebiet  solle 
fortan  „Französische  Besitzungen  im  Norden  Afrikas"  heißen 
und  einem  Generalgouverneur  unterstellt  werden,  der 
mit  dem  militärischen  Oberkommando  zugleich  die  Ver- 
waltung führen  und  unter  dem  Kriegsministerium  stehen 
sollte.  Für  die  Justiz  wurden  Tribunale  in  Algier,  Bone  und 
Oran,  ein  Obertribunal  und  ein  Handelsgericht  in  Algier  ein- 
gesetzt und  ein  Generalprokurator  ernannt,  welcher  das  ein- 


—     17     — 

heimische  Recht  prüfen  und  mit  der  neuen  Justizverfassung 
in  Einklang  bringen  sollte. 

Inzwischen  hatte  1833  —  34  General  Voirol  in  ge- 
schickter und  glücklicher  Weise  das  Interim  geführt,  und  es 
schienen  nun  geordnetere  Zustände  eintreten  zu  sollen.  Mit 
Abd  ei  Kader  war  durch  General  Desmichels  am  26.  Februar 
1834  der  erste,  allerdings  schwächliche  Friede  zustande  ge- 
kommen, in  welchem  die  Herrschaft  des  Emirs  bis  zum 
Scheliff,  mit  Ausnahme  der  Häfen  Orah,  Arzeu  und  Mosta- 
ganem,  von  Frankreich  ausdrücklich  anerkannt  wurde. 

Als  erster  Generaigouverneur  kam  der  bereits  70jährige 
und  gänzlich  haltlose  Drouet  d'  Erlon,  auch  eine  Reliquie 
des  Kaiserreichs,  nach  Afrika,  dessen  Schwäche  aber  bald 
von  den  Eingeborenen  erkannt  wurde,  und  so  war  der  Friede 
nicht  von  langer  Dauer.  Trotz  wiederholter  französischer 
Warnungen  drang  Abd  el  Kader  in  die  Metidscha  vor,  be- 
setzte Milianah  und  Medeah  und  schlug  am  28.  Juni  1835 
in  der  Schlacht  an  der  Makta  Desmichels  Nachfolger,  Ge- 
neral Tre'zel.  Letzterer  wurde  ersetzt,  aber  gleichzeitig  ent- 
schloß man  sich  auch,  den  alten  und  unfähigen  Drouet 
d'  Erlon  abzuberufen  und  an  dessen  Stelle  im  August  1835  zum 
zweiten  Male  Clauzel,  diesmal  als  Generalgouverneur,  nach 
Algerien  zu  schicken  mit  der  Mission,  das  französische 
Prestige  wieder  herzustellen.  Zwar  nahm  und  verbrannte 
dieser  im  Dezember  1835  Abd  el  Kaders  Residenz  Mascara, 
und  auch  Tlemsen  wurde  besetzt,  aber  der  Emir  führte  den 
Kleinkrieg  mit  Erfolg  weiter.  Am  25.  April  1836  errang  er 
einen  Sieg  über  d'  Arlanges  an  der  Mündung  der  Tafna 
und  schloß  dort  die  französischen  Truppen  ein,  bis  diese 
durch  den  von  Frankreich  gesandten  General  Bugeaud,  der 
im  Mai  1836  das  Kommando  in  Oran  übernahm,  entsetzt 
wurden.  Bugeaud  brachte  dann  am  6.  Juli  1836  Abd  el 
Kader  eine  bedeutende  Schlappe  am  Flusse  Sikah  und  damit 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  2 


-     18     — 

seine  erste  ernstliche  Niederlage  bei.  Aber  erst  am  30.  Mai 
1837  schloß  Bugeaud  mit  dem  Emir  den  später  viel  getadelten 
Vertrag  von  Tafna,  in  welchem  Frankreich  Abd  el  Kader  als 
Herrscher  der  Provinzen  Oran  und  Titeri  anerkannte  und 
sich  mit  den  Plätzen  Oran,  Arzeu,  Mazagran,  Mostaganem 
und  Algier  mit  ihrer  nächsten  Umgebung  und  der  Metidscha- 
Ebene  bei  Algier  begnügte. 

Der  Hauptgrund,  der  die  Franzosen  zu  diesem  wenig 
rühmlichen  zweiten  Frieden  bewegte,  lag  darin,  freie  Hand 
gegen  Constantine  zu  bekommen,  wo  noch  immer  der 
grausame,  bereits  1830  von  den  Franzosen  als  abgesetzt 
erklärte  Bei  Achmed  herrschte.  La  Calle,  wo  man  einen 
Zufluchtshafen  für  die  Korallenfischer  schaffen  und  die  alten 
Handelsbeziehungen  zu  den  umliegenden  Stämmen  wieder 
anknüpfen  wollte,  konnte  man  im  Juli  1836  ohne  Wider- 
stand besetzen.  Aber  eine  unvorsichtige  Expedition  Clauzels 
gegen  das  von  der  Natur  stark  befestigte  Constantine  im 
November  1836  mißlang  gänzlich,  und  von  den  8000  Mann 
des  französischen  Heeres  wurden  gegen  5000  durch  Hunger, 
Kälte,  Krankheit  und  die  Waffen  Achmeds  aufgerieben.  Clauzel 
wurde  daraufhin  im  Februar  1837  durch  General  Damremont 
ersetzt,  welcher  seinen  Instruktionen  gemäß  zunächst  in  Ver- 
handlungen mit  Achmed  eintrat  und  ihn  zu  bewegen  suchte, 
in  ein  Vasallenverhältnis  zu  Frankreich  zu  treten.  Als  diese 
Verhandlungen  resultatlos  blieben,  führte  Damremont  selbst 
das  französische  Heer  gegen  Constantine,  vor  dessen  Mauern 
er  zwar  am  12.  Oktober  1837  fiel,  aber  am  nächsten  Tage 
wurde  die  Felsenfestung  von  dem  General  Valee  erstürmt, 
und  Achmed  flüchtete  nach  Biskra,  wo  er  von  dem  Vertreter 
Abd  el  Kaders  verjagt  wurde. 

Nach  dem  Falle  von  Constantine  unterwarf  der  zum 
Generalgouverneur  avancierte  Valee  die  Provinz  Constantine 
und    begann    damit,    die    Herrschaft    über    das    Binnenland 


überhaupt  planmäßig  und  möglichst  friedlich  auszudehnen. 
1838—39  wurden  Blidah,  Koleah,  Stora  und  Milah  be- 
setzt, und  V^alee  zog  im  Oktober  1839  mit  dem  Herzog  von 
Nemours  zusammen  von  dem, 'nahe  dem  alten  Stora  neu- 
gegründeten Philippeville  aus  durch  das  gefährliche  Fels- 
defilee  nach  Constantine  und  eröffnete  damit  eine  nähere 
Verbindung  vom  Meere  aus,  als  sie  bislang  durch  den  Hafen 
Bone  vermittelt  worden  war.  Abd  el  Kader  aber  sprach 
auf  Grund  des  unklaren  Wortlautes  des  Vertrags  von  Tafna 
den  Franzosen  das  Recht  ab,  sich  östlich  von  der  Metidscha 
auszudehnen,  kündigte  am  20.  November  1839  dieses  ganze 
Abkommen  und  predigte  aufs  neue  den  heiligen  Krieg  gegen 
Frankreich.  Der  Fmir  fiel  nun  in  die  Metidscha  ein,  zer- 
störte die  dortigen  französischen  Ansiedelungen,  und  die  Un- 
ruhen dehnten  sich  bald  über  das  ganze  Land  aus.  Aber 
das  Glück  wurde  dem  Emir  jetzt  untreu,  Scherschel,  Medeah 
und  Milianah  fielen  1840  an  die  Franzosen  und  General 
ßugeaud,  seit  Februar  1841  Generalgouverneur,  ermüdete 
den  Feind  durch  unaufhörliche  Angriffe,  machte  ihm  durch 
Bestechung  Anhänger  abspenstig  und  erzielte  dadurch  be- 
deutende Erfolge.  Nachdem  1841 — 42  nach  einander  Mas- 
_cara,_Saida  und  TIemsen  gefallen  waren,  sah  sich  der  Emir 
im  Frühjahr  1842  gezwungen,  auf  marokkanischem  Gebiet 
Zuflucht  zu  suchen.  Aber  schon  im  Sommer  1842  erschien 
-er  von  neuem  auf  dem  Kampfplatz,  und  wenn  auch  seine 
Einfälle  meist  zurückgewiesen  wurden  und  der  Herzog  von 
Aumale  1843  seine  Smalah  (  -  Lager)  durch  Überfall  nahm, 
so  fand  er  doch  in  Marokko  immer  wieder  Schutz  und  Ver- 
stärkungen. Frankreich  sah  sich  daher  genötigt,  1844  auch 
Marokko  den  Krieg  zu  erklären,  und  das  marokkanische 
Heer,  dessen  Vorhut  Abd  el  Kader  bildete,  wurde  am  14. 
August  1844  am  Flusse  Isly,  10  km  westlich  von  Udschda, 
von  ßugeaud   entscheidend   geschlagen.     Da  gleichzeitig  ein 

2* 


-     20     — 

französisches  Geschwader  unter  dem  Prinzen  von  Joinville 
an  der  marokkanischen  Küste  erschienen  war  und  Tanger 
und  Mogador  bombardierte,  so  kam  unter  englischer  Ver- 
mittlung am  10.  September  1844  der  Friede  von  Tanger  zu- 
stande, worin  sich  Marokko  verpflichtete,  Abd  el  Kader  keinen 
Vorschub  zu  leisten.  Zur  Sicherung  der  Grenze  gründeten 
die  Franzosen  1844  eine  feste  Stellung  in  Lalla  Marnia. 

Abd  el  Kader  eröffnete  bald  wiederum  den  kleinen 
Krieg  in  Algerien  und  suchte  1847  auch  Marokko  darein 
zu  verwickeln,  wurde  aber  vom  Sultan  Abdur  Rhaman  am 
11.  Dezember  geschlagen  und  zum  Übertritt  auf  französisches 
Gebiet  gezwungen,  wo  er  von  den  Franzosen  umzingelt  und 
am  23.  Dezember  1847  vom  General  Lamoriciere  gefangen 
genommen  wurde.  Bis  1852  in  Frankreich  zurückgehalten, 
lebte  er  von  da  ab,  gegen  das  Versprechen,  die  Franzosen 
nie  wieder  zu  bekämpfen,  mit  einer  französischen  Pension 
von  100000  Francs  zunächst  in  Brussa,  nach  dem  Erdbeben 
von  1855  bis  zu  seinem  1883  erfolgten  Tode  in  Damaskus. 

Der  Krieg  gegen  die  Eingeborenen  hatte  unterdessen 
auch  anderweit  seinen  fast  ununterbrochenen  Fortgang  ge- 
nommen; schon  1839  hatte  man  Dschidschelli,  1843  Collo 
und  1844  Dellis  besetzt,  der  Herzog  von  Aumale  drang 
1844  bis  zur  Oase  Biskrah  vor,  und  General  Bugeaud 
unterwarf  1847  die  Bewohner  der  Dschurdschura  und  der 
Großen  Kabilie.  1851  erhoben  sich  aber  fast  alle  Gebirgs- 
stämme  der  östlich  daran  stoßenden  Kleinen  Kabilie 
zwischen  Philippeville,  Dschidschelli  und  Milah.  Auf  einer 
der  kühnsten  und  gefahrvollsten  Expeditionen  besiegte 
General  St.  Arnaud  innerhalb  80  Tagen  sämtliche  empörte 
Stämme  in  nicht  weniger  als  20  Treffen  und  6  geordneten 
Schlachten. 

inzwischen  war  man  aber  in  Algerien  auch  an  die 
wirtschaftliche   Hebung  des  Landes   herangetreten.     1840 


—     21      - 

bis  1846  wurden,  mit  Hülfe  der  Armee,  die  ersten  Straßen, 
zunächst  in  der  Nähe  der  größeren  Städte  geschaffen  und 
die  Pläne  für  den  Ausbau  der  sieben  Häfen  Oran,  Tenes, 
Scherschel,  Algier,  Philippeville,  Bone  und  La  Calle  und  für 
die  Schaffung  von  Leuchttürmen  festgestellt,  1843  erschien 
das  Programm  für  die  Trockenlegung  der  Metidscha  und 
am  1.  September  1845  richtete  Bugeaud  neben  dem  Militär- 
regiment eine  Zivilverwaltung  ein.  Die  drei  Provinzen 
Oran,  Algier  und  Constantine  erhielten  je  einen  Conseil  mit 
einem  Direktor  an  der  Spitze,  und  nach  der  Februar- Revo- 
lution, welche  Cavaignac  als  Generalgouverneur  an  die 
Spitze  der  Kolonie  brachte,  bestimmte  die  französische 
Nationalversammlung  1848,  daß  Algerien  4  Deputierte  wählen 
sollte,  und  schickte  einige  Arbeiterkolonien  dahin,  welche 
aber  nicht  gedeihen  wollten.  Nach  dem  Staatsstreich  vom 
2.  Dezember  1851  wurde  Lambessa  —  aber  nur  bis  1854  — 
zur  Deportationskolonie  für  politische  Verbrecher  ausersehen, 
und  Napoleon  III.  entsandte  als  Generalgouverneur  General 
Randon,  der  sich  1852  —  58  um  die  Befestigung  und  Aus- 
dehnung der  französischen  Herrschaft  große  Verdienste 
erwarb. 

im  Dezember  1852  wurde  die  Oase  El  Aghuat  in  Süd- 
algerien in  Besitz  genommen  und  der  südlich  davon  wohnende 
mächtige  Stamm  der  Beni  Mzab,  deren  Hauptoase  Gardaja 
ist,  stellte  sich  unter  französischen  Schutz;  1853  — 54  wurden 
die  Oasenlandschaften  von  Tuggurt  und  Wadi  Suf  besetzt, 
ferner  die  UIed  Sidi  Scheich  im  Südwesten,  wo  man 
1852  die  Militärstation  Geryville  anlegte,  und  die  Oase 
Wargia  der  französischen  Herrschaft  unterworfen.  Die 
Feldzüge  von  1856  und  1857  vollendeten  die  Bezwingung 
der  Kabilen,  sodaß  seitdem  die  Grenze  des  französischen 
Gebiets  vom  Mittelmeer  bis  an  den  Rand  der  Sahara  vor- 
geschoben war. 


—     22     — 

Schon  damals  leitete  man  auch  wiederholte  Versuche 
ein,  Karawanenverbindungen  mit  Timbuktu  und  dem  Senegal 
herzustellen. 

1858  wurde  die  Kolonie  unter  ein  „Ministerium  für 
Algerien  und  die  Kolonien"  gestellt,  das  aber  bereits  Ende 
1860  wieder  aufgehoben  und  durch  ein  Militärgouverne- 
ment ersetzt  wurde.  Dieses  erhielt  Marschall  Pelissier, 
dem  ein  Vizegouverneur,  ein  General -Direktor  für  Zivrl- 
geschäfte,  ein  Ministerium  für  Justiz-,  Schul-  und  Kirchen- 
wesen sowie  ein  Conseil  zur  Beratung  des  Budgets  an  die 
Seite  gestellt  wurden.  Nach  dem  Tode  Pelissiers  bekam 
Mac  Mahon  das  Generalgouvernement,  und  im  April  1865 
besuchte  Napoleon  III.  selbst  die  Kolonie,  deren  Verhältnisse 
sich  noch  immer  nicht  bessern  wollten. 

Die  militärischen  Obrigkeiten,  die  sogenannten  bureaux 
arabes,  verstanden  die  Eingeborenen  durchaus  nicht  zu 
behandeln,  und  deren  materielle,  wie  soziale  Lage  war  eine 
drückende;  Mangel  an  Verkehrswegen,  der  französische 
Schutzzoll  auf  Produkte  der  Kolonie,  die  Formalitäten  und 
Schreibereien,  die  zahlreichen  Verordnungen  und  Gegenver- 
ordnungen der  Bureaukratie  bewirkten,  daß  der  Wohlstand 
der  algerischen  Bevölkerung  eher  zurückging,  als  sich  hob, 
und  die  europäische  Kultur  ihr  ebenso  verhaßt  und  uner- 
träglich war,  wie  ihre  Vertreter.  Durch  freundlichen  Verkehr 
mit  den  Arabern  und  eine  vielverheißende  Proklamation 
suchte  der  Kaiser  der  Unzufriedenheit  zu  begegnen.  Aber 
bei  den  Reformen  kam  man  über  Experimente  und  Anläufe 
nicht  hinaus,  und  die  Jahre  1866  67  waren  durch  Erdbeben, 
Trockenheit,  Mißernte,  Heuschreckenplage,  Hungersnot  und 
Epidemien  die  traurigsten  seit  der  französischen  Eroberung. 

Während  des  Deutsch-französischen  Krieges  mußte 
die  Regierung  Algerien  von  Truppen  fast  entblößen;  zum 
Glück  für  Frankreich  kamen  aber  die  Eingeborenen  zu  spät 


—     2Z    — 

zur  Erkenntnis  der  für  sie  günstigen  Umstände.  Erst  im 
März  1871  nahm  der  Aufstand,  unter  Führung  von  Mokrani, 
im  Süden  von  Algerien  größere  Dimensionen  an,  breitete 
sich  schnell  über  das  ganze  Land  aus  und  wurde  1872  vom 
Generalgouverneur  Gueydon  unterdrückt;  die  aufständischen 
Stämme  wurden  entwaffnet  und  durch  Auferlegung  einer 
Kriegssteuer  von  30  Millionen  Francs  und  Landenteignung 
bestraft.  Unter  diesen  Umständen  aber  gab  die  Republik 
ihre  ursprüngliche  Absicht,  Algerien  eine  reine  Zivil  Ver- 
waltung zu  geben,  einstweilen  auf,  und  1873 — 79  hatte  Ge- 
neral Chanzy  das  Generalgouvernement  inne,  dem  1875 
ein  aus  Zivilbeamten  bestehender  Conseil  superieur  beige- 
geben wurde.  Erst  1879  wurde  in  des  Präsidenten  Bruder, 
Albert  Grevy,  ein  Zivilgouverneur  eingesetzt,  dessen  Gewalt 
sich  aber  nur  auf  den  Küstenstrich  beschränkte,  da  die 
Stämme  der  Araber  und  Berber  unter  militärischer  Gewalt 
blieben  und  dessen  Verwaltung  sich  als  ganz  unbefriedigend 
erwies. 

Ein  1879  in  den  Au  res- Bergen  ausgebrochener  Auf- 
stand wurde  bald  unterdrückt.  Aber  während  der  Besetzung 
von  Tunis  erhob  sich  1881  noch  einmal  in  Südwesten, 
nahe  der  Oase  Figig,  unter  dem  Stamme  der  UIed 
Sidi  Scheich  ein  fanatischer  und  kühner  Häuptling,  der 
1840  geborene  Bu  Amema,  und  fügte  durch  Überfälle  den 
Franzosen  und  den  europäischen  Kolonisten  Verluste  zu, 
sodaß  man  nach  Niederwerfung  des  Aufstandes  durch  Ge- 
neral Saussier  noch  im  gleichen  Jahre  1881  einen  Posten 
in  AVn  Sefra  nahe  der  unruhigen  marokkanischen  Oase 
Figig  und  1882  die  feste  Stellung  El  Kreider  am  Schott 
Schergi  anlegte.  Im  November  1882  wurde  auch  das  Gebiet 
der  unruhigen  Beni  Mzab  einverleibt,  und  seitdem  trat  im 
allgemeinen  Ruhe  ein. 

Die  nächsten  Wirren  betrafen  soziale  Fragen. 


—     24     - 

Die  wachsende  Mißstimmung  gegen  die  algerischen 
Juden,  welche  durch  das  übereilte  Dekret  Cremieux  des 
jüdischen  Mitgliedes  der  nationalen  Verteidigung  am  24.  Ok- 
tober 1870  en  bloc  naturalisiert  worden  waren,  führte  1897 
und  1898  zu  Unruhen,  da  die  Araber  diese  Bevorzugung 
nicht  gerechtfertigt  fanden,  und  die  antisemitische  Bewegung 
in  Algerien  wuchs,  als  sich  Max  Regis,  ein  naturalisierter 
Italiener,  an  ihre  Spitze  stellte  und  Drumont,  das  Haupt 
der  französischen  Antisemiten,  sich  erfolgreich  um  das  Depu- 
tiertenmandat in  Algier  bewarb;  auch  Regis  wurde  als  Maire 
von  Algier  gewählt  und  übte  als  solcher  eine  derartige  auf- 
hetzende Tätigkeit  aus,  daß  sich  die  französische  Regierung 
veranlaßt  sah,  den  Generalgouverneur  Lepine,  welcher  den 
Unruhen  energisch,  wenn  auch  erfolglos  entgegengetreten 
war,  abzuberufen  und  durch  Laferriere  zu  ersetzen.  Auch 
dieser  sah  sich  genötigt,  gegen  Regis  einzuschreiten  und  ihn 
schließlich  abzusetzen,  gleichzeitig  aber  auch  öffentlich  zu  er- 
klären, daß  eine  Revision  des  Naturalisationsgesetzes,  be- 
sonders des  Dekrets  Cremieux,  wünschenswert  sei,  voraus- 
gesetzt, daß  sie  ohne  Haß  und  gewaltsamen  Umsturz,  sondern 
mit  reiflicher  Überlegung  durchgeführt  und  auf  die  politischen 
Rechte  beschränkt  werde.  Die  französische  Regierung  veran- 
laßte  auch  1899  eine  parlamentarische  Enquete,  die  aber 
nicht  zu  einer  Einschränkung  der  Judenemanzipation  führte. 

Inzwischen  hatten  die  Franzosen,  nachdem  das  traurige 
Ende  der  Mission  Flatters  1881  eine  Zeitlang  abschreckend 
gewirkt,  und  nachdem  der  englisch-französische  Vertrag  vom 
5.  August  1890  Frankreichs  Einflußsphäre  im  Süden  seiner 
nordafrikanischen  Besitzungen  festgestellt  hatte,  auch  dem 
Vordringen  nach  Süden  erneute  Aufmerksamkeit  gewidmet 
und  in  der  Sahara  eine  Reihe  kleiner  Befestigungen,  soge- 
nannter Forts  angelegt;   so  entstanden  1892—93  deren  vier 


—     25     — 

zwischen  der  Grenze  gegen  Tripolitanien  und  dem  Ued  Ig- 
harghar,  nämlich  im  Osten  Tunesiens  südhch  von  Gabes  am 
Rande  der  Wüste  in  Medenin,  sodann  am  Bir  Berresof  nahe 
der  tunesischen  Grenze  an  der  Straße  nach  Ghadames,  und 
weiter  westhch  das  Fort  Hassi  Mey  und  das  südhch  von 
Wargia  hegende  Fort  Lallemand  (Hassi  bei  Heiram).  Diese 
Ostgruppe  wurde  1894  noch  durch  die  drei  Forts  bei  Hassi 
Inifei,  Hassi  Chelaba  (Fort  Miribel)  und  Hassi  ei  Hameur 
(Fort  Mac  Mahon)  südlich  von  Golea  und  1899  durch  das 
nach  Süden  vorgeschobene  Fort  in  Timassinin  verstärkt,  und 
die  große  Lücke  im  Norden  von  Gurara  zwischen  El  Golea 
und  Igli  sollte  durch  fliegende  Kolonnen  gedeckt  werden. 

igli  selbst,  an  der  Vereinigung  von  Wad  Ghir  und  Wad 
Susfana  gelegen,  besitzt  zwar  kaum  4000  Angesessene,  be- 
herrscht aber  eine  der  wichtigsten  Straßen  von  Marokko  nach 
dem  Tuat,  jenem  weitläufigen  Oasengebiet,  dessen  Bevölkerung 
von  jeher  der  französischen  Regierung  den  größten  Wider- 
stand entgegengesetzt  und  zu  allen  Zeiten  die  Sahara  durch 
weitausgreifende  Raubzüge  unsicher  gemacht  hatte.  Diese 
Erwägungen  hatten  seitens  der  Franzosen  schon  zu  wieder- 
holten Versuchen  geführt,  Igli  zu  nehmen,  die  aber  teils  an 
den  Schwierigkeiten  der  ungastlichen  Gegend,  teils  wegen 
Befürchtung  englischer  Einsprache  unterblieben.  Man  be- 
schränkte sich  deshalb  vorläufig  mit  dem  Vorrücken  der 
Eisenbahn  von  Ain  Sefra  aus,  begann  damit  1893  und  er- 
öffnete den  Verkehr  1900  bis  Djenien-bou-Rezg  und  1901 
bis  zu  dem  befestigten  Soubia,  welches  man  nach  dem 
Forscher  Duveyrier  benannte;  von  hier  aus  wird  die  Bahn 
den  Wad  Susfana  entlang  nach  Igli  fortgesetzt.  Bereits  jetzt 
werden  von  Paris  aus  regelmäßige  „Vergnügungsreisen  nach 
der  Oase  Figig"  arrangiert. 

Inzwischen  aber  hatte  man ,    wohl  nicht  ganz  unbeein- 
flußt durch  das  Engagement  Englands  in  Südafrika,  auch  das 


—     26     — 

ganze  Tuat-Gebiet  selbst  erobert  und  im  Dezember  1899 
In  Salah,  den  Mittelpunkt  Tidikelts,  im  März  und  April 
1900  Figig  und  Igli,  im  Mai  Timmimun,  den  Mittelpunkt 
Guraras,  und  Anfang  1901  auch  das  eigentliche  Tuat  mit 
Adghar  und  Kersas  besetzt  und  einigte  sich  am  20.  Juli  1901 
mit  Marokko  über  die  Verwaltung  der  Grenzgebiete  in  der 
bereits  im  Kapitel  „Marokko"  beschriebenen  Weise.  Frank- 
reichs alter  Gegner,  Bu  Amema,  hatte  auch  bei  dieser  Ge- 
legenheit eingegriffen  und  suchte  schließlich  in  Figig  Schutz 
und  Unterkommen.  Die  Besetzung  des  Archipels  der  Tuat- 
Oasen  ist  aber  nur  als  eine  Vorbereitung  des  Durchbruchs 
der  Franzosen  von  Nordafrika  nach  dem  Atlantischen  Ozean 
anzusehen. 

Wie  unbeliebt  die  Franzosen  freilich  auch  heute  noch 
selbst  im  eigentlichen  Algerien  sind,  beweisen  wiederholte 
Überfälle  und  Ermordungen  von  Europäern;  der  ernsteste 
dieser  Fälle  fand  im  April  1901  in  Margueritte  bei  Melianah, 
ganz  nahe  bei  Algier,  statt.  Der  Aufsehen  erregende  Prozeß, 
der  sich  an  diesen  plötzlichen  Ausbruch  des  Franzosenhasses 
anschloß,  ergab  die  Tatsache,  daß  300  Eingeborene  auf 
Wegen,  die  dem  geltenden  Gesetz  nicht  widersprachen,  von 
einem  Besitz  von  über  1000  Hektar  vertrieben  worden  waren, 
ohne  dafür  eine  andere  Entschädigung  als  kaum  drei  Francs 
auf  den  Kopf  zu  erhalten,*) 


Land-  Gehen  wir  nun  zur  Betrachtung  von  Land  und  Leuten 

beschreibung. 

Über. 

Algerien,  zwischen  Marokko  und  Tunesien,  im  mittleren 
Teil  des  nordafrikanischen  Atlaslandes  gelegen  und  im  Süden 
an  das  französische  Saharagebiet  stoßend,    dessen  Grenzen 

*)  Generalgouverneur  seit  Albert  Grevy  (1879  —  81),  Tirman 
81-91;  Jules  Cambon  91-97;  Lepine  97-98;  Laferriere  1898-1900; 
Jonnart  1900-1;  Revoil  1901—3;  seitdem  Jonnart. 


—     27     - 

gegen  Marokko  und  Tripolitanien  nur  auf  gewissen  Strecken 
festgelegt  sind,  umfaßt  nach  der  heutigen  Annahme.öQÖOOO  qkm 
mit  4800000  Einwohnern,  wobei  der  südhch  vom  Karawanen- 
weg Ghadames-Tidikelt  liegende  Teil  der  Sahara  vorläufig 
Französisch -Westafrika  zugerechnet  wird.  Bewohnbar  für 
Europäer  sind  davon  rund  3C0000  qkm,  kulturfähig  aber 
nur  gegen  150000  qkm. 

Am  Mittelmeer  bildet  die  Grenze  gegen  Marokko  nicht 
der  alte  Grenzfluß  Muluja,  sondern  laut  Vertrag  vom  18.  März 
1845  der  15  km  östlich  davon  mündende  Wad  Kiß,  und  gegen 
Tunis  nicht,  wie  in  früheren  Zeiten,  der  Tusca  --  Ued  es  San, 
sondern  das  Kap  Roux.  Die  in  gerader  Linie  etwa  1070  km 
lange  Küste  zeigt  eine  wenig  gegliederte,  steile  und  felsige 
Linie  mit  einigen  Kaps  und  verhältnismäßig  wenig  guten 
Häfen,  auf  der  334  km  langen  Strecke  zwischen  Oran 
und  Algier  entbehrt  die  Küste  sogar  jeder  natürlichen  Zu- 
fluchtsstätte. Die  nennenswertesten  Küsteneinschnitte  sind 
die  Golfe  von  Oran  und  Arzeu,  die  Bai  von  Algier  und  die 
Golfe  von  Bougie,  Collo,  Stora  und  Bone. 

Hinter  der  Küste  erhebt  sich,  meist  gebirgig,  doch  auch 
von  einzelnen  Ebenen  durchbrochen,  das  in  drei  gut  geson- 
derte Teile  zerfallende  Land:  Im  Norden  finden  wir  das 
gebirgige,  mit  fruchtbaren  Tälern  durchzogene  Kulturland 
des  Teil-  oder  Kleinen  Atlas;  in  der  Mitte  ein  Hoch- 
land mit  Steppen  und  Salzsümpfen,  deren  größte  von 
West  nach  Ost  die  Schotts  Schergi,  Sahres  Gharbi,  Sahres 
Schergi  und  Hodna  sind;  im  Süden  endlich  die  Sahara 
mit  ihren  Oasen. 

Der  80 — 200  km  breite  Teil,  am  schmälsten  in 
der  Provinz  Oran,  umfaßt  etwa  12 — 15  Millionen  Hektar 
und  zerfällt  in  eine  Reihe  von  kleinen,  parallel  mit  der 
Küste  streichenden  Gebirgsgruppen,  von  denen  die  eine 
in    der    Landschaft    Kabilien    im    Dschebel    Lalla    2308    m. 


—     28     — 

die  andere,  das  Setif- Gebirge,  im  Adrar  Amellah  1995  m 
erreicht;  die  herrliche  Dschurdschura  in  Kabilien  und  die 
Aures- Berge  sind  während  sechs  Monaten  im  Jahre,  vom 
November  bis  Mai,  mit  Schnee  bedeckt.  Zwischen  die  ein- 
zelnen Gebirgszüge  drängen  sich  meist  fruchtbare  und  kulti- 
vierte Ebenen  wie  die  Metidscha  bei  Algier,  eine  95  km 
lange  und  durchschnittlich  15  km  breite,  etwas  wellenförmige 
Ebene,  an  deren  Südseite  der  Atlas  steil  emporsteigt;  der 
Boden  ist  mit  fetter  fruchtbarer  Dammerde  bedeckt,  der 
nördliche  Rand  aber  war,  durch  die  Nachlässigkeit  der  tür- 
kischen Regierung  versumpft,  eine  Brutstätte  zahlreicher 
Moskitos  und  äußerst  ungesund  geworden.  Die  Arbeiten 
der  französischen  Regierung  haben  diesen  Übelstand  be- 
seitigt, und  die  Ebene,  welche  im  12.  Jahrhundert  30  an- 
sehnliche Städte  zählte,  hatte  schon  1881  über  30000  euro- 
päische Ansiedler. 

Die  Mittelzone  der  Schotts,  etwa  11  Millionen  Hektar 
umfassend,  ist  ein  Plateauland  von  800 — 1000  m  Höhe,  in 
der  Provinz  Oran  180  km,  in  der  Provinz  Constantine  nur 
80  km  breit  und  ist  teils  von  Gebirgen  besetzt,  teils  eine 
weite  dürre  Ebene,  deren  Salzsümpfe  im  Sommer  von  einer 
blendenden  Salzdecke  überzogen  sind,  und  die  nur  in  Brunnen 
süßes  Wasser  bietet.  Hier  ist  die  Region  der  Schafzucht 
und  stellenweise  der  Zerealien.  Im  Süden  wird  die  Hoch- 
ebene von  dem  Randgebirge  des  Großen  Atlas  überragt, 
dessen  Gipfel  im  Aures-Gebirge  die  Höhe  von  2312  m  er- 
reichen. Auch  die  Steppenregion  der  Schotts,  im  allgemeinen 
Weideland,  weist  einzelne  Ackerbau-Oasen  auf. 

Nach  dem  Innern  zu  schließt  sich  an  das  Plateauland 
und  die  Randgebirge  eine  fast  völlig  kahle,  von  zahlreichen 
Schluchten  durchfurchte  Vorterrasse,  welche  bei  Bresina  833, 
bei  E!  Aghuat  780  m  hoch  ist  und  sich  nach  Süden  und 
Osten  allmählich   abdacht;    es    folgt    die    weite,    heiße  Tief- 


—     29     — 

ebene  der  algerischen  Sahara,  auch  Angab  genannt,  bei 
Biskra  125  m,  bei  Tuggurt  50  m  über  dem  Meere,  im  Schott 
Melrir  31  m  unter  den  Meeresspiegel  hinabreichend  und 
nur  in  vereinzelten  Oasen  Bodenanbau  gestattend.  Ist  der 
Ostteil  der  algerischen  Sahara  niedrig  und  sandig,  so  bildet 
der  westliche  Teil  bis  nach  Marokko  hinein  ein  felsiges 
Steppenhochland,  das  nur  in  seinen  Depressionen  mit  Sand 
angefüllt  ist  und  nirgends  unter  400  m  Höhe  herabgeht. 
Die  größeren  Oasen  der  algerischen  Sahara  sind,  von  Ost 
nach  West  zu  aufgeführt,  die  folgenden:  VVadi  Suf,  Wadi 
Rhir  (Tuggurt),  Wadi  Timassinin,  Wargla,  El  Golea,  die 
Oasen  der  Beni  Mzab  und  der  Uled  Sidi  Scheich. 

Fast  alle  Flüsse,  welche  vom  Atlas  in  das  Mittelmeer 
fließen,  haben  bedeutende  Krümmungen,  trägen  Lauf,  sump- 
fige Ufer  und  enge,  öfters  durch  Sandbänke  verstopfte  Mün- 
dungen; kein  einziger  derselben  ist  schiffbar,  und  dieser 
Umstand,  verbunden  mit  dem  Mangel  an  guten  Häfen,  trug 
dazu  bei,  dem  Lande  einen  abgeschlossenen  Charakter  zu 
verleihen.  Die  meisten  Flußläufe  gehen  von  Süd  nach  Nord, 
nur  der  Scheliff  macht  eine  bemerkenswerte  Ausnahme. 
Die  bedeutendsten  der  zahlreichen,  in  das  Mittelmeer  mün- 
denden Flüsse  sind,  von  Ost  nach  West:  Mafrag  und  Sebuse, 
welche  in  den  Golf  von  Bone  münden;  Wad  el  Kebir  (Rum- 
mel), der  wiederholt  unter  Felsen  verschwindet;  der  VVad  es 
Sahel  oder  Sumam,  der  einen  der  bedeutendsten  Querrücken 
des  Atlas  durchbricht  und  im  Golf  von  Bougie  mündet; 
dann  Buberak,  Isser,  Harrach  und  Mazafran;  der  durch  eine 
fruchtbare  Ebene  fließende,  650  km  lange  und  nördlich  von 
Mostaganem  mündende  Scheliff;  die  Makta  und  endlich  die 
Tafna,  der  westlichste  Fluß  Algeriens.  Die  Flüsse  Algeriens 
haben  eine  ganz  besondere  Bedeutung  gewonnen,  seitdem 
man  angefangen  hat,  sie  in  großartigem  Maßstab  zur  Be- 
wässerung zu  verwenden.     Das  System  der  riesigen  Wehr- 


-     30     — 

bauten  (Barrages),  wahrscheinlich  zuerst  von  den  Karthagern 
angewandt  und  von  den  Römern  und  Arabern  fortgesetzt, 
verfiel  unter  der  Türkenherrschaft,  wurde  aber  1843  wieder 
in  Tätigkeit  gesetzt.  Die  vom  südlichen  Abhang  des  Atlas 
abfließenden  Gewässer  versiegen  im  Sande  oder  münden  in 
oft  umfangreichen  Salzsümpfen,  deren  bemerkenswertester 
der  Schott  Melrir  in  der  Fortsetzung  der  südtunesischen 
Depression  ist.  Die  in  den  Becken  der  Sahara  lagernden 
Sedimente  sind  in  der  Tiefe  von  Wasser  durchdrungen, 
welches,  durch  artesische  Brunnen  nach  oben  geleitet,  zahl- 
reiche fruchtbare  Oasen  ins  Leben  gerufen  hat.  Die  Oasen 
Algeriens  werden  teils  durch  aufgestaute  und  kanalisierte 
Wasserläufe  gebildet,  wie  im  Ziban  (Biskra),  teils  auf  wasser- 
haltigen Schichten  angelegt,  welche  entweder  durch  gegrabene 
Brunnen,  wie  z.  B.  im  Ulad  Dschellal,  oder  durch  artesische 
Brunnen  wie  in  Tuggurt  und  Wargla,  oder  endlich  dadurch 
erschlossen  werden,  daß  man  die  über  ihnen  liegende  Gips- 
decke abträgt  und  dadurch  die  „ausgegrabenen  Oasen"  wie 
im  Suf  schafft. 

Moräste  finden  sich  nahe  der  Küste,  namentlich  um 
Oran  in  der  Tlelat- Ebene,  bei  Bone  und  im  Süden  von 
La  Calle. 

Mineralquellen  kennt  man  über  100,  und  die  Ruinen 
von  Badebassins  und  Tempeln,  welche  man  in  der  Nähe 
dieser  Quellen  häufig  antrifft,  deuten  darauf  hin,  daß  schon 
die  Römer  die  Wirksamkeit  derselben  gekannt  und  sie  be- 
nutzt haben.  Am  berühmtesten  sind  im  Departement  Algier 
die  heißen  Quellen  von  Hammam  Meluan  und  des  letzthin 
sehr  in  Aufnahme  gekommene  Hammam  Righa;  im  De- 
partement Oran  diejenigen  von  Bains  de  la  Reine;  vor  allen 
aber  im  Departement  Constantine  die  heißesten  (95 o  C)  von 
Hammam  Meskutin,  deren  Sinterterrassen  ein  kleines  Gegen- 


—     31     — 

stück    zum  Yellovvstone-Park    und    zu    Neuseelands  Geiser- 
gebiet bilden. 

Erdbeben    sind    in   Algerien    verhältnismäßig    häufig, 
aber  selten  stark. 

Das  Klima  vereinigt  die  Eigenschaften  der  gemäßigten  ^lima. 
und  der  heißen  Zone  und  ist  nach  drei  Gebieten  zu  unter- 
scheiden. Das  nördliche  Gestade  mit  dem  angrenzenden 
Teil  hat  Mittelmeerklima  mit  verhältnismäßig  trocknen  Som- 
mern und  feuchten  Wintern.  Die  mittlere  Temperatur  von 
Algier  beträgt  17'-"  und  weist  Extreme  von  1,6  und  40" 
auf;  die  jährliche  Regenmenge  beträgt  im  Westen  kaum 
50  cm,  übersteigt  in  der  Kabilie  1  m  und  sinkt  nach  der 
tunesischen  Grenze  zu  wieder  auf  70  —  80  cm.  Am 
trockensten  ist  also  die  Provinz  Oran,  und  deshalb  sind 
gute  Ernten  hier  seltener,  man  rechnet  nur  eine  solche  auf 
vier;  dagegen  ist  diese  Provinz  für  Viehzucht  gut  geeignet. 
Die  Hochebenen  weisen  kontinentales  Klima  mit  warmen 
Sommern  und  sehr  kalten  Wintern  auf,  welche  jedes  Jahr 
Schnee  und  nicht  selten  eine  Kälte  von  —  10"  C  bringen, 
mit  stärkstem  Regenfall  im  Frühjahr.  Die  Sahara  endlich 
hat  sehr  heißen  Sommer  und  relativ  kühle  Winter,  im  allge- 
meinen sehr  große  Trockenheit  und  die  größte  Regenmenge 
im  Mai.  Die  Steppenzone  weist  durchschnittlich  40  cm 
auf,  aber  selbst  am  Südabhang  des  Atlas  haben  einzelne 
Oasen  (Biskra,  Laghuat)  noch  15  cm  Regen,  während  der 
durchschnittliche  Regenfall  im  Sahara-Atlas  kaum  10  cm 
beträgt,  allerdings  über  das  ganze  Jahr  verteilt.  Im  allge- 
meinen fällt  die  Regenzeit  in  die  Monate  November  bis 
April.  Die  Nordwest-Winde  bringen  die  Feuchtigkeit,  und 
diesen  ausgesetzte  Gegenden  sind  deshalb  die  regenreicheren 
und  der  Kultur  günstigeren. 

Der    Gesundheitszustand    der    europäischen    Be- 
wohner ist  am  befriedigendsten  im  Frühjahr;  im  Juli  beginnt 


—     32     — 

die  große  Hitze  und  Trockenlieit,  währendder  das  Arbeiten 
auf  freiem  Felde  für  Europäer  gefährlich  ist.  Der  Wüsten- 
wind, welcher  schwere  Staub-  und  Sandwolken  aufwirbelt, 
übersteigt  zuweilen  die  Temperatur  von  50  ",  und  die  Wärme- 
schwankungen sind  außerordentlich  groß.  Die  Wasserarmut 
des  heutigen  Algerien  im  Gegensatz  zur  römischen  Zeit  ist 
übrigens  wohl  nicht  nur  auf  den  Verfall  der  künstlichen  Be- 
wässerung, sondern  auch  auf  klimatische  Änderungen  zurück- 
zuführen. 

Die  beste  Besuchszeit  für  Algerien  liegt  zwischen  No- 
vember und  Ende  Mai,  und  besonders  schön  sind  die  Monate 
April  und  Mai. 

Flora.  Die  Pflanzenwelt  Algeriens  zeigt  den  Charakter  der 

Mittelmeerflora.  Auf  dem  gut  bewässerten,  kulturfähigen 
Teil,  am  Nordabhang  des  Kleinen  Atlas,  entwickelt  sich 
eine  reiche  einheimische  Pflanzenwelt,  welche  lebhaft  an  die 
des  südlichen  Spaniens  erinnert.  Unter  den  Kulturgewächsen 
stehen  obenan  die  überall  angebaute  Dattelpalme,  deren 
Früchte  allerdings  an  der  Küste  nicht  völlige  Reife  er- 
reichen —  die  nördlichste  Oase  dafür  ist  El  Kantara  —  die 
Feige,  der  Ölbaum  und  der  Feigenkaktus;  auf  den  Feldern 
Gerste,  Weizen,  Hirse,  Mais,  Hafer  und  Tabak,  in  den  Gärten 
Südfrüchte  und  mitteleuropäische  Gemüse  in  üppiger  Fülle. 
Das  Atlasgebirge  bietet  wenig  eigentümliche  Formen;  die 
durch  das  ganze  Gebiet  verbreiteten  Nadelhölzer  der  atlan- 
tischen Zeder,  der  Aleppokiefer  und  Juniperus,  immergrüne 
Eichen,  Eschen  und  Kastanien  bilden  die  Wälder,  denen  sich 
ein  Maquis  grüner  Büsche  und  Sträucher  anschließt,  während 
alpine  Formen  europäischen  Anklangs  die  Gipfel  bedecken. 
Auf  dem  Hochland  der  Schotts,  zwischen  dem  Kleinen  und 
Großen  Atlas,  breitet  sich  eine  wohlcharakterisierte  Steppen- 
flora aus;  neben  Salsolaceen,  Atriplex,  Artemisia  und  Thymian- 


—     33     — 

Arten  und  dem  dornenreichen  Zizyphus- Gestrüpp  erreichen 
hier  die  Gräser  einen  hohen  Wuchs,  besonders  das  wich- 
tige Haifa-Gras  (Stipa  tenacissima),  dessen  Produktions- 1 
gebiet  in  der  Provinz  Oran,  welche  weitaus  den  Haupt- 1 
teil  der  Ausfuhr  liefert,  das  Meer  erreicht;  auch  Zwerg- 
palmen sind  hier  noch  vertreten.  Die  an  die  südliche  Ab- 
dachung des  Großen  Atlas  sich  anlehnende  Steppe  zeigt  den 
Vegetationscharakter  des  andalusischen  Tafellands  und  geht 
dann  allmählich  in  das  Florengebiet  der  Sahara  über,  aus 
welchem  inselförmig  nur  die  Oasen  hervortreten. 

Unter  den  neuerdings  eingeführten  Pflanzen  ist  be- 
sonders der  australische  Eukalyptus  zu  nennen,  der  mit- 
geholfen hat,  sumpfige  Gegenden  gesünder  zu  machen  und 
auch  Nutzholz  für  Eisenbahnschwellen  und  Bergwerke  liefert; 
sodann  der  Talgbaum  Stillingea  sebifera,  die  Banane  und 
die  japanische  Mispel. 

Was  die  Fauna  betrifft,  so  finden  sich  in  den  Gebirgen  Fauna. 
des  Teil  und  Atlas  noch  Löwen  und  Leoparden,  häufiger  sind 
Panther,  Hyänen,  Schakale,  Sumpfluchs,  das  wilde  Mähnen- 
schaf, der  berberische  Affe,  eine  Gazelle,  das  Ichneumon 
und  mehrere  giftige  Schlangen.  Von  Wildpret  sind  besonders 
Wildschwein,  Hasen  und  Rebhühner  zu  nennen.  Heuschrecken 
sind  auch  in  Algerien  häufig  und  die  Küsten  des  Landes 
sind  reich  an  Fischen  und  Korallen. 

Die  Bevölkerungsziffer  Algeriens  wurde  1901  auf  Bevölkerung 
einem  Gebiet  von  478  971  qkm  mit  4  739  000  Köpfen  an- 
gegeben und  verteilte  sich  wie  folgt:  Araber  und  Berber 
4072000,  Franzosen  in  Frankreich  geboren  121000,  in 
Algerien  geboren  171000,  naturalisierte  Fremde  72  000, 
naturalisierte  Juden  57  000,  Spanier  155  000,  Italiener  39000, 
Malteser  13  0()0.   Marokkaner  24  000,  Tunesier  2000,   andere 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  3 


—     34     - 

Fremde:  Deutsche,  Schweizer,  Belgier,  Engländer  usw.  12  000. 
Es  entfielen  dabei  auf  die  einzelnen  drei  Departements  Algier 
1  641  000,  Oran  1  107  000  und  Constantine  1  991  000  Seelen. 

Abgesehen  von  einigen  kleineren  Stämmen  und  Rassen 
gehören  die  eigentlichen  Eingeborenen  den  Arabern  und 
Berbern  an,  und  zwar  zählte  man  deren  1896  bei  einer 
Gesamtbevölkerung  von  4  403  000  Köpfen  3  035  000  Araber 
und  692  000  Berber. 

Zu  den  Arabern  rechnet  man  die  Beduinen,  die 
Zeltbewohner  des  freien  Landes,  echte  Nomaden,  meist 
Nachkommen  der  dritten  arabischen  Invasion  aus  dem  11. 
Jahrhundert,  die  ihre  Namen  und  Stammbäume  erhalten  und 
sich  teilweise,  bis  zum  heutigen  Tage,  mit  den  Berbern  ver- 
mischt haben.  Im  Teil,  den  sie  zum  großen  Teil  bewohnen, 
treiben  die  Beduinen  Ackerbau  und  Viehzucht,  in  der  Sahara 
nur  letztere,  und  zwar  leben  sie  in  Zelten  oder  Reiserhütten 
(Gurbis).  Die  Araber  leben  in  patriarchalisch  zusammen- 
gehaltenen Familien,  mehrere  Familiengruppen  bilden  das 
Zeltdorf,  Duar,  mehrere  Duars  die  Ferka,  welche  unter 
einem,  vom  obersten  Machthaber  des  Stammes  ernannten 
Scheich  steht.  Am  wenigsten  nomadisch  ist  die  Bevölkerung 
im  Departement  Constantine,  dem  fruchtbarsten  und  wald- 
und  erzreichsten. 

Die  seßhaften  Eingeborenen  in  den  Städten,  die  so- 
genannten Mauren,  etwa  zwei  Millionen  an  der  Zahl,  die 
sich  selbst  Hadar,  d.  h.  „Hausbewohner",  im  Gegensatz  zu 
den  Hal-bid-etschaar  d.  h.  „Zeltbewohnern"  oder  Beduinen 
nennen,  sind  meist  wohl  Nachkommen  der  romanisierten 
alten  Mauretanier,  also  ursprünglich  berberischer  Rasse,  aber 
längst  arabisiert,  teils  auch  echte  Araber  und  Nachkommen 
der  aus  Spanien  vertriebenen  Mauren.  Sie  sind,  mit  Aus- 
nahme der  oberen  Klassen,  ein  verarmtes  und  im  Abnehmen 
begriffenes    Volk,     das    seinen    Unterhalt    im    Kleinhandel, 


—    35    — 

besonders  aber  als  Handwerker  und  Tagelöhner  findet  und 
von  der  „europäischen  Zivih'sation"  nur  die  schlechten  Seiten 
angenommen  hat.  Ein  Mittelstand  ist  unter  den  algerischen 
Arabern  kaum  vertreten,  es  gibt  unter  ihnen  vielmehr  fast 
nur  Reiche  und  Proletariat. 

Die  Kabilen,  wie  man  hier  die  Nachkommen  der  am 
wenigsten  vermischten  alten  Berber  nennt,  etwa  700000 
Köpfe,  bewohnen  größtenteils  die  Provinz  Constantine,  das 
alte  Numidien,  leben  in  Dörfern  mit  gemauerten  Häusern 
und  treiben  sorgsamen  Ackerbau  und  ein  wenig  Industrie. 
Die  politische  Einheit  der  Kabilen  bildet  nicht  die  Familie, 
sondern  das  Dorf,  die  Dechra,  unter  einem  Amin,  der  von 
seinen  Untergebenen  gewählt  wird ;  im  Gegensatz  zu  der 
patriarchalisch-aristokratischen  Verfassung  der  Araber  ist  die 
der  Kabilen  mehr  demokratisch.  Die  Kabilen  sind  arbeitsam 
und  sehr  mäßig,  den  Fortschritten  europäischer  Kultur  in 
mancher  Beziehung  leichter  zugänglich  als  die  Araber,  aber 
anderseits  fanatisch,  barbarisch,  schmutzig  und  geizig.  Auch 
die  in  den  Aures-Bergen  lebenden  Zenati,  die  aus  den  Oasen 
des  Ziban  stammenden  Biskrih  und  die  Leute  vom  Stamme 
der  Beni  Mzab  sind  verhältnismäßig  reine  Berber. 

Der  wichtigste  Berberstamm  der  Sahara  sind  die  Tua- 
regs,  die  Nachkommen  der  alten  Gätuler  und  Garamanten, 
fanatische  und  treulose  Gesellen,  welche  in  mehreren,  meist 
einander  feindlichen  Stämmen,  zwischen  Niger  und  Tibesti 
hausen,  hauptsächlich  in  den  Oasen  des  Tuat  und  in  den 
Landschaften  Asgar  und  Ahaggar,  und  raubend  und  V^ieh- 
zucht  treibend,  die  Wüste  durchstreifen. 

Die  Tuat-Oasen  besitzen  in  350  Siedelungen  gegen 
200000  Bewohner,  und  daneben  sind  noch  etwa  ebensoviel 
Nomaden  zu  rechnen. 

Zum  Glück  für  die  Franzosen  sind  die  Eingeborenen 
Algeriens  sehr  verschiedener  Abstammung,  hassen  sich  unter- 


—     36     — 

einander  und  haben  keine  gemeinsame  Vaterlandsliebe;    nur 
der  Islam  bildet  ein  mächtiges  Bindeglied  unter  ihnen. 

Eine  Mischung  von  Türken  und  eingeborenen  Weibern 
sind  die  Kuluglis. 

Die  Juden,  meist  Nachkommen  der  1492  gänzh"ch  aus 
Spanien  vertriebenen  Israeliten,  die  aber  in  Algerien  schon 
ältere  Judengemeinden  antrafen,  wurden  unter  der  Türken- 
herrschaft mißhandelt  und  unterdrückt,  durch  die  Franzosen 
aber  mit  allen  bürgerlichen  Rechten  ausgestattet  und  1870 
vollständig  emanzipiert.  Sie  haben  sich  trotzdem  aber  keines- 
wegs mit  den  Europäern  verschmolzen,  sondern  sind  auf 
ihrer  alten  Kulturstufe  geblieben,  wenn  sie  im  allgemeinen 
auch  höher  stehen,  als  die  tunesischen  und  besonders  die 
marokkanischen  Juden.  Trotz  ihrer  geringen  Allgemein- 
bildung den  Mauren  im  Handel  überlegen,  erwerben  sie  teil- 
weise schnell  Reichtum,  beuten  die  Bevölkerung  vielfach 
durch  Wucher  aus  und  werden  von  dieser  bitter  gehaßt. 
Sie  betreiben  in  Algerien  übrigens  auch  die  verschiedensten 
Handwerke. 

Die  Landessprache  der  Eingeborenen  ist  bei  den 
Arabern  und  Juden  ein  korrumpiertes,  mit  den  verschieden- 
artigsten fremden  Brocken  vermischtes  Arabisch,  bei  den 
Kabilen  ein  Berberdialekt,  stark  mit  arabischen  und  auch 
schon  mit  einer  Reihe  französischer  Worte  durchsetzt. 
Europäer.  Zwischeu  den  Eingeborenen  und  den  Europäern   be- 

steht eine  tiefe  Kluft;  Sitte,  Sprache,  Religion,  Geschichte 
und  Tradition,  alles  trennt  den  Moslim  von  dem  verhaßten 
Rumi  oder  Christen.  Während  die  Zahl  der  1831  in  Algerien 
lebenden  Europäer  nur  3228  betrug,  worunter  600  Franzosen, 
haben  sich  diese  Zahlen  seitdem  wie  folgt  entwickelt: 
1838  1851  1861  1872 
Europäer  20         131         192        248    Tausend 

davon  Franzosen      8  66         112         1 30 


-     37     - 

1881     1886     1891      1896     1901 
Europäer  400      500      477      530      584     Tausend 

davon  Franzosen     233      260      268      318      364 

Das  französische  Element  ist  begreiflicherweise  das 
überwiegende,  stammt  aber  nur  zum  Teile  aus  dem  Mutterland 
und  umfaßt  auch  die  zahlreichen  naturalisierten  Spanier  und 
Italiener,  denen  es  gelungen  ist,  eine  dauernde  Existenz  im 
Lande  zu  finden,  und  die  besonders  seit  dem  neuen  Natu- 
ralisationsgesetz vom  26.  Juni  1889  Aufnahme  gefunden 
haben;  nach  diesem  jus  soli  sind  alle  auf  französischem 
Boden  von  Fremden  geborenen  Kinder  französische  Bürger. 
Wenn  der  in  Algier  geborene  Sohn  eines  Ausländers  das 
militärpflichtige  Alter  erreicht  hat,  so  muß  er  sich  entscheiden, 
ob  er  unter  der  französischen  Fahne  dienen  oder  in  seine 
Heimat  zurückkehren  will;  tritt  er  in  die  französische  Armee 
ein,  was  gewöhnlich  geschieht,  so  ist  seine  Naturalisation 
damit  ohne  weiteres  beurkundet.  Nicht  weniger  prompt 
vollzieht  sich  die  Naturalisation  durch  Verheiratung  zwischen 
Franzosen  und  anderen  Eingewanderten,  und  die  seit  1830 
herangezogenen  französischen  Kolonisten -Familien  werden 
immer  mehr  von  fremdem  Blute  durchsetzt.  Die  Naturali- 
sierung in  Algerien  geschieht  im  übrigen  nach  Erlaß  von 
1865,  wonach  ein  jeder,  der  drei  Jahre  in  Algerien  lebt,  zu 
sämtlichen  Rechten  eines  französischen  Bürgers  zugelassen, 
aber  erst  nach  zehn  Jahren  in  die  repräsentativen  Körper- 
schaften gewählt  werden  kann.  Um  unerwünschte  Bewerber 
zurückzuhalten,  verlangt  man  seit  1898  auch  die  Kenntnis 
der  französischen  Sprache,  und  da  man  der  waschechten 
politischen  Gesinnung  der  Übergetretenen  vielfach  nicht  recht 
traut,  fordert  man  neuerdings  von  gewisser  Seite,  den 
Nationalisierten  politische  Rechte  überhaupt  vorzuenthalten. 

Es  scheint,  daß  die  meist  aus  Südfrankreich  stammen- 
den   französischen    Kolonisten    und    ihre    Nachkommen    nur 


—     3S     — 

solange  für  eine  systematische  Arbeitsleistung  in  Frage 
kommen,  als  sie  sich  im  Besitz  ihres  Grundeigentums  zu 
erhalten  wissen;  ohne  diese  Grundlage  erliegen  sie  rasch 
dem  Klima  und  der  Konkurrenz  der  einheimischen  oder  der 
widerstandsfähigeren  spanischen,  italienischen  und  Malteser 
Arbeiter.  In  der  Stadt  Algerien  bilden  die  verarmten  Kolo- 
nisten und  ihre  Nachkommen  ein  nicht  gerade  gutmütiges 
Proletariat,  dessen  Bedenklichkeit  bei  den  letzten  antise- 
mitischen Kundgebungen  deutlich  in  Erscheinung  trat.  Die 
Franzosen  sind  als  Soldaten,  Beamte,  Kaufleute,  Gewerbe- 
treibende und  Farmer  tätig,  für  harte  Lohnarbeit  aber  liefert 
Frankreich  nur  ein  wenig  zahlreiches  Material  in  den  zur 
Zwangsarbeit  verurteilten  Soldaten  zweiter  Klasse,  den  Straf- 
bataillonen, die  in  ihrer  beschränkten  Zahl  nicht  als  ein 
nennenswerter  wirtschaftlicher  Faktor  erscheinen. 

Den  Charakter  als  Ausländer  scheinen  im  allgemeinen 
nur  die  spanischen,  italienischen  und  Malteser  Arbeiter  zu 
bewahren,  welche  für  bestimmte  Zeit  zu  öffentlichen  Bauten 
nach  Algerien  kommen  und  sich  selbst  bei  harten  Erd- 
arbeiten mit  einem  Tagelohn  von  2V2  Francs  begnügen; 
der  Araber  ist  allerdings  schon  mit  1  ^U  Francs  und  weniger 
zufrieden,  leistet  aber  auch  entsprechend  weniger.  Oran  ist 
zum  Ärger  der  Franzosen  fast  eine  spanische  Provinz  ge- 
worden, die  Spanier  sind  hier  auch  als  Kaufleute,  Klein- 
händler und  Handwerker  tätig,  und  außerdem  sind  sie  die 
Hauptgemüseproduzenten.  Die  Zahl  der  Spanier  ist  von 
114000  in  1881  auf  155000  in  1901  gestiegen,  die  Zahl  der 
Italiener  schwankte  in  demselben  Zeitraum  zwischen  33000 
und  44000,  —  1901:  39000  — ,  diejenige  der  Malteser 
zwischen  12  000  und  15  000,  und  von  1856—1896  hat  sich 
die  Gesamtzahl  der  Spanier  und  Italiener  verdreifacht.  Die 
große  Zahl  der  Spanier  ist  den  Franzosen  keineswegs 
angenehm,    und  so  richtete   sich  denn   auch  der  Erlaß   des 


—     39     — 

Präfekten  von  Oran.  der  im  Herbst  1904  in  den  Kirchen 
seines  Bezirks  den  Gebrauch  einer  anderen,  als  der  fran- 
zösischen Sprache  verbot,  natürhch  in  erster  Linie  gegen  die 
Spanier,  welche  dieses  Vorgehen  sehr  abfällig  beurteilten. 

Deutsche,  darunter  Mitglieder  der  zur  Eroberung 
Algeriens  errichteten  „Fremdenlegion",  stellten  sich  schon 
mit  den  ersten  Kolonisten  ein,  im  Jahre  1871  bot  Frank- 
reich Elsaß-Lothringern,  die  sich  zur  Auswanderung  ent- 
schlossen, unter  besonders  günstigen  Bedingungen  Eigentum 
in  Algerien  an,  und  das  elsässische  Element  macht  sich  auch 
heute  noch  hervorragend  unter  den  französischen  Kolonisten 
bemerkbar.  Nicht  allzu  selten  trifft  man  noch  Söhne  und 
Enkel  der  Eingewanderten  im  Besitz  ihrer  deutschen  Mutter- 
sprache an,  so  z.  B.  in  der  Preußen -Kolonie  La  Stidia  bei 
Mostaganem,  welche  1846  von  90  armen  Familien  mit  467 
Personen,  meist  aus  der  Gegend  von  Trier  eingewandert, 
gegründet  wurde.  Sonst  sind  Kolonisten  deutscher  Abkunft 
besonders  noch  zu  finden  in  Ste.  Leonie  bei  Arzeu,  in  den 
Dörfern  _Prudon  und  Sidi  Lahsen  bei  Sidi  Bei  Abbes,  in  dem 
Städtchen  Saida,  in  den  Tälern  der  Kabilei  (Menerville  z.  B. 
ist  fast  ausschließlich  von  Elsaß -Lothringern  bewohnt),  in 
Ued  Tuta  bei  Bone,  in  Palestro,  auf  dem  Steppenhochland 
bei  Batna,  weiterhin  am  Fuße  des  Biban-Gebirges.  Einzelne 
sind  wohlhabende  Grundbesitzer  geworden,  andere,  und 
vielleicht  die  Mehrzahl,  haben  nach  kurzem  Glück  Schiff- 
bruch erlitten,  wieder  andere  Familien  sind  ganz  und  gar 
ausgestorben,  und  fast  alle  deutschen  Niederlassungen  in 
Algerien  sind  im  Laufe  der  Jahre  französisch  geworden; 
haben  doch  in  den  Jahren  1865—1902  rund  10000  Deutsche 
in  Algerien  die  französische  Staatsangehörigkeit  erworben. 
Das  deutsche  Reich  unterhält  ein  Generalkonsulat  in  Algier. 

Die  Zahl  der  Deutschen  in  Algerien,  im  Jahre  1896: 
5800,  nimmt  nur  durch  Zuwanderung,  namentlich  aus  Elsaß- 


—     40     - 

Lothringen  zu,  da  die  Geburtsziffer  bei  ihnen  noch  immer 
hinter  der  Zahl  der  Sterbefälle  zurückbleibt,  während  bei  den 
Franzosen,  wo  früher  auch  in  Algerien  dasselbe  der  Fall 
war,  sich  schon  ein  Geburtsüberschuß  herausstellt.  Am 
besten  gedeihen  dort  von  Fremden  die  Spanier  und  Italiener, 
vor  allem  aber  die  Juden  (Geburten  45 — 47  "ou,  Sterbefälle 
2T— 28 "  üo),  und  noch  rascher  wächst  die  einheimische  mo- 
hammedanische Bevölkerung.  Hat  sich  die  Zahl  der  Einge- 
borenen von  1872  (2  125  000)  bis  heute  doch  verdoppelt, 
und  wenn  es  auch  immerhin  beachtenswert  ist,  daß  es  im 
Laufe  von  75  Jahren  gelang,  rund  600  000  Europäer  in 
Algerien  ansässig  zu  machen,  so  darf  doch  dabei  nicht  außer 
acht  gelassen  werden,  daß  diese  Europäer  unter  sich  keines- 
wegs einig,  sondern  daß  sie  von  nationalen  Eifersüchteleien 
erfüllt,  von  Parteihader  zerrissen  und  im  allgemeinen  jeder 
Autorität  und  deren  Trägern  gegenüber  widerspenstig  sind; 
nur  das  gemeinsame  Bedenken  wegen  der  überlegenen  Zahl 
der  Eingeborenen  hält  sie  zusammen. 

Verwaltung.  Die    Verwaltung    Algeriens    hat    sehr    verschiedene 

Phasen  durchlaufen,  da  jeder  neue  Vertreter  Frankreichs 
auch  neue  Ideen  und  Systeme  mitbrachte,  die  er  anstelle 
der  bisher  geltenden  einzuführen  versuchte. 

Die  Kolonie  zerfällt  heute  in  der  Richtung  von  Nord 
nach  Süd  in  ein  Zivil-  und  in  ein  Militärgebiet,  und  in 
der  Richtung  von  West  nach  Ost  in  die  drei  Departements 
Oran,  Algier  und  Constantine,  welch'  letztere  Trennung  aber 
keineswegs  natürlichen  Grenzen,  sondern  nur  alter  histo- 
rischer Teilung  entspricht.  Die  einzelnen  Departements 
zerfallen  im  Zivilgebiet  in  Arrondissements,  im  ganzen 
17,  und  diese  wieder  in  Kommunen;  das  Militärgebiet 
wird  in  Subdivisio  nen  und  Kreise  eingeteilt. 


—     41      - 

Die  X'erwaltung  jedes  Departements  ist  geteilt 
zwischen  einem  Präfekten  für  das  Zivilgebiet  und  einem 
Divisionsgeneral  für  das  Militärgebiet;  beiden  Gebieten  ge- 
meinsam ist  der  1848  geschaffene  conseil  de  prefecture 
von  je  vier  rechtskundigen  Beamten.  Seit  1875  ist  dazu  in 
jedem  Departement  auch  noch  ein  repräsentativer  conseil 
general  getreten,  und  zwar  setzt  sich  derselbe  in  den  De- 
partements Algier  und  Constantine  aus  je  36,  in  Oran  aus 
33  gewählten  französischen  Bürgern  der  Kolonie  zusammen, 
wozu  in  jedem  Departement  noch  6,  von  dem  General- 
gouverneur aus  den  Notabein  des  betreffenden  Bezirks  er- 
nannte mohammedanische  Beisitzer  treten.  Diese  conseils 
generau.x  treten  jährlich  zweimal  zusammen  und  haben  die- 
selben Befugnisse,  wie  die  gleichen  Beiräte  in  Frankreich. 

An  der  Spitze  jedes  Arrondissements  steht  ein 
Unter- Präfekt. 

Für  die  Verwaltung  der  Eingeborenen-Gemeinden 
waren  frühzeitig  die  bureaux  arabes  geschaffen  und  1843 
von  Bugeaud  organisiert  worden.  Dieselben  standen  unter 
einem  politischen  Bureau  in  Algier  —  heute  das  Zentral- 
bureau für  Eingeborenen -Angelegenheiten  — ,  bei  den  Divi- 
sionskommandanten jedes  Departements  bestanden  Provinzial- 
direktionen,  bei  den  Subdivisionen  Bureaus  1.  Klasse  und 
bei  den  Kommandanten  der  Kreise  solche  2.  Klasse;  das 
Personal  wies  neben  Militär  Dolmetscher  und  Arzt  auf. 
Diese  bureaux  arabes,  als  Mittelglieder  zwischen  den  Häupt- 
lingen (Scheichs)  der  Eingeborenen  und  der  Oberbehörde, 
bearbeiteten  sämtliche  Eingeborenen -Angelegenheiten,  ein- 
schließlich des  Steuer-,  Rechts-,  Polizei-,  Unterrichts-  und 
Kultus-Wesens,  hatten  die  Aufgabe,  einerseits  die  religiösen 
und  bürgerlichen  Interessen  der  Eingeborenen,  anderseits 
diejenigen  der  Kolonisten  in  ihren  Beziehungen  zu  den  Ein- 
geborenen wahrzunehmen,    und    bildeten,    im  Gegensatz  zu 


—     42     — 

den  häufig  wechselnden  Oberbeamten,  das  bleibende 
Element  der  Verwaltung  und  als  solches  ein  sehr  wichtiges 
Bindeglied  zwischen  den  Eingeborenen  und  den  Eroberern. 
Da  sie  aber  ihre  Machtfülle  nicht  selten  auch  mißbrauchten, 
wurden  sie  am  12.  Mai  1871  aufgehoben.  Später  wurden 
sie  allerdings  wieder  eingerichtet,  aber  in  dem  Maße,  wie 
sich  das  Zivilgebiet  auf  Kosten  des'  Militärgebiets  ausdehnte, 
verloren  auch  die  schon  seit  1868  nur  noch  in  letzterem 
wirkenden  bureaux  arabes  an  Zahl  und  Bedeutung. 

Heute  gibt  es  dafür  neue  Verwaltungsformen. 

Die  334  Kommunen  des  Zivil-Distrikts  zerfallen  in 
261  kleinere  mit  vollständiger  Selbstverwaltung  unter  einem 
gewählten  Maire  und  einem  nur  von  den  Franzosen  ge- 
wählten Gemeinderat;  und  in  73  größere,  sogenannte  „ge- 
mischte" ,  wo  die  Eingeborenen  an  Zahl  stark  überwiegen 
und  die  Verwaltung  Beamten  der  Zentralverwaltung  über- 
tragen ist,  denen  eine  nur  zum  Teil  gewählte  Munizipal- 
kommission zur  Seite  steht;  dieselbe  setzt  sich  aus  gewählten 
französischen  und  vom  Generalgouverneur  ernannten  einge- 
borenen Beisitzern  zusammen.  Die  73  „gemischten"  Kom- 
munen des  Zivilgebiets  umfassen  ''V,  desselben  überhaupt 
und  weisen  neben  2  600  000  Eingeborenen  nur  75  000  Euro- 
päer auf.  In  jeder  selbständigen  Kommune  mit  mindestens 
100  Eingeborenen  sind  in  dem  gewählten  Gemeinderat  auch 
2  —  6  Eingeborene  vertreten,  die  aber  nie  mehr  als  ein 
viertel  der  Gesamtmitglieder  des  Gemeinderats  bilden  und 
höchstens  sechs  im  ganzen  zählen  dürfen,  ein  System,  das 
von  den  Europäern  oft  zu  Ungunsten  der  Eingeborenen  aus- 
genutzt wurde;  außerdem  wirkt  der  häufige  Wechsel  der 
französischen  Beamten  und  deren  meist  ungenügende  Kenntnis 
des  Arabischen  ungünstig.  Daß  die  Fremden  im  Ge- 
meinderat nirgends  vertreten   sind   und   auch  das  Wahlrecht 


—     43     — 

dafür  nicht  genießen,  ist  in  Anbetracht  der  besonderen  V^er- 
hältnisse  durchaus  verständlich. 

Von  den  18  Kommunen  des  Mi!  itärgebiets  sind 
6  sogenannte  „gemischte"  1868  geschaffen  und  12  „Ein- 
geborenen-Kommunen" 1874  eingerichtet.  Bei  ersteren 
funktioniert  der  Kreiskommandant  als  Maire  und  ihm  zur 
Seite  steht  eine  Munizipalkommission,  die  sich  aus  dem  Platz- 
kommandanten, dem  Friedensrichter,  gewissen  Verwaltungs- 
beamten und  fünf  Beisitzern  zusammensetzt,  welch'  letztere 
teils  gewählt,  teils  ernannt  werden.  Die  .,Eingeborenen- 
Gemeinde"  besteht  aus  verschiedenen  Duars  und  wird  von 
einer  Munizipalkommission  verwaltet,  der  als  Chef  der  Kreis- 
kommandant, ferner  verschiedene  Offiziere,  der  Vorstand  des 
bureau  arabe  und  eingeborene  Notable  der  verschiedenen 
Duars  angehören.  Der  Duar,  die  eigentliche  Einheit,  steht 
unter  einem  Kaid  und  der  Notablenversammlung  der 
Dschemaa. 

.Außer  Duars  und  Ferkas  (Gemeinden)  bildet  die  einge- 
borene Bevölkerung  noch  Uls  (Stämme)  und  Arraliks  (Ver- 
einigung von  Stämmen). 

Eingeborene  dürfen  ihren  Wohnsitz  nur  mit  einem 
Reisepaß  versehen  verlassen,  den  die  Ortsbehörden  gratis 
ausstellen,  und  der  unterwegs  und  am  Reiseziel  visiert  wird. 

Durch  fortschreitende  Ansiedlungen  nimmt  natürlich 
das  territoire  civil  fortwährend  auf  Kosten  des  territoire  mi- 
litaire  zu,  und  letzteres  rückt  immer  weiter  von  der  Küste 
ab,  sodaß  es  heute  nur  noch  den  größeren  Teil  der  Hoch- 
ebene und  die  Sahara  umfaßt.  Im  Jahre  1901  stellte  sich 
das  Verhältnis  zwischen  den  beiden  verschiedenen  Ver- 
waltungsgebieten wie  folgt: 
Territoire  civil  131000  qkm  mit  4  150  000  Einwohnern, 

militaire  348  000     „       „        589  000 
während    das  Zivilgebiet    im  Jahre   1870   erst    493  000    und 


—     44     — 


noch  IcSTT  nur  1  316  000  Köpfe  zählte.  Nach  der  Eroberung 
der  Tuat- Oasen  ist  am  6.  Dezember  1902  die  algerische 
Sahara  als  ein  besonderes  Mihtärgebiet  der  „territoires  du 
Sud"  konstituiert  worden,  dem  man  am  24.  Dezember  1902 
auch  eine  besondere  Verwaltungs-  und  Finanzorganisation  gab. 
Durch  dieses  Gesetz  vom  24.  Dezember  1902  wurde 
das  Generalgouvernement  Algerien  in  zwei  Teile  mit  ge- 
trennter Verwaltung  geschieden,  nämlich  in  das  eigent- 
liche Algerien  und  in  die  Südterritorien,  welch' letztere 
gleichzeitig  in  das  Gebiet  der  Sahara  hinein  erweitert  wurden, 
entsprechend  der  Ausdehnung  der  französischen  Macht  seit 
1899.  Nach  dieser  neuen  Einteilung  verteilen  sich  Areal  und 
Bevölkerung  (laut  Zählung  von  1901)  wie  folgt  auf: 

1.  Algerien. 

36  900  qkm 

23  800 

31  900 

21  800 


Oran,  Zivilgebiet 

Militär-  ,, 
Algier,  Zivil-     ,, 

Militär-  „ 

Constantine  Zivilgebiet     62  100 

Militärgebiet  23  400 


960  000  Einwohner 
91  000 
1  422  000 
93  000 
1  768  000 
107  000 


II. 


Alte  Gebietsteile 
Neue 


199  900  qkm      4  441  000  Einwohner 

Süd-Territorien. 
279  000  qkm        298  000  Einwohner 
62  000 


411000     „ 
690  000  qkm 
Summa:  890  000  qkm 


360  000  Einwohner 

4  800  000  Einwohner. 
An  der  Spitze  der  Kolonie  steht  ein  in  Algier  resi- 
dierender General-Gouverneur,  der  auf  Vorschlag  des 
Ministers  des  Innern  durch  Dekret  des  Präsidenten  der  Re- 
publik ernannt  wird,  jährlich  60  000  Francs  Gehalt,  dazu 
40  000  Francs  für  Repräsentationskosten  und  10  000  Francs 
für  Sekretariatsspesen    bezieht    und   über  allen  Militär-  und 


—     45     - 

Zivilbeamten  der  Kolonie  steht;  betreffs  der  Ernennung 
aller  oberen  Beamten  wird  er  konsultiert.  Der  General- 
Kommandant  des  XIX.  Armeekorps  und  der  Kommandant 
der  algerischen  Marine  sind ,  soweit  Sicherung  der  Landes- 
grenzen und  Besetzung  und  Organisation  der  „territoires  de 
commandement"  in  Frage  kommen,  durch  ein  Dekret  vom 
Juli  1901  dem  Generalgouverneur  unterstellt.  Als  Reprä- 
sentant Frankreichs  in  Nordafrika  korrespondiert  er  direkt 
mit  dem  französischen  Gesandten  in  Tanger,  mit  Frankreichs 
Generalresidenten  in  Tunis  und  mit  dem  französischen  Ge- 
neralkonsul in  Tripolis.  Hinsichtlich  der  politischen  Ver- 
waltung untersteht  der  Generalgouverneur  dem  französischen 
Minister  des  Innern,  in  allen  anderen  Angelegenheiten  aber 
war  er  bis  vor  kurzem  von  den  betreffenden  französischen 
Ministerien  abhängig,  mit  denen  er  direkt  korrespondiert. 
Diese  nach  dem  Mutterland  hin  gravitierende  Zentrali- 
sation machte  die  Kolonie  aber  vielfach  zum  Spielball 
parlamentarischer  Einflüsse,  und  so  hat  man  durch  Organi- 
sationsgesetze von  1896,  1898  und  1901  die  Gewalt  des 
Generalgouverneurs  mehr  und  mehr  gestärkt  und  nur  die 
Departements  der  Justiz  für  Nichteingeborene,  für  Kultus, 
Unterricht  und  Finanzen  unter  den  entsprechenden  franzö- 
sischen Ministerien  belassen. 

Dem  Generalgouverneur  unmittelbar  unterstellt  sind  ein 
Zivilkabinet,  ein  Militärkabinet  und  ein  Zentralbureau  für  Ein- 
geborenen-Angelegenheiten und  Militärpersonalien  (das  alte 
,, politische  Bureau"),  sowie  ein  Generalsekretär,  welcher  die 
Zivilangelegenheiten  bearbeitet  und  den  Generalgouverneur 
im  Bedarfsfall  vertritt. 

Sodann  hat  man  im  Dezember  1900  unter  Jonnart  für 
die  Zentral -Verwaltung  der  Kolonie  drei  Direktionen  ein- 
gerichtet, nämlich  je  eine  für  Finanzkontrolle;  für  öffentliche 
Arbeiten   und   Bergbau;   und    für  Ackerbau,    Handel   und  In- 


—     46     — 

dustrie,  denen  Revoil  1901  auch  noch  eine  Direktion  für 
Eingeborenen -Angelegenheiten  zufügte.  Gleichzeitig  wurde, 
um  das  Generalgouvernement  zu  entlasten  und  eine  größere 
Dezentralisation  zu  erzielen,  den  Departementspräfekten  eine 
weitergehende  Zuständigkeit  als  bislang  eingeräumt  und  in 
jedem  Departement  ein  Generalsekretär  für  die  Departements- 
und Gemeindeverwaltung  und  ein  anderer  Generalsekretär 
für  die  Eingeborenen -Verwaltung  und  die  allgemeine  Polizei 
angestellt. 

Dem  obersten  Beamten  Algeriens  sind  schon  von  1830 
an  eine  oder  mehrere  Beiräte  zugeordnet  worden,  deren 
Namen  und  Bedeutung  wechselten.  Das  Dekret  vom  10.  De- 
zember 1860  schuf  den  nur  aus  Oberbeamten  bestehenden, 
einmal  wöchentlich  zusammentretenden  conseil  de  gou- 
vernement,  daneben  aber  den  conseil  superieur  de 
gouvernement,  der  außer  Beamten  auch  Vertreter  der 
anderen  Berufsklassen  aufweist.  Diese  letztere  ,,assemblee" 
ist  1875  und  zuletzt  durch  ein  Dekret  vom  23.  August  1898 
reorganisiert  worden,  welches  gleichzeitig  eine  zweite  as- 
semblee,  die  drei  delegations  financieres,  neu  schuf. 

Der  conseil  superieur  umfaßt  ex  officio  22  hohe 
Regierungsbeamte,  zu  denen  der  Gouverneur  noch  4  weitere 
Beamte  und  3  notable  Eingeborene  ernennt,  während  als 
Vertretung  der  Bevölkerung  16  Mitglieder  der  3  Finanz- 
delegationen —  darunter  4  der  Eingeborenen  —  und  je 
5  Vertreter  der  3  Departementsräte  dienen,  sodaß  also  29 
ernannten  31  vom  Volke  gewählte  Mitglieder  gegenüber- 
stehen. Die  Hauptbefugnis  dieses  conseil  superieur  bildet 
die  Beratung  des  vom  Generalgouverneur  aufgestellten  Bud- 
getentwurfs und  von  Verwaltungsfragen.  Der  conseil  supe- 
rieur tritt  jährlich  einmal  und  zwar  nach  den  delegations 
financieres  zusammen. 


—     47     — 

Die  drei  delegations  financieres,  denen  die  Be- 
ratunji  und  Kontrolle  der  Finanzen  der  Kolonie  zusteht, 
werden  von  den  drei  Gruppen  der  Kolonisten,  der  Nicht- 
kolonisten  und  der  Eingeborenen  auf  sechs  Jahre  gewählt, 
und  zwar  wählen  die  beiden  ersten  Gruppen  in  jedem  De- 
partement je  8  Mitglieder  aus  den  in  die  Munizipallisten 
eingeschriebenen  Bürgern,  welche  mindestens  25  Jahre  alt, 
seit  mindestens  12  Jahren  Franzosen  sein  und  mindestens 
3  Jahre  in  Algerien  wohnen  müssen.  Jede  der  beiden  fran- 
zösischen Gruppen  wählt  also  24  Mitglieder,  während  die 
Eingeborenen-Delegation  nur  21  Mitglieder  umfaßt,  nämlich 
aus  den  drei  Departements  je  drei  Gewählte  aus  dem  Zivil- 
Gebiet  und  je  zwei  vom  Gouverneur  ernannte  aus  dem 
Militärgebiet,  wozu  noch  sechs  von  den  Kabilen-Häuptlingen 
gewählte  Mitglieder  treten.  Jede  der  drei  Delegationen  berät 
im  allgemeinen  für  sich  allein;  durch  besondere  Verfügung 
des  Gouverneurs  können  sie  aber  zu  gemeinsamer  Beratung 
von  Fragen  allgemeinen  Interesses  zusammentreten.  Die 
Einrichtung  der  Delegationen  hat  sich  bislang  im  großen 
ganzen  recht  gut  bewährt  und  gibt  der  Bevölkerung,  ohne 
einen  für  Algerien  unangebrachten  Parlamentarismus  einzu- 
führen, Gelegenheit,  ihre  Meinung  über  Steuer-  und  anderen 
Finanzfragen  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Die  Dauer  der  jährlichen  Sessionen  der  beiden  algeri- 
schen assemblees,  die  man  ungefähr  mit  einem  Ober-  und 
Unterhause  vergleichen  kann,  ist  auf  einen  Monat  beschränkt. 

Nachdem  Algerien  bereits  in  den  Jahren  1848-1852 
eine  Vertretung  in  den  französischen  Kammern  hatte, 
ist  ihr  dieselbe  1870  aufs  neue  eingeräumt  worden;  jedes 
der  drei  Departements  schickt  heute  zwei  Deputierte  und 
einen  Senator  nach  Paris,  und  zwar  nehmen  an  den  Wahlen 
dafür  nur  die  Franzosen,    nicht  aber  die  Moslims  teil,    da 


—     48     — 

man  den  Eingeborenen  nur  als  französischen  Untertan,  nicht 
aber  als  französischen  Bürger  betrachtet  und  behandelt. 
Rechtswesen.  Die  Justizverwaltung  zerfällt  zunächst,   jedoch  nur 

für  einzelne  Fälle,  in  zwei  Abteilungen,  deren  eine  alle  die 
Europäer  betreffenden  Angelegenheiten,  die  andere  die 
unter  den  Eingeborenen  vorkommenden  Rechtshändel 
entscheidet.  Im  allgemeinen  aber  sind  alle  Bewohner,  ohne 
Unterschied  der  Nationalität  und  des  Glaubens,  den  franzö- 
sischen Gerichten  unterstellt.  Nur  gewisse,  nach  dem  Koran 
straffällige  Vergehen,  welche  in  dem  französischen  Gesetz- 
buch nicht  vorgesehen  sind,  kommen  vor  die  Kadis,  deren 
Rechtsprechung  zuweilen  grausamer  ist,  als  die  französische, 
und  laut  Dekret  von  1886  sind  ihnen  alle  Streitigkeiten  über 
Personenstand,  über  Nachlaßrechte  unter  nichtnaturalisierten 
Muselmanen  und  über  nichtfranzösisierten  Grundbesitz 
vorbehalten.  Im  Straf  recht  ist  auch  der  Eingeborene 
dem  französischen  Gericht  und  nicht  dem  Kadi  unterstellt; 
sein  Zivilrecht  aber  kann  er  nach  eigener  Wahl  bei  den 
französischen  oder  den  eingeborenen  Richtern  suchen.  All- 
gemein wird  das  mohammedanische  Recht,  mit  Ausnahme 
der  vorstehend  genannten  drei  besonderen  Fälle,  nur  noch 
in  der  Kabilei  und  im  Militärbezirk  angewandt. 

Die  für  die  europäische  Bevölkerung  bestehenden 
Gerichte  sind  auf  ganz  ähnliche  Weise  wie  im  Mutterland 
zusammengesetzt,  über  den  16  Gerichtsköfen  erster  Instanz 
steht  ein  Appellhof  in  Algier,  Schwur-  und  Handels- 
gerichte bestehen  in  Algier,  Oran,  Constantine  und  Bone, 
und  außerdem  gibt  es  in  der  Kolonie  118  Friedensrichter. 

Was  die  rechtliche  Stellung  der  Fremden  in  Algerien 
anbelangt,  so  sind  auch  für  sie,  anstelle  der  abgeschafften 
Konsulargerichtsbarkeit  der  früheren  Kapitulationen,  ohne 
weiteres  die  französischen  Gerichtshöfe  getreten.  Die  Frem- 
den unterstehen,  wie  in  anderen  französischen  Gebieten,  einer 


—     49     — 

gewissen  polizeilichen  Kontrolle,  und  der  Generalgouverneur 
hat  ihnen  gegenüber  laut  Bestimmungen  von  1841  das  Aus- 
weisungsrecht. 

Was  das  Kirchen wesen  anbetrifft,  so  fand  sich  die  Kirchenwesen, 
französische  Regierung,  da  der  mohammedanische  Kultus 
aufs  engste  mit  dem  bürgerlichen  Leben  verknüpft  ist,  ver- 
anlaßt, die  vorhandenen  religiösen  Einrichtungen  nicht  nur 
zu  respektieren,  sondern  auch  als  Regierungsmittel  zu  be- 
nutzen. Eine  ihrer  ersten  Maßregeln  war  deshalb  die,  sämt- 
liche Moscheengüter  der  eroberten  Territorien  für  Staatsgut 
zu  erklären  und  alle  Kosten  des  Kultus  selbst  zu  über- 
nehmen, während  die  geistlichen  Angelegenheiten  der  Moslims 
von  zwei  Muftis  geleitet  werden. 

An  der  Spitze  der  katholischen  Kirche  steht  der 
Erzbischof  von  Algier,  welchem  zwei  Bischöfe  in  Oran  und 
Constantine  unterstellt  sind;  auch  besteht  in  Algier  ein  großes 
und  ein  kleines  Priesterseminar.  Besondere  Verdienste  um 
die  Organisation  der  katholischen  Religion  in  Afrika  und  die 
Ausbreitung  des  Christentums  unter  den  Eingeborenen  erwarb 
sich  der  überaus  eifrige  Kardinal  Lavigerie,  der  seit  1867  als 
Erzbischof  in  Algier  tätig  war  und  unter  anderem  auch  die 
Kongregation  der  Peres  Missionaires  d'  Afrique,  der  soge- 
nannten Weißen  Väter,  gründete.  Die  Angelegenheiten  der 
protestantischen  Kirche  leitet  das  Konsistorium  in  Algier. 

Hospitäler  sind  in  allen  Teilen  der  Kolonie  einge- 
richtet. 

Für  das  Volksschulwesen  ist  insoweit  gesorgt,  daß  Unterricht. 
in  jeder  Gemeinde  sich  gegenwärtig  mindestens  eine  Volks- 
schule befindet,  doch  sind  dieselben  von  den  Eingeborenen 
überaus  schwach  besucht;  von  105  000  Kindern  europäischer 
und  israelitischer  Abkunft  besuchten  im  Jahre  1901:  90  000 
die  Volks-  und  Privatschulen,  dagegen  von  676  000  Kindern 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  4 


—     50     — 

im  Alter  zwischen  6  und  13  Jahren  der  Eingeborenen  bloß 
25  000.  Nur  der  aristokratische  oder  vermögende  Araber, 
den  die  Erlangung  eines  Staatsamts  oder  Ordens  reizt,  ent- 
schließt sich  öfters,  seinen  ältesten  Sohn  in  die  französische 
Schule  zu  schicken,  damit  er  Jurist  oder  Offizier  werde; 
auch  hat  die  Regierung  französische  Schulen  mit  moham- 
medanischem Ritus  in  Tlemsen,  Algier  und  Constantine  ein- 
gerichtet, in  denen  man  tüchtige  muselmännische  Beamte 
heranzubilden  hofft.  Neben  den  Volksschulen  bestehen 
Schulbibliotheken  und  für  Erwachsene  Abendkurse,  von 
höheren  Lehranstalten  drei  Lizeen  für  Knaben  in  Oran, 
Algier  und  Constantine,  Seminare  ebendaselbst  und  in  Mi- 
lianah,  eine  Schule  der  Medizin  und  Pharmazie,  eine  Rechts- 
schule, eine  naturwissenschaftliche  und  philosophische  Schule 
und  eine  Kunstschule  in  Algier,  eine  Ackerbauschule  in 
Philippeville;  für  Mädchen  gibt  es  höhere  Schulen  in  Oran 
und  Constantine. 

Zeitungen  sind  in  der  Kolonie  recht  zahlreich  ver- 
treten, man  zählt  deren  gegen  hundert,  darunter  auch  einige, 
die  in  französischer  und  arabischer  Sprache  erscheinen. 
Das  französische  „Journal  officiel"  wird  auch  für  Algerien 
benutzt;  ein  besonderes  „Journal  officiel  de  1'  Algerie"  hat 
nur  1872  —  73  bestanden. 

Verteidigung.  Die    Streitkräfte    der    Kolonie,    welche    durch   fort- 

währenden Kleinkrieg  und  durch  das  Lagerleben  auf  einer 
hohen  Stufe  der  Kriegsbereitschaft  stehen,  setzen  sich  aus 
französischen  und  eingeborenen  Truppen  zusammen,  und 
auch  erstere  liefert  heutigen  Tages  zum  großen  Teile  die 
Kolonie  selbst. 

E^is  1875  waren  die  in  Algerien  ansässigen  Franzosen 
gänzlich  vom  Militärdienst  befreit  und  wurden  erst  dann 
unter  gewissen    Bedingungen   dazu    herangezogen;   seit  1889 


—     51      — 

haben  sie  ein  Jahr  aktiven  Heeresdienstes  bei  dem  in 
Algerien  stationierten  19.  Armeekorps  zu  leisten,  soweit  sie 
dauernd  oder  wenigstens  bis  zu  ihrer  Überführung  in  die 
Territorialarmee  in  der  Kolonie  leben.  Im  Interesse  einer 
lückenlosen  Durchführung  des  Systems  der  zweijährigen 
Dienstzeit  haben  die  französischen  Kammern  Ende  1904 
aber,  gegen  die  Ansicht  des  Ministerpräsidenten,  des  Kriegs- 
ministers und  des  Generalgouverneurs  von  Algerien,  auch 
für  Algerien  und  Tunesien  die  Annahme  des  zweijährigen 
Dienstes  beantragt. 

Dagegen  sind  die  in  Algerien  lebenden  Fremden  auch 
heute  noch  militärfrei,  mit  Ausnahme  der  auf  französischem 
Boden  geborenen  Spanier,  welche  laut  Konvention  von 
1862  in  französichen  Regimentern  dienen  müssen,  wenn  sie 
nicht  militärische  Diensterfüllung  in  Spanien  nachweisen 
können. 

Auch  die  Eingeborenen  sind,  mit  Ausnahme  der 
„Gums",  der  Rekrutierung  nicht  unterworfen;  da  man  sie 
nicht  als  französische  Bürger  betrachtet,  haben  sie  auch 
weder  deren  Rechte  noch  Pflichten;  dagegen  werden  sie 
auf  freiwillige  Meldung  hin  zu  vierjährigem  Dienste  ein- 
gestellt, und  diesem  ersten  Engagement  können  zwei  weitere 
ä  vier  Jahre  und  schließlich  ein  viertes  zu  drei  Jahren 
folgen.  Bis  1903  konnten  die  Eingeborenen  nur  in  Spezial- 
regimentern,  bei  den  1842  geschaffenen  Tu r kos  oder  Ti- 
railleurs  indigenes  und  bei  den  reitenden  Spahis  dienen,  die 
bereits  1830  eingerichtet  wurden;  um  dem  europäischen 
Militär  in  Südalgerien  den  dort  sehr  anstrengenden  Dienst 
zu  erleichtern,  dürfen  Eingeborene  seit  1903  aber  auch  bei 
Artillerie,  Genie,  Train,  Verwaltung  und  Krankendienst  ein- 
gestellt werden.  Die  Spahis  sind  teils  wie  die  anderen  Trup- 
pen kaserniert,  teils  mit  ihren  Familien  und  Herden  auf 
AuBenposten  in  Smalahs  angesiedelt,    wo  sie  ein   ihnen  zu- 

4» 


—     52     - 

gewiesenes  Stück  Land  bebauen.  In  den  Turkos-  und  Spahi- 
Regimentern  besteht  die  Hälfte  der  Korporale,  Sergeanten, 
Unteroffiziere  und  Leutnants  aus  Eingeborenen,  die  höheren 
Offiziere  sind  aber  auch  in  diesen  Truppenteilen  ausschließ- 
lich Franzosen.  Die  „Gums",  ein  Aufgebot  eingeborener 
Reiter,  bilden  eine  Art  Miliz,  die  auf  Befehl  des  französischen 
Kommandanten  von  den  Stammesoberhäuptern  zu  Expe- 
ditionen zusammengezogen  und  zu  Eskorten,  Vorposten  und 
als  Plänkler  verwandt  werden.  Diese  Gums,  Angehörige 
befreundeter  Araberstämme,  sind  zur  Bekämpfung  anderer 
Araber,  Berber  und  Marokkaner  fast  noch  besser,  als  die 
Spahis  zu  verwenden,  weil  sie  mit  der  Kampfart  des  Feindes 
und  dessen  Schlupfwinkeln,  sowie  mit  den  Anstrengungen 
des  Wüstenlebens  besonders  vertraut  sind. 

Die  aus  Franzosen  gebildeten  algerischen  Truppen 
sind  die  auch  bereits  1830  eingerichteten  Zuaven- Infanterie- 
regimenter, ferner  die  1832  gebildete  leichte  afrikanische 
Infanterie  der  sogenannten  „Joyeux"  oder  ,,Zephyrs"  und 
sodann  die  1831  gebildete  und  mit  arabischen  Pferden  ver- 
sehene Kavallerietruppe  der  Chasseurs  d'  Afrique,  die 
sich  meist  aus  den  schon  recht  zahlreichen  Kolonistensöhnen 
rekrutieren.  Außerdem  steht  der  größere  Teil  der  beiden 
Regimenter  der  Fremdenlegion  in  Algerien;  letztere  wurde 
nach  der  Juli-Revolution  gebildet,  um  sich  der  zweifelhaften 
Elemente  der  Hauptstadt  zu  entledigen  und  1831  in  Toulon 
nach  Algerien  eingeschifft.  Diese  Truppe  zählte  1834  bereits 
5600  Mann,  meist  Abenteurer,  worunter  leider  -'3  Deutsche. 

Das  in  Algerien  stationierte  und  dem  französischen 
Kriegsministerium  unterstehende  19.  Armeekorps  gehört  in 
Infanterie  und  Kavallerie  ausschließlich  Algerien  an  — 
französische  Regimenter  sind  in  normalen  Zeiten  nicht  in 
Algerien  stationiert  ,  dagegen  sind  Artillerie,  Train  und 
Genie  von  Truppen  des  Mutterlandes  detachiert. 


—     53     — 

Die  Gesamtstärke  in  Algerien  beträgt  etwa  55  000  Mann, 
nämlich  bei  der  Infanterie:  je  drei  Regimenter  Zuaven  und 
Turkos,  den  größten  Teil  der  beiden  Fremdenregimenter, 
zwei  Bataillone  leichte  afrikanische  Infanterie  und  drei  Straf- 
kompanien; bei  der  Kavallerie:  fünf  Regimenter  Chasseurs 
d'  Afrique  und  drei  Regimenter  Spahis;  ferner  neun  Batterien 
Artillerie,  neun  Train-  und  vier  Genie-Kompanien. 

Dazu  treten  noch  für  die  Polizei  des  äußersten  Südens 
die  aus  verschiedenen  Truppenarten  —  Infanterie,  Artillerie, 
Kavallerie    und    Kamelreitern  zusammengesetzten,    1902 

gebildeten  drei  Kompanien  der  Sahara -Oasen  für  Gurara, 
Tuat  und  Tidikeld,  denen  1904  eine  vierte  in  Beni  Abbes  am 
Wad  Saura  und  eine  fünfte  in  Colomb  bei  Beschar  am  Wad 
Kherua  zugefügt  wurden. 

Die  sämtlichen  Truppen  sind  übrigens  in  der  Wirk- 
lichkeit meist  nur  mit  kleinen  Teilen  in  ihren  Garnisonen  zu 
finden;  die  meisten  Einheiten  stehen  an  der  marokkanischen 
Grenze  bis  tief  nach  dem  Süden  hinunter. 

Zu  den  genannten  Heeresteilen  tritt  in  Algerien  auch 
noch  eine  Territorialarmee,  bestehend  aus  zehn  Batail- 
lonen Zuaven,  sechs  Eskadronen  Chasseurs  d'  Afrique  und 
zehn  Batterien,  und  ferner  weist  Algerien  228  Brigaden 
Gendarmerie   auf,    wovon  176  zu  Pferde  und  52  zu  Fuß. 

Die  in  Algerien  stationierte  Marine  untersteht  einem 
Konteradmiral.  Die  für  das  algerische  Marineheer  Ein- 
geschriebenen sind  seit  1896  den  gleichen  Bedingungen  wie 
in  Frankreich  unterworfen,  d.  h.  sie  sind  vom  18. — 50.  Jahre 
dienstpflichtig,  haben  aber  nur  ein  Jahr  aktiven  Dienst.  Die 
Zahl  der  Eingeschriebenen  belief  sich  1903  auf  6560,  wovon 
540  geborene,  5440  naturalisierte  Franzosen  und  580  Ein- 
geborene waren. 

Dazu  tritt  seit  1903  noch  eine,  von  eingeborenen  Mos- 
lims  gebildete  Baharia,  deren  Mitglieder  zu  mindestens  drei 


—     54     — 

Jahren  aktiven  Dienstes  bei  der  französischen  Flotte  ver- 
pfhchtet  sind. 

Die  Küstenbefestigungen  Algeriens  sind  gewaltig 
verstärkt  worden  und  Rachgun  an  der  Mündung  der  Tafna 
soll  als  Kriegshafen  ausgebaut  werden. 

Finanzen.  Die  Finanzlage   der  Kolonie  ist   bis  heutigen   Tages 

eine  wenig  befriedigende,  da  das  Mutterland,  einschließlich 
der  Kosten  für  das  Militär,  noch  immer  große  Zuschüsse  zu 
leisten  hat,  deren  Gesamthöhe  sich  von  1830  bis  1901  auf 
rund  4650  .Millionen  Francs  belief.  Ein  Spezial-Budget 
für  Algerien  war  zwar  schon  1839  eingerichtet,  1845  aber 
wieder  aufgehoben  und  1854  durch  Generalgouverneur  Ran- 
don, 1861  durch  Marschall  Pe'lissier,  1870  durch  Senator 
Behic,  1887  durch  Generalgouverneur  Tirman,  1893  durch 
Jonnart,  1898  durch  das  Kabinett  Brisson  vergebens  an- 
geregt worden,    bis  endlich   das  Gesetz  vom  19.  Dezember 

1900  ein  solches  schuf  und  damit  eine  weitgehende  finan- 
zielle Selbstverwaltung  der  als  Zivilpersönlichkeit  anerkannten 
Kolonie  anbahnte.  Nach  diesem  neuen  Abkommen  bean- 
sprucht das  Mutterland  aus  den  Einnahmen  Algeriens  für 
sich  ausschließlich  nur  noch  die  Erträge  der  Staatsmonopole 
—  Post  und  Telegraph  —  und  der  Militärtaxe;  dagegen  be- 
streitet Algerien  ab  1.  Januar  1901  die  gesamten  Spesen  der 
Zivilverwaltung,  der  Gendarmerie  und  die  Pensionen  der 
Kolonialbeamten.  Alle  Militärausgaben  —  jährlich  etwa 
55  Millionen  Francs  —  gehen  für  Rechnung  des  Mutter- 
landes, ebenso  die  Zinsgarantien  für  die  vor  dem  1.  Januar 

1901  in  Betrieb  genommenen  Eisenbahnen,  jährlich  rund 
22  Millionen  Francs,  letztere  aber  nur  bis  zum  1.  Januar 
1926;  alsdann  soll  Algerien  für  sein  Eisenbahnwesen  selbst 
aufkommen.  Sobald  der  projektierte  Reservefonds  5  Mil- 
lionen   Francs    übersteigt,    soll    auch    schon    vor    1926    ein 


—    :33     — 

Drittel  der  jährlichen  Überschüsse  zur  Deckung  dieser  Zins- 
garantien beitragen. 

Die  Aufstellung  der  jährlichen  Spezial- Budgets  erfolgt 
durch  den  Generalgouverneur  unter  der  Kontrolle  des  Mi- 
nisters des  Innern;  es  wird  sodann  den  vereinigten  Finanz- 
abteilungen der  drei  Delegationen  und  dem  conseil  superieur 
de  gouvernement  zur  Beratung  vorgelegt  und  durch  Dekret 
des  Präsidenten  der  Republik  genehmigt;  dem  französischen 
Parlament  ist  nur  insoweit  Stimmrecht  für  das  Spezialbud- 
get  reserviert,  als  die  Erhebung  der  Zölle  und  Einnahmen 
durch  das  jährliche  Finanzgesetz  autorisiert  wird. 

Im  Jahre  1902  wurde  die  Kolonie  auch  ermächtigt, 
eine  in  spätestens  60  Jahren  rückzahlbare  Anleihe  von  50 
Millionen  Francs  für  öffentliche  Arbeiten,  Kolonisation  und 
Aufforstung  aufzunehmen;  die  500  Francs-Stücke  dieser 
mit  3  "„  zu  verzinsenden  und  zu  480  Francs  ausgegebenen 
Anleihe  waren  Anfang  1905  mit  460  Francs  notiert. 

Der  Umfang  des  Budgets  ist  in  der  Letztzeit  nur  ge- 
ringen Schwankungen  unterworfen  gewesen  und  wies  auf  in 

1884     95        96        97        98        99 
Einnahmen       43     48,3     52,3     53,8     53,4     54,1  Mill.  Francs 
Ausgaben     122,6     73,4     72,1     71        73,7     73 
1900         Ol  02  03         04 

Einnahmen     55,9        55,3        56,4        67,1        65    Mill.  Francs 
Ausgaben        71  55,2        54,3        65,4        65 

Der  Zurückgang  in  den  Ausgaben  ab  1900  erklärt  sich 
dadurch,  daß  die  Zinsgarantien  für  die  Eisenbahnen  im 
Betrage  von  rund  11  Millionen  Francs  seitdem  direkt  vom 
Mutterland  übernommen  wurden.  Die  Budgets  von  1903 
und  1904  enthalten  je  10  Millionen  außerordentliche  Ein- 
nahmen und  Ausgaben. 

Die  ordentlichen  Einnahmen  des  Budgets  1904  weisen 
an  Hauptposten  auf:    Direkte  Steuern   12,4  Millionen,  davon 


-      56     — 

8.1  arabische  Steuern;  indirekte  Steuern  28,8  Millionen, 
davon  12,3  Zölle;  Post  und  Telegraph  5,8;  Domänen  und 
Forste  4,1  Millionen  Francs. 

Dagegen  verteilten  sich  im  gleichen  Jahre  die  ordent- 
lichen Ausgaben  auf:  Öffentliche  Arbeiten  8,3,  allgemeine 
Verwaltung  7,2,  Post  und  Telegraph  6,6,  Erhebungskosten  6, 
Unterrichtswesen  5,7,  Strafwesen  und  Justiz  4,6,  öffentliche 
Sicherheit  3,2,  Forste  3,  Kolonisation  2  und  öffentliche 
Unterstützung  2,7  Millionen  Francs. 

Zu  dem  Budget  von  65  Millionen  für  das  eigentliche 
Algerien  kamen  1904  noch  fernere  2,3  Millionen  in  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  für  die  Südterritorien. 

Was  die  Steuern  anbetrifft,  so  sind  darin  die  Franzosen 
bezw.  Europäer  in  Algerien  günstiger  gestellt,  als  in  Frank- 
reich, ein  Vorzug,  der  seine  frühere  Berechtigung  heute 
wohl  kaum  noch  hat.  Die  Europäer  bezahlen  an  direkten 
Steuern  nur  eine  Gewerbesteuer  seit  1847,  erst  seit  1884 
eine  Grundsteuer  und  zwar  nur  auf  bebaute  Terrains,  daneben 
Uberschreibungs-  und  Stempelgebühren.  Dagegen  haben  die 
Eingeborenen  neben  den  französischen  Steuern  auch  noch 
die  sogenannten  „Arabischen  Steuern"  zu  entrichten,  wie 
diese  seinerzeit  von  den  Türken  in  natura  erhoben,  von 
den  Franzosen  beibehalten,  aber  seit  1845  in  bar  erhoben 
wurden.    Es  sind  dies  folgende  vier  korangemäße  Abgaben : 

Der  Aschur,  der  Zehnte  der  Getreideernte,  dessen 
Berechnungseinheit  die  Dschebda  bildet,  d.  h.  das  mit  einem 
Paare  Rindern  zu  pflügende  Land.  Dazu  tritt  in  der  Provinz 
Constantine  als  Zuschlag  noch  der  von  Abd  el  Kader  in 
den  Provinzen  Constantine  und  Algier  abgeschaffte 

Hockor,  die  alte  Karadsch -Steuer  auf  die  von  dem 
siegreichen  Islam  den  ursprünglichen  Eigentümern  über- 
lassenen  Arch- Ländereien. 


—     57     — 

Der  Zekkat  oder  die  Viehsteuer,  früher  bei  den  ver- 
schiedenen Tieren  in  verschiedenem  Verhältnis  in  natura 
erhoben,  beträgt  heute  in  bar  4  Francs  für  jedes  Kamel, 
3  Francs  für  das  Rind,  25  Centimes  für  die  Ziege,  20  Cen- 
times für  das  Schaf;  Pferde,  Maultiere  und  Esel  sind  frei. 

Die  Lezma  wird  als  Kopfsteuer  in  der  Kabilei  und 
einigen  anderen  Gegenden  Algeriens  von  solchen  Ein- 
geborenen entrichtet,  welche  weder  Aschur  noch  Zekkat 
zahlen,  und  teils  nach  Individuen,  teils  nach  Feuerstellen, 
teils  nach  Stämmen  bemessen;  dazu  tritt  im  Süden  der 
Departements  Algier  und  Constantine  noch  die  Palmen- 
Lezma  von  25  —  50  Centimes  auf  jede  Dattelpalme. 

Diese  arabischen  Steuern  werden  von  den  Eingeborenen- 
Chefs  eingetrieben,  welche  davon  10  "„  für  ihre  Bemühungen 
behalten;  der  Reinertrag  fließt  zur  einen  Hälfte  dem  Spezial- 
Budget, zur  andern  Hälfte  den  Departements -Budgets  zu. 

Fraglos  sind  die  von  den  Eingeborenen  im  Verhältnis  i 
zu  den  von  den  Europäern  getragenen  Steuern  viel  zu  hochJ 
Schätzte  man  doch  1891,  daß  von  den  für  Staat,  Departe- 
ments und  Kommunen  aufgebrachten  Einnahmen  von  80 
Millionen  Francs  etwas  mehr  als  die  Hälfte,  40,8  Millionen, 
von  den  Eingeborenen  geliefert  wurden.  Aber  da  die  ara- 
bischen Steuern  auf  den  Bestimmungen  des  Koran  beruhen, 
fügt  sich  der  Moslim  in  dessen  Vorschriften. 

Die  Einnahmen  der  drei  Departements,  bestehend 
aus  der  Hälfte  der  arabischen  Steuern,  Zuschlägen  zur 
Gebäude-  und  Gewerbesteuer  und  Beiträgen  von  Staat, 
Gemeinden  und  Privaten  zu  Departementsarbeiten,  beliefen 
sich  1901  auf  19,4,  die  Ausgaben  auf  15,2  Millionen,  die 
von  den  drei  Departements  aufgenommenen  Anleihen  auf 
53  Millionen  Francs. 

Die  Kommunen  Algeriens,  deren  Einnahmen  aus 
dem   Oktroi,    Zuschlag   zur    arabischen    Steuer,    '  n.    Über- 


—     58     — 

Weisung  der  Gewerbesteuer  und  einer  Reihe  städtischer 
Abgaben  fheßen,  brachten  im  Jahre  1901  im  ganzen  36-^4 
Millionen  Francs  auf,  und  sie  schuldeten  an  Anleihen  66-3 
Millionen  Francs. 

Die  ungünstigen  finanziellen  und  anderen  Resultate, 
die  Algerien  bislang  aufweist,  sind  nicht  zum  geringsten  Teile 
der  französischen  Regierungspolitik  gegenüber  den  Einge- 
borenen beizumessen,  die  planlos  zwischen  drei  Systemen 
schwankte:  1.  Verdrängung  der  Eingeborenen  über  den 
Atlas  hinaus;  2.  Assimilierung  derselben  mit  den  europäischen 
Kolonisten;  3.  vollständige  Aufrechterhaltung  ihrer  Nationalität. 
Das  erste  System  ist  ungerecht  und  schwer  durchführbar, 
das  letzte  wäre  gleichbedeutend  mit  Verzichtleistung  auf  die 
Kolonie.  Die  Assimilierung  aber,  welche  natürlich  nie  eine 
vollkommene  sein  kann,  wird  dadurch  erleichtert,  daß  die 
Eingeborenen  keine  homogene  Nation  sind.  Von  den  Ka- 
bilen  trennt  die  Europäer  nur  die  Religion,  von  dem  Araber 
und  arabisierten  Berber  aber  auch  Stammesverfassung,  Kollek- 
tiveigentum und  Polygamie.  Eins  der  wichtigsten  Werkzeuge 
der  Assimilation  wäre  der  Unterricht,  der  aber  seitens  der 
Regierung  längst  nicht  die  Förderung  findet,  die  er  verdiente, 
während  sich  die  französische  Gerichtsbarkeit  stetig  auf 
Kosten  der  muselmännischen  ausbreitet.  Sehr  bedauerlich 
und  das  gegenseitige  Verstehen  und  Ineinanderfinden  er- 
schwerend ist  auch  der  Umstand,  daß  nur  wenige  der  in 
Algier  lebenden  Kolonisten  einigermaßen  des  Arabischen 
mächtig  sind;  sowie  ferner  die  geringe  Stabilität  der  fran- 
zösischen Beamten  und  das  Fehlen  eines  besonderen 
Korps  algerischer  Funktionäre. 

Ehe  wir  nun  auf  Kolonisation  und  Erwerbszweige  ein- 
gehen, erscheint  es  angezeigt,  einen  Blick  auf  die  wichtige 
und  viel  ventilierte  Landfrage  zu  werfen. 


—     59     — 

Zur  Zeit  der  französischen  Besitzergreifung  im  Jahre  ^KSifluon"** 
1830  gab  es  in  Algerien  hauptsächlich  vier  Arten  von 
Grundbesitz:  Gemeinsamen  und  ungeteilten  Landbesitz 
der  arabischen  Stämme  oder  der  arabisierten  Berberstämme, 
den  sogenannten  Arch  oder  Sabegha;  Privatbesitz  einzelner 
Moslims.  den  Melk;  die  Domänen  oder  Beiliks  im  Besitz 
der  türkischen  Regierung,  und  endlich  das  Stiftungs-  oder 
religiöses  Ordens -Land,  die  Habus.  in  Ermangelung  von 
Landregistern  und  von  Besitzdokumenten  war  der  Umfang 
des  einzelnen  Besitzes  und  dieser  selbst  damals  sehr  unsicher. 

Der  „Arch"  war  im  Besitz  von  halb  oder  ganz 
nomadischen  Stämmen,  überwiegend  Hirten,  welche  1830 
den  größten  Teil  Algeriens,  besonders  Mittel-  und  Süd- 
algerien, besaßen. 

Der  „Melk"  war  überwiegend  bei  den  östlich  von 
Algier  wohnenden  Kabilen  anzutreffen,  seßhaften  Acker- 
bauern und  Kleingrundbesitzern,  ausnahmsweise  aber  auch 
bei  arabischen  und  arabisierten  Berber-Stämmen,  bei  diesen 
allerdings  vielfach  im  Besitz  mehrerer  Mitglieder  einer 
Familie  und  zwar  Flächen  von  50,  100  und  mehreren 
100  ha  umfassend. 

Als  „Beiliks"  oder  Domänenländereien  sollten  laut 
Erlaß  von  1858  alle  diejenigen  Ländereien  verstanden  werden, 
deren  Einnahmen  der  Staat  durch  Verpachtung  oder  eigene 
Verwaltung  selbst  einnahm;  und  sodann  auch  diejenigen, 
welche  die  türkische  Regierung  den  Eingeborenen  gewaltsam 
zur  Anlage  von  Militärkolonien  für  die  15  —  20000  Kuluglis 
genommen  hatte,  welche  über  das  ganze  Land  verstreut  an 
strategisch  wichtigen  Punkten  als  Stütze  der  Regierung  an- 
gesiedelt wurden.  Das  gesamte  Areal  der  Beiliks  umfaßte 
1  '  j  Millionen  ha. 

Die  „Habu"- Ländereien  endlich,  Stiftungen  für  die 
heiligen  Städte  Mekka  und  Medina  und  Moscheengut,  deren 


—     60     — 

Ertrag  entweder  zur  Unterhaltung  frommer  oder  wohltätiger 
öffentlicher  Einrichtungen  oder  zum  Wohle  der  Nachkommen 
des  Stifters  bestimmt  ist,  zerfielen  in  solche,  welche  Land- 
besitz und  Nutznießung  einschlössen,  und  in  solche,  welche 
nur  den  Landbesitz  repräsentierten,  deren  Nutznießung  aber 
erst  nach  Aussterben  der  Stifterfamilie  dem  frommen  Zwecke 
zufließen  sollte.  Sämtliche  Habus  wurden  bereits  1830  durch 
Dekret  zu  Staatsdomänen  erklärt,  und  der  Staat  übernahm 
die  bisher  aus  diesen  Quellen  bestrittenen  Ausgaben,  wie 
z.  B.  die  Kosten  des  Kultus  und  die  Unterhaltung  der  öffent- 
lichen Brunnen;  man  beabsichtigte  damit  besonders,  den 
Einfluß  der  mohammedanischen  Geistlichkeit  zu  verringern. 
Zu  diesen  vier  Kategorien  von  Grundbesitz  kamen 
nun  noch  vier  weitere  Klassen,  welche  sich  die  Franzosen 
aneigneten,  nämlich: 

a.  Der  konfiszierte  Privatbesitz  des  Dei,  der  ihm 
unterstehenden  Beis  und  anderer  ausgewiesener  und 
geflüchteter  Türken ;  dazu  wurden  später  noch  die 
konfiszierten  Ländereien  der  einheimischen  Rebellen 
geschlagen. 

b.  Ländereien  ohne  Erbberechtigte  und  das  herren- 
lose Land. 

c.  Die  laut  Dekret  von  1851  als  Staatseigentum  er- 
klärten Wälder,  etwa  2^  i  Millionen  ha  umfassend, 
von  denen  sich  10  ••„  zu  Ackerbau -Kolonisation 
eignen  sollen.     Und  endlich 

d.  Die  von  der  französischen  Regierung  durch  Kauf 
und  Expropriierung  dem  Domänenbesitz  zugefügten 
Ländereien. 

Die  französische  Kolonisation  konnte  also  auf  zwei 
Wegen  einsetzen:  Die  Regierung  konnte  den  Kolonisten  die 
ihr  zustehenden  Ländereien  zur  Verfügung  stellen,  oder  die 
Kolonisten   konnten   selbst  Land  von   den  Eingeborenen  er- 


—     61      — 

werben.  In  der  Regel  begann  man  nicht  mit  Ansiedelung 
einzelner  Kolonisten,  sondern  mit  Anlage  sogenannter 
„Zentren",  und  soweit  dafür  abgerundeter  Landbesitz  nicht 
zur  Verfügung  der  Regierung  war,  mußten  die  Eingeborenen 
expropriiert  werden,  anfangs  nicht  immer  friedlich  und 
gegen  wirklich  entsprechende  Entschädigung. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Kolonisation  auf  Ein- 
geborenen-Land. Es  waren  meist  recht  fragwürdige  und 
abenteuerliche  Gesellen,  welche  als  erste  ,, Kolonisten"  ins 
Land  kamen  und  von  den  Eingeborenen,  welche  nicht  an 
eine  dauernde  Besetzung  des  Landes  durch  die  Franzosen 
glaubten,  Grundbesitz  auf  Spekulation  zu  sehr  billigen  Preisen 
kauften  und  auf  oft  ganz  phantastischen  Unterlagen  mit 
Gewinn  weiter  verkauften.  Daraus  ergaben  sich  natürlich 
endlose  Verwicklungen,  welche  durch  Ordonnanzen  von 
1844  und  1846  schließlich  sehr  glücklich  dahin  geregelt 
wurden,  daß  alle  seit  Eroberung  Algeriens  von  Fremden 
gekauften  Ländereien  als  Staatsdomänen  erklärt  und  dem 
Käufer  ein  dem  gezahlten  Kaufpreis  entsprechendes  Stück 
Land  definitiv  überwiesen  wurde.  Aber  auch  den  Ein- 
geborenen war  gleichzeitig  die  Beibringung  von  Besitztiteln 
für  ihre  Ländereien  auferlegt  worden,  und  zwar  sollten  nur 
die  vor  dem  5.  Juli  1830  besessenen  als  gültig  erklärt,  der 
Rest  als  Staatsdomäne  betrachtet  werden.  Dieses  Verlangen 
erwies  sich  aber  als  ungerecht  und  umso  schwerer  durch- 
führbar, je  näher  die  Kolonisierung  den  Nomadenstämmen 
rückte,  und  deshalb  wurde  das  Gesetz  1850  abgeschafft. 

Dagegen  kam  man  nunmehr  zu  der  Ansicht,  daß  die 
einheimischen  Stämme  überhaupt  mehr  Land  besäßen,  als 
sie  bedürften,  und  im  Interesse  der  Kolonisation  beschloß 
man,  ihnen  nur  soviel  Land  zu  belassen,  als  zu  ihrem 
Unterhalt  notwendig  sei,  sie  zu  ,,kantonnieren",  die  ihnen 
so  zugewiesenen    Ländereien   aber  als  ihren   festen  und  un- 


—     62     — 

veränderlichen  Besitz  zu  erklären.  Diese  Maßnahmen  konnten 
aber  nicht  durchgeführt  werden,  und  Napoleon  III.  erklärte 
1863,  nachdem  er  Algerien  selbst  besucht,  die  Ländereien 
von  643  algerischen  Stämmen  als  unveränderlichen  Be- 
sitz, der  baldmöglichst  abgegrenzt,  den  einzelnen  Stämmen 
und  Dörfern  überwiesen  und  wo  angänglich  auch  unter 
einzelnen  Eingeborenen  aufgeteilt  werden  sollte.  Im  Jahre 
1870,  als  der  Krieg  diese  schwierige  Arbeit  unterbrach,  war 
erst  der  Besitz  von  374  Stämmen  geregelt,  und  zwar  hatte 
man  von  den  7  Millionen  ha,  die  dabei  in  Frage  kamen, 
1  Million  den  Staatsdomänen  und  fast  3  Millionen  dem 
,,Melk"  überwiesen,  während  der  Hauptteil  ,,Arch",  Stammes- 
land, blieb,  das  weder  veräußert  noch  mit  Hypotheken  be- 
lastet werden  konnte;  sowohl  Melk  wie  Arch  unterstanden 
dem  muselmännischen  Recht. 

Um  die  Kolonisation  zu  begünstigen  und  den  Verkauf 
von  Melk  und  Arch  zu  erleichtern  bezw.  überhaupt  erst  zu 
ermöglichen,  wurden  beide  Arten  Grundbesitz  durch  Gesetze 
von  1873  und  1887  vollständig  unter  das  französische 
Landgesetz  gestellt.  Damit  waren  freilich  auch  sehr  kost- 
spielige Vermessungsarbeiten  und  endlose  Umständlichkeiten 
verknüpft,  und  dabei  hatte  man  erst  einen  Teil  des  Teil  in 
Angriff  genommen,  ausschließlich  der  Kabilei,  wo  das  Land 
von  Eingeborenen  so  dicht  besetzt,  daß  für  Kolonisten  über- 
haupt kein  Platz  ist;  aber  auch  anderwärts  war  dem  Familien- 
Kommunismus  und  den  arabischen  Gesetzen  und  Sitten 
gegenüber  Landerwerb  schwer  durchzuführen,  und  man 
mußte  endlich  einsehen,  daß  man  in  dem  Bestreben,  alle 
Einrichtungen  in  Algerien  nach  französischem  Muster  zu 
gestalten,  zu  weit  gegangen  war.  Das  Gesetz  vom  16.  Fe- 
bruar 1897  griff  deshalb  nach  langen  Beratungen  darauf 
zurück,  daß  der  muselmännische  Besitz  nur  auf  ausdrück- 
lichen Wunsch  des  Eigentümers  selbst  dem  Landgesetz  der 


—     63     — 

Kolonie  zu  unterstellen  sei,  in  welches  man  auch  Dispo- 
sitionen anderer  europäischer  Staaten  und  der  australischen 
Torrens-Akte  aufnahm.  Für  die  Eingeborenen  bedeutete 
dieses  neue  Gesetz,  nach  Lage  ihrer  eigenartigen  Verhält- 
nisse, eine  wesentliche  Sicherung  ihres  Landbesitzes  gegen 
ungerechte  Versteigerungen. 

Die  genaue  Landesaufnahme  mit  Hülfe  des  militärischen 
Spezialdienstes  hat  inzwischen  große  Fortschritte  gemacht 
und  ist  in  trefflichen  Karten  niedergelegt  worden. 

Der  Grundbegriff  der  Domäne  in  Algier  ist  durch 
Gesetz  vom  16.  Juni  1851  geschaffen  worden,  welches  von 
National-,  Departements-  und  Gemeinde- Domänen  handelt 
und  eine  ,,domaine  public"  und  eine  ,,domaine  prive" 
unterscheidet;  erstere  umfaßt  alle  ihrer  Natur  nach  der  All- 
gemeinheit gehörigen  und  unveräußerlichen  Ländereien  und 
Besitze  aller  Alt,  darunter  ausdrücklich  alle  Wasserläufe  und 
Quellen,  Wege  usw.,  mit  Ausnahme  der  vor  1851  erworbenen 
Besitz-  und  Nutzrechte;  die  ,,domaine  prive"  umfaßt  die 
Beiliks,  die  herrenlosen  Ländereien  und  die  Wälder;  nur 
letztere  kann  aufgeteilt  und  veräußert  werden.  Obgleich 
Algerien  seit  1900  die  Rechte  einer  juristischen  Person  und 
ein  eigenes  Budget  besitzt,  ist  der  Besitz  seiner  Domänen 
doch  noch  immer  dem  französischen  Staate  vorbehalten, 
und  nur  deren  Einnahmen  und  Ausgaben  figurieren  im 
algerischen  Budget. 

Die  Kolonisation  auf  Domänen land  konnte  entweder 
durch  den  Staat  direkt  oder  durch  Vermittlung  von  Kolo- 
nisationsgesellschaften erfolgen,  welche  ihnen  zuge- 
wiesene größere  Ländereien  unter  einzelne  Ansiedler  auf- 
teilen sollten;  der  letztere  Weg  ist  in  Algerien  nur  selten 
und  ohne  Erfolg  betreten  worden,  verschiedene  Kompanien 
hielten  es  für  sie  dienlicher,  ihr  Konzessionsland  an  Ein- 
geborene zu  vermieten,  statt  es  unter  Kolonisten  aufzuteilen. 


—     64     — 

und  zudem  waren  ihre  Verwaltungskosten  viel  zu  hohe.  So 
hatte  z.  B.  die  Cie.-Franco-algerienne  als  Societe  de  1'  Habra 
und  de  la  Macta  1865  eine  Landkonzession  von  24  000  ha 
zur  Sanierung  und  Nutzbarmachung  der  Habra-Ebene  in  der 
Provinz  Oran  erhalten,  davon  bis  1882  aber  nur  1425  ha  mit 
Zerealien,  Wein,  Luzerne  und  Früchten  bestellt  und  für 
Einrichtungskosten  1 1  Millionen  Francs  und  außerdem 
1^/3  Millionen  Francs  für  die  Haifa -Gewinnung  ausgegeben. 
Ebenso  erfolglos  war  die  gleichfalls  1865  gegründete  und  mit 
einer  Konzession  von  100  000  ha  ausgestattete  Societe  gene- 
rale algerienne,  welche  1877  in  Liquidation  trat  und  ihre 
Domäne  an  die  Cie.  algerienne  überließ,  welche  sie  an  Ein- 
geborene verpachtet.  So  hat  denn  der  Staat  in  der  Tat  den 
Hauptteil  der  Kolonisation  selbst  besorgt  und  von  den  1  ^'2  Mil- 
lionen ha  Landes,  welche  gegen  Ende  des  19.  Jahrhunderts 
im  Teil  im  Besitz  von  Europäern  waren,  sind  1  300000  ha  von 
Staatsdomänen  und  nur  200  000  ha  von  Privaten  durch  Kauf 
von  Eingeborenen  erworben. 

Jedes  Kolonie-Zentrum  erhielt  eine  Dorfanlage  mit  den 
Gebäuden  für  Verwaltung,  Schule,  Kirche  und  Handwerker- 
wohnungen, jedes  Dorf- Los  mit  einem  Hause  daselbst  um- 
faßte 30  ha,  jedes  Farm -Los  mit  einem  Hause  auf  dem 
Lande  100  ha,  und  zwar  wurde  anfangs  ein  Los  gratis  über- 
lassen und  nur  die  Einhaltung  gewisser  Bedingungen  vor- 
geschrieben. Zwischen  1850  und  1860  ließ  man  die  Kolo- 
nisten, nachdem  durch  die  Beruhigung  des  Landes  eine 
Bevormundung  weniger  nötig  schien,  selbständiger  vorgehen 
und  im  allgemeinen  diejenigen  Ländereien  kaufen,  die  sie 
wünschten.  Der  große  Aufstand  1871  endete  mit  der  Kon- 
fiszierung von  300  000  ha  Eingeborenen -Land,  und  die  Re- 
gierung ging  von  da  ab  mehr  zu  dem  System  der  Land- 
Konzessionen  über,  deren  Bedingungen  durch  Gesetz  von 
1H78  definitiv  geregelt  wurden.     Der  Verkauf  von   Losen, 


—     65     — 

wie  er  meist  für  Farmen  gewählt  wird,  erfolgt  demgemäß 
jährlich  einmal  in  öffentlicher  Versteigerung,  nur  an  Euro- 
päer und  mit  der  Klausel,  das  Land,  je  nachdem  es  Dorf- 
bezw.  Farmland  ist,  während  der  nächsten  10  bezw.  20  Jahre 
nicht  an  einen  nichtnaturalisierten  Eingeborenen  zu  verkaufen. 
Der  Kaufpreis  ist  in  sechs  gleichen  Raten  zu  zahlen,  die 
erste  beim  Zuschlag,  die  zweite  nach  zwei  Jahren  und  die 
folgenden  nach  je  einem  Jahre,  bei  Berechnung  von  5  ^\, 
Verzugszinsen  bei  unpünktlicher  Zahlung.  Dagegen  werden 
Gratis-Landkonzessionen  laut  Dekret  von  1878  nur 
an  in  Frankreich  geborene  Franzosen  und  an  naturalisierte 
Europäer  erteilt,  welche  für  ein  Dorf-Los  von  25  bis  40  ha 
mindestens  5000  Francs,  für  jeden  Hektar  Farmland,  bis 
höchstens  100  ha  umfassend,  wenigstens  150  Francs  für 
jeden  Hektar  Kapitalbesitz  nachweisen  können  und  sich 
verpflichten,  mindestens  fünf  Jahre  auf  dem  überwiesenen 
Lande  zu  wohnen;  auch  werden  sogenannte  Industrie- 
parzellen von  2  — 4  ha  gratis  an  solche  Kolonisten  ver- 
geben, welche  ein  für  das  Dorfleben  nötiges  Gewerbe  be- 
treiben. Die  Einhändigung  des  definitiven  Besitztitels  ist 
noch  abhängig  von  gewissen  Bedingungen  betr.  Bewohnung 
und  Verbesserung  des  betr.  Grundstücks.  Gegen  den  Wort- 
laut des  Gesetzes  ist  übrigens  etwa  ^  :!  der  erteilten  Kon- 
zessionen an  in  Algier  geborene  Söhne  französischer  Kolo- 
nisten gegeben  worden.  Sowohl  die  Käufer  von  Domänen- 
land, wie  die  Erwerber  von  Gratis-Landkonzessionen  genießen 
bei  der  Übersiedelung  nach  der  Kolonie  auf  Dampfern  und 
Eisenbahnen  eine  Ermäßigung  von  50",,  des  Tarifs  für 
sich  und  ihr  Ackerbaumaterial. 

Neuerdings  ist  in  Paris  ein  besonderes  Auskunfts- 
bureau für  Auswanderung  nach  Algerien  eingerichtet  worden; 
trotz  aller  von  der  französischen  Regierung  aufgewandten 
Mühe,  in  erster  Linie  Landbauer  in  die  Kolonie  zu  ziehen,  ist 

Schanz,  .Algerien,  Tunesien,  Tripolitanicn  5 


—     66     — 

aber  die  bedenkliche  Erscheinung  zu  verzeichnen,  daß  die  euro- 
päische Ackerbaubevölkerung  in  Algerien  von  205000  Köpfen 
im  Jahre  1894  auf  189000  Ende  1901  zurückgegangen  war. 

Zwischen  den  Jahren  1830  und  1896  hat  die  Regierung 
im  ganzen  1  385  000  ha  der  Kolonisation  überwiesen,  und 
sie  verfügte  Anfang  1902  noch  über  782  000  ha  Land  im 
Werte  von  33  Millionen  Francs;  diese  liegen  allerdings  über- 
wiegend im  Gebiet  der  Steppen  und  der  Sahara;  soweit  der 
Teil  in  Betracht  kommt,  sind  die  Ländereien  teils  bereits  zu 
öffentlichen  Zwecken  reserviert,  teils  steril,  sodaß  schon  1896 
in  Wahrheit  nur  noch  250  000  ha  für  die  eigentliche  Kolo- 
nisation übrig  blieben,  und  auch  diese  sind  inzwischen  sehr 
reduziert,  da  jedes  Jahr  neue  Kolonisationszentren  entstehen 
und  die  alten  Zentren  durch  spontane  Zuwanderung  von 
Ansiedlern  erweitert  werden.  So  schuf  man  allein  1900 — Ol 
in  den  drei  Departements  26  neue  Zentren  und  vergrößerte 
diese  und  andere  durch  984  Konzessionen  mit  52  000  ha. 
Eine  Dorfanlage  mit  1500  ha  seitens  der  Regierung  kostet 
durchschnittlich  200  000  Francs  an  Grundwert  und  160  000 
Francs  für  die  ersten  Einrichtungen. 

Eine  eigentliche  französische  Kolonisation  setzte 
erst  1844  ein  dadurch,  daß  General  Bugeaud  Soldaten  an- 
siedelte, die  allerdings  schon  nach  Jahresfrist  wieder  ver- 
schwanden. Nach  der  Revolution  von  1848  bewilligte  die 
Nationalversammlung  25  Millionen  Francs  für  Ackerbaukolo- 
nien in  Algerien  zugunsten  arbeitsloser  Pariser  Arbeiter,  die 
allerdings  meist  nichts  von  Landwirtschaft  verstanden,  immer- 
hin aber  Anlaß  zur  Gründung  von  41  Kolonien  gaben.  Man 
begann  mit  der  Siedelung  in  der  Nähe  der  Küste  und  an  den 
Hauptflüssen  und  drang  dann  durch  die  Nebentäler  allmählich 
bis  zur  Schott-Region  hinauf  vor. 

1873  wurden  sodann  eine  größere  Anzahl  meist  mittel- 
loser Familien  aus  Elsaß-Lothringen  durch   die  Societe  pro- 


—     67     — 

tectrice  des  Alsaciens- Lorraines  zur  Auswanderung  nach  Al- 
gerien veranlaßt,  wo  man  sie  überwiegend  auf  den,  1871  den 
Rebellen  konfiszierten  Ländereien  ansiedelte.  Inzwischen  sind 
Sümpfe  drainiert.  Bäume  gepflanzt  und  dadurch  ungesunde 
Gegenden  bewohnbar  gemacht  worden,  Stauanlagen  und 
Bohrungen  haben  für  Bewässerung  gesorgt,  und  die  Voll- 
ziehung der  ersten  Arbeiten  ist  vielfach  Sträflingen  übertragen 
worden. 

Der  Preis  von  Grund  und  Boden  für  den  Hektar  va- 
riiert natürlich  stark,  ist  in  der  Nähe  von  Städten  etwa  400 
bis  1000  Francs,  steigt  für  gut  bewässerte  Striche  nahe  den 
Küstenplätzen  auf  5000  bis  10000  Francs  und  sinkt,  je  mehr 
man  nach  dem  Innern  zu  vordringt,  für  urbar  gemachtes 
gutes  Land  aber  selten  unter  200  Francs.  In  den  von  Euro- 
päern noch  wenig  bewohnten  Gegenden  der  gemischten  Ge- 
meinden sind  noch  große  Domänen,  wo  der  Hektar  zu  100 
Francs  zu  haben  ist.  Die  Hypothekenzinsen,  welche 
französische  Kapitalisten  in  Algerien  berechnen,  betragen 
etwa  5  —  7  ",,. 

Eine  besondere  Beachtung  verdienen  die  Bewäs-  Bewässerung, 
serungsanlagen;  muß  die  Wirtschaftspolitik  in  Al- 
jerien  in  erster  Linie  doch  eine  Bewässerungspolitik 
sein,  da  ungenügendes  Wasser  in  allen  Regionen  die  Haupt- 
sorge der  Kolonisten  bildet,  und  so  haben  Fassung  der 
Quellen,  Auffangen  des  Regenwassers,  Anlage  von  Stau- 
werken und  Bohrung  von  Brunnen  frühzeitig  eine  wichtige 
Rolle  im  Lande  gespielt.  Primitive  artesische  Brunnen 
waren  schon  in  früher  arabischer  Zeit  vorhanden,  aber  erst 
die  Franzosen  begannen  solche  rationell  anzulegen.  Im 
Jahre  1855  fing  man  längs  des  Abfalls  des  Atlasgebirges 
nach  der  Sahara  zu  mit  der  Schaffung  von  artesischen 
Brunnen  an.    Bohrungen  nach  Wasser  in  einer  Gesamttiefe 

5' 


—     68     — 

von  29400  m  an  457  Stellen  ausgeführt,  wovon  308  allein  auf 
die  Provinz  Constantine  kommen,  liefern  jährlich  182  Millionen 
cbm  Wasser.  Besonders  glücklich  ist  man  mit  Brunnenboh- 
rungen in  der  200  km  langen,  aber  sehr  schmalen  Zone  längs 
des  Ued  Rhir,  von  den  Oasen  des  Ziban  nach  Tuggurt,  gewesen, 
wo  man  zuerst  1856  zur  lebhaften  Freude  der  Eingeborenen 
befriedigende  Ergebnisse  feststellte;  1889  gaben  dort  434 
arabische  Brunnen  64  000  Liter  in  der  Minute,  dagegen  68 
neugebohrte  französische  113  000  1;  mit  12  neu  erbohrten 
Brunnen,  die  12  000  1  ergaben,  wurde  die  verfügbare  Wasser- 
menge in  der  Minute  auf  209  000  1  gebracht,  aber,  wie  es 
scheint,  auch  die  Grenze  erreicht.  Eine  große  Ausdehnung 
der  Dattelkultur  ist  die  Folge  dieser,  von  dem  französischen 
Militär  ausgeführten  Wassererschließung  gewesen.  Die  Oase 
W^argla  hat  353  Brunnen,  die  54  000  1  in  der  Minute  geben. 
Außerdem  hat  man  an  mehreren  geeigneten  Punkten 
gewaltige  Sperrdämme  aufgeführt  und  dadurch  große 
Wasserbecken  geschaffen,  mit  denen  man  über  100  000  ha 
bewässern  kann,  in  der  Ebene  des  Scheliff  sind  mehrere 
Staudämme  angelegt  worden ,  darunter  der  bei  Perregaux 
von  der  Societe  Des  Brosses  &  Cohen  gebaute  von  478  m 
Länge,  der  ein  Wasserbecken  mit  38  Millionen  cbm  Fassung 
bildet,  sodaß  36  000  ha  bewässert  werden  können ;  ein  zweiter 
Damm  am  Flusse  Sig  staut  17  — 18  Millionen  cbm  auf,  und 
ein  dritter  an  einem  Wadi  des  Atlas  kann  18  000  ha  in  der 
Metidscha-Ebene  versorgen.  Andere  ähnlich  große  Anlagen 
sind  im  Departement  Constantine  geplant.  Freilich  sind  die 
Erwartungen,  die  man  an  die  zuerst  aufgeführten  sieben 
großen  Stauanlagen  knüpfte,  keineswegs  erfüllt  worden.  Man 
gab  dafür  1 1  Millionen  Francs  aus  und  berechnete  das  Fas- 
sungsvermögen auf  65  Millionen  Kubikmeter.  Aber  die  von 
den  Zuflüssen  reichlich  mitgeführten  Senkstoffe  verkleinerten 
die    Bassins    bald,    alle    Gegenmittel    versagten    mehr    oder 


—     69     — 

weniger,  und  man  befürchtet,  daß  sie  ganz  verschlammen 
werden;  einige  Staumauern  sind  auch  geborsten. 

Im  allgemeinen  sind  die  Bewässerungsarbeiten  in  der 
Kolonie  vom  Staate  angelegt  unter  einer  gewissen  Kosten- 
beteiligung der  Interessenten,  und  die  Unterhaltung  wird 
von  letzteren  allem  getragen.  In  den  10  Jahren  von  1889 
bis  1898  hat  man  jährlich  durchschnittlich  773  000  Francs 
für  Wasserversorgung  von  Ortschaften  ausgegeben,  und 
dazu  trugen  die  Kommunen  469000,  der  Staat  304000  Francs 
bei;  die  Ausgaben  für  Ackerbau- Bewässerungen  aber 
beliefen  sich  im  gleichen  Zeitraum  auf  durchschnittlich 
729  000  Francs  im  Jahre,  wovon  578  000  Francs  auf  den 
Staat  und  151000  Francs  auf  die  Syndikate  entfielen.  Im 
Jahre  1900  dienten  576  Bewässerungsanlagen  für  200  000  ha 
Land,  ungerechnet  der  von  zahlreichen  Syndikaten  ohne 
Staatsbeihülfe  ausgeführten  Anlagen. 

Betrachten    wir    nunmehr    die    Beschäftigungsarten     Landwirt- 

'^         -  Schaft. 

der  Bevölkerung,  so  finden  wir,  daß  die  Mehrzahl  davon 
landwirtschaftliche  Gewerbe,  Ackerbau,  Viehzucht  und 
Weinbau  treibt,  und  zwar  waren  damit  im  Jahre  1901: 
3  230  000  Eingeborene  und  189  000  Europäer  beschäftigt, 
und  die  Kulturfläche  umfaßte  in  runder  Zahl  3'  j  Millionen 
Hektar. 

Obgleich  von  den  vorhandenen  15  Millionen  ha  Kultur- 
land bislang  erst  2' «  Millionen  ha  für  den  Getreidebau 
benutzt  sind  und  trotz  der  furchtbaren,  jedes  Jahr  wieder- 
kehrenden Heuschreckenplage,  welche  direkt  und  durch  viel- 
seitige Vertilgungsmaßregeln  auch  indirekt  große  Opfer  er- 
fordert und  besonders  stark  war  in  den  Jahren  1845,  1866, 
1H74  und  18S9,  ist  Algerien  doch  bereits  ein  bedeutsamer 
Konkurrent  auf  dem  Getreidemarkt  geworden,  und  zwar  ver- 
teilte sich  die  Produktion   im  Erntejahre  1897  98  wie  folgt: 


—     70 


Gerste 

Weizen 

Hafer 

Kulturen 

Eingeborener 

1  116  497 

976  502 

7  940  ha 

Ertrag 

7  705 

5  047 

87,6  1000  dz 

Kulturen 

V.  Europäern 

127  699 

281  102 

63  429  ha 

Ertrag 

1  273 

2  332 

786  1000  dz 

Sorghun- 

1    Mais 

Roggen 

Kulturen 

Eingeborener 

25  251 

8  306 

43  ha 

Ertrag 

125,7 

42 

0,3  1000  dz 

Kulturen 

V.  Europäern 

4  057 

4  333 

266  ha 

Ertrag 

21,8 

46 

2  1000  dz 

Der  Zerealienertrag  der  Ernte  1903  04  betrug  von 
2  800  000  ha  Saatfläche  16^  :i  Millionen  Doppelzentner,  ver- 
teilt auf  Gerste  mit  8,  Hartweizen  5V2,  Weichweizen  \^>, 
Hafer  1  Million  und  ferner  Bechna  mit  124  000,  Mais 
104  000,  Millet  7700  und  Roggen  1  500  dz. 

Versuche  mit  Anbau  von  Reis  sind  am  Mazafran- 
Fluß  unternommen  worden. 

Die  von  Europäern  kultivierten  Flächen  umfassen  meist 
nur  25 — 70  ha,  und  im  Gegensatz  zu  den  ausgedehnten  Ein- 
geborenenländereien  sind  große  Domänen  in  europäischem 
Besitz  selten.  Der  Europäer  bewirtschaftet  sein  Land  teils 
selbst,  teils  verpachtet  er  es  an  Europäer  oder  Eingeborene. 
Der  eingeborene  Landbesitzer  dagegen  legt  selten  selbst  Hand 
an  die  Bewirtschaftung,  sondern  verpachtet  sein  Land  an  den 
Khammes.  Die  Tagelöhne  —  ohne  Beköstigung  —  betragen 
für  Eingeborene  im  allgemeinen  IV2 — 2,  zuweilen  bis  2^2, 
für  Europäer  2^2  —  4  Francs. 

Im  allgemeinen  wird  der  Ackerbau  seitens  der  Einge- 
borenen noch  sehr  primitiv  und  mit  Ausnahme  der  Kabilei 
nirgends  intensiv  betrieben,  das  Land  nicht  tief  gepflügt  und 
nicht  gedüngt,  und  dementsprechend  ist  auch  der  Ertrag  ge- 
ring;   selbst    europäische    Kolonisten    wenden    Tiefkultur, 


—     71     — 

regelmäßiger  reichlicher  Düngung  und  Wechselwirtschaft 
häufig  nicht  die  erforderliche  Beachtung  zu,  und  die  Ernten 
leiden  darunter  in  Höhe  und  Regelmäßigkeit.  Besonders 
schwankend  sind  die  Erträge  auf  der  Hochebene,  welche 
nach  nassen  Wintern  das  150— 200  fache  liefert,  während  bei 
nicht  gründlich  durchweichtem  Boden  kaum  das  Saatkorn 
zurückgewonnen  wird.  Man  beginnt  mit  Pflügen  nach  den 
ersten  Herbstregen  und  fährt  damit  bis  in  den  Februar  hinein 
fort.  Spätfröste  und  die  ausdörrenden  Sciroccowinde  werden 
allen  Kulturen  zeitweilig  verderblich,  den  Zerealien  außerdem 
häufig  die  Trockenheit  der  Monate  April  und  Mai. 

Wird  der  Landbau  von  Eingeborenen  in  Pacht  betrieben, 
meist  auf  Flächen  von  10  ha,  so  entfallen  ^ .-,  des  Ernte- 
ertrags an  den  Besitzer,  welcher  Pflug,  Ochsen,  Saatkorn  und 
Geldvorschuß  zum  Lebensunterhalt  bis  zur  Ernte  liefert  und 
\':,  der  Ernte  an  den  Pächter  oder  Khammes.  Bei  Pacht- 
verträgen mit  Europäern  auf  drei,  sechs  oder  neun  Jahre 
erhält  der  Verpächter  entweder  bestimmte  Pachtsummen  in 
bar,  oder,  je  nach  der  Höhe  seiner  Leistungen,  ^'2 — ^js  vom 
Ernteertrag;  auch  Erbpachtverträge  auf  die  Dauer  von 
20 — 99  Jahren  werden  abgeschlossen. 

Man  sucht  den  Ackerbau  der  Eingeborenen  durch  Be- 
lehrung und  kostenlose  Verteilung  von  Pflügen,  welche  für 
den  nordafrikanischen  Boden  besonders  geeignet  sind,  mit 
Erfolg  zu  heben;  bislang  liefert  allerdings  ein  Hektar  unter 
Eingeborenen  -  Bebauung  nur  6  dz  Ertrag,  gegen  9  dz 
bei  Bewirtschaftung  durch  Europäer.  Auch  englische  Mäh- 
und  Dreschmaschinen  und  französische  und  amerikanische 
Pflüge  werden  mehr  und  mehr  eingeführt. 

Algeriens  Getreideüberschuß  geht  meist  nach  Frank- 
reich, besonders  Marseille  und  Dünkirchen,  und  zwar  wurden 
dahin  im  Jahre  1900  ausgeführt: 


-     72     -- 

Gerste     Weizen     Hafer       Mais 

1773  1650  1188  21  Tausend  Zentner 

Die  Ausfuhr  von  Zerealien  und  Gemüsen  von  Algerien 
nach  Frankreich  begann  erst  1871,  heute  hefern  Algerien  und 
Tunesien  etwa  96  "o  der  französischen  Gesamteinfuhr  von 
Weizen  und  Gerste. 

Gerste,  früher  nur  als  Viehfutter  benutzt,  ist  erst  in 
neuerer  Zeit  in  Algerien  stärker  angebaut  worden,  steht  heute 
aber  bereits  an  erster  Stelle;  weicher  Weizen,  Mais  und 
Roggen  sind  überhaupt  erst  von  den  Kolonisten  eingeführt 
worden.  Die  Algier-Gerste  ist  in  Frankreich  für  Brauzwecke 
beliebt,  und  auch  die  von  Hülsenfrüchten  besonders  stark 
angebauten  großen  Bohnen  gehen  teilweise  nach  Frankreich, 
wo  ihr  Mehl  zur  Herstellung  eines  besonders  nahrhaften 
Brotes  mit  Weizenmehl  gemischt  wird.  Auch  Heu  bildet 
einen  Ausfuhrartikel  Algeriens,  der  freilich  unter  der  Zunahme 
elektrischer  Straßenbahnen  in  England  gelitten  hat,  und  der 
Anbau  von  Leinsaat  hat  besonders  in  Oran  zugenommen. 
Flachs  wird  ebenfalls  gebaut. 

Jede  Provinz  hat  ihre  Ackerbaukammer. 

Von  außerordentlichem  Erfolg  ist,  besonders  in  der 
Metidscha,  der  Anbau  von  Kartoffeln  und  von  Frühge- 
müsen, wie  Artischocken,  Blumenkohl,  Bohnen,  Erbsen 
und  Tomaten,  die  hier  im  Dezember  und  Januar  reifen  und 
während  des  Winters  frisch  nach  allen  Teilen  Europas  aus- 
geführt werden.  Im  Jahre  1902  exportierte  Algier  315  000 
Zentner  Kartoffeln  und  218  000  Zentner  Frühgemüse. 

Noch  bedeutender  ist  die  Ausfuhr  von  frischen  und  ge- 
trockneten Früchten,  besonders  Orangen,  Mandarinen,  Li- 
monen,  Trauben,  grünen  Mandeln  und  getrockneten  Feigen, 
die  man  in  Österreich  zur  Herstellung  von  Feigen  -  Kaffee 
verwendet.  Eine  1901  ins  Leben  gerufene  Dampferlinie 
Mediterranee -Manche   zwischen  Algier,    Nordfrankreich   und 


73     — 

England  hat  ihre  Dampfer  mit  Kühlräumen  für  frische  Ge-  : 
müse  und  Obst  eingerichtet,  dagegen  ist  das  Einkochen  zu 
Obstmus  und  das  Fruchtdörren  noch  nicht  eingeführt.  Die 
Früchte  des  Feigenkaktus,  welcher  überall  und  ohne  Pflege 
gedeiht  und  nach  zwei  oder  drei  Jahren  reichlich  und  sicher 
trägt,  bilden  die  Nahrung  des  Armen,  und  nicht  wenige  Ein- 
geborene leben  fast  ausschließlich  von  ihnen.  Das  Johan- 
nisbrot liefert  ein  sehr  geschätztes  Viehfutter,  sowohl  für 
den  inländischen  Bedarf,  wie  für  die  Ausfuhr  —  im  Jahre 
1900:  140  000  Zentner  —  und  die  Regierung  sucht  daher 
die  Anpflanzung  des  Baums  durch  Prämien  zu  fördern. 

Am  wichtigsten  für  die  Ausfuhr  aber  ist  der  Weinbau 
geworden,  der  überwiegend  als  Europäer-Kultur  in  allen  drei 
Departements,  am  ausgedehntesten  in  Oran,  am  schwächsten 
in  Constantine  betrieben  wird  und  sich  im  Jahre  1901  ver- 
teilte auf 

Oran  Algier     Constantine 

Bepflanzt  85100  50  400  16  300  =  151  800  ha 

Ertrag  2.6  2^  0,7  =  5^  2  Millionen  hl. 

Da  der  Koran  den  Genuß  von  Wein  verbietet,  so 
wurden  bis  zum  Jahre  1830  in  Algerien  nur  die  Trauben 
gegessen;  die  Kolonisten  fingen  aber  frühzeitig  an,  auch 
Wein  zu  bereiten,  allerdings  während  langer  Jahrzehnte  in 
recht  ungenügender  Weise,  und  erst  nach  dem  Auftreten  der 
Phylloxera  im  Mutterlande  wandte  man  der  Kultur  und  Zu- 
bereitung des  Weins  in  Algerien  größere  Aufmerksamkeit  zu. 

Im  Jahre  1898  beschäftigte  diese  Kultur  16  800  Euro- 
päer und  11  700  Eingeborene. 

Der  Algier-Wein,  von  Bordeaux-  und  Burgunderreben 
stammend,  ist  im  allgemeinen  schwer,  hat  10  14  "„  Alkohol, 
aber  wenig  Bouquet,  da  Traubenreife  und  Gärung  zu  rasch 
verlaufen,  und  geht  hauptsächlich  nach  Bordeaux,  wo  er  ajs 
Verschnittwein  geschätzt  ist.     Die  besseren  Sorten   wachsen 


—     74     — 

in  Lagen  über  500  m  Meereshöhe,  und  zwar  ergibt  der 
Hektar  in  guten  Gegenden  und  feuchten  Jahren  80 — 100  hl. 
Die  weißen  Weine  sind  im  allgemeinen  besser  als  die  roten. 
Da  die  französische  Regierung,  seit  dem  Auftreten  der  Reb- 
laus im  Mutterlande,  zum  Weinbau  in  der  Kolonie  ermunterte 
und  die  Bank  von  Algerien  zur  Gewährung  von  Darlehen 
veranlaßte,  um  die  Anlage  neuer  Weinberge  zu  fördern,  so 
nahm  die  Weinproduktion  unverhältnismäßig  rasch  zu,  und 
da  auch  der  französische  Weinbau  seit  1894  sich  wieder  er- 
holte, fingen  die  Preise  für  algerische  Weine  an,  ganz  be- 
deutend zu  fallen,  und  es  kam  infolge  einer  ganz  ungewöhn- 
lich großen  Ernte  im  Jahre  1900  Ol  zu  einer  scharfen  Krisis, 
die  sich  1901  in  einem  Zurückgehen  des  Exports  nach 
Frankreich  um  100  Millionen  Francs  gegen  das  Vorjahr 
aussprach.  Konnte  man  doch  das  Liter  angenehmen  und 
kräftigen  Tischweins  im  Detailhandel  zu  10  —  20  Centimes 
kaufen,  das  Hektoliter  sank  bis  auf  2}k  Francs  herab,  und 
man  mußte  dazu  verkaufen.  Denn  da  gute  Kelleranlagen 
noch  vielfach  fehlen  und  der  Wein  auch  oft  unachtsam  zu- 
bereitet ist,  hält  er  sich  im  Lande  nicht  lange,  sondern  er 
muß  schnellmöglichst  exportiert  werden,  besonders  der  in 
den  niederen  Lagen  gewachsene.  Eine  Anzahl  von  Wein- 
bauern gab  deshalb  1901  diese  Kultur  auf,  riß  die  Reben 
aus  und  säte  Weizen  in  die  bisherigen  Weingärten,  anderseits 
suchte  man  den  Überschuß  in  Wein  -  Destillation  zu  ver- 
werten. Seitdem  hat  die  Anbaufläche  aber  doch  wieder  zu- 
genommen, die  Preise  stiegen  wesentlich  durch  die  schlechte 
Ernte  in  Frankreich,  das  Hektoliter  ergab  wieder  15 — 20  Francs, 
und  man  schätzt  das  Ergebnis  von  1903  auf  6^2  Millionen 
Hektoliter.  Der  Weinversand  nach  Frankreich  wird  übrigens 
durch  kombinierte  Frachttarife  sehr  begünstigt.  Da  die 
Phylloxera  seit  1883  auch  in  Algerien  beobachtet  wurde,  er- 
setzte man  die  ausgerodeten  Reben  durch   die  Widerstands- 


-     75     — 

kräftigeren  amerikanischen  und  führte  zur  Bekämpfung  der 
Reblaus  1886  eine  Weinbergsteuer  ein,  welche  im  Maximum 
5  Francs  für  den  Hektar  beträgt. 

Auch  der  Tabakbau,  welcher  erst  1844  durch  die 
Kolonisten  eingeführt  wurde  und  eine  sehr  gute  Qualität 
erzeugt,  1860  und  1861  durch  die  Preisfeststellung  seitens 
der  Regie  aber  harte  Schläge  erlitt,  liefert  heute  wieder 
wichtige  Ausfuhrwerte  in  Blättern,  Schnupftabak  und  Ziga- 
retten. 1898  beteiligten  sich  an  dieser  Kultur  1188  Euro- 
päer und  5000  Eingeborene,  welche  2500  bezw.  4500  ha 
bepflanzten  und  davon  2180  bezw.  3145  Tons  Blätter  ern- 
teten. Der  Ertrag  des  Hektars  an  getrockneten  Blättern 
schwankt  bei  bewässertem  Land  zwischen  15  und  25,  bei 
trocknem  Boden  zwischen  8  und  15  Zentnern.  Kultur,  Ver- 
kauf und  Bearbeitung  des  Tabaks  sind  heute  in  Algerien  durch 
keinerlei  Gesetz  oder  Staatsmonopol  beschränkt.  Die  fran- 
zösische Regie  kauft  jährlich  drei  Millionen  Kilogramm 
Tabak  in  Algerien,  von  der  verbleibenden  anderen  Hälfte 
wird  ein  Teil  anderweitig  exportiert,  der  größere  Teil  aber 
im  Lande  selbst,  besonders  zu  Zigaretten,  verarbeitet,  teil- 
weise unter  Mitverwendung  von  importiertem  Tabak. 

Was  Textilpflanzen  anbetrifft,  so  wurde  schon  unter 
der  Türkenherrschaft  im  Teil  Baumwollbau  betrieben, 
die  erzielte  Qualität  war  eine  gute  und  die  französische 
Regierung  begann  1850  in  der  Provinz  Oran  mit  einer 
rationellen  Kultur,  die  sie  durch  Gewährung  von  beträcht- 
lichen Anbauprämien  unterstützte,  allerdings  ohne  nennens- 
werte Erfolge.  Die  größte  Jahresernte  wurde  1866  mit 
850  Tons  Baumwolle  erzielt,  aber  mit  dem  starken  Preis- 
rückgang des  Produkts  nach  Beendigung  des  nordamerika- 
nischen Bürgerkrieges  und  mit  der  Herabsetzung  der  Re- 
gierungssubvention ging  der  Baumwollenbau  in  Algerien 
mehr  und  mehr  zurück,  ergab  ls76  nur  noch  14  Tons  und 


—     76     — 

verschwand  dann  ganz,  da  mangels  genügenden  Bewässerungs- 
landes und  billiger  Arbeit  schließlich  andere  Kulturen  profi- 
tabler waren.  Erst  ganz  neuerdings  hat  man  angesichts  des 
Baumwollmangels  im  Weltmarkt  auch  in  Algerien  wieder  an- 
gefangen, dem  Baumwollanbau  erneute  Aufmerksamkeit  zu 
schenken  und  1904  größere  Flächen  bei  Relizane  mit  Baum- 
wolle bepflanzt.  Hanf  und  Flachs  werden  in  ziemlichen 
Mengen  angebaut,  und  auch  Ramje\wird  angepflanzt. 

Wichtig  und  noch  sehr  ausdehnungsfähig  ist  die 
Ausbeute  des  Olivenbaumes,  von  dem  etwa  6V2  Millionen 
gepflegte  und  4  Millionen  wilde  Bäume  vorhanden,  und 
deren  Hauptzentren  Bougie,  Tisi-Usu,  Algier  und  Sidi  bei 
Abbes  sind.  Die  Olivenzucht  ist  bei  den  Eingeborenen  im 
allgemeinen  noch  sehr  vernachlässigt,  und  deshalb  wird  nur 
etwa  jedes  zweite  Jahr  eine  gute  Ernte  erzielt.  Die  Früchte 
sind  klein,  liefern  aber  ein  vorzügliches  Öl,  dessen  Produktion 
bislang  das  fast  ausschließliche  Monopol  der  Kabilen  ist.  im 
übrigen  sucht  die  Regierung  die  Anpflanzung  und  das  Pfropfen 
von  Olivenbäumen  und  die  Verbesserung  der  Ölbereitung  zu 
fördern.  Der  Olivenbaum  gibt  freilich  erst  vom  15.  Jahre 
ab  einen  nennenswerten  Ertrag,  aber  die  Bepflanzung  einiger 
Hektare  mit  solchen  Bäumen  ist  trotzdem  auch  für  den  Ein- 
geborenen eine  gute  Kapitalanlage  und  hilft,  eventuelle  Fehl- 
schläge in  anderen  Kulturen  leichter  zu  tragen.  Im  Jahre 
1899  wurden  von  Europäern  17  250,  von  Eingeborenen 
112  825  hl  Olivenöl  erzeugt. 

Die  Dattelkultur  wird  unter  französischer  Leitung 
besonders  von  der  Cie.  Franco-Algerienne  in  Suf  und  von  der 
1878  gegründeten  Ued  Rhir  Cie.  in  Biskra  erfolgreich  be- 
trieben, aber  die  Hauptkultur  liegt  in  den  Händen  der  Ein- 
geborenen; allein  in  den  Tuat-Oasen  sollen  neben  zahl- 
reichen Ölbäumen  gegen  8  Millionen  Dattelpalmen  existieren, 
deren  Jahresertrag  man  auf  rund  3  Millionen  Zentner  schätzt, 


—     77     — 

während  die  Zahl  der  in  Algerien  selbst  registrierten  Dattel- 
palmen nur  2 ' .-.  Millionen  beträgt.  Auf  sorgfältig  gehaltenen 
Pflanzungen  ergibt  die  Dattelpalme  von  ihrem  achten  Jahre 
an  einen  halben,  vom  15.— 20.  Jahre  an  vollen  Ertrag.  Die 
Palme  blüht  in  den  Monaten  März  und  April  und  reift  ihre 
Früchte  im  Oktober.  Oliven,  Datteln,  Feigen,  Opuntien  und 
Johannisbrot  sind  das  Monopol  der  Eingeborenen,  welche 
andere  Früchte,  wenigstens  für  Handelsgewerbe,  überhaupt 
nicht  anpflanzen. 

Auch  Geraniumöl  (Produktion  in  1903:  15  000  kg) 
und  Thymianöl  werden  exportiert. 

Von  Haifa  kommen  in  Algerien  beide  Sorten,  die  Stipa 
tenacissima  und  das  Lygeum  spartum  häufig  vor,  und  die 
erstere  bildet  fast  die  einzige  Vegetation  der  Hochebenen  und 
der  sogenannten  „Alfa -See",  südlich  vom  Teil,  zwischen 
Marokko  und  der  Hodna.  Im  Durchschnitt  liefert  der  Hektar 
etwa  20  Zentner  getrockneten  und  sortierten  Grases,  wie  es 
für  den  Export  in  Frage  kommt,  und  um  unrationellen  Betrieb 
zu  verhindern,  hat  man  1888  eine  Verfügung  erlassen,  welche 
Schnitt,  Verkauf  und  Ausfuhr  von  Haifa  limitiert.  Im  Jahre 
1890  wurden  auf  1':;  .Willionen  Hektar  105  000  Tons  ge- 
erntet und  davon  73  000  Tons  im  Werte  von  7^  4  Millionen 
Francs  ins  Ausland,  besonders  nach  England,  gesandt,  wo 
die  Haifa  zur  Herstellung  von  Papier  dient,  im  Jahre  1894 
wurden  1  200  000  ha  mit  Haifa  bestandene  Flächen  ausge- 
nutzt, und  davon  kam  über  die  Hälfte  auf  die  Provinz  Oran. 
Die  Ausfuhr  dieser  wichtigen  Industriepflanze  begann  von 
Algerien  aus  erst  im  Jahre  1862.  jetzt  liefert  die  Kolonie 
ungefähr  die  Hälfte  der  auf  den  Weltmarkt  gebrachten  Ge- 
samtmenge, während  Spanien,  Tunesien  und  Tripolis  sich  in 
den  Rest  teilen. 

Von  zunehmender  Bedeutung  ist  auch  die  Ausfuhr  der 
Fasern  der  Zwergpalme,   des  sogenannten   crin  vegetal 


-     78     - 

oder  Pflanzenhaars,  welches  besonders  in  Deutschland  als 
Ersatz  von  Roßhaar  zu  Polstermaterial  und  auch  zu  Papier 
verwandt  wird.  Algier  exportierte  davon  im  Jahre  1900: 
63  600  Zentner. 

Die  Waldkultur  Algeriens  befindet  sich  trotz  eines 
bereits  1885  aufgestellten  Aufforstungs  -  Programms  bei 
weitem  nicht  in  dem  Zustand,  welchen  die  treffliche  Natur- 
beschaffenheit des  Waldbodens  erwarten  ließe;  es  sind  hieran 
hauptsächlich  die  Waldbrände  schuld,  welche  die  Araber  teils 
aus  Bosheit,  teils  um  ihrem  Vieh  ein  wenig  Weide  zu  ver- 
schaffen, anzünden,  indem  sie  vor  der  Regenzeit  ungeheure 
Strecken  Mittelwald  in  Brand  stecken,  damit  das  Gras  dichter 
und  leichter  zugänglich  werde.  Durch  Gesetz  von  1851 
waren  im  Prinzip  die  Waldungen  Algeriens  als  Staatseigentum 
erklärt  und  dessen  Nutzungsrecht  den  Eingeborenen  über- 
lassen worden,  letzteres  allerdings  nicht  nach  dem  landes- 
üblichen muselmännischen  Rechte,  sondern  nach  xlen  grund- 
verschiedenen französischen  Verhältnissen  und  Bestimmungen. 
Es  wurden  wiederholt  besondere  Verordnungen  für  Algerien 
erlassen,  aber  trotz  drakonischer  Strafmaßregeln  zwischen 
1891  und  1900  allein  durch  Eingeborenen  -  Verwüstung 
932  000  ha  Wald  zerstört  und  dadurch  Schaden  im  Werte 
von  39  Millionen  Francs  verursacht.  Im  Jahre  1902 
schätzte  man  die  Zahl  der  durch  die  üblichen  Brände  zer- 
störten und  geschädigten  Bäume  auf  nicht  weniger  als  sechs 
Millionen  Stück.  Ein  Gesetz  vom  21.  Februar  1903  gibt 
Algerien  endlich,  unter  Aufhebung  aller  bisherigen  Bestim- 
mungen, einen  vollständigen  eigenen  Forst-Kodex,  der  die 
Interessen  der  Eingeborenen  mit  denen  der  Allgemeinheit  in 
Einklang  zu  bringen  sucht.  Im  Jahre  1890  umfaßten  die 
mit  Wäldern,  Gehölz  und  Buschwerk  bestandenen  Forst- 
reserven 2^  4  Millionen  Hektar  und  davon  kamen  auf: 


—     79     — 

Stein-,         Kork-,        Mirbel-.        Zerr-Eichen, 
554  483  96  46  Tausend  ha 

Aleppokiefern,  Thuja,  Zedern,  Wilde  Oliven. 

693  54  31  30  Tausend  ha 

Ulmen  und  Eschen 

3'  2  Tausend  ha. 

Im  Jahre  1893  war  der  Waldbestand  auf  2'  -  Millionen 
Hektar  gestiegen,  wovon  IS  Millionen  der  Domäne,  ''4  Mil- 
lionen der  Militärverwaltung  und  76000  ha  Gemeinden  ge- 
hörig waren ,  zu  Anfang  des  20.  Jahrhunderts  umfaßte  der 
Waldbestand  3  056  000  ha.  Die  Waldprodukte  für  die  Aus- 
fuhr bestehen  in  Korkrinde,  Gerbrinde,  Bauholz,  Harz  und 
Haifa.  Die  Korkeiche  (Quercus  suber)  wird  nach  einem 
letzthin  verbesserten  V^erfahren  alle  8 —  10  Jahre  in  den 
Sommermonaten  geschält  und  liefert  15  —  20  Ernten,  die 
beste  nach  der  dritten;  Steineiche  (Qu.  ilex)  und  Mir- 
beleiche  (Qu.  mirbeckii)  liefern  wertvolles  Bauholz,  die 
Aleppokiefern  jährlich  für  eine  Millionen  Francs  Harz, 
daneben  wird  neuerdings  auch  ihr  Holz  zu  Pflaster,  Tele- 
graphenstangen und  Grubenholz  benutzt.  Die  Korkeichen- 
wälder befinden  sich  ganz  überwiegend  im  Departement 
Constantine. 

Der  V'iehstand  Algeriens,  welcher  mit  Ausnahme 
der  Schweine  überwiegend  im  Besitz  der  Eingeborenen  ist 
und  zeitweilig  auch  unter  Dürre  leidet,  wies  im  Jahre  1901 
folgende  Zahlen  auf: 

Rinder,     Schafe,     Ziegen,     Pferde,     Esel,     Maultiere, 
1000        7638        3923         215        263  163  Tausend 

Kamele,    Schweine 
200  88  Tausend, 


-     80     — 

ist  also  recht  bedeutend  und  gestattet  eine  ansehnliche  Aus- 
fuhr von  lebenden  Schafen,  Rindern,  Wolle,  Häuten  und 
Fellen  nach  Frankreich  und  den  anderen  Mittelmeerländern. 
Freilich  könnte  der  Viehstand  bei  rationeller  Zucht  und 
Pflege  ein  weit  größerer  sein,  wenn  man  für  Beschaffung 
künstlicher  Weide,  Trockenfütterung  und  Errichtung  von 
Ställen  mehr  als  bislang  tun  wollte.  Von  Januar  bis  Juni 
findet  das  Vieh  auf  den  natürlichen  Weiden  reichliche 
Nahrung,  im  Juli  und  August  eben  noch  zur  Not  aus- 
reichende vertrocknete  Gräser  und  Kräuter,  von  September 
bis  Dezember  aber  ist  die  Nahrung  so  ungenügend,  daß  ein 
guter  Teil  des  Viehs  mangels  genügender  Nahrung  eingeht 
und  der  Rest  stark  an  Gewicht  verliert.  Es  müßte  also 
mehr  für  Anpflanzung  von  Hafer,  Futtergerste,  Opuntien  und 
anderen  Futterpflanzen  gesorgt  werden,  um  den  Tieren  in 
Zeiten  der  Not  damit  aushelfen  zu  können.  Bislang  ist 
Wiesenwirtschaft  und  Ausnutzung  des  natürlichen  Düngers, 
zum  lebhaften  Bedauern  weitsichtigerer  Fachleute,  erst  ganz 
ungenügend  entwickelt;  erst  nach  der  französischen  Eroberung 
eingeführt,  hat  sie  seitdem  nur  sehr  geringe  Fortschritte  ge- 
macht und  im  Jahre  1901  umfaßten  die  künstlichen  Wiesen 
der  ganzen  Kolonie  nur  8100  ha,  meist  Luzerne. 

Die  Rinder  sind  klein,  fleisch-  und  milcharm,  und  das 
Fleisch  ist  überdies  oft  zäh  und  wenig  wohlschmeckend,  so- 
daß  Fleisch,  Milch  und  Butter  auch  von  Europa  eingeführt 
werden;  im  Winter  lassen  sich  gutsituierte  Europäer  und  die 
großen  Hotels  ihren  Bedarf  an  Rind-  und  Kalbfleisch  von 
Marseille  kommen.  Im  übrigen  ist  das  einheimische  Rind 
widerstandsfähig  und  geeignet  zur  Kreuzung  mit  dem  euro- 
päischen, zu  welchem  Zweck  man  spanische  und  schweizer 
Stiere  eingeführt  hat. 

Die  Schafherden  machen  den  einzigen  Reichtum  der 
südlichen,    den    äußersten    Saum    der    Wüste    bewohnenden 


—     81      - 

Stämme  aus,  und  zwar  sind  auch  hier  die  minderwertigen 
Fettschwanzschafe  und  die  wertvolleren  und  zahlreicheren 
„arabischen"  Schafe  vertreten.  Seit  langer  Zeit  bereits  hat 
man  versucht,  die  einheimischen  Rassen  zu  verbessern,  doch 
sind  die  erzielten  Erfolge  bislang  nur  langsame  und  geringe 
geblieben.  Hauptmarkt  für  die  ziemlich  minderwertige  Wolle 
der  Wüstenschafe  ist  Constantine.  Auch  die  Ausfuhr  von 
Schafen  via  Marseille  nach  Frankreich  —  1902  1  \':i  Millionen 
Stück  —  bildet  einen  sehr  bedeutenden  Erwerbszweig  und 
einen  der  wenigen,  in  denen  Araber  engagiert  sind.  Laut 
Erlaß  von  1902  dürfen  allerdings  in  Frankreich,  um  An- 
steckung auszuschließen,  nur  noch  gegen  Räude  geimpfte 
Schafe  eingeführt  werden. 

Von  den  genügsamen  Ziegen,  die  überall,  am  besten 
in  gebirgigen  Gebieten  gedeihen,  sind  neben  der  eigentlichen 
arabischen  Ziege  auch  die  kleinen  und  milcharmen  Kabilen- 
Ziegen  und  die  milchreichen  Malteser  vertreten. 

Die  algerischen  Pferde  sind  schlank,  leicht  und  nervig 
und  deshalb  hauptsächlich  als  Renner  und  zu  militärischen 
Zwecken,  aber  nicht  als  Zug-  und  Arbeitstiere  geeignet;  die 
Regierung  unterhält  drei  Landesgestüte  und  hat  seit  1852  an- 
gefangen, auch  die  arabischen  Stämme  zur  Verbesserung  der 
Pferdezucht  zu  veranlassen,  da  sich  bei  den  Arabern  im 
allgemeinen  nur  minder  edle  Rassen  von  Pferden  finden. 

Das  Kamel  dient  ebenso  wie  Esel  und  Maultier  zu 
Transportzwecken,  und  das  trockene  und  heiße  Klima  be- 
kommt ihm  gut. 

Schweine  wurden  erst  nach  der  französischen  Er- 
oberung nach  Algier  verpflanzt,  und  ihre  Produkte  werden 
von  Moslims  und  Juden  gleichmäßig  verachtet. 

Hühner  und  auch  Tauben  dagegen  sind  überall  zahl- 
reich vertreten  und  geschätzt,  und  die  Eingeborenen  treiben 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Trlpolitanien.  6 


—     82     — 

auf  den  städtischen  Märkten  einen  recht  bedeutenden  Handel 
mit  Geflügel  und  Eiern. 

Für  Straußenzucht  wurde  1879  von  Pariser  Kauf- 
leuten eine  Gesellschaft  gegründet,  deren  Resultate  sehr  be- 
scheidene blieben. 

Die  einst  bedeutende  Seidenraupenzucht  ist  seit 
1882  ganz  zurückgegangen,  soll  aber  laut  Gesetz  vom  2.  April 
1898  durch  Gewährung  von  Prämien  gefördert  werden,  wo- 
mit freilich  bislang  wenig  erreicht  wurde;  dagegen  besaßen 
im  Jahre  1893  26  500  Bienenzüchter,  worunter  nur  1400 
Europäer,  zusammen  210000  Bienenstöcke. 

Blutegel  werden  zahlreich   in   den  Sümpfen  der  Pro- 
vinz Oran  gezüchtet. 
Fischerei.  ^je  Seefischerei   beschäftigte  1901  :    5400  Männer  in 

1200  Fahrzeugen  von  3781  Tons,  und  der  Ertrag  an  Fischen 
und  Korallen  belief  sich  auf  drei  Millionen  Francs.  Die 
Fischerei  der  edlen  roten  Koralle,  deren  Hauptsitz  La  Calle, 
ist  schon  seit  1520  fast  ununterbrochen  an  die  Franzosen 
verpachtet  gewesen,  in  ihren  Erträgen  recht  schwankend 
und  letzthin  ständig  zurückgegangen,  sodaß  man  sie  ab 
1.  Januar  1900  überhaupt  durch  gesetzliches  Verbot  ein- 
stellte, um  den  Bänken  Zeit  zu  geben,  sich  zu  erholen.  Der 
Fischfang  an  der  Küste  ist  seit  1888  nur  noch  Franzosen 
und  Einwohnern  von  Algerien  gestattet,  wird  aber  für  deren 
Rechnung  vielfach  von  Italienern  ausgeübt. 

Bergbau.  \j^^^    (jgp,    ßergbau     anbetrifft,     der    hier    schon    im 

frühen  Altertum  betrieben  wurde,  aber  seit  dem  Mittelalter 
ganz  zum  Stillstand  kam,  so  sind  in  Algerien,  mit  Ausnahme 
von  Gold,  alle  Metalle,  namentlich  Eisen,  Blei,  Silber,  Kupfer 
und  Zink  vertreten,  doch  wird  deren  ergiebiger  Abbau  er- 
schwert durch  die  Unmöglichkeit  der  Verhüttung  im  Lande 
selbst   bei   dem   Mangel    an   Kohle,    durch    die   hohen   Aus- 


—     83     — 

beutungskosten  und  Transportspesen  bis  zum  Küstenplatz 
mangels  genügender  Verkehrsstraßen  oder  Kleinbahnen,  und 
endlich  auch  durch  die  hohe  Seefracht  für  die  gewonnenen 
Erze.  Dennoch  sind  seit  1845  seitens  der  Regierung  eine 
Reihe  Konzessionen  erteilt  worden,  noch  immer  werden 
neue  Fundorte  erschlossen  und  zu  Anfang  des  20.  Jahr- 
hunderts brach  unter  den  zahlreichen  Prospektoren  ein 
wahres  Minenfieber  aus.  im  Jahre  1902  waren  im  ganzen 
69  Minen  -  Konzessionen  auf  Eisen,  Zink,  Blei,  Kupfer, 
Antimon  und  Quecksilber  erteilt,  davon  aber  nur  26  mit 
zusammen  6500  Arbeitern  wirklich  in  Betrieb  genommen ; 
43  dieser  Konzessionen  sind  für  das  Departement  Constan- 
tine  erteilt,  19  für  Algier  und  7  für  Oran ;  daneben  waren 
249  Schürferlaubnisse  in  Kraft. 

Das  französische  Bergrecht  wird  laut  Dekreten  von 
1851  und  1852  auch  in  Algerien  angewandt,  dagegen  sind 
die  als  „Steinbrüche"  angesehenen  Phosphatlager  in  Al- 
gerien und  Tunesien  1898  einem  besonderen  Regime  unter- 
stellt worden. 

Reiche  Eisenerze  sind  nahe  der  Küste  ungefähr  dem 
ganzen  Litorale  entlang  vertreten  und  besonders  stark  in 
den  Bezirken  Bone  und  Oran;  in  dem  ersten  liegen  die  be- 
reits 1845  konzessionierten  Gruben  von  Ain  Mokra,  deren 
Lager  jetzt  bereits  der  Erschöpfung  entgegengehen,  in  dem 
anderen  direkt  am  Meere  die  derselben  Gesellschaft  ge- 
hörigen, im  Tagebau  abzuarbeitenden  Lager  von  Beni  Saf, 
welche  aus  einem  von  der  Kompanie  eigens  angelegten 
Hafen  im  Jahre  1901 :  418  000  Tons  verschifften;  daneben  die 
erst  kürzlich  erschlossenen  von  Raz  el  Maden  und  Kristel 
dicht  bei  der  Stadt  Oran  selbst.  Auch  bei  Tebessa  liegen 
große  Eisenlager  zutage  und  sind  jüngst  französischen  und 
belgischen  Unternehmern  zur  Ausbeutung  überlassen  worden. 
Die   Gruben   von   Bone   lieferten    1898:    116000  Tons,    die 

6* 


—     84     — 

von  Oran  366  000  Tons  Eisenerze,  1901  wurden  in  der 
ganzen  Kolonie  526  000  Tons  Eisenerze  im  Werte  von  fünf 
Millionen  Francs  gefördert.  Die  500  Francs- Aktien  der 
Mokta  el  Hadid- Gesellschaft  wurden  im  Mai  1904  bei  einer 
letztbezahlten  Dividende  von  40  Francs  mit  879  Francs 
notiert. 

Zink  wird  aus  den  Gruben  von  Nador  bei  Gelma 
und  Morsott  bei  Tebessa  gewonnen,  und  eine  belgische  Ge- 
sellschaft mit  einem  Kapital  von  4  ^'2  Millionen  Francs  beutet 
die  Galmeilager  von  Bu  Dschaber  bei  Tebessa  aus.  Über- 
haupt sind  belgische  und  deutsche  Werke,  wie  z.  B.  Krupp, 
der  Schalker  Gruben-  und  Hüttenverein,  die  Gesellschaft 
Vieille  Montagne,  Cockerill  u.  a.  an  der  Erschließung  des 
Erzvorkommens  in  Algerien  nennenswert  beteiligt. 

Blei  gewinnt  man  aus  den  1897  entdeckten  Gruben 
bei  Tebessa,  ferner  in  Nedroma  bei  Nemours  und  in  der 
Nähe  von  Suk  Aras. 

im  Jahre  1901  wurden  39  000  Tons  Zink-  und  Blei- 
Erze  im  Werte  von  1  Million  Francs  gefördert. 

Kupfererze  werden  bereits  in  Tadergount  gewonnen, 
andere  Minen  sind  in  der  Entwicklung  begriffen;  1901  wurden 
9500  Tons  im  Werte  von  230  000  Francs  gefördert. 

1873  wurden  bei  Boghari,  1885  bei  Tebessa  auch 
mächtige  Phosphatlager  mit  wechselndem,  an  einzelnen 
Stellen  bis  zu  83  '\,  Gehalt,  aufgefunden,  die  sich  bis  nach 
Tunesien  hinein  erstrecken,  wo  besonders  bei  Gafsa  ein 
ungeheurer  Phosphatreichtum  entdeckt  wurde.  Die  1891 
gebildeten  englischen  und  französischen  Gesellschaften  haben 
bereits  ansehnliche  Mengen  davon  verschifft,  und  das  Departe- 
ment Constantine  führte  an  Phosphaten  aus  in 

1897  98  99  1900 

218  269  324  321     Tausend  Tons, 

die  nach  England,  Frankreich,  Italien  und  Deutschland  gingen. 


—     85     — 

Im  Jahre  1903  belief  sich  der  Phosphatversand  der  Constan- 
tine  Phosphate  Company  auf  170  000,"  der  Cie.  des  Phos- 
phates du  Dyr  auf  76  000  und  der  Societe  fran(^aise  des 
Phosphates  de  Tebessa  auf  31000  Tons. 

Salz  wird  aus  den  Salzseen  und  von  Steinsalz  ge- 
wonnen, letzteres  bei  Milah,  El  Kantara  und  Wargla. 

Letzthin  sind  am  Salzsee  Timmimun  in  der  Oase  Gu- 
rara  auch   bedeutende  Salpeterlager  entdeckt  worden,    auf 

Petroleum  haben  Im  Jahre  1900  Konzessionen  nach- 
gesucht vier  Bohrgesellchaften  in  Oran  und  fünf  in  Thiouanet. 
und  in  St.  Aime  bei  Relizane  hat  die  Societe  des  Petroles 
fran<;aises  1902  eine  ausgedehnte  Petroleumraffinerie  angelegt. 

Die  Quecksilberminen  von  Taghit  sind  1903  in 
produktives  Stadium  eingetreten  und  ergaben  20  Tons 
Quecksilber,  man  erwartet  aber  eine  nennenswerte  Zu- 
nahme des  Ertrags. 

Marmor  verschiedener  Art,  darunter  der  berühmte 
giallo  und  rosso  antico,  schöner  Onyx,  Alabaster  und 
Gips  werden  ausgebeutet,  auch  Antimon,  Nickel,  Schwefel, 
Magnesia  und  Porzellanerde  sind  vertreten. 

Die  gewerbliche  Tätigkeit,  welche  im  Mittelalter  be-  Industrie 
deutender  war,  beschränkt  sich  jetzt  bei  der  einheimischen 
Bevölkerung  im  Teil  und  in  den  Küstenstädten  fast  aus- 
schließlich auf  Bereitung  von  Maroquin,  Teppich-,  Musselin- 
und  Seidenweberei.  Die  Kabilen  der  Gebirge  treiben  Acker- 
bau und  Viehzucht,  daneben  aber,  industriöser  als  die  Araber, 
auch  Wollweberei,  Holzschnitzerei,  Mattenflechten  und  sogar 
etwas  Bergbau,  namentlich  auf  Eisen,  welches  sie  zu  Acker- 
geräten, Schlössern,  Gewehrläufen,  Säbeln  usw.  verarbeiten. 
Für   die    Bewohner   der   Sahara   waren   von   altersher   das 


—     86     — 

Weben  wollener  Burnuse,  Haiks  und  Zeltdecken,  die  Kultur 
der  Dattelpalmen  und  der  Vertrieb  dieser  Erzeugnisse  die 
Hauptquelle  des  Erwerbs.  Fast  bei  allen  Stämmen  befinden 
sich  Mühlen  und  Ölpressen. 

Bei  der  europäischen  Bevölkerung  hat  sich  eine 
nennenswerte  Industrie  bislang  noch  nicht  bilden  können, 
und  die  baldige  Entwicklung  einer  solchen  ist  auch  nicht 
wahrscheinlich,  da  das  Land  alle  Kräfte  für  den  Ackerbau 
nötig  hat;  auch  das  durch  den  Hochschutzzoll  verteuerte 
Leben  und  die  hohen  Eisenbahntarife  wirken  neben  dem 
Mangel  an  billigen  und  geschulten  Arbeitskräften  hinderlich, 
und  so  wandern  die  Rohstoffe  zu  ihrer  Bearbeitung  meist 
nach  Frankreich.  Die  nennenswertesten,  von  Europäern  in 
Algerien  betriebenen  Industrien  sind  die  Tabaks-  und  Zigarren- 
fabrikation, Mahl-,  Schneide-  und  Ölmühlen,  Seidenspinnereien, 
eine  Papierfabrik,  Ölsardinen- Packung  für  den  Export  und 
Maccaroni-  und  Griesfabriken  für  den  inländischen  Bedarf. 
Das  im  französischen  Mutterland  bestehende  Monopol  für 
Tabak  und  Zündhölzer  findet  auf  Algerien  keine  Anwendung; 
dagegen  ist  aus  Sicherheitsgründen  Pulver  in  Algerien  staat- 
licher Monopolartikel. 

Die  Zollvereinigung  Frankreichs  und  Algeriens  hat  für 
beide  Länder  große  Vorteile,  aber  doch  auch  manche  kleine 
Mißstände  im  Gefolge.  Frankreich  hat  sein  Schutzsystem 
auf  seine  eigenen  Bedürfnisse  zugeschnitten,  die  sich  natür- 
lich nicht  immer  mit  denjenigen  einer  jungen  Kolonie  decken ; 
es  steht  besonders  der  Entwicklung  der  Tabak-  und  Papier- 
industrie im  Wege,  die  in  Algerien  ohne  Zweifel  sehr  lebens- 
fähig wären.  In  den  Hafenstädten  macht  sich  deshalb  eine 
lebhafte  Bewegung  für  die  Schaffung  von  Freihäfen  geltend, 
und  die  Regierung  hat  ihr  insofern  Rechnung  getragen,  als 
sie  seit  kurzer  Zeit  einigen  Tabaksfabrikanten  zunächst  schon 
versuchsweise   gestattet,    den    importierten  Tabak   zu  verar- 


—    87    — 

beiten,   vorbehaltlich   der  Verzollung   bei   der  Einführung   in 
den  inneren  Konsum. 

Schnellere  Fortschritte  als  sämtliche  übrigen  Erwerbs-  Handel. 
zweige  hat  in  Algerien  der  Handel  gemacht.  Der  innere 
Verkehr,  vielfach  noch  Tauschhandel,  beschränkt  sich  auf 
gewisse  Marktplätze,  auf  denen  die  Eingeborenen  an  be- 
stimmten Wochentagen  ihre  Produkte  gegen  europäische 
Waren  austauschen,  und  zwar  sind  dies  besonders  folgende 
Plätze.  In  der  Provinz  Oran:  TIemsen,  Mostaganem,  Oran, 
Mascara,  Ain  Temuschent  und  Tiaret;  in  der  Provinz  Algier: 
Arba,  Bufarik,  Algier,  Orleansville,  Tenes,  Medea,  Arib  und 
Boghar;  in  der  Provinz  Constantine:  Constantine,  Gelma, 
Bone  und  Setif;  Hauptmarkt  für  Wolle  ist  Tiaret,  für  Rind- 
vieh Gelma,  für  Getreide  Arba. 

Auch  der  Karawanenhandel  ist  ziemlich  bedeutend. 
Nachdem  Biskra  schon  1869—1884  eine  Art  „Freihafen"  für 
den  Saharahandel  gewesen,  wurden  durch  Dekret  des  General- 
gouverneurs Cambon  1896  vier  Freihandelsniederlagen  im 
Süden  Algeriens  als  eine  Art  Wüstenhäfen  geschaffen, 
nämlich  in  Tuggurt,  Gardaia,  Ain  Sefra  und  Lalla  Marnia. 
Bis  dahin  bezahlten  von  Frankreich  kommende  und  nach 
dem  Süden  und  nach  Marokko  gehende  Waren  in  Algerien 
einen  hohen  Durchgangszoll,  der  auf  Zucker  z.  B.  60  Francs 
für  den  Zentner  betrug;  infolge  dessen  konnte  Südmarokko 
seinen  Zucker  billiger  von  Osten  her  über  Tripolis  oder 
von  Westen  her  über  Kap  Dschubi  beziehen.  Nunmehr 
aber  wurde  bestimmt,  daß  auf  gewisse  vom  Ausland  komniende 
Waren  —  Zucker,  Kaffee,  Tee,  Gewürze,  Petroleum,  Alkohol, 
seit  1902  auch  Baum woll waren  —  der  an  der  algerischen 
Küste  erhobene  Zoll  zurückerstattet  wird,  sobald  nachge- 
wiesen werden  kann,  daß  sie  wirklich  nach  dem  Süden 
weitergingen    und    nicht    nach    algerischem    Gebiet    zurück- 


geschmuggelt  wurden.  Infolge  dieser  Maßregel  hat  die  Aus- 
fuhr Algeriens  über  Figig  nach  Marokko  denn  auch  rasch 
zugenommen:  Zucker  stieg  von  700  kg  in  1896  auf  2027 
Tons  in  1901,  Kaffee  von  11500  kg  in  1896  auf  71000  kg 
in  1901,  Tee  von  0  in  1896  auf  12  700  kg  in  1901  und 
die  Qesamtausfuhr  Südalgeriens  nach  Marokko  im  Jahre  1902 
wertete  749  000  Francs.  Im  Jahre  1904  glaubte  man  in 
Beni  Unif,  dem  Terminus  der  Süd-Oran-Bahn,  einen  Transit- 
verkehr von  fünf  Millionen  Francs  zu  erreichen. 

Für  den  fremden  Handel  kommen  hauptsächlich  die 
Hafenplätze  Oran,  Algier,  Bougie,  Bone,  Philippeville,  Tenes, 
Mostaganem  und  Nemours  in  Betracht.  Während  des  Jahr- 
zehnts 1830 — 1840  wies  die  Einfuhr  jährlich  nur  3 — 4 
Millionen  Francs  und  noch  1850  erst  fünf  Millionen  Francs 
auf,  während  die  Ausfuhr  von  sieben  Millionen  in  1830  be- 
reits im  Jahre  1840  auf  40  Millionen  Francs  gestiegen  war. 
Seitdem  hat  sich  der  Spezialhandel,  ziemlich  konstant  in  der 
Einfuhr,  je  nach  dem  Ausfall  der  Ernten  sehr  schwankend 
in  der  Ausfuhr,  wie  folgt  entwickelt  in  Millionen  Francs: 


1877 

88 

90 

91 

92 

Einfuhr 

133 

234 

260 

269 

239 

Ausfuhr 

216 

197 

248 

222 

228 

1893 

94 

95 

96 

97 

Einfuhr 

231 

259 

255 

269 

265 

Ausfuhr 

169 

242 

284 

231 

276 

1898 

99 

1900 

Ol 

02 

Einfuhr 

290 

309 

323 

318 

325 

Ausfuhr 

265 

325 

242 

262 

299, 

Zwischen  Algerien  und  Frankreich  besteht  seit  1867, 
mit  Ausnahme  von  Tabak,  Alkohol,  Zündhölzchen,  Zucker, 
Kaffee     und     anderen     Kolonialwaren      keine    Zollgrenze, 


-     89     - 

französische  Waren,  mit  Ausnahme  von  Zucker,  und  in 
Frankreich  nationahsierte  Waren  gehen  in  Algerien  zollfrei 
ein  und  auch  französischer  Zucker  und  französischer  Kolonial- 
zucker sind  vor  fremdem  begünstigt;  anderseits  werden 
algerische  Produkte,  mit  Ausnahme  von  Tabak  und  Zucker, 
in  Frankreich  zollfrei  eingelassen,  und  der  algerische  Über- 
schuß sucht  und  findet  infolge  dessen  sein  erstes  Absatzfeld 
im  Mutterland.  So  fällt  denn  der  Löwenanteil  von  Algeriens 
Außenhandel  an  Frankreich,  und  was  man  in  Algerien  da- 
durch an  Zolleinnahmen  verliert,  sucht  man  seit  1844  durch 
Auferlegung  einer  Verbrauchssteuer,  des  octroi  de  mer. 
wett  zu  machen,  welcher  eine  Anzahl  Konsumartikel  fran 
zösischer  wie  fremder  Abstammung  mit  einem  hohen  Auf- 
schlag belastet  und  wesentlich  zur  allgemeinen  Verteurung 
beiträgt. 

Fremde  Waren  unterliegen  dem  französischen  Zolltarif, 
und  nur  an  den  Landgrenzen  Algeriens  besteht  insofern  ein 
Unterschied,  als  eigene  Produkte  der  Nachbarländer  frei 
eingehen,  während  fremde  Waren  auch  hier  dieselben  Zölle, 
wie  in  den  Häfen  bezahlen.  So  ließ  Algerien  seit  1867  alle 
Waren  marokkanischen  Ursprungs  für  den  algerischen 
Konsum,  soweit  sie  auf  dem  Landweg  kommen,  zollfrei  ein, 
unterwarf  sie  1872-95  nur  einer  niedrigen  statistischen  Ab- 
gabe und  erhob  dann  nur  noch  10  Centimes  „droit  sanitaire" 
für  jedes  Stück  eingeführten  marokkanischen  Viehs.  Um  die 
algerischen  Kolonisten  und  Eingeborenen  aber  gegen  die 
billige  marokkanische  Konkurrenz  zu  schützen,  und  um  dem 
algerischen  Budget  eine  neue  Einnahmequelle  zu  erschließen, 
deren  jährlichen  Ertrag  man  auf  7 — 800000  Francs  schätzt, 
ist  Anfang  1905  diese  seit  1895  bestehende  Zollfreiheit 
wieder  aufgehoben  worden.  An  der  langen,  schlecht  be- 
wachten algerisch -marokkanischen  Grenze  findet  übrigens 
beiderseits  ein  lebhafter  Schmuggel  statt. 


—     90     — 

Die  Verteilung  des  Spezialhandels  im  Jahre  1902 
wies  für  die  einzelnen  Verkehrsländer  folgende  Summen  auf. 

in  der  Einfuhr:  Frankreich  271,  Marokko  10,6,  Eng- 
land 6,9,  Brasilien  6,  Tunis  5,3,  Spanien  5,3,  Italien  2,6, 
Rußland  2,1,  Österreich  2,  Nordamerika  1,9,  Portugal  1,8, 
Deutschland  1,4,  Belgien  1,3,  Niederlande  0,7  Millionen  Francs. 

in  der  Ausfuhr:  Frankreich  250,  England  12,  Belgien 
9,1,  Tunis  4,8,  Italien  3,8,  Deutschland  3,7,  Niederlande  3, 
Rußland  2,4,  Österreich  1,8,  Spanien  1,7,  Nordamerika  0,8 
Millionen  Francs. 

Die  wichtigsten  Ausfuhrwaren  des  Jahres  1902  bildeten: 
Wein  92,9,  Getreide  68,  Tiere  40,  Häute  und  Felle  7,6,  Zink- 
erze 7,1,  Kork  7,1,  Phosphate  7,1,  Tafelobst  6,6,   Eisenerze 

5.8,  Olivenöl  5,7,  Tabak  5,6,  Haifa  5,2,  Wolle  3,5,  Kar- 
toffeln 3,  Crin  vegetal  3,  Gemüse  2,4  Millionen  Francs. 

Der  Einfuhrhandel  liegt  überwiegend  in  französischen 
Händen,  und  zwar  bestanden  die  aus  Frankreich  stammenden 
Einfuhrwaren  1900  hauptsächlich  in  folgendem:  Baum- 
wollwaren 36,5,  Wäsche  und  Kleider  16,6,  Wollwaren  8,8, 
Leder    und   Lederwaren    17,7,    Werkzeuge    und    Metallwaren 

9.9,  Möbel  und  Holzwaren  9,1,  Papierwaren  7,3,  Kurzwaren 
5,8,  Maschinen  5,6,  ordinäre  Seifen  5,8,  Zucker  5,6  Millionen 
Francs,  ferner  Getreide  und  Mehl,  während  die  französischen 
Kolonien  und  das  übrige  Ausland  folgende  Hauptartikel 
lieferten:  Kohle  14,8,  Vieh  10,  Kaffee  5,3,  Bauholz  4,8, 
Tabak  2,1,  Maschinen  1,7,  Felle  1,7,  vegetabilische  Öle  1,2, 
Wollwaren  1,2  und  Baumwollwaren  1   Millionen  Francs. 

im  gleichen  Jahre  1900  gestaltete  sich  die  Ausfuhr- 
bewegung der  einzelnen  Warengattungen  wie  folgt.  Es 
gingen  nach  Frankreich:  Wein  50  (gegen  141  im  Jahre 
1899),  Getreide  und  Mehl  38,  lebende  Hammel  19,  Wolle 
1 1,4,  Häute  und  Felle  7,  Pferde  2,2,  Ochsen  1,8,  Schweine  1,1, 


—     91      — 

Fischwaren  1.2,  Obst  4,  Gemüse  1,7,  Tabak  1.4,  Olivenöl 
3,2,  Kork  2,5.  Crin  vegetal  1,6,  Essenzen  1.5,  Liqueure  1.1, 
Phosphate  3,2  Millionen  Francs,  während  das  übrige  Aus- 
land und  die  französischen  Kolonien  bezogen:  Phosphate  8,5, 
Tabaksfabrikate  7.1,  Haifa  7,  Felle  5,  Eisenerze  4,7,  Kork  3,7, 
Zerealien  3,4.  Crin  vegetal  1.5.  Baumwollgewebe  0,7,  Woll- 
gewebe 0,6,  Bleierze  0,4  Millionen  Francs. 

Es  entfielen  in  Millionen  Francs  in  der 

Einfuhr 


1899 

1900    Ol 

02 

auf  Frankreich 

260 

260    255 

271 

„  Ausland 

59 

64     63 
Ausfuhr 

54 

1899 

1900    Ol 

02 

auf  Frankreich 

279 

173    211 

250 

..  Ausland 

66 

69     51 

49. 

Der  große  Rückgang  in  der  Ausfuhr  nach  Frankreich  von 
1899  zu  1900  erklärt  sich  durch  die  bereits  besprochene 
Krisis  im  Wein  band  el.  In  der  Einfuhr  aber  hat  es  Frank- 
reich dank  seiner  Zollgesetzgebung  erreicht,  daß  es  den 
Markt  in  Industrieerzeugnissen  fast  vollständig  beherrscht 
und  in  Algerien  vom  nichtfranzösischen  Ausland  überwiegend 
nur  solche  Produkte  eingeführt  werden,  welche  das  Mutter- 
land überhaupt  nicht  erzeugt.  So  besteht  denn  auch  die 
Einfuhr  aus  England  ganz  überwiegend  nur  in  Kohlen, 
während  seine  Baumwollwaren  durch  den  hohen  Zoll  aus- 
geschlossen sind. 

Auch  der  deutsche  Handel  ist  fünfmal  so  stark  an 
Algeriens  Ausfuhr,  als  an  der  Einfuhr  beteiligt,  und  zwar  gibt 
die  deutsche  Reichsstatistik  folgende  Zahlen  für  das  deutsche 
Zollgebiet:  Ausfuhr  nach  Algerien  1897:  78  000  Mark 
und    mit    ständiger  Steigerung   1901:    536000  Mark,    1902: 


—     92     — 

526000  Mark;  1903:  899  000  Mark.  Einfuhr  von  Algerien 
1897:  2,8,  1899:4,9,  1900:  8,3,  1901:  6,6,  1902:  8,6,  1903: 
9,1  Millionen  Mark.  Im  Jahre  1903  bestand  unsere  Einfuhr 
aus  den  Hauptposten:  Phosphate  2964,  Eisenerz  1623, 
Pflanzenhaar  875,  Ziegen-  und  Schaffelle  751,  Korkholz  717, 
Wein  369,  Zinkerz  331  Tausend  Mark,  sodann  aus  Tafel- 
trauben, Kartoffeln,  Weinhefe,  Zigaretten,  getrockneten  Feigen 
usw.,  während  unsere  kleine  Ausfuhr  nach  Algerien  1903  in 
erster  Linie  Kohlen  mit  227,  Maschinen  mit  172,  Rohtabak 
mit  95  und  ätherische  Öle  mit  85  Tausend  Mark  umfaßte 
und  angesichts  der  Zollschranken  einer  wirklich  nennenswerten 
Ausdehnung  kaum  fähig  scheint.  Tatsächlich  ist  die  deutsche 
Ausfuhr  nach  Algerien  übrigens  erheblicher,  als  die  Reichs- 
statistik annehmen  läßt,  da  ein  großer  Teil  deutscher  Waren 
wegen  der  seltenen  Schiffsverbindung  zwischen  deutschen 
und  algerischen  Plätzen  zunächst  nach  anderen  Ländern, 
insbesondere  nach  Prankreich  ging  und  durch  deren  Ver- 
mittlung nach  Algerien  gelangte.  Nachdem  bis  dahin  nur 
die  deutsche  Levantelinie  regelmäßig  algerische  Häfen  an- 
gelaufen, nahm  im  Januar  1900  auch  die  adriatische  Linie 
der  Hamburg-Südamerikanischen  Dampfschiffahrtsgesellschaft 
diesen  Dienst  auf. 

Eine  Handelsbörse  besteht  in  Algier  schon  seit  1852, 
Handelskammern  gibt  es  in  Algier,  Oran,  Constantine, 
Bone,  Philippeville  und  Bougie. 

Geld-,  Maß-  und  Qewichtssystem  sind  in  Algerlen 
französisch,  und  es  bestehen  in  der  Kolonie  fünf  französische 
Banken  mit  Filialen  an  den  Hauptorten,  nämlich  die  Banque 
d'  Algerie,  die  Compagnie  algerienne,  der  Credit  foncier  et 
agricole  d'  Algerie,  der  Credit  algerien  und  der  Credit 
Lyonnais.  Die  Banque  d'  Algerie  wurde  1851  als  Emissions- 
bank  mit   einem  Anfangskapital  von    drei   Millionen  Francs 


—     93 

zunächst  für  20  Jahre  privilegiert  und  die  Konzession  1868 
um  10  Jahre,  1880  um  16  Jahre,  1897  und  1899  zunächst 
provisorisch  verlängert,  bis  die  Bank  durch  Gesetz  vom 
5.  Juli  1900  reorganisiert  wurde,  nachdem  sie  sich  durch 
Lokalbeeinflussung  und  übermäßige  Landbeleihungen  seit  1892 
in  einer  Art  Liquidation  befunden  hatte.  Das  neue,  für 
20  Jahre  erteilte  Privileg  gesteht  der  seit  1880  mit  einem 
voll  eingezahlten  Kapital  von  20  Millionen  Francs  arbeitenden 
Bank  das  Recht  der  Notenausgabe  bis  zu  einer  Maximal- 
höhc  von  150  Millionen  Francs  zu,  welche  aber  jederzeit 
bar  eingelöst  werden  müssen.  Als  Gegenleistung  hat  die 
Bank  u.  a.  für  die  Dauer  ihres  Privilegs  einen  zinsfreien 
Vorschuß  von  drei  Millionen  Francs  zu  gewähren,  der  dem 
landwirtschaftlichen  Kredit  dienen  soll.  Man  hatte  zunächst 
den  Gedanken  gehabt,  das  Bankprivileg  für  Algerien  der 
Banque  de  France  zu  übertragen,  sah  schließlich  aber  davon 
ab,  da  die  von  diesem'  Institut  bei  Diskontierungen  unbedingt 
geforderten  drei  Unterschriften  für  die  Kolonie  eine  zu  harte 
Bedingung  gebildet  haben  würden.  Dagegen  hat  die  Banque 
d'  Algerie  1900  die  Verpflichtung  übernommen,  jedem 
Reisenden  in  den  Hafenplätzen  kostenlos  bis  zu  1000  Francs 
ihrer  Noten  gegen  diejenigen  der  Bank  von  Frankreich  um- 
zuwechseln. Der  Notenumlauf  der  Bank  betrug  im  Jahre 
1904  120  Millionen  Francs,  an  Dividende  wurden  1902  und 
1903  je  6  "o  verteilt. 

Der  Credit  foncier  et  agricole  d'  Algerie  arbeitet 
mit  einem  Kapital  von  30  Millionen  Francs,  wovon  die 
Hälfte  eingezahlt  ist,  wurde  1880  durch  den  Credit  foncier 
de  France  gebildet,  der  schon  seit  1860  in  Algerien  tätig 
gewesen  war  und  beschränkt  sich  heute  fast  nur  auf  Hypo- 
theken- und  gewöhnliche  Bankgeschäfte,  während  er  die 
riskantere  Bevorschussung  von  Ernten  und  landwirtschaft- 
lichen  V^orräten    fast   völlig  aufgegeben   hat.     Die   von   ihm 


—     94     — 

für  Privatleute  berechneten  Hypothekenzinsen  betragen  4  bis 

5%  P- 3-  ""<^  2^^'^'*  s'"^  ^^"^^  S'^^  ^"^  '"""'^  ^2^  Milhonen 
Francs  belaufenden  Hypotheken  etwa  je  zur  Hälfte  in 
städtischem  und  in  ländlichem  Besitz  angelegt. 

Diese  Zahl  gibt  natürlich  nur  ein  unvollkommenes  Bild 
der  Hypothekenverschuldung  Algeriens,  welche  im  ganzen 
über  400  Millionen  Francs  beträgt,  da  heute  viele  Privat- 
leute in  Frankreich  und  Algerien  den  Kolonisten  Geld  leihen 
oder  sich  als  Kommanditäre  an  Ackerbau -Unternehmen 
beteiligen. 

Die  mit  einem  Kapital  von  25  Millionen  Francs  arbei- 
tende Compagnie  algerienne  ist  die  Nachfolgerin  der  1866 
mit  einem  Kapital  von  100  Millionen  Francs  gegründeten 
Societe  generale  algerienne,  welche  außer  Bankgeschäften 
auch  die  Übernahme  öffentlicher  Arbeiten,  Bergbau  und 
Fabrikbetrieb,  Land-  und  Forstwirtschaft  und  Kolonisation 
betreiben  sollte  und  für  letzteren  Zweck  100000  ha  Domänen- 
land gegen  eine  jährliche  Rente  von  nur  1  Franc  für  den 
Hektar  bekam.  Durch  unglückliche  Spekulationen  sah  sich 
aber  die  Bank,  welche  ihr  vielseitiges  Programm  nur  unvoll- 
ständig erfüllt  hatte,  1877  zur  Liquidation  gezwungen,  und 
ihre  Nachfolgerin  betreibt  nur  das  gewöhnliche  Bankgeschäft 
und  die  bestmögliche  Ausnutzung  ihrer  Domäne. 

Der  mit  einem  Kapital  von  acht  Millionen  Francs 
arbeitende  Credit  algerien  macht  weder  Diskontgeschäfte, 
noch  empfängt  er  Depositen,  sondern  er  beschäftigt  sich 
überwiegend  mit  Anleihen  von  Städten,  Departements  und 
Eisenbahnen. 

Der  bekannte  Cre'dit  Lyonnais  hat  seit  1878  Filialen 
in  Algier  und  Oran  und  betreibt  alle  Arten  von  Bank- 
geschäften. 

Die  Notierungen  für  die  Aktien  im  Januar  1905  und 
die  letztbezahlten  Dividenden  waren  für  die  Banque  d'  Algerie 


—     95     — 

1500  (33,20),  Compagnie  algerienne  802  (37,50),  Credit 
foncier  et  agricole  d'  Algerie  500  (12  '  -),  Credit  alge'rien 
1050  (37 '  o),  Societe  Immobiliere  Alge'rienne  930  (25)  Francs. 

Der  gesetzliche  Zinsfuß,  1835  mit  10 '\i  limitiert,  ist 
erst  1881  auf  6,  1898  auf  5"„  herabgesetzt.  Bis  1898  gab 
es  volle  Zinsfreiheit,  das  Maximum  wurde  dann  aber  mit 
8  ®o  festgesetzt.  Der  gewöhnliche  Diskontsatz  pflegt  7  bis 
8  %  zu  betragen. 

Die  Landwirtschaft  ist  eines  billigeren  Kredits  viel- 
fach bedürftig,  da  besonders  die  Eingeborenen  meist  außer- 
halb des  direkten  V^erkehrs  mit  den  Banken  bleiben  und  bei 
Geldbedarf  im  allgemeinen  auf  den  Wucherer  angewiesen 
sind,  der  sie  oft  in  ruinöser  Weise  aussaugt.  Der  Jude 
nimmt  50 — 150'^'o  p.  a.,  aber  auch  der  reiche  Moslim  scheut 
sich  nicht,  Getreide,  welches  nach  der  Ernte  rückzahlbar 
ist,  mit  einem  Preisaufschlag  von  50 "  o  für  die  Kreditfrist 
von  4  —  8  Monaten  zu  verkaufen.  Als  recht  wertvoll  hat 
sich  deshalb  die  von  der  Regierung  geförderte  und  durch 
Gesetz  von  1893  organisierte  Einrichtung  nur  für  Ein- 
geborene bestimmter  kommunaler  Hülfskassen  auf  Gegen- 
seitigkeit erwiesen,  welche  für  Vorschüsse  in  bar  5"n  p.  a., 
für  solche  in  Naturalien  10",,  berechnen,  und  deren  man 
Ende  1902  in   172  verschiedenen  Kommunen  zählte. 

Nachdem  die  Banque  d'  Algerie  den  landwirtschaft- 
lichen Kredit  nicht  mehr  pflegt,  wurden  1901  regionale 
landwirtschaftliche  Kreditanstalten  auf  Gegenseitigkeit  ge- 
gründet, denen  man  unter  gewissen  Voraussetzungen  auch 
die  von  der  Banque  d'  Algerie  überwiesenen  3  Millionen 
Francs  zur  Verfügung  stellt,  und  die  dem  europäischen 
Landwirt  dienen  sollen. 

Neben  den  vorstehend  aufgeführten  Kreditinstituten  gibt 
es  auch  noch  für  Europäer  bestimmte  Hülfskassen  und 
staatliche  und  private  Sparinstitute. 


—     96     — 

Verkehr.  Was  den  Verkehr  anbetrifft,  so  gab  es  1830  im  In- 

nern der  Kolonie  nicht  eine  einzige  Straße;  man  kannte  im 
Teil  nur  unfahrbare  Stege,  kaum  breit  genug  für  einen 
Reiter,  im  Süden  folgten  die  Karawanen  den  durch  die 
Wasserstellen  vorgezeigten  Richtungen.  Sofort  nach  der 
französischen  Eroberung  aber  fing  man,  mit  Hülfe  der  Truppen 
und  von  Algier  aus  beginnend,  mit  dem  Wegebau  an,  und 
heute  überzieht  ein  Netz  vorzüglicher  Straßen  die  ganze 
Kolonie.  Die  Sorge  für  Bau  und  Unterhaltung  der  Land- 
straßen liegt,  wie  in  Frankreich,  teils  dem  Staate,  teils  den 
Departements,  teils  den  Gemeinden  ob.  Die  noch  nicht 
ganz  beendigten  zehn  großen  Nationalstraßen  hatten  im 
Jahre  1900  eine  Länge  von  2920  km,  die  Departements- 
straßen eine  solche  von  1311  km,  die  Gemeindestraßen 
7600  km.  Da  die  Unterhaltung  der  Straßen  in  Algerien 
sehr  kostspielig  ist  und  einen  großen  Teil  des  Etats  für 
Wegebau  beansprucht,  wird  die  Herstellung  neuer  Wege 
dadurch  verzögert.  Die  wichtigsten  Kunststraßen  sind  die, 
welche  Medea,  Blida,  Bufarik  und  Duera  mit  Algier,  und 
Bougie  mit  Setif  verbinden.  Diese  und  andere  Straßen 
haben  auch  einen  regelmäßigen  Diligence-Dienst.  Straßen- 
bahnen existierten  Anfang  dieses  Jahrhunderts  177  km  im 
Betrieb.  Die  Hotels  lassen,  mit  Ausnahme  der  vom 
fashionablen  Touristenverkehr  berührten  Punkte,  mancherlei 
zu  wünschen  übrig,  doch  ist  die  Verpflegung,  dank  der 
ständig  zirkulierenden  Kundschaft  zahlreicher  französischer 
Verwaltungsbeamter  und  Offiziere,  durchschnittlich  gut. 

Die  Eisenbahnen  Algeriens,  Ende  1901,  im  ganzen 
3094  km  und  234  km  Trams  und  Lokalbahnen,  die  soge- 
nannten chemins  de  fer  sur  routes,  umfassend,  sind  in  der 
Hauptsache  Küstenbahnen,  nur  die  Linien  von  Arzeu  nach 
Figig  und  von  Philippeville  nach  Biskra  reichen  tiefer  in 
das  Land  hinein,    und  zwar    haben   hier  alle  Bahnen  einen 


—     97     — 

—  teilweise  ausschließlichen  -  strategischen  Charakter 
und  bilden  die  beste  Garantie  für  die  Ruhe  im  Lande;  viel- 
fach ist  daneben  natürlich  auch  das  wirtschaftliche  Interesse 
vertreten,  und  an  einzelnen  Stellen,  wie  z.  B.  zwischen  Suk 
Ahras  und  Tebessa  nach  Entdeckung  der  großen  Phosphat- 
lager, überwiegend  geworden.  Aber  nur  zwei  Linien,  Arzeu- 
Sai'da  für  die  Haifa -Ausbeute  und  Bone-AVn  Mokra  für  den 
Erzabbau  bestimmt,  entstammen  der  Privatinitiative,  alle  an- 
deren sind  auf  offizielle  Anregung  zurückzuführen,  erhielten 
Staatszuschuß  für  ihre  Baukosten  und  genießen  eine  auf 
verschiedener  Basis  beruhende  Zinsgarantie. 

Ein  erstes  Eisenbahnprogramm  für  Algerien  wurde  1857 
vorgelegt  und  umfaßte  im  ganzen  1537  km,  nämlich  die  der 
Küste  parallel  laufende  Linie  Oran- Algier- Constantine  und 
die  von  den  Haupthäfen  ausgehenden  Stichbahnen  von  Oran 
nach  Sidi  bei  Abbes  und  TIemsen;  von  Arzeu  und  Mosta- 
ganem  nach  dem  fruchtbaren  Distrikt  von  Relizane;  von 
Tenes  nach  Orleansville;  von  Bougie  nach  Setif;  von  Phi- 
lippeville  nach  Constantine;  und  von  Bone  nach  Quelma  und 
Constantine.  Von  diesem  Programm,  das  noch  heute  nicht 
in  allen  Teilen  durchgeführt  ist,  wurden  durch  Gesetz  vom 
Jahre  1860  zunächst  drei  Linien  mit  zusammen  178  km  zur 
Ausführung  bestimmt,  nämlich  Philippeville- Constantine, 
Algier- Blida  und  Oran -St.  Denis,  und  die  Regierung  be- 
willigte dafür  eine  Bausubvention  von  sechs  Millionen  Francs 
und  eine  Zinsgarantie  von  5  "  o  auf  ein  Maximalkapital  von 
55  Millionen  Francs.  Die  51  km  lange  Strecke  Algier-Blida 
wurde  1862  eröffnet,  aber  bereits  im  nächsten  Jahre  trat  der 
Privatunternehmer  Rostand  zugunsten  der  großen  franzö- 
sischen Eisenbahngesellschaft  Cie.  du  chemin  de  fer  Paris- 
Lyon-Mediterranee  zurück,  welche  die  Konzessionen  für  die 
Linien  Oran -Algier  (421  km)  und  Philippeville -Constantine 
(87  km)  erhielt;  letztere  wurde  1863—1870  gebaut,   erstere 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  7 


-     98     — 

1871  eröffnet.  Die  gewählte  Normalspur  von  1,44  m  erwies 
sich  allerdings  als  unnötig  breit  und  verteuerte  Bau  und 
Betrieb  ohne  Not.  Man  ging  deshalb  in  der  Folge  vielfach 
zur  Spur  von  1  m  über,  und  zwar  begann  damit  die  Privat- 
gesellschaft Mokta-EI  Hadid,  welcher  1863  ohne  Subvention 
und  Zinsgarantie  die  Anlage  einer  33  km  langen  Bahn  vom 
Hafen  Bone  nach  ihren  Eisengruben  bei  A'i'n  Mokta  konzes- 
sioniert wurde,  die  dem  öffentlichen  \' erkehr  allerdings  erst 
seit  1885  dient;  diese  Bahn  kostete  4.4  .Millionen  Francs. 
Dieselbe  Schmalspur  adoptierte  auch  die  Cie.  Franco-Al- 
gerienne,  welche  durch  Debrousse  &  Cie.  die  Konzession 
für  die  171  km  lange  Strecke  Arzeu-Saida  erhielt  und  zwar 
gleichfalls  ohne  Bausubvention  und  ohne  Zinsgarantie,  aber 
mit  dem  ausschließlichen  Privileg,  300  000  Hektar  Haifa- 
ländereien  in  den  Hochplateaus  bei  Saida,  in  dem  soge- 
nannten Haifameer,  ausbeuten  zu  dürfen;  diese  Bahn  wurde 
1871  eröffnet,  im  Jahre  1872  wurde  der  bekannten  Cie.  des 
Batignolles  auf  99  Jahre  die  Konzession  der  89  km  langen 
Linie  Bone-Guelma  übertragen,  die  1877  eröffnet  wurde,  und 
diese  Cie.  Bone-Guelma  erhielt  1877  auch  die  Konzession 
für  den  Bau  von  Guelma-Khroub  (114  km)  zum  .Anschluß 
an  die  Algier-Constantine-Linie.  1879  eröffnet;  Duvivier-Souk 
.■\hras  (52  km)  zur  östlichen  Fortsetzung  der  Hauptlinie,  1881 
eröffnet;  und  die  weitere  Fortsetzung  letzterer  von  Souk  Ahras 
bis  zum  tunesischen  Grenzort  Ghardimaou  (58  km),  1884 
vollendet.  1875  wurde  an  Joret  die  Konzession  der  155  km 
langen  Linie  Constantine-Setif  vergeben,  welche  von  der  Cie. 
de  l'Est  Algerien  gebaut  und  1879  eröffnet,  aber  erst  1886 
bis  Algier  vollendet  wurde.  Anstelle  der  Einzelunternehmer 
traten  überall  bald  Gesellschaften. 

Im  Jahre  1879  wurde  nun  ein  neues  großes  Programm 
aufgestellt,  welches  strategische  Linien,  Stichbahnen  von  den 
Haupthäfen    nach    dem   Innern    mit  X'erlängerung  nach  den 


—     99     - 

Grenzen  Tunesiens  und  Marokkos  und  endlich  Vormarsch- 
bahnen nach  dem  Süden,  im  ganzen  1741  km  neuer  Linien 
vorsah. 

Die  Vormarschhnie  im  Osten  wurde  1879 — 1888  von 
der  Cie.  de  l'Est  Algerien  201  km  weit  von  El  Guerra  durch 
die  berühmte  Schlucht  von  Kantara  nach  der  Oase  Biskra 
gebaut;  ihre  projektierte,  380  km  lange  Fortsetzung  nach 
Tuggurt  undWargIa  bildet  einen  Teil  der  geplanten  Saharabahn. 

Im  Westen  vollzog  sich  das  Vordringen  langsamer.  Zu- 
nächst wurde  die  Hauptlinie  der  Cie.  Franco  Algerienne  mit 
Regierungsunterstützung  1881  82  von  Mosba  bis  Mescheria 
(114  km)  weitergebaut  und  nachdem  die  Gesellschaft  1884 
in  Schwierigkeiten  kam,  die  102  km  lange  Fortsetzung  der 
Bahn  nach  AVn  Sefra  vom  Staate  selbst  in  die  Hand  ge- 
nommen und  1S87  beendet.  1892  begann  man  dann  mit 
den  Vorstudien  und  1893  mit  dem  Bau  der  84  km  langen 
Linie  AVn  Sefra- Djenien  bu  Rezg  des  Chemin  de  fer  Sud- 
Oranais,  eröffnete  den  V^erkehr  bis  Bu  Rezg,  538  km  von 
Arzeu  entfernt,  im  Februar  1900  und  erreichte,  durch  die 
Eroberung  der  Tuat-Oasen  stimuliert,  Soubia,  jetzt  Duveyrier 
genannt,  1901.  Von  hier  aus  wird  die  Bahn,  welche  von 
Mecheria  ab  durch  befestigte  Bahnhöfe  und  Blockhäuser  in 
Entfernungen  von  je  12  km  gesichert  ist,  durch  den  Ued 
Susfana  nach  Igli  und  von  da  aus  vielleicht  den  Ued  Saura 
entlang  weitergeführt. 

Diese  Süd-Bahn  überschreitet  das  nördliche  Randgebirge 
des  Atlas  bei  1109  m  Höhe,  das  südliche  Randgebirge  bei 
1323  m  und  senkt  sich  dann  hinab  zu  dem  nur  noch  320  m 
hoch  liegenden  Ain  Sefra.  Das  572  km  von  Oran  entfernte 
Duveyrier  wird  vom  Hafen  aus  erst  in  drei  Tagen  erreicht, 
da  die  Züge  langsam  und  nur  am  Tage  fahren. 

Nachdem  es  den  Franzosen  1903  gelungen  ist,  durch 
Vertrag    in    den   Besitz  der  Oase   Beni   Unif  zu   kommen, 

7* 


—     100     - 

welche  bereits  zur  Gruppe  von  Figig  gehört,  ist  auch  diese 
durch  eine  Zweigbahn  mit  Duveyrier  verbunden  worden,  und 
1905  beschloß  man  die  56  km  lange  Fortsetzung  nach  Ben 
Zireg,  677  km  von  Oran. 

iVlit  Ausnahme  dieser  Süd-Oran-Linie  und  von  234  km 
Lokalbahnen  und  Departementstrams,  die  zwischen  1892  und 
1902  gebaut  wurden,  ist  seit  1892  keine  Hauptlinie  mehr 
eröffnet  worden. 

Auf  die  Entstehungsgeschichte  der  kleineren  Bahnen 
hier  näher  einzugehen,  dürfte  erübrigen,  vielmehr  eine  Auf- 
führung der  verschiedenen  Bahnsysteme  genügen. 

Die  Compagnie  P.  L.  M.  besitzt  und  betreibt  die 
beiden,  ohne  eigenen  Zusammenhang  untereinander  stehenden 
Strecken  Oran-Algier,  421  km,  und  Philippeville-Constantine, 
87  km. 

Die  Cie.  de  FE  st  Algerien  die  Linien  Algier-Con- 
stantine,  464  km;  El  Guerra-Biskra,  201  km;  Menerville-Tisi 
Usu,  1888  eröffnet,  53  km;  Bougie-Beni-Mansur  an  der  Bahn 
Algier-Constantine,  89  km;  Uled  Rahmun-AVn  Beida,  1887—89 
gebaut,  92  km. 

Noch  weiter  östlich  liegt  das  Konzessionsgebiet  der 
Cie.  Böne-Guelma,  welche  die  Linien  Böne-Khrub  (an 
der  Bahn  Algier-Constantine)  203  km,  und  davon  in  Duvivier 
abzweigend  die  Linie  nach  Ghardimaou,  111  km,  betreibt, 
seit  1890  auch  die  1885  konzessionierte,  128  km  lange 
Strecke  Suk  Ahras-Tebessa,  welche  nur  Meterspur  besitzt. 
Die  Cie.  Böne-Guelma  besaß  anfangs  nur  eine  Zinsgarantie 
seitens  des  Departements  Constantine,  und  erst  nach  Über- 
nahme des  tunesischen  Bahnbaues  seitens  der  Gesellschaft 
trat  die  französische  Regierung  als  Garant  ein. 

Im  Westen  finden  wir  die  Bahnen  von  zwei  Gesell- 
schaften gebaut,  zunächst  die  bereits  erwähnte  ältere,  un- 
glückliche 


—     101     — 

Cie.  Franco  Algeriennc,  welche  die  Strecke  Arzeu- 
Ain  Sefra,  454  km.  mit  der  13  km  langen  Abzweigung 
von  Tisi  nach  Mascara  und  die  1889  fertig  gestellte  Strecke 
von  Mostaganem  nach  Tiaret  auf  dem  Schott  -  Hochland, 
197  km,  baute,  alle  mit  Meterspur,  und  im  Jahre  1900  vom 
Staate  übernommen ;  und  sodann  die  jüngere 

Cie.  Ouest  Algerien,  mit  den  Strecken  von  Sainte 
Barbe  de  TIelat,  an  dei'  Bahn  Oran -Algier  nach  Ras  el  Ma, 
152  km,  1875 — 77  von  einem  Herrn  Haring  in  Paris  zur 
Erschließung  von  Haifa- Distrikten  erbaut  und  später  von 
der  Compagnie  übernommen;  eine  64  km  lange  Zweiglinie 
von  Tabia  nach  Tlemsen  wurde  erst  1891  eröffnet;  ferner 
Oran-Ain  Temuschent,  76  km;  und  endlich  die  1888  —  94 
gebaute  83  km  lange  und  schmalspurige  Bahn  Blida-Ber- 
ruaghia,  deren  314  km  lange  Fortsetzung  über  Boghari  nach 
El  Ahguat  eventuell  eine  mittlere  Vormarschlinie  bilden 
würde;  bislang  verkehrt  nach  El  Aghuat  jeden  zweiten  Tag 
eine  Diligence  in  drei  Tagen.  Die  Mittelprovinz  Algier  ist 
bislang  überhaupt  weitaus  am  schwächsten  mit  Eisenbahnen 
bedacht. 

Von  den  verschiedenen  Industriebahnen  dient  nur 
die  33  km  lange  Linie  Böne  -  AVn  Mokra  auch  dem  öffent- 
lichen Verkehr,  nicht  aber  die  28  km,  welche  zu  der  algeri- 
schen Salzwerken  (21  km)  und  nach  den  Minen  von 
Kef-um-Thebul  (7  km)  führen. 

Sämtliche  Bahnen  sind  nur  eingleisig,  von  den  2905  km 
Bahnen,  welche  sich  im  Jahre  1900  im  Betrieb  befanden, 
waren  972  km  schmalspurig,  und  zwar  wurden  zum  Bau 
meist  Europäer  zugezogen,  Einheimische  nur  als  Erdarbeiter 
und  Handlanger  verwandt.  Das  Wagenmaterial  ist  —  mit 
Ausnahme  bei  der  Cie.  Böne-Guelma  —  meist  den  alten 
Beständen  der  französischen  Kontinentalbahnen  entnommen 
und   auch    an  Zahl   nicht   immer  genügend.     Ausschließliche 


—     102     — 

Personenzüge  verkehren  nur  auf  den  Hauptstrecken,  aber 
auch  hier  ist  der  Lokalverkehr  weitaus  bedeutender,  als  der 
Fernverkehr;  die  meisten  Züge  sind  zugleich  mit  Güterverkehr 
belastet  und  der  dadurch  veranlaßte  Aufenthalt  auf  den 
Stationen  verlängert  die  Reise  sehr  empfindlich.  Die  Fahr- 
geschwindigkeit übersteigt  nicht  35 — 40  km  in  der  Stunde, 
die  Fahrpreise  für  1.,  2.  und  3.  Klasse  sind  12,  9  und  6  Cen- 
times für  das  Kilometer.  Die  Frachttarife  sind  mit  12  Cen- 
times für  das  Tonnenkilometer  gerade  doppelt  so  hoch,  als 
in  Frankreich  und  geben  den  Kolonisten  Anlaß  zu  steten 
Klagen.  Auf  den  größeren  Strecken  sind  Speisewagen  ein- 
gestellt, und  seit  1901  verkehrt  im  Winter  einmal  wöchentlich 
auch  ein  Luxuszug  mit  guten  Schlafwagen  in  40  Stunden 
zwischen  Oran  und  Tunis.  Der  Schnellzug  zwischen  Oran 
und  Algier,  421  km,  braucht  10^  o,  der  zwischen  Algier  und 
Constantine,  464  km,  \3^2,  und  zwischen  Constantine  und 
Tunis,  464  km,  15  Stunden. 

Aus  der  vorstehenden  Skizze  der  Entwicklung  des  alge- 
rischen Bahnnetzes  geht  hervor,  daß  mit  Ende  der  achtziger 
Jahre  im  allgemeinen  ein  Stillstand  eintrat,  und  der  erklärt 
sich  einmal  daraus,  daß  die  dringendsten  Linien  damals  be- 
endet waren,  hauptsächlich  aber  aus  den  großen  Kosten  von 
Bau  und  Betrieb.  Waren  die  Konstruktionskosten  für 
das  Kilometer  doch  folgende  gewesen  bei :  Cie.  Franco  Alge- 
rienne,  alles  schmalspurig,  102  000  Francs;  bei  der  Cie. 
P.  L.  M.,  alles  Normalspur,  168  000  Francs;  bei  der  Cie. 
de  l'Est  Algerien,  zu  90  "o  Normalspur,  215  000  Francs, 
bei  der  Cie.  de  l'Ouest  Algerien,  wovon  VV,  schmalspurig, 
und  bei  der  Cie.  Böne-Guelma,  wovon  V»  schmalspurig, 
222  000  Francs;  im  Durchschnitt  des  ganzen  Eisenbahn- 
netzes kam  das  Kilometer  in  der  ersten  Einrichtung  auf 
180  000  Francs  zu  stehen. 


—     103     — 

Aber  auch  der  Betrieb  erwies  sich  bei  sämtlichen 
Linien  so  wenig  lohnend,  daß  die  fünf  Gesellschaften  Ende 
1900  dem  Staate  543  Millionen  Francs  schuldeten,  und  der 
Betrieb  der  Linie  der  Franco  -  Algerien  vom  Staate  über- 
nommen werden  mußte,  und  zwar  stellte  sich  damals  das 
Bild  irh  einzelnen  wie  folgt: 


Kilometer 

Kosten  erster 
Einrichtung 

Grundkapital 

Est  Algerien        898 

190.9 

25  Mill.  Francs 

Franco-Alge'rien  668 

68,2 

30     „ 

P.  L.  M.               513 

86,7 

n                 " 

Böne-Guelma       436 

97,2 

30     „ 

Ouest  Algerien    379 

82,1 

17.. 

2894  km 

525.1 

102  Mill.  Francs 

Obligationen. 

Schuld  an 

den  Staat,  einschließlich 

Zinsen  auf  Leihkapital 

Est  Algerien         175 

183,1  Mill.  Francs 

Franco-Alge'rien     52 

33.8 

.. 

P.  L.  M.                — 

58.9 

"                 n 

Böne-Guelma       106 

215.9 

11                 t» 

Ouest  Algerien      66 

51,7 

,. 

399 

543,4  Mill.  Francs. 

Kapital  und  Obligationen  der  P.  L.  M.  sind  dabei  nicht 
aufgeführt,  weil  sie  für  ihre  französischen  und  algerischen 
Linien  nicht  getrennt  sind. 

Die  Notierung  der  500  Francs- Aktien  im  Dezember 
1904  und  die  letztbezahlte  Dividende  betrug  bei  der  Cie. 
Böne-Guelma  714  (30),  bei  der  Est  Algerien  710  (30)  und 
bei  der  Ouest  Algerien  640  (23),  während  die  3%  Obli- 
gationen der  drei  Gesellschaften  mit  440—444  notiert  waren. 

Die  erzielten  Einnahmen  für  1903  betrugen  auf  dem 
algerischen  Netz  der  P.  L.  M.  9.8.  bei  der  Est -Algerien  8.6, 


—     104     — 

bei  der  Böne-Guelma,  altes  und  neues  Netz,  10,2,  bei  der 
Ouest-Algerien  3,9,  bei  der  Franco-Algerien  4,2  und  bei  der 
Linie  Oran-Arzeu  0,3  Millionen  Francs. 

Auch  heute  noch  zahlt  der  Staat  an  die  Bahnver- 
waltungen in  Form  von  Garantiegeldern  jährlich  etwa  22  Mil- 
lionen Francs  Zuschuß,  und  wenn  derselbe  auch  vielleicht 
allmählich  kleiner  wird,  so  dürfte  er  doch  kaum  jemals  ganz 
verschwinden;  die  Rückzahlungsmöglichkeit  der  Schulden 
aber  scheint  gänzlich  ausgeschlossen.  Die  schlechte  Ren- 
tabilität ist  begründet  sowohl  in  dem  kostspieligen  Bau  und 
der  mangelhaften  Ausgestaltung  des  Bahnnetzes,  wie  auch  in 
der  falschen  Form  der  Zuschußleistung  des  Staates  und  un- 
praktischer Tarifpolitik:  Sind  doch  die  Eisenbahntarife  so 
hoch,  daß  primitive  Transportmittel  wie  Lasttiere  und  Last- 
wagen dagegen  konkurrieren.  Die  Anlage  von  billigen  Zu- 
bringer-Bahnen mit  nur  60  cm  Spur  würde  den  Hauptbahnen 
eine  lohnende  Verkehrssteigerung  einbringen. 

Man  hat  vorgeschlagen,  die  Hauptbahnen  Algeriens  zu 
verstaatlichen,  und  es  wären  auf  Grund  der  bestehenden 
Verträge  rückkaufbar  die  Linien  der  P.  L.  M.  bereits  seit 
1875,  die  Ouest  seit  1898,  der  Franco  -  Alge'rien  seit  1899 
und  der  Böne-Guelma  seit  1902,  die  Est  wird  es  1906;  aber 
es  bliebe  dann  noch  immer  die  heikle  Frage,  wer  den  Be- 
trieb übernehmen  solle,  der  Staat  oder  Betriebsgesellschaften. 
Inzwischen  ist  bestimmt  worden,  daß  vom  Jahre  1926  ab 
die  Kolonie  selbst  die  Zinsgarantien  zu  zahlen  haben  wird, 
und  mit  dem  Bau  der  14  000  km,  die  geplant  sind,  wird  es 
noch  gute  Weile  haben,  soweit  nicht  politische  und  strate- 
gische Zwecke  dabei  mitsprechen. 

So  hat  der  Staat  im  Dezember  1903  der  Westalgerischen 
Eisenbahngesellschaft  die  längt  beschlossene  Fortsetzung  ihrer 
Normalspurlinie  von  Tlemsen  nach  der  70  km  entfernten 
marokkanischen  Grenze  konzessioniert    und   übernimmt  die 


—     105     — 

Zinsgaranlie  auf  21  Millionen  Francs  Baukapital.  Diese 
Bahn  soll  vorläufig  in  Lalla  Marnia  östlich  von  Uschda 
enden,  später  aber,  um  den  jetzigen  Karawanenverkehr  zu 
ersetzen,  über  Tesa  nach  Fes  fortgeführt  werden  und  eine 
Hauptlinie  bilden,  an  welche  lokale  Nebenlinien  angeschlossen 
werden  könnten ;  man  veranschlagt  die  Kosten  der  Bahn  bis 
Fes  auf  etwa  80  Millionen  Francs. 

Daß  bei  dem  besonders  regen  Interesse,  welches  gerade 
in  Frankreich  von  Anfang  an  für  den  Aütomobilismus  ge- 
herrscht hat,  auch  in  Algerien  die  Einführung  von  Kraft- 
wagen in  die  Wege  geleitet  wurde,  ist  nur  natürlich,  be- 
sonders in  Süd-Oran  wird  der  Automobildienst  gepflegt  und 
ermutigt. 

Auch  Post  und  Telegraph  arbeiten  in  Algerien  noch 
mit  Defizit.  Letzterer  besaß  im  Jahre  1902:  11756  km 
Linien  und  33  926  km  Drahtlänge;  alle  Hauptorte  der  Unter- 
divisionen sind  mit  der  Divisionshauptstadt  und  diese  wieder 
mit  Algier  verbunden;  die  Militärverwaltung  arbeitet  auch  in 
ausgedehntem  Maße  mit  optischem  Telegraph,  besonders  im 
Süden. 

Ein  Lieblingsplan  der  französischen  Kolonialpartei  geht 
dahin,  von  Algerien  quer  durch  die  Sahara  eine  Tele- 
graphenlinie nach  den  westafrikanischen  Besitzungen 
Frankreichs  zu  legen.  Diese  vom  Hauptmann  Non  geplante, 
2256  km  lange  Verbindung  ist  kürzlich  durch  zwei  Militär- 
missionen begutachtet  worden,  die  unter  Hauptmann  Laper- 
rine  von  Insalah  und  unter  Hauptmann  Theveniaut  von  Tim- 
buktu  ausgingen  und  sich  im  April  1904  am  Brunnen  Timissao 
etwa  unter  dem  22"  n.  Br.  trafen,  nachdem  sie  seitens  der 
einheimischen  Bevölkerung  freundliche  Aufnahme  gefunden 
hatten.  Damit  ist  die  terra  incognita  der  westlichen  Sahara 
zwischen  Niger  und  Algerien,  seit  Oberst  Laing  1826  bei 
Timbuktu  ermordet  wurde,  zum  ersten  Male  wieder  gekreuzt 


—     106     — 

worden.  Da  längs  der  Telegraphenleitung  quer  durch  die 
Sahara,  deren  Kosten  auf  2^  j  Millionen  Francs  veranschlagt 
sind,  Militärposten  zu  deren  Überwachung  eingerichtet  werden 
sollen,  so  könnte  sich  hier  mit  der  Zeit  eine  Karawanen- 
straße entwickeln,  die  nicht  nur  militärischen  Schutz,  sondern 
auch  Proviant  und  namentlich  Trinkwasser  vorfinden  würde. 
Die  reiche  Oase  Arauan,  nordwestlich  von  Timbuktu,  hat 
sich  im  August  1904  unter  französischen  Schutz  gestellt. 

Seit  1870  ist  Algerien  durch  Kabel  mit  Frankreich 
verbunden,  und  zwar  besitzt  der  Staat  seit  1879  drei  Kabel 
zwischen  Marseille  und  Algier,  eins  zwischen  Marseille  und  Oran 
und  seit  1902  auch  ein  solches  zwischen  Oran  und  Tanger; 
älter  sind  zwei  Kabel  der  englischen  Eastern  Telegraph  Cie., 
welche  seit  1870  Marseille  mit  Böne  und  dieses  wieder  mit 
Malta  verbinden. 

Die  früher  so  berüchtigte  Küste  Algeriens  ist  heute 
}   durch  nicht  weniger  als  46  Leuchtfeuer  gesichert. 

Schiffahrt.  Die  eigene  Handelsflotte  Algeriens  nimmt  zwar  regel- 

mäßig zu,  umfaßte  im  Jahre  1903  aber  in  841  Fahrzeugen 
nur  rund  24  000  Tons. 

Dagegen  wies  der  eingehende  Schiffsverkehr  im 
Jahre  1902  auf: 

2240  französische  Schiffe  mit  1  666  000  Tons  Gehalt 
1019  andere  „         „        773  000      „ 


3259  Schiffe  mit  2  439  000  Tons, 

im  Jahre  1901  war  die  Zahl  der  einkommenden  Schiffe 
auf  3830  gestiegen  mit  2  763  800  Tons  Gehalt,  und  zwar 
verteilten  sich  dieselben  wie  folgt; 

Algier      Oran       Böne       Philippeville       Beni  Saf 
1200        1069        686  318  132  Schiffe 

951  738       412  216  ISOTausd.  Tons 


—     107     — 

Bougie         Arzeu  Mostaganem  Andere 

98  57  44  226  Schiffe 

66  43  31  124  Tausd.   Tons 

Die  Schiffahrt  zwischen  Frankreich  und  algerischen 
Häfen  wurde  anfangs  durch  staatliche  Schiffe  zwischen 
Toulon  und  Algier,  mit  Abzweigungen  nach  Oran  und  Böne 
unterhalten,  der  Transport  von  Post  und  Passagieren  ab 
1842  aber  subventionierten  Gesellschaften  übertragen, 
während  der  algerische  Küstendienst  noch  bis  1866  von  der 
Marine  und  erst  dann  von  der  Handelsschiffahrt  besorgt 
wurde.  Auch  nachdem  man  1861  die  Schiffahrt  zwischen 
Frankreich  und  seinen  Kolonien  freigab,  blieb  der  Verkehr 
zwischen  Algerien  und  dem  Mutterland  ausschließlich 
französischen  Fahrzeugen  vorbehalten,  und  das  Gesetz  von 
1889  hat  diesen  Zustand  neuerdings  bestätigt.  Es  kommen  von 
den  sieben  französischen  Dampferlinien,  welche  nach  Al- 
gerien fahren,  besonders  drei  in  Betracht,  welche  unter  staat- 
licher Subvention  von  jährlich  1600000  Francs  und  Schnellig- 
keitsprämien bis  zur  Höhe  von  400  000  Francs  den  Postdienst 
besorgen  und  unter  sich  ein  Kartell  haben,  welches  ihnen 
erlaubt,  ohne  Konkurrenzfurcht  Personen-  und  Gütertarife 
möglichst  hochzuschrauben,  worüber  man  sich  in  den  be- 
teiligten Kreisen  schon  längst  stark  beklagt;  es  sind  dies  die 
Cie.  Generale  Transatiantique,  die  Cie.  de  Navigation  mixte 
(Cie.  Touache  in  Marseille)  und  die  Societe  generale  des 
transports  maritimes  ä  vapeur.  Die  Transatiantique,  welche 
über  die  besten  Postdampfer  verfügt,  fährt  von  Marseille  aus 
viermal  in  der  Woche  nach  Algier  (417  Seemeilen  in  25  bis 
26  Stunden,  1.  Klasse  120  Francs,  4.  Klasse  22  Francs),  und 
je  zweimal  wöchentlich  nach  Oran,  Bougie,  Philippeville, 
Böne  und  Tunis;  die  Dampfer  der  beiden  übrigen  Gesell- 
schaften brauchen  von  Marseille  nach  Algier,  je  nach  Wetter 
30     40  Stunden,  und  berechnen  in  1.  Klasse  70  und  7.S  Francs 


—     108     — 

Passagegeld.  Billiger  sind  die  Passagen  auf  den  Schiffen  der 
wöchentlich  einmal  von  Marseille  nach  Algier  fahrenden 
Societe  Caillot  &  Saintpierre  und  von  Prosper  Durand, 
welche  50  bezw.  40  Francs  berechnen.  Die  wöchentlich  von 
Marseille  fahrenden  Dampfer  der  Cie.  Franco-Tunisienne  de 
Navigation  laufen  Algier  ebenfalls  an.  Auch  die  Häfen  von 
Arzeu,  Mostaganem,  Bougie  und  Böne  haben  direkte  Dampfer- 
verbindung mit  Marseille,  und  neben  diesem  kommen  von 
französischen  Häfen  noch  Port  Vendres,  Cette,  Bordeaux, 
St.  Nazaire,  Havre  und  Dünkirchen  in  Betracht. 

Die  Zahl  sämtlicher  Algerien  anlaufender  Dampfer- 
linien ist  gegen  40.  Die  seit  1890  tätige  Deutsche  Le- 
vantelinie läßt  monatlich  1 — 2  Dampfer  von  Malta,  Algier 
und  Oran  direkt  nach  Hamburg  laufen,  auch  ihre  Exkursions- 
dampfer berühren  Algier;  sodann  kommen  von  deutschen 
Linien  noch  die  dreimal  monatlich  nach  Oran  und  Algier 
laufenden  Freitas-  und  die  Bremer  Argo-Dampfer  in  Betracht, 
und  auch  die  Societe  franc^aise  d'  Armement  hat  einen  regel- 
mäßigen Dienst  zwischen  Oran  und  Stettin  eingerichtet.  Die 
Schiffe  der  ungarischen  „Seeschiffahrts-Aktiengesellschaft 
Adria"  laufen  jede  zweite  Woche  von  Fiume  über  Messina, 
Malta  und  Tunis  nach  Algier,  Oran  und  Tanger.  Von  den 
englischen  Dampferlinien  kommen  besonders  die  Papayanni 
Line,  Holt's  Ocean  Line  und  die  Schiffe  von  J.  Moß  &  Co. 
ab  Liverpool  in  Betracht. 
,  Verkehr   betreffend,    sei   noch    beiläufig   erwähnt,    daß 

die  Polizei  Algeriens  in  der  Kontrolle  Fremder  übertrieben 
ängstlich  ist  und  auf  den  Meldezetteln  die  Beantwortung  von 
etwa  20  Fragen  verlangt. 

Hauptorte.  Werfen  wir  schließlich  einen  Blick  auf  die  Hauptorte 

der  Kolonie,  so  finden  wir  dieselben  auch  heute  noch 
sämtlich    umwallt    und    zwar  nicht  nur  die  berühmten  alten 


!1 


—     109     — 

Plätze  an  der  Küste  und  im  Innern,  die  schon  eine  lange 
Kriegsgeschichte  hinter  sich  haben,  sondern  auch  die  erst 
von  den  Franzosen  angelegten  Garnisonstädte,  die  innerhalb 
ihrer  Mauern  gerade,  sich  rechtwinklig  schneidende  Straßen 
mit  Schaltenbäumen,  große  Plätze  und  ganz  europäischen 
Zuschnitt  aufweisen.  Außer  Algier  und  Oran  gibt  es  in  der 
ganzen  Kolonie  kaum  ein  Dutzend  Städte  von  mittlerer  Be- 
deutung. 

Die  Hauptstadt  Algier  zählt  heute, .  mit  der  1904  mit 
ihr  vereinigten  Vorstadt  Mustapha  zusammen,  135  000  Ein- 
wohner und  ist  in  ihren  unteren  Teilen  und  an  der  ganzen 
Peripherie  durchaus  französisch.  Von  den  98000  Einwohnern 
der  eigentlichen  Stadt  .Algier  im  Jahre  1901  waren  39  500 
Franzosen,  12  500  Spanier,  5  700  Italiener,  2  000  andere 
Europäer,  27  000  Mohammedaner  und  1 1  000  Juden.  Herr- 
lich gelegen,  zieht  sich  hinter  dem  Hafen  der  weißen  Stadt 
zunächst  eine  zwei  Kilometer  lange  stattliche  Terrasse  mit 
glänzenden  Häusern,  Restaurants  und  Cafes  im  Pariser  Stil; 
Pariser  Banken  und  Warenhäuser  haben  hier  ebenso  ihre 
Filialen,  wie  die  großen  Münchner  Brauereien,  und  elektrische 
Straßenbahnen  vermitteln  den  V^erkehr.  Über  der  Unterstadt 
baut  sich  den  Bergabhang  hinauf  die  Eingeborenenstadt  mit 
ihren  malerischen,  engen  Gassen  und  gekrönt  von  der  1516 
begonnenen  alten  Kasbah  der  Deis,  jetzt  Kaserne;  aber  selbst 
hier  wohnen  Europäer  bunt  durcheinander  mit  Arabern  und 
Juden.  Die  Stadt  ist  stark  befestigt,  Sitz  der  Regierung  und 
eines  bedeutenden  Handels,  den  man  durch  Erweiterung  und 
Verbesserung  der  Hafenanlagen  zu  heben  sucht;  besonders 
bestrebt  man  sich,  Algier  zur  Hauptkohlenstation  der  .Mittel- 
meer-Schiffahrt  zu  gestalten,  und  infolge  der  hohen  englischen 
Kohlenpreise  erfolgte  vor  einigen  Jahren  auch  die  Einrichtung 
eines  deutschen  Kohlenlagers  in  Algier.  Die  bezaubernde 
Umgebung  weist  blühende  Ortschaften,  reizende  Gärten  und 


—     110    — 

Villen  auf,  und  die  Stadt  bietet  allen  Komfort  für  eine  an- 
genehme und  interessante  Winterstation. 

Die  zweitgrößte  Stadt  der  Kolonie  und  der  wichtigste 
Handelsplatz  der  ganzen  nordwestafrikanischen  Küste  über- 
haupt ist  0_r.an,  mit  88  000  Einwohnern,  eine  überaus  rege 
Geschäftsstadt,  deren  äußere  Erscheinung  letzthin  durch  eine 
sehr  lebhafte  Bautätigkeit  auch  in  den  alten  Teilen  sehr 
modernisiert  worden  ist.  55  ^  (,  der  Gesamtausfuhr  von 
ganz  Algerien  gehen  über  Oran,  und  nachdem  man  den 
Platz  auch  als  Hauptmarinestation  Algeriens  bestimmte,  ist 
der  oft  ventilierte  und  wieder  aufgegebene  Plan,  einen  Außen- 
hafen zu  bauen,  endlich  angenommen  und  mit  seiner  Aus- 
führung 1902  begonnen  worden.  Im  Gegensatz  zu  Algier 
leben  Rassen  und  Nationalitäten  hier  ziemlich  getrennt  neben- 
einander, und  besonders  halten  die  sehr  zahlreich  vertretenen 
Spanier,  selbst  wenn  sie  naturalisierte  Franzosen  geworden 
sind,  fest  an  ihrem  nationalen  Leben. 

Die  Hauptstadt  des  dritten  Departements,  das  von  den 
alten  arabischen  Geographen  als  einer  der  festesten  Plätze 
der  Erde  gepriesene  Constantjne,  das  phönikische  Kartha 
und  frührömische  Cirta,  liegt  nicht  an  der  Küste,  sondern 
87  km  von  dieser  entfernt  auf  einem  isolierten  Kalkstein- 
felsen, der  neben  und  unter  der  Stadt  von  der  Felsschlucht 
des  Rummel  schroff  durchbrochen  wird;  80  mal  ist  Con- 
stantine  seit  der  Phönikerzeit  belagert  und  im  Sturm  ge- 
nommen worden,  und  jedesmal  stürzten  die  neuen  Herren 
ihre  Vorgänger  über  die  Felsen  hinab  in  die  Schlucht  des 
Rummel.  Jetzt  erhebt  sich  am  Rand  dieser  grausigen  Todes- 
schlucht das  weiße  Araberviertel  und  daran  schließt  sich  die 
Europäerstadt,  das  Ganze  heute  eine  aufblühende  lebhafte 
Handels-  und  Industriestadt  mit  41000  Einwohnern,  deren 
Völker  und  Rassen  intim  nebeneinander  leben;  nur  die 
jüdische  Bevölkerung    hält    sich   etwas  abseits.     Constantine 


gilt  als  die  gewerbfleißigste  Stadt  des  Arabertums,  und  hervor- 
ragend unter  den  Gewerben  sind  besonders  die  Leder-  und 
die  Webindustrie. 

Der  Hafen  Constantines  ist  Phj^iippeville  —  das  alte 
phönikische  Tapsus,  das  römische  Rusicado  —  erst  1838 
von  den  Franzosen  angelegt,  als  es  sich  nach  der  Einnahme 
Constantines  darum  handelte,  eine  möglichst  nahe  Ver- 
bindung mit  dem  Meere  zu  schaffen.  Die  durchaus  moderne 
Stadt  zählt  14  000  Einwohner  und  ist  von  den  Franzosen 
mit  trefflichen  Hafenanlagen  ausgerüstet  worden.  Auch  das 
östlich  davon  gelegene  alte  Böne  mit  32  000  Einwohnern, 
welches  früher  als  Hafen  für  Constantine  diente,  macht 
einen  ganz  europäischen  Eindruck;  man  plant  auch  hier 
jetzt  Kaianlagen.  Am  malerischsten  von  den  Häfen  der 
Provinz  Constantine  aber  ist  der  westlichste,  Bougie,  mit 
etwa  10  000  Einwohnern,  dessen  Umgebung  eine  der  land- 
schaftlichen Perlen  des  ganzen  Mittelmeers  bildet.  Eine 
großartige  Kunststraße  führt  von  hier  durch  die  wilde 
„Todesschlucht"  Schabet  el  Akhira  nach  Setif,  10  000  Ein- 
wohner, von  wo  aus  man  eine  interressante  Eisenbahnfahrt 
nach  dem  Süden  antreten  kann.  Von  Bat  na  aus,  1844  von 
Bugeaud  als  Militärstation  angelegt,  wird  man  mit  Genuß  die 
vielfach  noch  wohl  erhaltenen  Ruinen  der  alten  Römerstadt 
Timegad,  des  „algerischen  Pompeji"  besuchen,  welche  in 
jetzt  verödeter  Gegend  liegen,  aber  noch  immer  einen  groß- 
artigen Eindruck  machen,  und  sodann  weiter  durch  das  Sa- 
harator El  Kantara  nach  der  am  bequemsten  zu  erreichenden 
Oase  Biskra  fahren.  Dieser  auf  alter  römischer  Siedelung 
angelegte  Ort  bildet  heute  eine  elegante  Winterstation  für 
Brustkranke,  zählt  mit  dem  anstoßenden  Alt- Biskra  zu- 
sammen 20  000  Einwohner  und  bietet  lehrreiche  Ausflüge 
in  die  nach  allen  Seiten  sich  anschließende  Wüste.  Ganz  im 
Osten   der   Provinz   Constantine   führt  von  der  Station  Suk 


—     112     — 

Ahras,  dem  alten  Tagaste  und  jetzt  einem  lebhaften  Markt- 
flecken an  der  Bahn  nach  Tunis,  eine  Zweigbahn  südlich 
nach  Tebessa,  dem  alten  Theveste,  jetzt  eine  Stadt  von 
7000  Einwohnern  mit  700  Europäern,  in  fruchtbarer  und 
mineralreicher  Umgebung  und  günstiger  Verkehrslage. 

Von  Algier  aus  führt  nach  Osten  eine  Bahn  nach  der 
27  000  Einwohner  zählenden  Gemeinde  Tisi  Usu,  der  Ein- 
gangspforte zur  Kabilei;  nach  Westen  zu  aber  geht  es  zu- 
nächst durch  die  fruchtbare  Metidscha-Ebene  mit  dem  Haupt- 
ort BJ[da,  welcher  1_6000  Einwohner  zählt  und  eine  blühende 
Orangen-  und  Tabakkultur  treibt,  durch  die  Affenschlucht  der 
Schiffa,  dann  weiter  in  das  Tal  des  Scheliff  mit  der  von 
Bugeaud  angelegten  Garnisonstadt  Orleansville  (12  000 
Einwohner)  und  über  den  Eisenbahnknotenpunkt  St.  Denis 
du  Sig  —  mit  Abzweigungen  nach  dem  Hafen  Arzeu  und 
nach  dem  Tuat  —  nach  Oran. 

Eine  165  km  lange  Bahn  von  Oran  aus  führt  über  die 
26  000  Einwohner  zählende,  1843  angelegte  Garnisonstadt 
Sidi  bei  Abbes,  wo  ein  Regiment  der  Fremdenlegion  steht, 
nach  dem  altberühmten,  etwa  800  m  über  dem  Meere 
liegenden  Tlemsen,  dem  alten  römischen  Pomaria,  der 
einst  glänzenden  Residenz  einer  Reihe  von  maurischen 
Khalifen.  Die  Stadt  mit  22  000  Einwohnern  trägt  auch 
heute  noch  überwiegend  arabischen  Charakter  und  besitzt  in 
mehreren  Moscheen  Reste  der  alten  Pracht. 

Die  bereits  kurz  beschriebene  algerische  Südbahn  führt 
an  Mascara  vorbei,  der  Residenz  von  Abd  el  Kader,  heute 
eine  rein  französische  Stadt  mit  18  000  Einwohnern. 

Die  Häfen  von  Nemours,  Beni  Saf,  Arzeu,  Mostaganem, 
(17  000  Einwohner)  und  Tenes  (das  alte  Cortenna)  haben 
überwiegend  lokale  Bedeutung;  einen  erfreulichen  Aufschwung 
nimmt  das  im  Jahre  1900  von  dem  früheren  Schiffsleutnant 
und    Afrikaforscher    Louis   Say    als    Handelsstation    zwecks 


—     113     — 

Förderung  friedlichen  Verkehrs  mit  Marokko  an  der  Mün- 
dung des  Grenzflusses  Wad  Kiß  oder  Adscherud  angelegte 
Port  Say,  trotz  mannigfacher  Proteste  und  Intriguen,  welche 
besonders  von  dem  auf  seine  bisherige  Stellung  als  west- 
lichstem Hafen  eifersüchtigen  Nemours  ausgingen.  1903 
wurde  auch  hier  eine  Zollstelle  eröffnet,  und  z.  Z.  arbeitet 
man  an  einer  Hafenanlage  mit  zwei  Steinmolen. 

Fraglos  sind  in  Algerien  mannigfach  große  Fortschritte 
zu  verzeichnen;  aber  die  Eingeborenen -Frage  bildet  noch 
immer  eine  furchtbare  Schwierigkeit. 

Mehr  und  mehr  sehen  die  .Eingeborenen  ihren  Land- 
besitz in  die  Hände  der  Fremden  übergehen,  und  sie  fühlen 
sich  immer  mehr  rechtlos,  unterdrückt  und  ausgebeutet; 
während  ihre  Zahl  ständig  gestiegen  ist,  hat  ihr  Besitz  und 
Wohlstand  derart  abgenommen,  daß  dieselben  Abgaben, 
welche  im  Jahre  1890  noch  18  Millionen  Francs  ergaben, 
1901  nur  noch  13  Millionen  abwarfen.  Selbst  wenn  die 
Regierung  den  besten  Willen  hat,  den  Eingeborenen  gerecht 
zu  werden,  schüren  die  einzelnen  Kolonisten  durch  unge- 
rechte Behandlung  den  Haß  und  die  Rachgier  derselben 
immer  aufs  neue  an  und  erhalten  bei  ihnen  die  Hoffnung 
aufrecht,  doch  noch  einmal  das  Joch  der  Christen  ab- 
schütteln zu  können. 

Andrerseits  ist  wohl  fraglos,  daß  das  Land  bald  in 
einen  ähnlich  kulturlosen  Zustand  zurückverfallen  würde, 
wie  ihn  noch  heute  Marokko  zeigt,  wenn  Frankreich  sich 
gegenwärtig  aus  Afrika  zurückziehen  wollte.    , 


Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien. 


Tunesien. 


Geschichte.  Nach    den   Berichten  von   Herodot   und  anderen   alten 

Geographen  saßen  im  Süden  der  kleinen  Syrte  die  Trog- 
loditen;  auf  der  Insel  Meninx  (heute  Dscherba)  und  dem 
benachbarten  Festland  die  Lothophagen,  am  Gestade  bis 
zum  Schottbecken  die  Machyler,  und  im  Norden  derselben 
die  Maxyer,  Aasen,   Ghyzanten  und  Zaneken. 

Etwa  im  12.  Jahrhundert  vor  Chr.  ließen  sich  nun  an 
den  so  günstig  gelegenen  Küsten  Tunesiens,  wo  sich  Afrika 
dem  ihm  gegenüber  liegenden  Sizilien  bis  auf  nur  140  km 
Entfernung  nähert,  auch  die  seefahrenden  Phöniker 
nieder  und  gründeten  hier  Kolonien,  die  bald  große  wirt- 
schaftliche Bedeutung  erlangten,  wie  Hippo  Zarytus  (heute 
Biserta),  Utika  (Bu  Schater),  Karthago,  Hadrumetum 
(Susa)  und  Leptis  parva  nahe  dem  heutigen  Monastir. 
Am  bedeutendsten  darunter  war  anfangs  Utika,  welches 
zwar  nicht  unmittelbar  am  Meere  lag,  aber  auch  späterhin 
immer  eine  gewisse  Unabhängigkeit  behauptete,  als  sich  das 
nahe  Karthago  so  glänzend  entwickelte  und  schließlich  ein 
Gebiet  umfaßte,  welches  ziemlich  genau  dem  heutigen  Tu- 
nesien entsprach. 

Der  Ort  Tunes,  das  heutige  Tunis,  eine  sehr  alte 
afrikanische    Siedelung,    erscheint    in    der    Geschichte    zum 


—     115     — 

ersten  Male,  als  Agathokles,  der  Tyrann  von  Syrakus,  im 
Jahre  310  vor  Chr.  heschloß,  die  Karthager  in  ihrem 
Lande  anzugreifen  und  im  Golfe  von  Tunis  seine  eigene 
Flotte  verbrannte,  um  sein  Heer  zum  Siege  zu  zwingen. 
Anfangs  erfolgreich,  eroberte  er  zahlreiche  Ortschaften, 
mußte  dieselben  später  aber  wegen  seiner  bedrängten  Lage 
in  Sizilien  selbst  aufgeben. 

Als  das  unglückliche  Karthago,  dessen  Geschichte  kurz 
in  der  Einleitung  berührt,  im  Jahre  146  vor  Chr.  durch  die 
Römer  zerstört  worden  war,  trat  denn  auch  an  dessen 
Stelle,  als  Hauptstadt  der  römischen  Provinz  Afrika  sowohl, 
wie  auch  in  handelspolitischer  Beziehung,  zunächst  Utika, 
welches  an  Reichtum  und  Handelsverkehr  eine  Zeitlang  sogar 
mit  Rhodos  und  Alexandria  wetteifern  konnte.  Aber  auch 
Karthago  erhob  sich  später  wieder  aus  seinen  Trümmern. 
Zwar  scheiterte  122  vor  Chr.  der  Versuch  des  Cajus  Gracchus, 
eine  Kolonie  auf  der  historischen  Stelle  anzulegen,  Julius 
Caesar  dagegen  und  nach  ihm  Augustus,  der  Karthago  29 
vor  Chr.  zur  Hauptstadt  der  Prokonsularprovinz  Afrika  erhob, 
führten  das  Unternehmen  mit  Erfolg  durch,  und  trotz  des 
Fluches,  den  einst  Scipio  über  die  rauchenden  Trümmer  der 
Phönikerstadt  ausgesprochen,  erfreute  sich  die  neue  römische 
Pflanzstadt  an  ihrer  Stelle  jahrhundertelang  einer  so  schönen 
Blüte,  daß  sie  nebst  Alexandria  die  zweite  Stelle  im  Reiche 
neben  Rom  einnahm.  Bildete  doch  die  Provinz  Afrika  eine 
der  reichsten  Kornkammern  Italiens,  das  seinerseits  Ströme 
von  Gold  und  seine  Kultur  zurückfließen  ließ.  Das  Land 
war  damals  wald-  und  quellenreicher  als  jetzt,  und  alle 
Wässer  wurden  geschickt  für  den  Ackerbau  ausgenutzt.  Die 
persönlichen  Besuche  Hadrians  in  Afrika  122  und  125  nach 
Chr.  veranlaßten  den  Bau  des  132  km  langen  Aquädukts 
von  Karthago  und  einer  Heerstraße  von  da  nach  Theveste 
(Tebessa);  aber  auch  an  vielen  anderen  Orten  geben  zahl- 
st 


—     116     — 

reiche  Ruinen  schöner  Tempel,  Paläste,  Amphitheater  und 
Wasserleitungen  noch  heute  Zeugnis  für  eine  blühende  Kultur 
unter  Römerzeit;  am  eindruckvollsten  darunter  ist  wohl  das 
großartige  Amphitheater  zu  El  Dschemm,  dem  alten  Tysdrus, 
halbwegs  zwischen  Sfax  und  Susa.  In  Karthago  mündeten 
die  wichtigsten  Straßen  des  Landes,  und  zwar  führten  deren 
zwei  nach  Hippo  Regius,  die  eine  dem  Meere,  die  andere 
dem  Medscherda  entlang,  ferner  die  schon  genannte,  275  km 
lange,  im  Jahre  123  beendete  wichtige  Militärstraße  nach 
Theveste  und  eine  823  km  lange  Straße  von  Karthago  nach 
Leptis  Maior;  dazu  traten  zwischen  den  einzelnen  Haupt- 
plätzen zahlreiche  weitere  Straßen,  welche  die  allgemeine 
Sicherheit  und  die  pax  romana  wesentlich  förderten.  Stein- 
platten und  Ruinen  von  Brücken  und  Dämmen  finden  sich 
heute  noch  vielfach  als  Reste  der  alten  römischen  Kunst- 
straßen. Der  Handel  ging  schon  damals  hauptsächlich  in 
die  Hände  der  Juden  über.  Die  Provinz  Afrika  propria 
umfaßte  das  nach  dem  Stamme  der  Zaneken  benannte 
Zeugitana  mit  dem  Hauptort  Zeugis  (heute  Saghuan),  und 
das  südlich  davon  gelegene,  nach  den  Ghyzanten  benannte 
Bysacea  oder  Emporia  mit  dem  Hauptort  Hadrumetum 
(Susa), 

Als  das  Christentum  seinen  Siegeszug  durch  Nord- 
afrika antrat,  fand  es  auch  in  Tunesien  eine  gute  Stätte,  und 
Karthago  war  einer  der  berühmtesten  Bischofssitze  Afrikas. 

439  von  den  Vandalen  unter  Geiserich  erstürmt, 
bildete  Karthago  dann  fast  ein  Jahrhundert  hindurch  die 
Hauptstadt  des  Vandalenreichs,  bis  sie  533  durch  Belisar 
in  das  oströmische  Reich  einverleibt  und  von  dem  sieg- 
reichen Feldherrn  seinem  Kaiser  zu  Ehren  Justiniana  ge- 
nannt wurde.  Aber  auch  die  Herrschaft  der  Byzantiner  sollte 
nicht  lange  währen.  Zunächst  warf  sich  der  Statthalter  von 
Kaiser  Heraklius   in  Nordafrika,    der  Patrizier  Gregorius, 


—     117     — 

mit  Hülfe  der  Eingeborenen  als  Selbstherrscher  auf  und 
residierte  zu  Suffetula  (jetzt  Sbeitia)  in  Süd-Tunesien;  als 
aber  der  erste  Ansturm  der  Araber  von  Osten  her  erfolgte, 
unterlag  Gregorius  648,  trotz  seines  Heeres  von  120  000 
Mann,  nahe  seiner  Hauptstadt  dem  Feldherrn  Abdallah  Ben 
Saad,  der  mit  ungeheurer  Beute  noch  einmal  nach  Ägypten 
zurück  zog.  Ein  zweiter  Einbruch  der  Araber  unter  Okba 
führte  670  zur  Eroberung  von  Biserta  und  zur  Gründung 
der  neuen  Hauptstadt  Kairuan  im  Hinterland  von  Susa,  und 
nachdem  die  vereinigten  Berber  noch  einmal  mit  Zusammen- 
fassung aller  Kräfte  die  Araber  bis  in  die  Cyrenaika  zurück- 
geworfen, unterlagen  sie  schließlich  dem  Heerführer  Hassan 
Ihn  Noman,  der  697  auch  das  bislang  noch  von  den  Byzan- 
tinern gehaltene  Karthago  einnahm,  und  dessen  Nachfolger, 
Musa,  die  Unterwerfung  Nordafrikas  vollendete,  um  es  als- 
dann als  Statthalter  des  Khalifen  von  Kairuan  aus  zu  ver- 
walten. Anstelle  des  zunächst  200  Jahre  öde  liegenden 
Karthagos  aber  trat  für  Handel  und  Verkehr  das  bisher  un- 
bedeutende Tunis. 

Kairuan,  bis  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  immer 
eine  der  angesehensten  Städte  des  ganzen  afrikanischen 
Westens  und  der  mohammedanischen  Welt  überhaupt,  blieb 
nicht  nur  unter  den  Statthaltern  der  Khalifen  Hauptstadt 
Ifrikijas,  sondern  zunächst  auch  noch  unter  den,  im  Jahre 
800  zur  selbständigen  Herrschaft  gekommenen  Aglabiden, 
deren  letzter  die  Residenz  allerdings  nach  Tunis  verlegte. 
Auch  Obeid  Allah,  der  sich  selbst  Mahdi,  d.  h.  „Führer"  der 
Gläubigen  nannte  und  909  die  Dynastie  der  Fatimiden 
gründete,  welche  ganz  Nordafrika  unter  ihre  Herrschaft 
brachte,  beließ  die  Residenz  in  dem  zentral  gelegenen 
tunesischen  Gebiet,  verlegte  sie  aber  nach  dem  von  ihm 
gegründeten  Mahadi,  dem  alten  römischen  Aphrodisium, 
etwas  südlich  von   Tunis.     Auch   die  Stelle   des   alten   Kar- 


—     118     — 

thagos  erfuhr  unter  dem  ersten  Fatimiden  ein  kurzes 
Wiederaufleben. 

Die  massenhaften  Einfälle  der  arabischen  Hiladiden 
Mitte  des  11.  Jahrhunderts  brachten  in  den  zentralen  und 
südlichen  Teil  Tunesiens  anstelle  einer  teilweise  seßhaften 
Bevölkerung  ein  räuberisches  Hirtenvolk,  welches  die  frucht- 
baren Felder  und  reichen  Olivenhaine  in  Weiden  umwandelte 
und  erst  nach  jahrhundertelangen  Kämpfen  von  den  Herr- 
schern Tunesiens  unterworfen  werden  konnte.  Diese  dritte 
arabische  Einwanderung  führte  mehr,  als  die  beiden  ersten, 
fast  rein  militärischen,  zur  Verschmelzung  mit  den  ein- 
heimischen berberischen  Nomaden,  derart,  daß  Stämme  rein 
arabischen  Blutes  in  Tunesien  heute  selten  sind. 

Seit  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  war  auch  Tunesien 
von  der  marokkanischen  Dynastie  der  Almohaden  be- 
herrscht, und  unter  ihnen  wurde  Tunis  die  Hauptstadt  von 
Ifrikija,  aber  bereits  1206  wurden  sie  hier  durch  den  Berber 
Abu  Hafis  verdrängt,  welcher  die  bis  1574  dauernde  Dy- 
nastie der  Hafiden  begründete;  auch  Ostalgerien  wurde 
1240  mit  Tunesien  vereinigt.  In  der  allgemeinen  Geschichte 
tritt  Tunesien  während  der  nächsten  Jahrhunderte  nur  noch 
einmal  hervor,  als  König  Ludwig  IX.  von  Frankreich  im 
Jahre  1270  den  letzten  Kreuzzug  gegen  Tunis  unternahm, 
aber  bei  dessen  Belagerung  im  gleichen  Jahre  starb,  ifri- 
kija mit  Kairuan  und  Tunis  aber  wurde  durch  die  Mauren 
zu  einem  Horte  morgenländischer  Kunst  und  Wissenschaft 
und  war  das  blühendste  der  nordafrikanischen  Reiche.  Daß 
es  dem  Seeraub  nicht  fremd  blieb,  verstand  sich  damals 
von  selbst. 

Als  die  türkischen  Korsaren  unter  Horuk  Bar- 
barossa um  1510  im  Mittelmeer  erschienen,  gelang  es 
ihnen  durch  reiche  Geschenke  von  Schätzen  und  Sklaven 
aus  dem  erbeuteten  Raub  Mulei  Mohammed,  den  damaligen 


—      119     - 

Herrscher  Tunesiens,  für  sich  zu  gewinnen,  und  dieser  ge- 
stattete ihnen  sogar,  sein  Land  als  Stützpunkt  für  ihre  Raub- 
fahrten zu  benutzen;  freihch  hatte  er  sich  damit  gefährliche 
Gäste  geladen.  Nachdem  die  Korsaren  sich  einmal  in  Algier 
festgesetzt,  kam  die  Reihe  auch  an  das  Nachbarland.  1534 
bemächtigte  sich  Cheireddin,  indem  er  zunächst  geschickt 
Thronstreitigkeiten  in  der  Hafiden- Familie  ausnutzte,  ver- 
räterischerweise selbst  der  Herrschaft,  besetzte  und  verstärkte 
Tunis  und  Goletta,  welch  letzteres  er  als  Hauptarsenal  und 
Flottenstation  einrichtete,  legte  eine  türkische  Garnison  nach 
der  heiligen  Stadt  Kairuan  und  verleibte  Tunesien  namens 
der  Türkei  seinem  Paschalik  Algerien  ein.  \^on  Mulei  Hassan, 
dem  vertriebenen,  seit  1525  herrschenden  Hafiden -Fürsten 
zu  Hülfe  gerufen,  erschien  1535  Kaiser  Karl  V.  selbst  mit 
einer  stattlichen  Flotte  von  500  Schiffen  und  30000  Mann, 
landete  bei  Karthago,  nahm  im  Juli  1535  Tunis  und  Goletta 
ein  und  befreite  dabei  20000  Christenklaven.  Mulei  Hassan 
wurde,  als  spanischer  Vasall,  wieder  in  Tunis  eingesetzt, 
unter  der  Bedingung,  in  seinem  Gebiete  die  Christensklaverei 
abzuschaffen,  freie  Religionsübung  zu  gestatten,  alle  seine 
Häfen  den  Piraten  zu  verschließen  und  den  Spaniern  das 
alleinige  Recht  der  Korallenfischerei  zu  überlassen.  Spanien 
behielt  die  Zitadelle  von  Tunis  und  Goletta  besetzt,  die 
Flotte  nahm  auf  ihrem  Rückweg  auch  noch  Biserta  und 
Böne  ein,  und  Karthago  wurde  von  den  Spaniern  end- 
gültig zerstört. 

Der  bei  seinen  eigenen  Untertanen  verhaßte  Mulei 
Hassan  aber  konnte  wiederholte  Aufstände  der  größeren 
Küstenstädte  Kelibia,  Susa,  Monastir  und  Sfax,  die  sich 
1540  41  unter  den  Schutz  von  Dragut,  einem  ehemaligen 
Unterbefehlshaber  Cheireddins  gestellt,  nur  mit  Hülfe  der 
Spanier  unterdrücken,  und  schließlich  von  seinem  eigenen 
Sohn    Mulei    Hamid    bekämpft    und    1542    geblendet,    starb 


-     120    — 

er  bald  darauf  in  Europa,  wohin  er  sich  zurückgezogen 
hatte. 

Nachdem  die  Türken  im  Jahre  1570  von  Algerien  aus 
Tunis  besetzt  hatten  und  der  letzte  Hafide,  Mulei  Hamid, 
wiederum  spanische  Hülfe  anrief,  wurde  Tunis  1573  aller- 
dings noch  einmal  von  Don  Juan  d'  Austria  genommen, 
der  sich  hier  ein  eigenes  Königreich  gründen  wollte,  aber 
sein  Halbbruder,  der  mißtrauische  Philipp  II.  von  Spanien, 
rief  ihn  ab  und  ließ  es  ruhig  geschehen,  daß  der  türkische 
Admiral  Sinan  Pascha,  der  im  September  1573  die  Zitadelle 
von  Tunis  nahm,  in  Tunesien  eine  Verwaltung  im  Namen 
der  Pforte  organisierte  und  das  ganze  Land  im  Jahre  1574 
als  Lehnsmann  der  Pforte  in  Besitz  nahm.  Die  türkische 
Miliz  wählte  von  jetzt  ab  als  Inhaber  der  höchsten  Gewalt 
einen  Dei.  Schon  unter  dem  dritten,  Kara  Osman,  be- 
mächtigte sich  der  Bei  (=  Herr,  anfangs  nur  ein  mit  Ein- 
treibung der  Steuern  und  des  Tributs  beauftragter  Beamter) 
Murad  der  öffentlichen  Gewalt  und  machte  dann  dieselbe 
in  seiner  Familie  erblich,  den  wählbaren  Dei  in  gänzlicher 
Abhängigkeit  haltend. 

Murad  Beis  Nachkommen  regierten  über  100  Jahre 
und  vergrößerten  ihre  Macht  durch  Eroberungen  auf  dem 
Festland  und  durch  Seeraub.  Doch  mußten  sie  die  Ober- 
herrschaft des  Deis  von  Algier  durch  Tributzahlung  aner- 
kennen. Um  eine  lange  Schuldrechnung  mit  den  tunesischen 
Piraten  zu  begleichen,  verbrannte  der  englische  Admiral  Blake 
1665  in  dem  jetzt  ganz  versandeten  Hafen  von  Porto  Farina 
9  große  Raubschiffe,  und  seine  Kanonen  zerstörten  die  Be- 
festigungen des  Ortes;  da  die  Operationen  aber  nicht  fort- 
gesetzt wurden,  hinterließen  sie  keine  Besserung  der  Zu- 
stände. Die  offiziellen  Beziehungen  mit  Frankreich  waren 
meist  gute,  und  ein  1685  mit  diesem  auf  100  Jahre  abge- 
schlossener  Vertrag    räumte    dem    französischen    Konsul    in 


d 


—     121     — 

Tunis  den  X'orrang  vor  allen  anderen  ein.  1689  bemächtigte 
sich  Schaban.  Dei  von  Algier,  Tunesiens,  und  die  bis  zu 
Anfang  des  IS.  Jahrhunderts  dauernden  Feindseligkeiten 
zwischen  den  beiden  Nachbarländern  wurden  erst  auf  Ver- 
anlassung der  Pforte  eingestellt. 

Die  jetzige  Dynastie  von  Tunis  begann  1705  mit 
Hussein  Ben  Ali,  dem  Sohn  eines  Korsen  und  einer  Maurin, 
dem  Lieblingskapitän  der  türkischen  Miliz,  und  ihre  Geschichte 
bildet  eine  Reihe  von  Palastrevolutionen,  Janitscharenauf- 
ständen  und  Hofintriguen.  Das  Verhältnis  zwischen  Algerien 
und  Tunesien  war  auch  jetzt  noch  oft  unfreundlich,  Dei 
Baba  Ali  von  Algier  ließ  1757  sogar  Tunis  einnehmen  und 
plündern,  und  unter  Hammuda  Bei  (1782—1814)  gab  es 
endlose  Streitigkeiten  mit  den  europäischen  Staaten  und  mit 
Nordamerika,  die  man  gleichmäßig  zu  brandschatzen  trachtete. 

Die  neue  Zeit  begann  auch  für  Tunesien  damit,  daß 
1815  der  amerikanische  Kommodore  Decatur  und  1816 
Lord  Exmouth  die  Abschaffung  der  Christensklaverei  und 
des  Seeraubs  erzwangen,  was  freilich  nicht  hinderte,  daß 
tunesische  Piraten  noch  1817  ein  Bremer  Schiff  im  Ärmel- 
kanal nahmen.  Aber  auch  mit  Frankreich  sollte  es  Tu- 
nesien nach  der  Eroberung  Algeriens  durch  die  Franzosen 
bald  zu  tun  bekommen,  da  es  anfangs  Abd  el  Kader  unter- 
stützte. Schon  am  8.  August  1830  wurde  Tunis  zu  einem 
Vertrag  gezwungen,  in  dem  es  die  Abschaffung  des  See- 
raubs und  der  Christensklaverei,  die  Abtretung  der  Insel 
Tabarka  und  die  Zahlung  einer  Summe  von  800000  Francs 
an  Frankreich  zugestand.  Allerdings  hatte  der  Bei  dabei  die 
geheime,  von  französischer  Seite  genährte  Hoffnung,  daß 
man  ein  Mitglied  seines  Hauses  als  Dei  von  Algerien  ein- 
setzen werde. 

Sidi  Mustafa  Bei,  der  1835  37  seinem  Bruder  Sidi 
Hussein  (1824—35)  folgte,  verwendete  beträchtliche  Summen 


—     122     — 

auf  die  Erweiterung  seiner  Militärmacht,  ward  aber  von  der 
Pforte  durch  Intervention  der  Großmächte  gezwungen,  sein 
Heer  von  25  000  auf  15  000  Mann  zu  reduzieren  und  jähr- 
hch  einen  Rechenschaftsbericht  über  den  Stand  der  Finanzen 
abzulegen. 

Sein  Sohn  und  Nachfolger  Sidi  Achmed  (1837 — 55) 
dagegen  lehnte  sich,  als  die  Pforte  ihre  Oberherrschaft  wirk- 
samer zu  machen  suchte,  enger  an  Frankreich  an,  schickte 
den  1845  von  Konstantinopel  gesandten  Statthalter  einfach 
zurück  und  reiste  1846  selbst  nach  Frankreich,  dessen 
Kultur  er  dann  in  Äußerlichkeiten  daheim  einzuführen  suchte. 
Mit  Hülfe  seines  Ministers,  des  italienischen  Chevaliers  Ruffo, 
suchte  er  Hofstaat  und  Land  zu  europäisieren,  und  nachdem 
er  schon  1842  der  Sklaverei  ein  Ende  bereitet,  hob  er  1846 
auch  den  Sklavenhandel  auf.  Während  des  Orientkrieges 
verstand  er  sich  1854  zu  bedeutenden  Hülfsleistungen  an 
die  Pforte. 

Ihm  folgte  1855 — 59  sein  Vetter,  Husseins  ältester 
Sohn  Sidi  Mohammed,  mit  dem  Beinamen  „der  Präch- 
tige", ein  Herrscher  mit  einem  Harem,  wie  es  wohl  seit 
Salomons  Tagen  nicht  mehr  erlebt  wurde,  und  einer  Ver- 
schwendungssucht, die  den  von  Achmed  hinterlassenen  Staats- 
schatz von  120  Millionen  Francs  bald  aufbrauchte.  Eine 
im  Juni  1857  ausbrechende  Judenverfolgung  veranlaßte  die 
europäischen  Konsule  zur  Intervention,  und  es  kam  hierauf 
am  9.  September  1857  unter  dem  Beistand  des  englischen 
und  des  französischen  Generalkonsuls,  deren  Rivalität  immer 
deutlicher  in  Erscheinung  trat,  eine  liberale  Gesetzgebung  und 
Verwaltungsorganisation  zustande.  Am  23.  September  1859 
starb  Sidi  Mohammed  und  sein  Bruder  und  Nachfolger 

Mohammed  es  Sadok  (1859—82)  gab  im  April  1861 
dem  Lande  sogar  eine  konstitutionelle  Verfassung.  Diese 
Neuerungen    fanden    allerdings    nur    bei    den    Christen    und 


-     123     — 

Juden  gute  Aufnahme,  während  die  Araber,  die  Mauren  und 
die  Kabilen  der  Gebirge  sich  dagegen  erklärten  und  sich 
empörten,  als  der  Bei  die  Kopfsteuer  auf  das  doppelte,  von 
36  auf  12  Piaster,  erhöhte.  Sadok  sah  sich  deshalb  im 
April  1864  genötigt,  die  Verfassung  aufzuheben  und  die 
Kopfsteuer  wieder  herabzusetzen.  Als  Tunis  Angst  vor 
seinem  westlichen  Nachbar  bekam,  sich  deshalb  mehr  an 
die  Pforte  anschließen  und  diese  1864  einem  Statthalter  mit 
Leibgarde  schicken  wollte,  protestierte  Frankreich  mit  der 
Drohung,  jede  Einmischung  der  Türkei  in  Tunis  als  Friedens- 
bruch zu  betrachten.  Der  neue  Bei  entfaltete  inzwischen 
einen  übermäßigen  Glanz,  ahmte  ohne  Anlaß  die  Ein- 
richtungen der  Großstaaten  nach  und  machte  seinen  Hof 
geradezu  zu  einem  Dorado  für  zweideutige  europäische 
Existenzen:  Abenteurer,  Intriganten  und  Schmarotzer  aller 
Art.  Die  großen  Kosten  seiner  Regierung,  die  er  habgierigen 
Günstlingen  überließ,  beschaffte  er  durch  Anleihen,  deren 
Erträge  nur  zum  geringsten  Teil  in  die  Staatskasse  flössen, 
deren  Verzinsung  aber  einen  verderblichen  Steuerdruck  not- 
wendig machte.  Hatte  man  doch  1862  zunächst  den  Weg 
inländischer,  1863  aber  den  bedenklichen  Weg  der  euro- 
päischen Anleihen  betreten,  indem  man  die  ersten 
1400  000  C  zu  nur  12  "„  p.  a.  durch  die  Bankhäuser 
Oppenheim  und  Erlanger  aufnahm,  und  schon  1865  folgte 
eine  zweite,  1867  eine  dritte  Anleihe.  Dabei  wurde  das 
schlechtverwaltete  Land  in  den  Jahren  1864-68  noch  durch 
Dürren,  Cholera  und  Hungertyphus  schwer  heimgesucht. 
Der  Bei  mußte  endlich  die  Zinszahlung  der  von  1 1  Millionen 
in  1860  auf  169  Millionen  Francs  in  1869  angewachsenen 
Staatsschulden  einstellen,  und  dies  gab  1869  den  Anlaß  zu 
einer  Einmischung,  welche  die  ganze  Verwaltung  Tunesiens 
und  namentlich  deren  finanziellen  Teil  in  vollkommene 
Abhängigkeit  von   Frankreich   zu   bringen  strebte,    das  die 


—     124     — 

Mehrzahl  der  Schuldtitel  in  seinen  Besitz  gebracht  hatte. 
Unter  Mitwirkung  der  ebenfalls  dort  interessierten  Mächte 
England,  Italien  und  Preußen  kam  dann  eine  Art  von  euro- 
päischer Kontrolle  über  die  tunesischen  Finanzen  zustande, 
und  es  wurde  durch  Abtretung  der  Zolleinnahmen  für  die 
Verzinsung  der  auf  125  Millionen  Francs  reduzierten  Staats- 
schuld Sorge  getragen;  die  Zinsrate  selbst  wurde  auf  5  % 
herabgesetzt,  die  freilich  meist  nicht  voll  bezahlt  wurden. 

Das  Verhältnis  von  Tunis  zur  Pforte  aber  ward  auf 
Betreiben  des  Ministers  Mustapha  Khasnadar  während  Frank- 
reichs Ohnmacht  nach  dem  deutsch  -  französischen  Kriege 
durch  Ferman  vom  25.  Oktober  1871  so  geregelt,  daß  der  Sultan 
auf  den  Tribut  ganz  verzichtete  und  der  Familie  des  Bei 
erbliche  Regierung  mit  Erstgeburtrecht  zugestand,  der  Bei 
dagegen  die  Oberhoheit  der  Pforte  anerkannte  und  sich  ver- 
pflichtete, ohne  deren  Erlaubnis  keinen  Krieg  zu  führen  und 
in  keine  diplomatischen  Verhandlungen  mit  dem  Ausland 
einzutreten.  Frankreich  erhob  gegen  dieses  Abkommen 
formellen  Protest  und  erkannte  die  Oberhoheit  der  Türkei 
über  Tunesien  nicht  an ,  dagegen  wußte  der  Bei  England 
und  Italien  gegen  Frankreich  einzunehmen  und  die  Rivalität 
unter  diesen  drei  Großmächten  geschickt  in  seinem  eigenen 
Interesse  auszunutzen.  1877  schickte  der  Bei  dem  Sultan 
ansehnliche  Hülfsmittel  an  Truppen  und  Geld  für  den  Krieg 
gegen  Rußland,  während  die  Mißwirtschaft  im  Innern  unter 
den  Ministern  Cheireddin  und  Mustapha  ben  Ismail  immer 
ärger  wurde. 

Unter  den  Ausländern  hatten  inzwischen  die  Italiener 
immer  größere  Bedeutung  erlangt,  und  selbst  die  italienische 
Regierung  suchte  sich,  wenn  auch  verschleiert,  in  Tunis  fest- 
zusetzen, dadurch  daß  sie  1880  die  italienische  Dampfer- 
gesellschaft Rubattino  bewog,  die  1871  konzessionierte, 
ursprünglich  englische  Eisenbahnlinie  tunis-Goletta  in  hartem 


—     125     — 

Wettbewerb  mit  der  französischen  Eisenbahngesellschaft  Böne- 
Quelma  zu  erwerben.  Befürchtungen,  daß  Italien  auch  po- 
litisch den  Franzosen  in  Tunis  zuvorkommen  könnte,  veran- 
laßten  das  Kabinett  Ferry  1881,  einen  Einfall  der  räuberischen 
Krumirs  in  algerisches  Gebiet  zum  erwünschten  V'orwand  zu 
nehmen,  um  in  Tunesien  einzurücken  und  das  Land,  wie  es 
in  einer  an  die  Großmächte  gerichteten  Note  hieß,  zu  „pazi- 
fizieren".  Am  24.  April  1881  überschritt  ein  franzö- 
sisches Heer  von  30  000  Mann  ohne  Kriegserklärung  und 
trotz  des  Protestes  des  Beis  und  der  Pforte  die  Grenze, 
zwang  die  mit  Hülfe  der  Flotte  eingeschlossenen  Krumirs 
zur  Ergebung,  besetzte  den  strategisch  wichtigen  Hauptpunkt 
A'in  Draham  und  rückte  gegen  Tunis  vor,  wo  General 
Bre'art  dem  machtlosen  Bei  nur  zwei  Stunden  Zeit  gab,  um 
sich  zu  unterwerfen.  In  diesem,  unter  dem  Drucke  der 
Gewalt  im  Schlosse  Kassar  Said  im  V'illenvorort  La  Manuba 
geschlossenen,  sogenannten  Bardo-Vertrag  vom  12.  Mai  1881 
übertrug  der  Bei  seine  Regierungsgewalt  auf  die  Franzosen 
und  verzichtete  auf  das  Recht,  mit  den  Vertretern  fremder 
Staaten  Verträge  abzuschließen,  wogegen  seiner  Familie  die 
Nachfolge  in  der  Herrschaft  verbürgt  wurde.  Das  bedeutete 
also,  wenn  auch  nicht  mit  nackten  Worten,  so  doch  tatsäch- 
lich die  Erklärung  der  französischen  Schutzherrschaft  über 
Tunesien  und  einen  ersten  großen  Erfolg  der  auswärtigen 
Politik  nach  den  schweren  Niederlagen  von  187071.  Freilich 
nahm  man  diese  Besitzergreifung  nicht  überall  im  Lande 
ruhig  hin,  sondern,  entflammt  durch  die  Erfolge  Bu  Amemas 
in  Algerien,  erhob  sich  auch  der  ganze  Süden  Tunesiens 
gegen  die  Fremdherrschaft,  ein  Aufstand ,  der  durch  die  Er- 
oberung von  Susa,  Sfax,  Gabes  und  Kairuan  seitens  der 
Franzosen  allerdings  sehr  bald  und  ohne  große  Mühe  nieder- 
geschlagen wurde.  Hatte  Frankreich  bei  Beginn  der  Expe- 
dition erklärt,  daß  es  die  Besetzung  nur  vorübergehend 


—     126     — 

und  im  Interesse  der  Sicherheit  der  algerischen  Grenze  vor- 
nehme, so  war  nun  ein  „Grund"  mehr  zum  Bleiben  geliefert, 
die  Verwaltung  des  Landes  wurde  durch  Dekret  vom  22.  April 
1882  nach  französischem  Muster  organisiert,  die  Hauptämter 
wurden  mit  Franzosen  besetzt,  und  der  seit  1875  amtierende 
französische  Generalresident  Theodor  Roustan,  der  eigent- 
liche Organisator  des  Staatsstreichs,  war  als  Präses  des 
Ministerrats  und  gleichzeitiger  Minister  des  Äußern  der 
wirkliche  Herr  des  Landes. 

Am  28.  Oktober  1882  starb  Sidi  Sadok  und  ihm  folgte 
sein  Bruder  Sidi  Ali  Pascha  (1882  — 1902),  der  in  einem 
Ergänzungsvertrag  vom  8.  Juni  1883  der  französischen  Re- 
gierung Vollmacht  zu  allen  Reformen  und  zur  Regelung  der 
Finanzen  gab;  in  diesem  Vertrage  von  La  Marsa  ist  zum 
ersten  Male  auch  offiziell  das  Wort  „Protektorat"  gebraucht. 
Der  Bei  behielt  eine  jährliche  Zivilliste  von  fast  1  ^  4  Millionen 
Francs.  Durch  eine  kluge  Verwaltung  verstanden  die  Fran- 
zosen Vertrauen  bei  den  Eingeborenen  zu  gewinnen,  und 
die  über  100  000  Moslims,  welche  mit  ihren  Herden  nach 
der  französischen  Eroberung  Süd -Tunesiens  vor  den  „Feinden 
ihres  Glaubens  und  ihrer  Rasse"  nach  Tripolitanien  geflohen 
waren,  kamen  fast  ausnahmslos  zurück  und  unterwarfen  sich. 
Tunesien  aber  entwickelte  sich  unter  französischer  Führung 
rasch  zu  einem  blühenden  Schutzgebiet,  da  mit  Aufschließung 
des  Landes  tatkräftig  und  zielbewußt  vorgegangen  wurde  und 
sich  französisches  Kapital  für  zivilisatorische  Arbeiten  nicht 
zurückhielt.  Man  begann  mit  dem  Bau  von  Straßen  und 
Eisenbahnen,  dem  Ausbau  der  Häfen,  besonders  des  wich- 
tigen Flottenstützpunktes  Biserta,  der  Anlage  von  artesischen 
Brunnen  und  Schaffung  von  Oasen  in  Süd -Tunesien,  be- 
sonders im  Gebiet  von  Gabes,  der  Einrichtung  von  Acker- 
bauschulen usw. 


d 


—     127     — 

Die  Kapitulationen  und  die  Konsulargerichts- 
barkeit wurden  zwar  schon  1883 — 1884  abgeschafft,  aber 
die  Handelsverträge  mit  den  fremden  Staaten  waren 
noch  in  Geltung,  und  mit  Ungeduld  wartete  Frankreich  auf 
deren  Ablaufen,  um  seine  handelspolitische  Lage  im  Schutz- 
gebiet auf  eine  Vorzugsbasis  bringen  zu  können.  Nach 
langen  Unterhandlungen  gelangte  Frankreich  denn  auch  zu 
Spezialverträ.iJen  mit  10  Staaten,  zunächst  mit  Öster- 
reich-Ungarn am  20.  Juli  1896,  dann  mit  Italien,  das 
von  Frankreichs  Eingriff  in  Tunesien  am  peinlichsten  berührt 
worden  war,  am  2S.  September  1896,  mit  Deutschland  am 
18.  November  1896,  mit  England  am  18.  September  1897. 
Letzteres  verzichtete  auf  sein  „ewiges"  Meistbegünstigungs- 
recht und  begnügte  sich  mit  einer  40jährigen  Verlängerung 
desselben,  das  es  Frankreich  gegenüber  überhaupt  fallen  ließ 
und  empfing  als  Entgeld  eine  Zollbegünstigung  seiner  Baum- 
wollwaaren,  des  wichtigsten  aller  Einfuhrartikel,  die  bis  zum 
Ende  des  Jahres  1912  mit  keinem  höheren  Zoll  als  5  % 
vom  Werte  im  Landungshafen  belegt  werden  dürfen.  Auch 
Italien  erhielt  kleine  Vergünstigungen,  deren  wichtigste  be- 
stimmt, daß  die  Italiener  in  Tunesien  dieselben  Rechte,  wie 
Franzosen  und  Eingeborene  genießen,  und  daß  die  in  Tu- 
nesien einzuführenden  Zölle  bis  zum  1.  Oktober  1905  den 
französischen  Minimaltarif  nicht  übersteigen  sollen. 

Die  mit  dem  1.  Januar  1898  in  Kraft  tretenden  neuen 
Konventionen  bedeuteten  eine  wichtige  Wandlung,  da 
Frankreichs  besondere  politische  und  handelspolitische 
Stellung  als  Schutzmacht  Tunesiens  nunmehr  erst  allgemein 
anerkannt  war.  Frankreich  hat  das  Meistbegünstigungsrecht 
sämtlichen  anderen  fremden  Mächten  gegenüber,  doch  kann 
eine  Zollunion  der  Regentschaft  mit  Frankreich  solange 
nicht  zustande  kommen,  als  die  Regentschaft  ihr  eigenes 
Budget    besitzt    und    ihre    wirtschaftlichen    und    politischen 


-     128     — 

Verhältnisse  auf  Grundlage  der  bestehenden  Verträge  von 
jenen  Frankreichs  verschieden  sind. 

Ein  Abkommen  zwischen  Frankreich  und  Nord- 
amerika, worin  letzteres  auf  die  Geltendmachung  seiner 
Verträge  von  1797  und  1824  mit  dem  Bei  von  Tunis  ver- 
zichtete und  keine  anderen  Rechte  in  Anspruch  nimmt,  als 
die  in  seinen  Verträgen  mit  Frankreich  begründeten,  wurde 
erst  im  Mai  1904  abgeschlossen. 

Sidi  Ali  starb  am  11.  Juni  1902,  und  sein  1855  ge- 
borener Sohn  und  Nachfolger,  Sidi  Mohammed,  ist  als 
„regierender  Bei  und  Besitzer  des  Königreichs  Tunis",  auch 
nichts  anderes  als  eine  lebende  Dekoration,  ein  Werkzeug 
der  Kunst,  die  Eingeborenen  durch  ihre  natürlichen  Chefs 
zu  regieren,  damit  die  muselmännische  Bevölkerung  wenig- 
stens dem  Scheine  nach  einem  Glaubensgenossen  Untertan 
bleibe,  im  Unterschied  zu  dem  System  Algeriens,  aber  zum 
großen  Vorteil  Frankreichs. 

Wurde  Ferry  als  „Tonkinese  und  Tunese"  von  seinen 
Zeitgenossen  scharf  angegriffen,  so  hat  der  Verlauf  der 
Dinge  seine  Unternehmungen  gerechtfertigt,  und  als  Präsi- 
dent Loubet  1903  Tunesien  besuchte,  wurde  er  dort  freund- 
lich und  glänzend  aufgenommen.  Der  Bei  erwiderte  den 
Besuch  im  Juli  1904  in  Paris. 

K    \,^^t   .  Sehen  wir  uns  nun  Land  und  Leute  etwas  näher  an. 

beschreibung. 

Tunesien,  zwischen  Algerien  und  Tripolitanien  gelegen 
und  die  Nordwestecke  des  charakteristischen  Landeinschnitts 
inmitten  der  Nordküste  Afrikas  bildend,  umfaßt  ein  Gebiet, 
welches  man,  je  nachdem  man  die  unsichere  Sahara-Grenze 
zieht,  recht  verschieden,  nach  neueren  Karten  mit  167  400  qkm 
berechnet. 

Die  nichts  weniger  als  natürliche  Grenze  gegen  Algerien 
beginnt   am  Mittelmcer  bei   Kap  Roux,   umzieht  den  Schott 


—     129     — 

el  Dscherid  und  geht  dann  in  gerader  Linie  nach  der  tripo- 
h'tanischen  Grenzfestung  Ghadames,  von  wo  aus  sie  sich, 
nach  einem  stillschweigenden  Übereinkommen  mit  der  tür- 
kischen Regierung,  in  gebrochener  Linie  dem  trocknen  Fluß- 
bett des  JJed  Mogta  entlang  nach  dem  Ras  Adschir  am  Golf 
von  Gabes  zieht;  1886  ist  die  Grenze  gegen  Tripolis 
wenigstens  an  der  Küste  geordnet  worden. 

Die  rund  1300  km  lange  Küste  hat  zwei  Fronten  nach 
dem  Mittelmeer  und  ist  also  der  Erschließung  des  Landes 
günstiger,  als  dies  bei  Algerien  der  Fall  ist.  Der  verhältnis- 
mäßig hafenarme  Nordrand  ist  fast  überall  hoch,  steil  und 
felsig  und  mit  zahlreichen  wilden  und  schroffen  Vorgebirgen 
besetzt,  deren  wichtigste  das  Kap  Blanco  oder  Ras  Abiad 
—  etwas  westlich  davon  das  niedrigere  Ras  Engeiah,  das 
Nordkap  Afrikas  -  und  sodann  die  400  m  hohe  Wasser- 
scheide des  Kap  Bon  oder  Ras  Addar  bilden,  während  der 
flachgerandete,  wichtige  Golf  von  Biserta  und  die  Einbuch- 
tung des  Golfs  von  Tunis  die  wesentlichen  Landeinschnitte 
bilden.  Die  Ostküste  dagegen  ist  sandig,  flach  und  kleineren 
Fahrzeugen  fast  überall  zugänglich,  wenn  auch  hafenarm; 
der  Golf  von  Hammamet  und  der  von  Lagunen  umsäumte 
Golf  von  Gabes  oder  die  Kleine  Syrte  mit  ihrem  unfrucht- 
baren und  dünn  bevölkerten  Hinterland  bieten  nur  beständig 
der  Versandung  ausgesetzte  Reeden,  und  die  Franzosen  haben 
deshalb  künstliche  Häfen  in  Susa  und  Sfax  angelegt.  Östlich 
von  Sfax  liegen  die  zehn  niedrigen  Kerkena- Inseln,  an  der 
südlichen  Einfahrt  des  Golfs  von  Gabes  finden  wir  das  Lo- 
tophagen-Land  der  Alten,  die  fruchtbare  Insel  Dscherba;  der 
zwischen  letzterer  und  dem  tunesischen  Festland  gelegene 
Binnensee,  ein  großer,  von  zahlreichen  römischen  Ruinen 
umsäumter  Naturhafen,  ist  wahrscheinlich  der  sagenhafte 
„Tritonsee"  des  Altertums,  den  man  anderseits  aber  auch 
in  die  Schottregion  verlegt. 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  Q 


—     130     — 

Von  der  Nordküste  aus,  an  den  Kaps  Bon  und  Blanco 
beginnend,  erstreckt  sich  nach  Südwesten  hin  der  Atlas  in 
zwei  Ketten ;  beide  ziehen  in  Form  stark  verästelter  Zweige, 
sich  mehr  und  mehr  voneinander  entfernend,  zur  algerischen 
Grenze  und  erreichen  im  Mittel  600  m  im  Norden,  800  m 
im  Süden,  in  ihren  höchsten  Gipfeln  aber  nur  1375  m. 
Waldreiche  Gebirgsmassen  mit  guten  Beständen  an  Kork- 
eichen bilden  zwischen  dem  Medscherda  und  der  Nordküste 
eine  maritime  Gebirgszone,  die  am  besten  bewässert  ist; 
das  nach  Süden  zu  anstoßende  Hochland  ist  meist  plateau- 
artig und  von  einzelnen  Zügen  des  Atlas  unterbrochen; 
weiterhin  geht  das  Land  zur  Steppe  über,  die  nur  nach 
reichlichen  Niederschlägen  mehr  oder  weniger  fruchtbar  ist, 
und  an  die  sich  alsdann  die  Sahara  mit  berühmten  Dattel- 
oasen anschließt,  während  das  östliche  Küstengebiet  der 
Sahel  noch  einzelne  recht  ertragreiche  Striche  aufweist. 
Am  Wüstenrand  liegen,  teilweise  in  einer  Depression,  hinter 
dem  22  km  breiten  Isthmus  von  Gabes  die  großen  Schotts 
El  Dscherid  (+  20  m)  und  Gharsa  ( —  20  m),  welche, 
nur  durch  die  9  km  breite  Landenge  von  Toser  getrennt, 
ganz  Tunesien  quer  durchziehen,  und  auch  sonst  fehlt  es  im 
Osten  und  Süden  des  Landes  nicht  an  größeren  und  kleineren 
Sebchas. 

Die  meisten  der  von  den  quellenreichen  Bergen  herab- 
kommenden Bäche  und  Flüßchen  verlieren  sich  im  Sande 
oder  erreichen  als  Küstenflüsse  nach  kurzem  Laufe  das  Meer, 
und  auch  in  Tunesien  ist  kein  einziger  Fluß  schiffbar.  Der 
bedeutendste  ist  der  Medscherda  im  Norden,  der  in  Al- 
gerien entspringt  und  früher  als  Bagradas  der  Römer  wenige 
Kilometer  nördlich  von  Karthago,  jetzt  südlich  der  kleinen 
versandenden  Bucht  von  Porto  Farina  in  das  Mittelmeer 
mündet  und  während  der  Regenzeit  die  Uferlandschaften 
durch  seine  ausgedehnten  Schlammablagerungen   befruchtet; 


—     131     — 

nächst  ihm  sind  der  Wadi  el  Kebir  und  der  Wadi  el  Miliana 
zu  nennen.  Die  großen  Ebenen  des  Innern  sind  sehr 
wasserarm.  Im  letzten  Jahrzehnt  hat  man  an  den  ver- 
schiedensten Orten  mit  der  Anlage  von  artesischen  Brunnen 
begonnen  und  damit  ähnlich  günstige  Erfolge,  wie  in  Algerien 
erzielt.  Warme  .Mineralquellen,  Reste  früherer  vulkanischer 
Tätigkeit,  sind  über  das  Land  verstreut,  am  bekanntesten 
sind  die  von  Hammam  el  Enf  bei  Tunis  und  die  zu  Gurbos, 
Toser  und  Qafsa. 

Das  Klima  Tunesiens  ist  durch  das  Fehlen  hoher,  im  Kiima. 
Winter  mit  Schnee  bedeckter  Berge  bedeutend  milder  als  in 
Algerien;  nur  auf  den  algerischen  Grenzbergen  fällt  zuweilen 
Schnee,  der  aber  selten  länger  liegen  bleibt.  Schneefall  in 
Süd -Tunesien,  wie  er  am  29.  Januar  1905  in  Medenin  4  cm 
hoch  fiel,  war  für  die  dortige  Bevölkerung  eine  noch  nicht 
erlebte  Überraschung.  Im  übrigen  sind  auch  hier  im  allge- 
meinen drei  Zonen  zu  unterscheiden.  An  der  Küste 
herrscht  ein  gemäßigtes,  gleichförmiges  und  gesundes  Klima, 
der  Winter  dort  gleicht  unserem  Frühling,  und  im  Krumir- 
Gebirge,  dem  regenreichsten  Teile  Tunesiens,  fallen  im  Mittel 
jährlich  P-  m  Regen;  in  den  Gebirgen  und  Steppen  der 
Mittel zone  des  Innern  sind  die  Temperaturschwankungen 
bedeutend  größer,  und  der  Süden  ist  heiß  und  trocken, 
gegen  Algerien  aber  immerhin  noch  begünstigt  durch  die 
von  den  Ostwinden  aufgenommene  Meeresfeuchtigkeit,  die 
in  leichter  Tauform  einen  fördernden  Einfluß  auf  die  Vege- 
tation ausübt.  Die  größte  Hitze  fällt  in  die  Monate  Juli  bis 
September  und  der  Sommer  ist  regenarm,  während  die 
JNiederschläge  in  den  Wintermonaten  erfolgen.  Starke  Ge- 
witter, manchmal  von  Hagelschauern  begleitet,  treten  am 
häufigsten  gegen  Ausgang  des  Winters  auf  und  sind  seltener 
im  Küstengebiet  als  im  Gebirgsland;  dagegen  bringt  der 
Sommer   den  ausdörrenden  Scirocco,    der  gewöhnlich  drei 

9* 


—     132     — 

bis  fünf  Tage  weht  und  große  Staub-  und  Sandmassen  mit- 
führt.    Auch   mit   längeren  Trockenperioden,  wie  sie  z.  B. 
1897—1902  eintraten,  hat  die  Landwirtschaft  in  Tunesien  zu 
rechnen. 
Flora.  Die    Vegetation    ist    im    allgemeinen    dieselbe,    aber 

üppiger  als  die  algerische,  zeigt  an  der  Küste  mediterranen 
Charakter  mit  Chamoerops-Palmen,  Oliven,  Mandeln,  Agru- 
men, Granaten,  Tamarinden,  Johannisbrot,  Fikusarten,  Ba- 
nanen, Agaven  und  Opuntien;  in  den  Vorbergen,  Mittel- 
gebirgshöhe  nicht  überschreitend,  die  immergrünen  Büsche 
und  Sträucher  des  Maquis;  in  den  bergigen  Gebieten  dazu 
Thuyas,  Juniperus,  Aleppokiefern,  Zedern,  Stein-  und  Kork- 
eichen, Eiben,  Ulmen,  Eschen  und  wilde  Oliven.  Größere 
Bestände  davon  sind,  nachdem  alte  Waldungen  früher 
schonungslos  ausgerottet ,  niedergeschlagen  oder  abgebrannt 
wurden,  jetzt  nur  noch  etwa  100  000  ha  im  Nordwesten 
und  längs  der  algerischen  Grenze  vorhanden.  In  neuerer 
Zeit  sind  seitens  der  Regierung  zwar  lebhafte  Anstrengungen 
gemacht  worden,  die  Berglande  wieder  aufzuforsten,  und 
man  hat  mit  Erfolg  verschiedene  Sorten  Eukalyptus  einge- 
führt, doch  trifft  man  dabei  auf  große  Schwierigkeiten  durch 
die  Gleichgültigkeit  der  nomadischen  Bevölkerung  und  durch 
die  zahlreichen  Ziegenherden,  welche  die  jungen  Schößlinge 
abnagen.  Die  Dichtigkeit  der  Bewaldung  und  der  immer- 
grünen Buschvegetation  nimmt  nach  Süden  hin  allmählich 
ab,  und  nur  tief  eingeschnittene  Ueds  zeigen,  neben  zahl- 
reichen Oleanderbüschen,  eine  üppigere  Vegetation.  Die 
Charakterpflanze  der  Oasen  des  Südens  ist  die  Dattelpalme, 
die  erst  vom  34.  Breitengrad  ab  wohlschmeckendes  Fleisch 
besitzt;  dazwischen  treiben  die  Eingeborenen  fleißig  Gemüse- 
und  Obstbau.  Außerhalb  der  Oasen  freilich  ist  die  Vege- 
tation äußerst  dürftig,  weist  besonders  Salsolaceen,  Tamarisken 
und  Ginster-  oder  Retamsträucher  auf.     Westlich  von  Gafsa 


—     133    — 

im  Biled  Tliallah  befindet  sich  auch  ein  großer  Hain  von  in 
Tunesien  sonst  nirgends  vertretenen  Gummiakazien.  Den 
Übergang  von  der  östlichen  Küstenniederung  zum  Gebirgs- 
land  bildet  ein  breiter  Streifen  eines  fast  wasserlosen  Step- 
pengebiets, dessen  ausgedörrten,  durch  starke  Bestrahlung 
in  Schollen  zersprengten  Boden  Büschel  vom  starren  Gras 
der  Stipa  tenacissima  bedecken. 

Die  Tierwelt  gleicht  derjenigen  Algeriens;  von  jagd-  ^auna. 
baren  Tieren  sind  besonders  zu  nennen  der  seltene  Panther, 
sodann  Hyäne,  Schakal,  Luchs,  Fuchs,  Otter,  Wildschwein, 
Muflon ,  Hase ,  im  Süden  Gazellen  und  dazu  zahlreiches 
Wassergeflügel.  In  dem  sumpfigen  und  waldigen  Hinterland 
von  Biserta  hält  der  Bei  auch  einige  tausend  Stück  Büffel, 
die  sich  stark  vermehren  sollen. 

Von  Mineralien  sind  vertreten:  Eisenerze  bei  Ta-  Bodenschätze, 
barka  an  der  Grenze  von  Algerien  und  südwestlich  deri 
Stadt  Tunis;  Zink-  und  Bleierze  an  sehr  vielen  Stellen, 
besonders  am  Dschebel  Resas  (Bleiberg)  bei  Tunis  und  bet 
Dschebba  am  Korragebirge,  178  km  westlich  von  der  Stad 
Tunis;  Kupfer  und  Quecksilber  bei  Ouled  Sultan;  Gold 
im  Sande  von  Sidi  Bu  Said  bei  Karthago;  Phosphate  am 
Dschebel  Nasser  Allah  südlich  von  Kairuan,  bei  Gafsa, 
Kalaat  es  Senam,  Saghuan  u.  a.  O.;  Salz  an  der  Küste; 
Salpeter  bei  Kairuan  usw. 

Was  die  Bevölkerung  Tunesiens  anbelangt,  so  Bevölkerung. 
schwanken  die  Angaben  über  deren  Zahl  zwischen  900  000 
und  2  000  000,  eine  offizielle  Zählung  der  Eingeborenen  hat 
bislang  sonderbarerweise  überhaupt  noch  nicht  stattgefunden, 
da  man  sie  aus  Furcht  vor  damit  eventuell  verbundenen 
Unannehmlichkeiten  immer  hinausgeschoben  hat;  als  Ge- 
samtzahl nimmt  man  jetzt  1  820  000  an.  Etwas  besser,  aber 
auch  nicht  zuverlässig,  ist  man  über  die  Zahl  der  in  Tunesien 


-      134     - 

lebenden  Fremden  informiert,  von  denen  man  1901  an- 
nahm: 83  000  Italiener,  24  000  Franzosen  —  ausschließlich 
der  14  600  Land-  und  Marinesoldaten  —  15  000  Marokkaner, 
12  000  Anglomalteser,  je  1000  Griechen  und  Spanier  und 
1000  andere  Europäer.  Von  den  1901  gezählten  111000 
Europäern  wohnten  nicht  weniger  als  68  000  allein  in  Tunis 
und  Umgebung,  darunter  45  000  Italiener  und  12  000  Fran- 
zosen. 

Die  Eingeborenen  repräsentieren  überwiegend  eine 
Mischrasse  von  Libophönikern  und  Arabern,  wozu  an  der 
Küste  später  die  aus  Andalusien  vertriebenen  Mauren  traten, 
auch  mit  Christen-  und  Sudansklaven  fand  eine  Ver- 
mischung statt,  und  die  tunesischen  Mohammedaner  nahmen 
mehr  noch  als  die  anderen  Atlasländer  christliche  Rene- 
gaten auf.  Nur  wenige  Nomadenstämme  sind  heute  noch 
rein  arabischer  Abkunft,  und  auch  die  Berberrasse  hat 
sich  rein,  ebenso  wie  in  Algerien,  nur  auf  den  Hängen  schwer 
zugänglicher  Bergzüge  und  sodann  auf  der  Insel  Dscherba 
zu  erhalten  vermocht;  über  das  Land  verstreut,  findet  man 
eine  Menge  solcher  kleiner  Berbersiedlungen,  deren  meist 
feste  Wohnsitze  burgartig  auf  steilen  Felskuppen  angelegt 
sind.  Im  Innern  sind  weite  Gebiete  fast  menschenleer.  Der 
Hauptteil  der  Bevölkerung  führt  ein  Nomadenleben,  der 
seßhafte  Teil  ist,  mit  Ausnahme  der  Berber,  besonders  in 
den  Städten,  an  dem  Medscherda  und  an  den  Küsten  des 
Golfs  von  Hammamet  vertreten.  Der  Araber  in  Tunis 
widersteht  dem  europäischen  Einfluß  übrigens  mit  mehr 
Zähigkeit,  als  der  Eingeborene  von  Algerien,  weil  hier  ein 
starker  Mittelstand  von  Handwerkern  und  Kaufleuten 
existiert.  Der  tunesische  Araber  ist  in  der  Stadt  und  auf 
dem  Lande  arbeitsamer  als  sein  algerischer  Glaubensgenosse, 
und  er  steht  als  Ackersmann,  Gewerbetreibender  und  Händler 
wirtschaftlich  und  geistig  durchschnittlich  höher,  als  die  Masse 


I 


—     135     — 

des  in  Elend,  Armut  und  Stumpfsinn  dahinlebenden  Araber- 
tums  in  Algerien. 

Die  aus  der  Vermischung  von  Türken  und  Eingeborenen 
hervorgegangenen  Kuluglis  nehmen  besonders  in  Tunis 
recht  zahlreich  die  Stelle  der  hier  fast  ganz  verschwundenen 
Türken  ein  und  erstreben  mit  Vorliebe  Anstellung  im 
Staatsdienst. 

Die  Juden,  etwa  60  000,  welche  sich  in  die  altein- 
heimischen und  in  die  livornesischen  scheiden,  und  deren 
Stellung  schon  unter  dem  liberalen  Bei  Achmed  (1837—55) 
wesentlich  erleichtert  wurde,  haben  unter  dem  französischen 
Protektorat  auch  die  Freizügigkeit  und  Gewerbefreiheit  er- 
langt, aber  sie  unterstehen  noch  der  Gerichtsbarkeit  des  Bei 
und  können,  falls  sie  nicht  ihre  Abstammung  von  algerischen 
Juden  nachzuweisen  vermögen,  das  Recht  auf  Naturalisation 
nur  durch  fünfjährigen  Dienst  in  der  Fremdenlegion  erwerben; 
den  in  Algier  begangenen  Fehler  der  bedingungslosen  Gleich- 
stellung mit  den  Europäern  hat  man  hier  also  nicht  wieder- 
holt, und  der  Jude  ist  hier  nicht  wie  in  Algerien  durch  po- 
litische Rechte  vor  dem  Araber  bevorzugt.  Trotzdem  beginnt 
sich  der  Antisemitismus  auch  hier  bereits  zu  regen.  Die 
tunesischen  Juden  betreiben  in  erster  Linie  Handel  und  Geld- 
geschäfte, daneben  aber  auch  vielfach  Handwerke,  besonders 
die  Schneiderei;  sie  bedienen  sich  allgemein  der  Landes- 
sprache, des  Arabischen. 

Der  jüngste  Bevölkerungsteil  des  Landes  weist  die  An-  Europäer, 
gehörigen  verschiedener  europäischen,  vorwiegend  ro- 
manischen Nationen  auf,  die  sich  zunächst,  gleich  den 
Juden,  fast  ausschließlich  in  den  Küstenstädten  und  vor  allem 
in  der  Hauptstadt  Tunis  selbst  angesiedelt  haben;  manche 
dieser  Familien  sind  sogar  ganz  Orientalen  geworden  und 
nur  in  Religion  und  Tracht  noch  europäisch.  Die  ersten 
Ansiedler  waren  meist  Sizilianer  und  Malteser,  sodann  einige 


—     136     — 

geschäftslustige  Griechen;  die  Itahener  waren  aber  derartig 
in  der  Mehrzahl,  daß  bis  zur  französischen  Okkupation  das 
Italienische  die  allgemeine  Verkehrssprache  der  Frem- 
den war,  die  erst  nach  1881  durch  das  starke  Einströmen 
französischer  Elemente  durch  das  Französische  abgelöst 
wurde,  und  dieses  ist  seit  jener  Zeit  auch  die  offizielle  Ge- 
richtssprache. Bei  den  Behörden  sind  aber  auch  für  die 
arabische,  italienische  und  maltesische  Sprache  Dolmetscher 
angestellt. 

Wie  in  Algerien  die  Spanier,  so  bilden,  der  räumlichen 
Nähe  entsprechend,  in  Tunesien  auch  heute  noch  die 
Italiener,  besonders  Sizilianer,  weitaus  die  Mehrzahl  der 
Europäer;  führt  eine  Barke  den  Sizilianer  doch  für  nur  2 
bis  6  Francs  nach  Tunis  hinüber.  Da  die  eigene  Zunahme 
des  französischen  Bevölkerungselements  in  Tunesien  trotz 
aller  Förderung  seitens  der  landwirtschaftlichen  und  kolo- 
nialen Behörden  eine  verhältnismäßig  bescheidene  geblieben 
ist,  so  ist  die  starke,  von  Auswanderungsagenturen  in  Neapel 
und  Palermo  geleitete  Zunahme  der  italienischen  Einwan- 
derung —  jährlich  etwa  6500  Köpfe  —  den  Franzosen  un- 
erwünscht. Der  fremde  Kleingrundbesitz  auf  dem  Lande 
ist  überwiegend  in  italienischen  Händen,  und  im  Gegensatz  zu 
den  französischen  Kolonisten,  die  sich  im  Lande  zerstreuen, 
zeigt  die  italienische  Einwanderung,  besonders  die  der  Sizi- 
lianer, das  Bestreben,  in  der  Umgebung  fast  aller  Städte  ge- 
schlossene Hütten- Dörfer  zu  bilden;  viele  Italiener  nehmen 
auch  ein  kleines  Stück  Land  unter  Wein-  oder  Gartenkultur 
und  verkaufen  es  dann  mit  Nutzen  weiter.  Einen  kleinen 
Grundbesitz  zu  erwerben,  erstreben  alle  in  angestrengtester 
Arbeit  und  bewunderungswerter  Mäßigkeit  und  Anspruchs- 
losigkeit. Die  erdrückende  Mehrheit  der  italienischen  Be- 
völkerung freilich  ist  überhaupt  nicht  ansässig,  sondern  setzt 
sich  aus  ländlichen    und    industriellen  Arbeitern  zusammen, 


—     137     — 

die  in  Tunesien  ungefähr  die  Rolle  spielen,  wie  in  Deutsch- 
land die  polnischen  Arbeiter;  die  Sizilianer  sind  auch  vielfach 
als  Bergleute  und  Steinbrucharbeiter  tätig,  die  Erdarbeiten 
sind  beinahe  ein  italienisches  Monopol.  Neuerdings  haben 
sich  besondere  italienische  Landgesellschaften  zur  Ansiedlung 
von  Italienern  in  Tunesien  gebildet.  Die  unter  der  hohen 
Beamtenschaft  früher  zahlreich  vertretenen  Italiener  sind  jetzt 
natürlich  verschwunden. 

Die  Zahl  der  Franzosen  hat  sich  von  700  in  1880 
auf  10  000  in  1891,  16  500  in  1896  und  24  000  in  1901  ge- 
hoben, und  zwar  waren  im  Jahre  1896  nur  13  *\,  dieser 
Franzosen  im  Landbau  beschäftigt,  während  23  '\,  im  Handel, 
je  18  "(I  in  der  Industrie  und  in  der  Zivilverwaltung  tätig 
waren.  Die  französische  Regierung  gibt  sich  die  erdenk- 
lichste Mühe,  einen  größeren  Auswanderungsstrom  ihrer 
Landsleute  nach  Tunesien  zu  lenken,  hat  aber  vorwiegend 
Mißerfolge  geerntet.  Man  hat  in  verschiedenen  Städten 
Frankreichs  Auskunftsstellen  dafür  errichtet  und  macht 
rege  Propaganda  durch  die  Presse  und  durch  Rundreisen, 
welche  Beamte  der  Kolonie  zu  diesem  Zwecke  in  Frankreich 
unternehmen,  bislang  allerdings  ohne  großen  Erfolg.  Auch 
die  Schulen  hat  man  der  Kolonisation  Tunesiens  dienstbar 
zu  machen  gesucht;  in  den  Jahren  1900  und  1901  lud  der 
Generalresident  eine  Anzahl  Elementarlehrer  und  Lehrerinnen 
der  südlichen  Departements  von  Frankreich  zu  einer  Studien- 
reise in  den  besiedelungsfähigen  Teilen  der  Kolonie  ein,  da- 
mit sie  dann  in  Frankreich  Propaganda  für  die  Auswanderung 
dahin  machen  sollten,  und  anderen  Lehrern  stellte  man  lite- 
rarisches Material  zum  gleichen  Zwecke  zur  V'erfügung.  Auch 
auf  andere  Weise  hat  man  noch  versucht,  Franzosen  heran- 
zuziehen; so  versprach  im  Jahre  1900  der  Minister  der  öffent- 
lichen Arbeiten,  um  das  französische  Handwerk  zu  unter- 
stützen, den  Bauunternehmern  für  jeden  von  ihnen  beschäf- 


—     138     — 

tigten  französischen  Arbeiter  einen  Zuschlag  von  1  Franc 
Tagelohn;  das  Resultat  war  auch  dabei  freilich  fast  null. 

Der  französische  Handarbeiter,  der  5  Francs  Tagelohn 
verlangt,  kann  nicht  gegen  die  billigeren  Löhne  der  Italiener 
und  Eingeborenen  konkurrieren,  der  französische  Landwirt 
aber  entschließt  sich  nur  schwer  und  selten  zur  Auswanderung, 
und  so  bilden  die  Franzosen  nur  den  Hauptteil  der  Beamten, 
Spekulanten,  Kapitalisten  und  Aufseher  bei  den  öffentlichen 
Arbeiten  und  den  französischen  Gesellschaften  und  Fabriken. 
Jeder  Kolonist,  der  sich  ansiedelt,  kostet  allein  an  Einwan- 
derer-Reklame 2000  Francs,  und  dazu  kommen  große  Summen 
für  Anschlußwege  und  andere  Erleichterungen,  die  man  pro 
Kopf  und  Jahr  auf  durchschnittlich  3780  Francs  berechnet. 
Von  den  28  000  Franzosen  in  Tunesien  sind  nur  1624  Grund- 
besitzer mit  zusammen  rund  600  000  ha  Land;  aber  von 
diesen  sind  nur  etwa  800  wirkliche  Kolonisten  mit  einem 
Gesamtbesitz  von  nur  50—60000  ha.  Der  französische  Durch- 
schnitts-„Kolonist"  in  Tunesien  erstrebt  überwiegend  das 
Ziel,  sich  durch  eine  glückliche  Spekulation  schnell  zu  be- 
reichern und  dann  ins  Mutterland  zurückzukehren,  und  die 
bedeutendsten  französischen  „  Kolonisten "  bewohnen  Tu- 
nesien überhaupt  nicht  ständig,  sondern  nur  während  weniger 
Wochen  im  Jahre,  i*  Die  ganze  französische  „Besiedelung" 
Tunesiens  ist  mehr  Geld-  und  Landspekulation  und  trägt 
ganz  feudalen  und  großkapitalistischen  Charakter!  Das  größte 
der  in  französischem  Besitz  befindlichen  Güter,  die  vielge- 
nannte, 90  000  ha  große  Enfida,  wird  z.  B.  mit  Sizilianern 
besiedelt,  wie  auch  andere  französische  Großgrundbesitzer 
ihr  Land  im  kleinen  an  Italiener  aufteilen  oder  es  von  Ein- 
geborenen bearbeiten  lassen. 

Die  Zahl  der  Malteser  ist  zwischen  1885  und  1899 
um  15  000  Köpfe  zurückgegangen,  trotzdem  sie  durch  ihre 
Vertrautheit  mit  der  Eingeborenen  Sprache  und  Sitten  gegen 


I 


—     139     — 

andere  Einwanderer  im  V^orteil  sind.  Sie  arbeiten  in  den 
Städten  als  Kleinhändler.  Handwerker,  Kutscher,  Lastträger, 
Milchhändler  und  Fischer,  treiben  auch  Gemüse-  und  Feld- 
bau für  den  Stadtkonsum,  sind  arbeitsam,  genügsam  und 
sparsam  und  ziehen  sich  mit  einem  kleinen  V^ermögen  gern 
nach  ihrer  Heimat  zurück. 

Die  Zahl  der  Reichsdeutschen  in  Tunesien  ist  nur 
gef-ing.  Das  deutsche  Reich  unterhält  ein  Generalkonsulat 
in  Tunis,  das  auch  Tripolitanien  in  seinem  Amtsgebiet  ein- 
schließt, und  eine  Konsularagentur  in  Susa.  Seit  wenigen 
Jahren  besteht  in  Tunis  auch  ein  deutsches  Reise-  und  Jagd- 
Bureau. 

Die  Naturalisation  in  Tunesien  ist  durch  Dekret  vom 
Februar  1899  geregelt;  erforderlich  dafür  sind  im  allgemeinen 
ein  Alter  von  mindestens  21  Jahren  und  3  Jahre  Aufenthalt 
in  Tunis,  Frankreich  oder  Algerien,  letzthin  aber  in  Tunesien. 
Auf  Grund  dieses  Gesetzes  sind  von  1899  —  1903  im  ganzen 
250  Personen  mit  234  minderjährigen  Angehörigen  naturali- 
siert worden,  fast  ausschließlich  Italiener  und  Malteser. 

Die  Beziehungen  zwischen  Eingeborenen  und  Fremden  i 
sind  in  Tunesien  im  allgemeinen  freundliche. 

Das  Verwaltungssystem  Tunesiens  ist  eine  Ver-  Verwaltung 
einigung  von  Schutzherrschaft  mit  einer  gewissen  Selb- 
ständigkeit und  hat  sich  im  großen  ganzen  trefflich  be- 
währt. Nach  Möglichkeit  hat  man  die  alten  Einrichtungen 
bestehen  lassen  und  begnügt  sich  überwiegend  mit  deren 
Überwachung,  dabei  sucht  man  die  angesehenen  und  begü- 
terten eingeborenen  Familien  in  das  französische  Interesse  zu 
ziehen,  dadurch,  daß  man  sie  zur  Verwaltung  heranzog  bezw. 
darin  beließ.  Man  wünscht  dieses  Protektoratssystem  mög- 
lichst lange  aufrecht  zu  erhalten,  und  wenn  eine  gänzliche 
Angliederung  schließlich  doch  erfolgen   muß,  so  soll   diese 


—     140     — 

an  Frankreich  direkt  und  nicht  an  Algerien  erfolgen,  damit 
beide  Kolonien  unabhängig  voneinander  bleiben  und  sich 
entwickeln. 

Der  Bei  hat  nach  wie  vor  den  amtlichen  Titel  „Be- 
sitzer des  Königreichs  Tunis",  und  sämtliche  Regierungsakte 
und  die  Verleihung  der  tunesischen  Orden  geschehen  in 
seinem  Namen,  aber  der  Bei  und  seine  Regierung  können 
nichts  ohne  Zustimmung  Frankreichs  tun  und  müssen  alles 
ausführen,  was  Frankreich  will,  und  dadurch,  daß  man  dem 
neuen  Bei  im  Jahre  1902  für  die  V^erwaltung  seiner  Privat- 
domänen, seiner  Zivilliste  und  der  Krondomänen  einen  fran- 
zösischen Beamten  aufoktroierte,  stellte  man  ihn  quasi  unter 
Kuratell.  Das  Wappen  von  Tunis  zeigt  in  rotem  Felde 
eine  vom  goldenen  Halbmond  gekrönte,  grüne  goldgeränderte 
Fahne  mit  einem  silbernen  Schweifstern.  Die  Landesflagge 
zeigt  in  einem  roten  Rechteck  einen  weißen  Kreis  in  der 
Mitte,  der  einen  roten  Halbmond  und  einen  fünfzackigen 
Stern  aufweist;  die  Flagge  des  Bei  ist  horizontal  gestreift  in 
den  Farben  blau,  rot,  grün,  rot,  blau. 

Dem  Bei  zur  Seite  steht  als  Vertreter  Frankreichs  ein 
von  diesem  mit  jährlich  50  000  Francs  bezahlter  hoher  Be- 
amter, der  dem  Ministerium  des  Auswärtigen  untersteht,  bis 
1885  als  Ministerresident  bezeichnet  wurde,  seitdem  den  Titel 
Generalresident  führt  und  zugleich  Präsident  des  tunesischen 
Ministerrats,  Minister  des  Auswärtigen  nnd  Chef  der  Zivil- 
Kontrolleure  ist.  Nach  Roustan  folgten  Paul  Cambon 
1882  —  86,  Massicault  1886  —  92,  Rouvier  1892  —  94  und 
Rene  Millet  1894—1901,  seitdem  amtiert  Pichon.  Der  dem 
Generalresidenten  unterstellte  französische  kommandierende 
General  der  Besatzungstruppen  ist  gleichzeitig  tunesischer 
Kriegsminister.  Zwei  arabische  Minister,  der  des  Innern  und 
zugleich  Großsiegelbewahrer,  und  der  „Minister  der  Feder", 
dem  die  Justiz  über  die   Eingeborenen    untersteht,    werden 


—     141      — 

zwar  vom  Bei  ernannt,  aber  der  Generalsekretär  der  Ein- 
geborenen-X'erwaltung  ist  ein  Franzose  und  sämtliche  Ent- 
scheidungen gehen  durch  seine  Hand.  Die  Finanzen,  die 
öffentlichen  Arbeiten,  das  Unterrichtswesen,  Handel  und 
Ackerbau  sowie  Post-  und  Telegraphenwesen  unterstehen  fünf 
französischen  Abteilungsvorständen,  welche  im  Ministerrat, 
der  das  Jahresbudget  festsetzt,  beratende  Stimmen  haben. 
Kein  Gesetz  ist  gültig  ohne  das  Visum  des  Generalresidenten 
und  die  Veröffentlichung  im  „Journal  officiel  tunisien"  in 
arabischer  und  französischer  Sprache. 

Man  hatte  angenommen,  daß  Tunesien  mit  Anfang  1905 
dem  französischen  Kolonialamt  anstelle  des  Ministeriums  der 
auswärtigen  Angelegenheiten  unterstellt  werden  würde;  diese 
Erwartung  hat  sich  aber  nicht  erfüllt. 

Das  Land  ist  in  13  Bezirke  (contröle  civil)  und 
7  Unterbezirke  (annexe)  eingeteilt,  und  jeder  dieser  20  Be- 
zirke untersteht  einem  französischen  Contröleur  civil,  der  die 
Eingeborenen -Verwaltung  zu  überwachen  und  zu  beraten 
hat,  und  durch  dessen  Hände  deren  Korrespondenz  mit  der 
Regierung  geht.  Jeder  contröleur  ist  gleichzeitig  franzö- 
sischer Vizekonsul  und  übt  als  solcher  den  Franzosen  ge- 
genüber das  Amt  eines  Standesbeamten  und  Notars. 

Jeder  Eingeborenen -Stamm  hat  seinen  Kaid,  welcher 
der  Regierung  verantwortlich  ist  und  gegen  eine  Vergütung 
von  5  "o  der  Einnahmen  die  Steuern  erhebt,  und  einen 
Khalifa  oder  Stellvertreter;  dem  Kaid,  dessen  Amt  noch 
ä  la  Marokko  käuflich  ist,  unterstehen  wieder  je  mehrere, 
von  den  Notabein  gewählte  Scheichs  oder  Dorfschulzen. 
Auf  Antrag  der  Kontrolleure  können  die  Kaids  abgesetzt 
werden.  Der  äußerste  Süden  des  Landes  untersteht  noch 
der  Militärverwaltung. 


-     142     — 

Munizipalverwaltungen,  vor  1881  höchstens  in  der 
Stadt  Tunis,  seit  1858,  einigermaßen  vertreten,  sind  heute  an 
allen  Hauptplätzen  geschaffen  oder  in  Vorbereitung,  und  zwar 
bestreiten  sie  ihre  Kosten  zumeist  aus  einer  Steuer  von  3 — 6^  4^  o 
vom  Mietwert  sämtlicher  Grundstücke.  Ende  1902  hat  man 
auch  eine  besondere  Kasse  für  Kommunal-Anleihen  geschaffen. 

Im  französischen  Parlament  ist  die  Regentschaft  nicht 
vertreten,  und  bis  zum  Jahre  1890  bestand  auch  in  Tunesien 
selbst  die  Vertretung  der  französischen  Bevölkerung  nur  in 
der,  im  Jahre  1885  in  der  Stadt  Tunis  gebildeten  Handels- 
kammer. Erst  anläßlich  der  Zollreform  von  1890  wurde 
als  Beirat  mit  nur  beratender  Stimme  eine  Conference 
consultative  geschaffen,  in  der  neben  den  offiziellen  Ver- 
tretern von  Handel  und  Wein-  und  Ackerbau  auch  die 
Verw^altungen  der  großen  Städte  zugezogen  waren;  diese 
Kommission,  welche  jährlich  zweimal  zusammentritt,  wurde 
1896  dahin  erweitert,  daß  auch  eine  Anzahl  nicht  den  ge- 
nannten Kreisen  angehöriger,  mindestens  25  Jahre  alter  und 
wenigstens  ein  Jahr  in  Tunesien  wohnender  Franzosen, 
ausschließlich  solche,  in  den  verschiedenen  Bezirken  dazu 
gewählt  werden.  Eine  Bewegung,  die  Konferenz  nicht  aus 
diesen  drei  Wahlkollegien,  sondern  aus  dem  allgemeinen 
Wahlrecht  hervorgehen  zulassen  und  ihr  damit  politischen 
Charakter  zu  geben,  ist  1904  resultatlos  verlaufen  und  ge- 
wiß auch  noch  verfrüht.  Dagegen  sind  Anfang  1905  für 
die  im  März  dieses  Jahres  neu  zu  wählende  Conference 
consultative  folgende  abgeänderte  Bestimmungen  getroffen : 
Wähler  ist  jeder  französische  Bürger  oder  Naturalisierte, 
welcher  dem  Militärdienst  genügt  hat,  mindestens  21  Jahre 
alt  ist  und  mindestens  2  —  Naturalisierte,  welche  nicht 
französischen  Militärdienst  leisteten,  mindestens  5  —  Jahre 
in  Tunesien  wohnt.  Die  Wähler  werden  in  drei  Klassen 
geteilt,    wovon  die  erste  den  Handel,    die  zweite  die  Land- 


—     143     — 

Wirtschaft  und  die  dritte  die  Besitzer  von  Stadtgrundstücken, 
die  Rentner,  Beamten  und  Gewerbetreibenden  umfaßt.  Jede 
Gruppe  von  1000  Wählern  wählt  je  einen  Repräsentanten 
der  drei  Kategorien,  sodaß  die  neue  Assemblee  31  Mitglieder 
zählen  wird.  Wählbar  ist  jeder  in  den  Wahllisten  Ein- 
getragene, sobald  er  25  Jahre  zählt. 

An  sonstigen  repräsentativen  Körperschaften  existieren 
Handelskammern  in  Tunis  und  Biserta,  eine  Ackerbau- 
kammer in  Tunis  und  je  eine  gemischte  Kammer  für 
Handel  und  Ackerbau  in  Susa  und  in  Sfax  für  die  wirt- 
schaftlichen Interessen  des  Zentrums  und  des  Südens  der 
Kolonie;  die  Mitglieder  dieser  Kammern  werden  von  den 
betreffenden  französischen  Kolonisten  gewählt. 

Die  französische  Besatzungsdivision  in  Tunis,  welche     H|f  und 

"  '  Flotte. 

Frankreich  jährlich  rund  12  Millionen  Francs  kostet  und 
20000  Mann  umfaßt,  bestand  1903  in  12  Bataillonen  Infan- 
terie, nämlich  einem  Regiment  Zuaven,  einem  Regiment  Turkos, 
drei  Bataillonen  leichter  Infanterie  und  einer  Strafkompanie; 
ferner  in  je  einem  Regiment  Spahis  und  Chasseurs 
d'  Afrique.  sechs  Batterien  Artillerie  und  je  zwei  Genie-  und 
Train-Kompanien.  Eine  Territorialarmee  besteht  in  Tunesien 
nicht.  Dem  Bei  ist  als  Ehrenwache  unter  französischer 
Inspektion  eine  aus  600  Mann  Infanterie.  Kavallerie,  Artillerie 
und  einer  Musikabteilung  zusammengesetzte  tunesische  Leib- 
garde belassen.  Laut  Gesetz  von  1889  brauchen  in  Tunesien 
ansässige  Franzosen  nur  ein  Jahr  Militärdienst  zu  leisten, 
wenn  sie  sich  dort  sechs  Monate  vor  der  Ziehung  nieder- 
lassen und  sich  dazu  verpflichten,  mindestens  zehn  Jahre 
nach  ihrem  Dienstjahr  in  Tunesien  oder  Algerien  zu  bleiben 
und  während  dieser  Zeit  kurze  Auslandsreisen  nur  mit 
Urlaub  der  Militärbehörden  anzutreten.  Wie  bereits  im  Ka- 
pitel   „Algerien"    erwähnt,    sprachen   sich   die  französischen 


—     144     — 

Kammern  Ende  1904  aber  für  Durchführung  der  zwei- 
jährigen Dienstzeit  auch  in  Tunesien  aus.  Die  Einge- 
borenen sind  durch  Dekret  von  1892  ebenfalls  zur  Dienst- 
leistung im  tunesischen  Heere  und  zwar  auf  drei  Jahre  ver- 
pflichtet, und  es  wird  unter  den  jungen  Leuten  von  18  —  21 
Jahren  gelost;  bei  ihnen  ist  aber  Freikauf  vom  Militärdienst 
gegen  eine  jährlich  festzusetzende  Summe  —  z.  Z.  800 
Francs —  gestattet.  Für  die  Flotte  ist  1903,  wie  in  Algerien, 
eine  aus  eingeborenen  Moslims  gebildete  Baharia  einge- 
richtet worden. 

Die  Flottendivision  von  Tunis  besteht  aus  einem 
Küstenpanzer,  einem  Panzerkanonenboot  und  einem  Torpedo- 
aviso; Biserta  aber  wird  zu  einem  der  wichtigsten  Kriegs- 
häfen des  ganzen  Mittelmeers  ausgestaltet. 

^^^^'^'  Was  die  Rechtspflege  anbetrifft,   so  hatte  Frankreich 

1881  das  Weiterbestehen  der  durch  die  Kapitulationen  ge- 
schaffenen Konsulargerichtsbarkeiten  zugesagt,  empfand  diesen 
Zustand  aber  bald  unangenehm.  Um  nun  zunächst  das 
notwendige  Vertrauen  der  Fremden  in  eine  zuverlässige  Ge- 
richtsbarkeit zu  gewinnen,  wurden  1883  ein  französisches 
Tribunal  erster  Instanz  in  Tunis  und  daneben  sechs  Friedens- 
gerichte geschaffen  und  im  Laufe  1884  stellte  man  nach 
Abschaffung  der  von  13  Nationen  unterhaltenen  Konsular- 
gerichtsbarkeit die  Fremden  ebenso  wie  die  Franzosen 
unter  französische  Gerichtsbarkeit.  Ein  zweites  Tribunal 
erster  Instanz  wurde  in  Susa,  ein  tribunal  mixte  für  Grund- 
buchsachen 1885  in  Tunis  geschaffen,  und  als  Obergericht 
gilt  schon  seit  1883  der  französische  Appellhof  in  Algier. 
In  allen  größeren  Städten  wirken  Friedensrichter,  im  ganzen 
11.  Die  einheimische  Rechtsprechung  aber  wurde,  gemäß 
Koran  und  Herkommen,  mit  gewissen  Einschränkungen  bei- 
behalten,   sodaß   der  tunesische  Araber   für  sich    und  seine 


^      145     — 

Stammesgenossen  eigene  Gesetze,  Notare  und  Richter  hat. 
Man  unterscheidet  in  Tunesien  zwei  Arten  einheimischer 
Gerichte:  Die  Schara,  das  religiöse  Gericht,  dem  alle 
Angelegenheiten  des  Personenstandes,  der  Erbfolge  und  des 
Grundbesitzes  vorbehalten  sind,  und  dem  der  Kadi  als  Einzel- 
richter vorsteht;  und  sodann  das  kollegiale  Laien -Gericht 
der  Usara,  welches  alle  Straf-  und  anderen  Sachen  erledigt. 
Die  Kaids  haben  gewisse  polizeiliche  und  bis  zur  Strafhöhe 
von  20  Francs  und  bei  Streitigkeiten  bis  zu  30  Francs 
richterliche  Befugnisse.  Das  einheimische  Gendarmerie- 
Korps  der  Udschak  ist  reorganisiert  und  den  einzelnen 
Controleurs  civils  unterstellt  worden,  dazu  tritt  ein  franzö- 
sisches Gendarmerie- Korps  und  in  den  größeren  Städten 
französische  Polizei. 

Nach  der  Besetzung  Tunesiens  durch  die  Franzosen  Kirche, 
übertrug  der  Papst  die  Organisation  der  katholischen 
Kirche  in  Tunesien  dem  Kardinal  Lavigerie,  erneuerte  auf 
dessen  Gesuch  1885  den  erzbischöflichen  Stuhl  von  Karthago 
und  verlieh  ihm  das  Pallium  der  neuen  Würde.  Lavigerie 
starb  1892  und  liegt  in  der  von  ihm  begründeten  Kathedrale 
von  Karthago  begraben,  die  von  ihm  gestifteten  peres  blancs 
aber  wirken  noch  heute  verdienstlich  weiter.  Neben  dem 
französischen  Erzbischof  in  Karthago  funktionieren  auch 
Bischöfe  in  Tunis  und  Sfax. 

Das  Unterrichtswesen  wird  seitens  der  Moslims  meist  Unterricht, 
noch  durch  eigene  Schulen  und  Lehrer  gepflegt,  und  Tunis 
besitzt  sogar  eine  Universität  des  Islams,  die  weniger  intolerant 
und  fanatisch,  als  ihre  Schwesteranstalten  in  Fes  und  Kairo 
ist;  daneben  aber  bestanden  im  Jahre  1900  in  68  ver- 
schiedenen Orten  132  Schulen  mit  französischem  Unter- 
richt, und  diese  zählten  zusammen  17  000  Schüler.   Von  den 

Schan/.  Alijerion.    I  iini'sieii.  Tripolltanien  JQ 


—     146     — 

120  Schulen  des  Jahres  1899  waren  107  öffenth'che  und  13 
private  Schulen,  96  von  Laien  und  24  von  Kongregationen 
geleitet,  welch  letzteren  Frankreich  seinen  Einfluß  in  Tunis 
zum  großen  Teile  verdankt,  sodaß  man  ihre  Aufhebung  hier 
bedauert.  Israeliten,  meist  in  Privatschulen,  zählten  im  Jahre 
1900:  2500  Schüler.  An  höheren  Lehranstalten  existieren 
in  der  Stadt  Tunis  das  Lycee  Carnot  mit  622  Schülern  in 
1900,  das  1884  gegründete  Seminar  des  College  Alaoui  mit 
114  Schülern,  eine  höhere  Töchterschule  und  seit  1899 
eine  Gewerbeschule.  Der  Staatsbeitrag  für  Unterrichts- 
zwecke beträgt  jährlich  P4  Million  Francs. 

Französische  Tages-  und  Wochenzeitungen  erscheinen 
in  Tunesien  schon  eine  ganze  Reihe;  die  größte  Tages- 
zeitung ist  „La  Depeche  Tunisienne",  während  das  „Journal 
officiel  Tunisien"  nur  zweimal  in  der  Woche  erscheint. 

Finanzen.  \\/^^  jjg  Finanzen  Tunesiens  anbelangt,  so  waren  die 

wirtschaftlichen  Verhältnisse  vor  der  französischen  Okku- 
pation so  elende  geworden,  daß  Versuche,  neue  Anleihen 
unterzubringen,  gänzlich  fehlschlugen,  da  niemand  Tunesien 
einen  Pfennig  anvertrauen  wollte.  Die  zur  Sicherung  der 
Anleihenverzinsung  der  Verwaltung  einer  europäischen  Finanz- 
kommission überwiesenen  Einnahmen  betrugen  vor  1870 
etwa  11  Millionen  Piaster,  1883  13  Millionen  und  da  die 
Gesamteinnahmen  sich  1883  nur  auf  22  Millionen  beliefen, 
so  blieb  für  die  Regierung  wenig  genug  übrig;  man  hatte 
denn  auch  unter  dem  Druck  dieser  Verhältnisse  gegen  17 
Millionen  Francs  schwebender  Schuld  zu  teilweise  sehr 
drückenden  Bedingungen  —  bis  zu  12  "o  p.  a.  —  aufge- 
nommen. Ein  erstes  Budget  für  Tunesien  wurde  unter 
französischer  Aufsicht  1883/4  aufgestellt;  bis  dahin  gab  es 
nur  eine  Ausgabenliste  und  Einnahmen,  deren  Höhe  von  der 
'.Energie    der    Regierung    und    dem    guten    Willen    der    Be- 


—      147     — 

völkerunii  abhing.  Im  Mai  1884  wurde  sodann,  unter  der 
im  MarsaA'ertrag  zugesagten  Garantie  Frankreichs,  der  Bei 
autorisiert,  eine  4"ü  Anleihe  von  142>  j  Millionen  Francs 
aufzunehmen  zur  Zurückzahlung  und  Konvertierung  der  kon- 
solidierten 5  "  (ligen  und  zur  Liquidation  der  schwebenden 
Schuld.  Die  Operation  gelang  ohne  Schwierigkeit,  und  die 
nunmehr  zwecklos  gewordene  fremde  Finanzkommission 
konnte  im  Oktober  1884  aufgelöst  werden;  an  ihre  Stelle 
trat  die  französische  Finanzdirektion.  Der  Zinssatz  der  fun- 
dierten Schuld  wurde  1889  von  4  auf  3  \'2  "  o  reduziert, 
das  Gesetz  von  1892  autorisierte  den  Bei,  die  3^2  ^o  An- 
leihe auf  3^0  zu  konvertieren,  rückzahlbar  in  längstens  96 
Jahren,  und  im  Jahre  1902  gestattete  man  die  Aufnahme 
einer  4  "  ,i  Anleihe  von  40  Millionen  Francs  für  Eisenbahn- 
bauten. Die  500  Francs-Abschnitte  der  3 "  o  Anleihe  von 
1892  waren  Anfang  1905  an  der  Pariser  Börse  mit  475 
Francs  notiert. 

Das  Budget  Tunesiens  hat  sich  nun  in  den  letzten  20 
Jahren   unter  französischer  Verwaltung  wie  folgt  entwickelt: 

1884  5      1890  95  99 


Einnahmen 

19,8 

25,9 

22,5 

28,7  Mill.  Francs 

Ausgaben 

19,5 

32,5 

22,4 

26,6      „ 

1900 

Ol 

02 

03 

Einnahmen 

39,9 

39,2 

54,1 

54,1   Mill.  Francs 

Ausgaben 

37,5 

39.1 

54 

54 

und  zwar  ist  das  Ziel  der  französischen  Finanzpolitik  in 
Tunesien  gewesen :  Größtmögliche  Begünstigung  Frank- 
reichs und  seines  Handels  bei  Erhaltung  der  Solvenz  der 
Regentschaft.  Man  erhoffte  in  Tunesien  einen  ausschließ- 
lichen Markt  für  französische  Produkte;  eine  lohnende  An- 
lage französischen  Kapitals;  eine  besondere  Anziehungskraft, 
um    französische    Auswanderer  von    fremden   Kolonien    fern 


-     148     - 

zu  halten;  und  endlich  die  Selbstunterhaltung  des  Schutz- 
gebiets ohne  Kosten  für  Frankreich.  Diese  vier  Punkte 
sind  in  der  Tat  auch  erreicht  worden,  dadurch  daß  man  fast 
alle  französischen  Produkte  zollfrei  einließ,  während  man  die 
ausländische  Konkurrenz  durch  hohe  Tarife  einschränkte; 
und  dadurch,  daß  man  die  Ausfuhr  durch  Abschaffung  von 
Exportzöllen  förderte,  ohne  den  dadurch  verursachten  Aus- 
fall von  Einnahmen  durch  Erhebung  von  solchen  Steuern 
zu  decken,  welche  die  Einwanderung  abzuschrecken  geeignet 
wären;  das  Budget  aber  ist  immer  so  vorsichtig  aufgestellt 
worden,  daß  es  ständig  einen  kleinen  Überschuß  zeigt,  und 
seit  dem  Jahre  1896  hat  man  auch  einen  Reserfefonds  ge- 
schaffen, der  sich  Anfang  1901  auf  rund  13  Millionen  Francs 
belief.  Nur  die  Unterhaltungskosten  für  die  Besatzungs- 
truppen trägt,  wie  für  alle  seine  Kolonien,  das  Mutterland, 
und  dazu  treten  jährlich  noch  zwei  Millionen  Francs  für 
Eisenbahn -Zinsgarantie.  Immerhin  hat  Tunesien  Frankreich 
bislang  rund  400  Millionen  Francs  gekostet. 

Das  Budget  für  1903  umfaßt  außerordentliche  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  für  Eisenbahnbauten  in  Höhe  von 
27  Millionen  Francs,  daneben  weist  es  auf  in  den  ordentlichen 

Einnahmen:  Direkte  Steuern  7,9,  indirekte  Steuern 
und  Stempelgebühren  5,7,  Monopole  6,6,  Zölle  3,5,  Post 
und  Telegraph,  Domänen  und  andere  Einnahmen  je  1,1 
Millionen  Francs,  während  sich  die  ordentlichen 

Ausgaben  zusammensetzen  aus:  Hofhalt  1680000, 
öffentliche  Schuld  6,9,  Finanzverwaltung  5,2,  allgemeine  Ver- 
waltung 3,8,  Domänen,  Ackerbau  und  Handel  2,7,  Post  und 
Telegraph  1,5,   Armee  1,5,   Unterricht  1,1   Millionen  Francs. 

Das  Budget  für  1905  balanciert  in  den  ordentlichen 
Einnahmen  und  Ausgaben  mit  30  Millionen  Francs. 

Die  Abgaben  sind  möglichst  einfach,  um  der  Pro- 
duktion keine  Hemmnisse  in  den  Weg  zu  legen,    im  Innern 


-     149     — 

besorgen  die  Kaids  und  Scheichs  die  Erhebung  der  direkten 
Steuern,  d.  h.  der  Kopfsteuer  von  20  Francs  und  der  Ab- 
gaben auf  Getreide,  Ohvenbäume  und  Dattelpalmen.  Die 
Kopfsteuer  oder  Medschba,  seit  1894  von  24  auf  20  Francs 
herabgesetzt,  wird  von  allen  männlichen  Eingeborenen  ent- 
richtet, mit  Ausnahme  der  Bewohner  von  Tunis,  Susa,  Sfax, 
Monastir  und  Kairuan. 

Der  Aschur  oder  Getreidezehnte  wird  in  bar  auf 
alle,  auch  von  den  Franzosen,  mit  Weizen  und  Gerste  be- 
stellte Felder  erhoben,  wobei  aber  nicht  der  Ernteertrag, 
sondern  das  Maß  der  Aussaat  auf  eine  Mechia  als  Basis 
dient;  mit  französischen  Pflügen  bestellte  Äcker  bezahlen 
vorläufig  nur  '  m  dieser  Steuer. 

Der  Kanun  auf  Dattelpalmen  beträgt  je  nach  Gegend 
und  Qualität  jährlich  20—140  Centimes,  derjenige  auf  Öl- 
bäume 5—50  Centimes,  in  den  Nordprovinzen  wurde 
früher  der  Zehnte  des  Ölertrags  als  „Ghaba"  in  natura 
erhoben,  und  in  einigen  Distrikten  fielen  auch  noch  sämt- 
liche Öltrester  an  den  Staat;  seit  1897  sind  aber  auch  diese 
Naturalleistungen  in  Barabgaben  umgewandelt  worden,  und 
die  grundlegenden  Preise  dafür  werden  jedes  Jahr  neu  fest- 
gestellt. 

Die  Mradscha-Steuer  wird  auf  Gemüse-  und  Obst- 
gärten der  Distrikte  Sfax  und  Kap  Bon  erhoben  und  be- 
trägt je  nach  Güte  des  Bodens  37  —  135  Centimes  für  die 
Merdscha  von  48  qm.  Die  jährliche  Grundsteuer  von  8 
Centimes  auf  den  Quadratmeter  Gemüseland  in  der  Nähe 
der  Stadt  Tunis  ist  im  Jahre  1900  auf  4  Centimes  redu- 
ziert worden. 

Der  Erwerb  von  Grundstücken  war  früher  mit 
einer  Abgabe  von  7  "o  belegt,  die  durch  Gesetz  vom 
1.  August  1885  aber  auf  4'^,,.    1900  in  gewissen  Fällen  auf 


—     150     - 

2  Vo  herabgesetzt  wurde.  Überschreibungen  unter  Verwandten 
direkter  Abstammung  kosten  nur  2*^(10. 

Die  Kar  übe  oder  Mietwertsteuer  auf  alle  französischen 
Immobilien,  mit  Ausnahme  der  landwirtschaftlichen,  in  der 
Höhe  von  6^4%  ist  in  allen  Städten,  welche  Gemeinde- 
verwaltungen haben,  diesen  überlassen  worden.  Bebautes 
Eigentum  in  der  Landwirtschaft  ist  keinen  jährlichen  Ab- 
gaben unterworfen,  dagegen  werden  solche  erhoben  auf  mit 
Weizen,  Gerste,  Oliven  und  Palmen  bepflanzte  Flächen, 
und  zwar  hat  man  diese  Abgaben,  um  den  Eingeborenen 
von  seiner  primitiven  Bodenwirtschaft  abzubringen,  um  90  7o 
herabgesetzt  auf  mit  französischen  Pflügen  ausgeführte 
Kulturen.  Weinbau  ist,  nachdem  1886  die  Produktions- 
steuer von  10  7o  aufgehoben  wurde,  frei,  mit  Ausnahme  der 
Abgabe  zur  Bekämpfung  der  Phylloxera,  auch  die  Brannt- 
weinbrennerei unterliegt  bei  den  Kolonisten  keiner  Abgabe, 
das  Produkt  zahlt  nur  bei  Einführung  in  die  Stadt  Konsum- 
steuer. In  gewissen  Distrikten  und  Städten  bezahlt  auch 
Haifa  25  Centimes  Oktroi  für  den  Zentner,  und  ebenso  be- 
zahlt Vieh  bei  Einführung  in  den  Städten  eine  Konsum- 
steuer, während  die  frühere  Vieh -Verkaufsabgabe  von  6^  4  '^'o 
auf  den  Märkten  jetzt  aufgehoben  ist.  Gewerbesteuern 
oder  Patente  sind  bislang  nur  auf  den  Handel  mit  gewissen 
Lebensmitteln  für  Eingeborene  und  auf  die  Herstellung  von 
Kalk,  Ziegeln  und  ähnlichen  Produkten  gelegt.  Dagegen 
sind  die  unter  dem  Namen  der  Mahsulate  erhobenen  ok- 
troiartigen  Steuern  auf  die  Fabrikation  und  den  Verkauf 
einer  Anzahl  von  Lebensmitteln  und  Bedarfsartikeln  sehr 
vielseitig;  im  Laufe  der  Jahre  hat  man  diese  Abgaben  zwar 
herabgesetzt  und  teilweise  ganz  abgeschafft,  dafür  aber  1898 
eine  Konsumsteuer  auf  Alkohol  und  Zucker  eingeführt. 

Eine  Wegesteuer  von  jährlich  Francs  4,80  wird  Ein- 
geborenen und  seit  1898  auch  Europäern  auferlegt;    erstere 


-       ISl      — 

können  sie  in  Naturalien,  letztere  in  Form  von  Arbeit 
leisten,  wobei  ein  Arbeitstag  für  die  Person  mit  1  ^ :,  Francs 
angerechnet  wird;    daneben  besteht  noch  eine  Wagensteuer. 

Staatsmonopole   sind    der  V'ertrieb  von  Tabak   und, 
Zigarren,  Salz,  Schießpulver,  Streichhölzchen  und  Spielkarten. 

Was  die  Zölle  anbetrifft,  so  wurden  die  Durchfuhr- 
zölle bereits  durch  Dekret  vom  3.  Oktober  1884  abgeschafft, 
und  auch  die  Ausfuhrzölle,  welche  früher  auf  62  der 
wichtigsten  Landesprodukte  gelegt  waren  und  deren  Aus- 
fuhrmöglichkeit erschwerten,  sind  heute  größtenteils  aufge- 
hoben; im  Jahre  1902  umfaßten  sie  nur  noch  acht  Posi- 
tionen —  Schwämme,  Oliven  und  ihre  Produkte,  Wolle, 
Felle  und  frische  Fische,  mit  Ausnahme  des  Thunfisches  — 
deren  Verschwinden  man  aber  auch  erhofft.  Über  die  Ein- 
fuhrzölle wird  in  dem  Handels- Kapitel  Näheres  zu  sagen 
sein;  hier  sei  nur  erwähnt,  daß  alle  Maschinen,  Geräte, 
Düngemittel  und  chemischen  Produkte  für  den  Ackerbau 
frei  eingehen. 

Was  die  Bodenfrage  anbelangt,  so  gibt  es  in  Tunesien  P^J?Sfio"n"'* 
drei  verschiedene  Arten  von  Land:  Die  Beiliks  oder  Do- 
mänen; die  Habus  oder  Stiftungsländereien  und  den  iMelk 
oder  Moslim-Privatbesitz,  während  es  den  in  Algerien  üblichen 
Arch,  gemeinsames  Land  der  Eingeborenen -Stämme,  in 
Tunesien  nicht  zu  geben  scheint. 

Von  den  Domänen,  die  z.  Z.  der  arabischen  Er- 
oberung das  ganze  Land  umfaßten,  da  man  den  Einge- 
borenen nur  die  Nutznießung  überließ,  waren  im  Laufe  der 
Zeiten  immer  größere  Teile  der  öffentlichen  Verwaltung  ent- 
zogen worden  und  eine  verläßliche  Registrierung  des  Besitzes 
fehlte.  Erst  nach  dem  Eindringen  der  Franzosen  fand  eine 
Klärung  dadurch  statt,  daß  man  den  Privatbesitz  des  Beis 
von  den  Staatsdomänen  trennte,  der  weiteren  V^erschleuderunß 


—     152     — 

der  letzteren,  welche  1881  nur  noch  200  000  ha  umfaßten, 
durch  ein  Gesetz  vom  gleichen  Jahre  entgegentrat  und  ihnen 
auch  die  Wälder,  Erz-  und  Phosphatlager  und  Steinbrüche, 
soweit  sie  nicht  auf  Privatland  waren,  zuwies.  Das  Dekret 
vom  24.  September  1885  etablierte  auch  in  Tunesien  den 
Unterschied  der  „d omaine  public"  und  der  „domaine 
prive"  und  wies  ersterer  alle  ihrer  Natur  nach  öffent- 
lichen Besitze,  besonders  auch  alle  Meeresufer,  Wasserläufe, 
Quellen,  Wege,  Kanäle  usw.  zu,  soweit  nicht  vor  1885 
erworbene  Besitz-  und  Nutzrechte  nachzuweisen  sind,  während 
letztere  allen  herrenlosen  Besitz,  seit  1890  auch  die  Wälder 
umfaßt  und  im  Gegensatz  zur  ersteren  veräußerlich  ist. 
Durch  Gesetz  von  1886  wurde  auch  ein  Teil  der  früher  ver- 
äußerten Domänen  zurückerlangt  und  zwar  ebenfalls  für  die 
Regentschaft,  nicht  für  den  französischen  Staat,  welcher  als 
solcher  überhaupt  keinen  Domänenbesitz  in  Tunesien  hat. 
War  bis  dahin  die  Erhaltung  der  Domänen  als  Ein- 
nahmequelle für  den  Staat  das  Leitmotiv  der  Verwaltung 
gewesen,  so  wurde  die  1890  gegründete  Ackerbau-Direktion 
damit  beauftragt,  ab  Ende  1890  so  viele  Domänenländereien 
als  möglich  zu  veräußern  im  Interesse  der  wirtschaftlichen 
Entwicklung  der  Regentschaft  im  Allgemeinen  und  der  Boden- 
bearbeitung durch  Franzosen  im  Speziellen;  die  Domänen- 
ländereien  wurden  der  Kolonisation  zur  Verfügung  gestellt 
und  die  daraus  fließenden  Erträge  vom  Staate  wiederum 
zum  Erwerb  neuen  Grundbesitzes  verwandt,  den  er  für  die 
Besiedelung  vorbereitet;  zu  diesem  Betriebe  wurde  am 
1.  Dezember  1897  definitiv  eine  Kolonisations- Kasse 
konstituiert  und  dreimal  mit  je  3  ^  2  Millionen  Francs  dotiert. 
Diese  Kasse  hat,  bis  einschließlich  des  Jahres  1903,  22690  ha 
Land  zu  Kolonisationszwecken  gekauft.  Durch  Dekret  von 
1896*  wurden  auch  die  herrenlosen  und  unbenutzten,  fast  aus- 
schießlich  in  der  Mittel-  und  Südregion  gelegenen  Ländereien, 


I 


—     153     — 

ohne  dabei  den  nomadischen  Stämmen  gegenüber  Härte  zu 
zeigen,  als  Staatsdomänen  erklärt.  Im  Jahre  1899  besaß  der 
Staat  700000  ha  im  Norden  und  Osten,  wozu  über  300000  ha 
den  Stämmen  in  Mittel-  und  Süd-Tunesien  genommen  werden 
konnten.  So  weit  die  Domänen  im  Staatsbesitz  verbleiben, 
werden  sie  teils  vom  Staate  selbst  verwaltet,  teils  verpachtet, 
wobei  die  Eingeborenen  dieselben  Rechte  genießen,  wie  die 
Franzosen  und  die  Pacht  von  den  Kaids  eingezogen  wird, 
welche  davon  10  "„  erhalten.  Bei  der  Veräußerung  werden 
die  Domänen  in  Lose  von  durchschnittlich  50—175  ha  auf- 
geteilt und  freihändig  zum  Preise  von  40 — 200  Francs  für 
den  Hektar  verkauft;  früher  war  die  Hälfte  des  Kaufgeldes 
bei  Besitzantritt,  ein  Viertel  nach  dem  dritten  und  das  letzte 
Viertel  nach  dem  vierten  Jahre  zu  zahlen,  und  bei  sofortiger 
voller  Barzahlung  wurden  10"(,  Abzug  gewährt.  Seit  Juli 
1902  ist  die  Zahlungsweise  weiter  erleichtert  worden.  Der 
Käufer  hat  jetzt  das  Recht,  die  Zahlung  auf  eine  Anzahl 
gleicher  Jahresraten  zu  verteilen,  die  im  ganzen  zehn  Jahre 
nicht  überschreiten  dürfen;  die  ersten  vier  Jahresraten  sind 
zinsfrei;  für  das  fünfte  und  sechste  Jahr  wird  ein  Zuschlag 
von  je  2^(1,  für  das  siebente,  achte  und  neunte  Jahr  je  ein 
Aufschlag  von  4°o  auf  den  Rest  der  Kaufsumme  berechnet; 
werden  die  Termine  nicht  pünktlich  eingehalten,  tritt  außer- 
dem eine  Zinsberechnung  von  5  "  o  p.  a.  ein.  Solange  die 
Kaufsumme  nicht  vollständig  beglichen  ist,  bleibt  das  be- 
treffende Grundstück  in  erster  Stelle  zugunsten  des  Staates 
mit  einer  entsprechenden  Hypothek  belastet.  Wird  der  volle 
Kaufpreis  sofort  bar  gezahlt,  so  tritt  ein  Preisnachlaß  von 
10",.  ein.  Im  Süden  der  Regentschaft,  wo  der  Getreidebau 
unsicher  ist,  werden  für  Kultur  von  Oliven,  Mandeln,  Johannes- 
brot usw.  geeignete  Domänenländereien,  die  allerdings  erst 
nach  10 — 15  Jahren  Erträge  geben  können,  unter  der  Bedin- 
gung der  Nutzbarmachung  an  Europäer  wie  an  Eingeborene 


—     154     — 

zum  Preise  von  nur  zehn  Francs  für  den  Hektar  verkauft, 
zahlbar  zur  Hälfte  sofort,  zur  Hälfte  nach  vier  Jahren.  Frei- 
lich fehlt  es  diesen  Grundstücken  durchgängig  an  allen 
Einrichtungen,  wie  Gebäuden,  Brunnen,  Pflanzungen  usw. 
und  die  Bewirtschaftung  erfordert  deshalb  ein  entsprechend 
großes  Kapital.  Kleinsiedelung  erscheint  noch  für  lange 
Zeit  hinaus  nur  im  Norden  aussichtsreich. 

Seit  ihrer  Gründung  im  Jahre  1890  bis  einschließlich 
des  Jahres  1903  hat  die  Ackerbau- Direktion  im  ganzen 
57  000  ha,  auf  669  einzelne  Kolonielose  verteilt,  verkauft. 

Zwar  sind  laut  bestehenden  Verträgen  Franzosen  im 
Landerwerb  nicht  bevorzugt,  aber  da  die  Verwaltung  freie 
Wahl  unter  den  Bewerbern  hat,  so  sind  die  Käufer  von 
Domänengut  doch  fast  ausschließlich  Franzosen. 

Im  übrigen  waren  von  den  500  000  ha  Land  im  Besitz 
europäischer  Kolonisten  1897  nur  5300  ha  von  Staats- 
domänen, der  Rest  aber  von  Privaten  erworben,  da  der 
Staat  sich  hier,  im  Gegensatz  zu  Algerien,  der  offiziellen 
Kolonisation  im  allgemeinen  enthalten  und  nur  die  Vor- 
bedingungen dafür  geschaffen  hat  durch  Sicherung  der 
Zustände,  Schaffung  von  Wegen  und  Eisenbahnen  und  Ein- 
führung französischer  Justiz  und  eines  vorzüglichen  Boden- 
und  Hypothekenrechts.  Gratis- Konzessionen  werden  in 
Tunesien  überhaupt  nicht  verliehen,  und  selbst  der  Käufer 
muß  eine  Reihe  lästiger  Bedingungen  übernehmen.  Auch 
hat  man  hier  im  allgemeinen  keine  offiziellen  „Kolonisations- 
Zentren"  wie  in  Algerien  geschaffen,  da  die  friedlichen  Zu- 
stände des  Landes  und  der  Bevölkerung  dazu  keine  Veran- 
lassung gaben,  und  der  Eingeborenen -Besitz  ist,  im  Gegen- 
satz zu  Algerien,  wo  man  die  Araber  gegen  Entschädigung 
expropriierte,  um  europäische  Siedelungsdörfer  anzulegen, 
in  Tunesien  streng  respektiert  worden.  Die  einzige  Er- 
leichterung, welche  französische   Einwanderer  genießen,   ist 


—      155     — 

eine  Ermäßigung  der  Passage,  und  diese  fällt  ernstlich  nicht 
ins  Gewicht.  Eine  1901  geschaffene  „Kolonisations- Kom- 
mission", die  aus  Beamten  und  Kolonisten  besteht,  berät 
über  alle  Fragen  der  französischen  Kolonisierung,  und  ein 
Einwanderer-Bureau  ist  vor  kurzem  in  Tunis  eröffnet  worden. 

Während  die  Regierung  bei  der  Kolonisation  die  Bil- 
dung von  Kleingrundbesitz  begünstigt,  hat  sich  die  Privat- 
initiative in  „Kolonisation"  nur  auf  größere  Flächen  von 
meist  500 — 1000  ha,  aber  auch  bis  zu  6000  ha  und  mehr 
gelegt,  die  nach  wie  vor  von  Eingeborenen  bewirtschaftet 
werden  gegen  bestimmten  Anteil  der  Ernte  und  auf  kurze 
Pachttermine,  ein  System,  das  natürlich  weder  im  Interesse 
rationeller  Kultur,   noch  in   dem   dichterer  Besiedelung  liegt. 

Die  Stiftsländereien  oder  Habus  sind  in  Tunesien 
nicht,  wie  in  Algerien,  vom  Staate  konfisziert,  sondern  einer 
speziellen  Verwaltung  unterstellt  worden,  welche  z.  B.  1902 
fast  zwei  Millionen  Francs  einnahm.  Diese  Ländereien  um- 
fassen angeblich  gegen  ein  Viertel  des  Landes,  im  Norden 
etwa  150  000  ha,  sind  jedenfalls  sehr  ausgedehnt  und  würden, 
da  sie  unveräußerlich  sind,  ein  Hindernis  für  die  Kolonisation 
sein,  wenn  nicht  die  „Unveräußerlichkeit"  der  Habus  in  Tu- 
nesien schon  seit  langer  Zeit  durch  den  sogenannten  „Ensel" 
umgangen  werden  könnte,  eine  Art  Erbverpachtung  gegen 
ewige  und  unveränderliche  Rente.  Dasselbe  System  bestand 
in  Algerien  unter  dem  Namen  „Ana",  wurde  aber  dort  1S44 
als  ablösbar  erklärt,  selbst  gegen  den  Willen  des  Verpächters, 
während  in  Tunesien  die  Ablösung  nur  unter  Zustimmung 
beider  Kontrahenten,  im  allgemeinen  gegen  das  löfache  der 
Rente,  zulässig  ist,  wofür  die  Habu -Verwaltung  ein  gleich- 
wertiges Stück  anderen  Landes  zu  beschaffen  hat.  Von 
dieser  Bewirtschaftung  der  Habus  nach  dem  Ensel -System 
haben  die  Kolonisten  mehr  und  mehr  Gebrauch  gemacht, 
da  es  ihnen  Kapitalanlage  für  Grund  und  Boden  erspart,  und 


—     156     — 

es  ist  besonders  von  den  Franzosen  benutzt,  welche  große 
Flächen  bevorzugen,  während  andere  Europäer  und  die  Ein- 
geborenen im  allgemeinen  kleinere  Parzellen  in  der  Nähe 
der  Städte  vorziehen.  Die  Habu -Verpachtungen  erfolgen 
laut  Gesetzen  von  1888  und  1898  jährlich  in  öffentlicher 
Versteigerung,  um  die  Stiftungs- Einnahmen  möglichst  hoch 
zu  halten.  Durften  Habus  früher  nur  auf  3  Jahre  vermietet 
werden,  so  ist  dieser  Termin  1898  auf  10  Jahre  ausgedehnt 
worden  und  darf  unter  gewissen  Bedingungen  ohne  neue 
öffentliche  Versteigerung  zweimal  auf  je  10  Jahre  verlängert 
werden  gegen  Erhöhung  des  Pachtgeldes  um  je  20  %;  Ame- 
liorationen  bis  zum  Betrage  der  fünffachen  Jahrespacht  werden 
nach  Ablauf  des  Termins  vergütet. 

Man  hat  sich  also  in  Tunesien  bestrebt,  die  Bodenfrage 
in  Anlehnung  an  bestehende  arabische  Sitten  und  Gesetze  zu 
behandeln,  und  formte  auch  das  Bodenrecht  des  Privat- 
besitzes von  Europäern  und  Eingeborenen  auf  dieser  Basis 
durch  das  Gesetz  vom  1.  Juli  1885,  welches  eine  Kombination 
gewisser  muselmännischer  Einrichtungen  mit  den  franzö- 
sischen, deutschen  und  australischen  Gesetzen  ist  und  die 
Torrens-Akte  zur  Grundlage  hat:  Besitz  und  Belastung 
von  Land  werden  amtlich  doppelt  vermerkt,  einmal  in  den 
behördlichen  Grundbüchern  und  sodann  auf  einer  dem  Be- 
sitzer eingehändigten  Kopie,  wodurch  der  Besitznachweis,  die 
Ausnutzung  des  Bodenkredits  und  die  Übertragbarkeit  außer- 
ordentlich erleichtert  und  vereinfacht  werden.  Auch  in  Tu- 
nesien ist  diese  Einschreibung  übrigens  nicht  obligatorisch, 
sondern  fakultativ.  Nachdem  die  Dispositionen  des  ursprüng- 
lichen Gesetzes  von  1885  in  den  Jahren  1886,  1888  und 
1892  weiter  vereinfacht  und  verbilligt  waren,  nahm  die  Be- 
nutzung des  Landregisters  wesentlich  zu,  und  Ende  1902 
waren  5000  Grundstücke  mit  624  000  ha  im  Werte  von  104 
Millionen    Francs  darin   eingeschrieben.     Eine  ständige,   der 


—     157     — 

Direktion  von  Handel  und  Ackerbau  unterstellte  Kommission 
überwacht  den  Grunderwerb  seitens  der  Europäer,  und  Hand 
in  Hand  mit  der  Benutzung  des  Bodenregisters  geht  eine, 
von  dem  geographischen  Dienste  des  Heeres  seit  Jahren  be- 
triebene, genaue  Landesaufnahme,  wie  denn  überhaupt  die 
geographische,  geologische  und  meteorologische  Erforschung 
des  Landes  im  letzten  Jahrzent  ungeheure  Fortschritte  ge- 
macht hat. 

So  ist  man  denn  in  Tunesien,  mit  Vermeidung  der  in 
Algerien  gemachten  Fehler,  im  allgemeinen  recht  geschickt 
vorgegangen,  und  es  ist  nur  zu  bedauern,  daß  in  Frankreich 
ein  Bevölkerungs- Überschuß  fehlt,  der  ein  genügendes  Zu- 
strömen in  die  Regentschaft  ermöglichte. 

Vor  Errichtung  des  französischen  Protektorats  bewirt- 
schaftete ein  tunesischer  Besitzer  sein  Gut  sehr  selten  selbst, 
sondern  verpachtete  es  meist  für  einen  nur  kurzen  Zeit- 
raum an  einen  Halbbauer  oder  Khammes,  der  gewöhnlich 
stark  verschuldet  und  deshalb  sehr  abhängig  war.  Die  beiden 
Einrichtungen  der  Khammessa  und  der  Mrarsa,  besonders 
aber  die  erstere,  sind  unter  Eingeborenen  ganz  Nordafrikas 
sehr  häufig  vorkommende  Pacht-Kontrakte.  Dem  Khammes 
werden  von  dem  Besitzer  des  Landes  zu  dessen  Bestellung 
Pflug,  Rinder  und  Saatgut  geliefert  sowie  die  nötigen  Unter- 
haltungsmittel bis  zum  Einbringen  der  Ernte,  von  welcher 
der  Pächter  nur  ^ .-,  bekommt,  während  ^0  an  den  Grund- 
besitzer gehen.  Die  Mrarsa  wird  besonders  in  den  mittleren 
Teilen  der  Regentschaft  für  Olivenpflanzungen  benutzt;  der 
Oliven  ertrag  kommt  dabei  Pächter  und  Verpächter  zu 
gleichen  Teilen  zu,  während  der  Ertrag  der  Zwischen- 
kulturen  fast  ganz  dem  Pächter  verbleibt*),    im  allgemeinen 

•)  Nachdem  die  vom  Eingeborenen  angelegte  Pflanzung  ertrags- 
fähig ist,  also  nach  8—10  Jahren,  wird  sie  in  2  gleiche  Teile  geteilt, 
wovon  durch  Auslosung  die  eine  dem  bisherigen  Landbesitzer  ver- 
bleibt, die  andere  dem  bisherigen  Pächter  als  dauernder  Besitz  zufällt. 


—     158     — 

geht  das  ganze  Streben  des  Khammes  natürlich  dahin,  in 
der  kurzen  Zeit  nur  möglichst  viel  aus  dem  Boden  zu 
ziehen,  ohne  selbst  etwas  zu  dessen  Verbesserung  hinein- 
zustecken, und  so  wurden  Grund  und  Boden  immer  weniger 
leistungsfähig  und  standen  entsprechend  niedrig  im  Preise. 
DerHektar  guten  fruchtbaren  Landes  selbst  in  der  Nähe  derStadt 
Tunis  war  vor  1881  zu  100  Francs  zu  haben,  und  etwas 
weiter  nach  dem  Innern  zu  bezahlte  man  dafür  höchstens 
50  Francs;  die  Spekulation  seitens  einzelner  Kapitalisten  und 
besonderer  Gesellschaften  bemächtigte  sich  denn  auch  bald 
dieses  Handels,  und  schon  vor  der  französischen  Schutz- 
herrschaft erwarb  im  Jahre  1879  die  marseiller  Societe 
Franco-Africaine  den  120  000  ha  großen  Enfida- Besitz  des 
Ex -Premierministers  Kheireddin  im  Hinterland  des  Golfes 
von  Hammamet,  in  einer  schon  im  Altertum  wegen  seiner 
Fruchtbarkeit  berühmten  Lage;  von  der  tunesischen  Re- 
gierung bereitete  Schwierigkeiten,  die  sich  an  die  Besitz- 
nahme der  Enfida -Domäne  knüpften,  trugen  dazu  bei,  die 
franzözische  Okkupation  zu  beschleunigen,  und  nach  der- 
selben gingen  die  Franzosen  sofort  an  die  Errichtung  von 
über  das  ganze  Land  verstreuten  metereologischen  Stationen, 
um  die  Grundbedingungen  für  den  Wirtschaftsbetrieb  festzu- 
stellen. Ist  die  Regentschaft  doch  überwiegend  ein  Acker- 
baustaat und  der  Ausfall  der  Ernte  deshalb  von  ausschlag- 
gebendem Einfluß  auf  alle  übrigen  Verhältnisse. 

Anfang  1898  besaßen  die  Europäer  in  Tunesien 
528  000  ha  Land,  und  davon  entfielen  943  Liegenschaften 
mit  467  000  ha  oder  88  %  auf  Franzosen  und  406  mit  zu- 
sammen 39  000  ha  oder  7  o'^  auf  Italiener.  Der  fremde 
Großgrundbesitz  ist  überwiegend  in  französischen  Hän- 
den, nämlich  von  166  Grundbesitzen  über  500  ha  144, 
wird  aber  nur  zum  kleinen  Teil  von  Kolonisten  nach  euro- 
päischen Methoden  ausgenutzt,   während  der  Hauptteil  teils 


—     159     — 

von  Arabern  bewirtschaftet  wird,  teils  noch  j^anz  unkultiviert 
liegt.  Dagegen  ist  der  Klein grundbesitz  überwiegend  in 
italienischen  Händen,  und  von  406  italienischen  Grund- 
besitzern hatten  332  ein  Areal  von  weniger  als  10  ha  und 
nur  einige  mehr  als  1000  ha.  Durch  die  italienische  Ein- 
wanderung ist  denn  auch  der  Wert  der  Grundstücke  in  der 
Nähe  größerer  Städte  von  den  früheren  100  Francs  bereits 
auf  400 — 500  Francs  für  den  Hektar  gestiegen  und  hat  schon 
1000  Francs  erreicht,  während  im  Innern,  wo  Kleinbesitz 
von  10  15  ha  selten  ist  und  der  Umfang  meist  300,  1000  bis 
10000  ha  beträgt,  der  Preis  für  den  Hektar,  je  nach  Entfernung 
von  Bahn  und  V'erkehrszentrum,  50     200  Francs  beträgt. 

Ende  1902  besaßen  1392  französische  Grundbesitzer 
577  900  ha,  und  zwar  hatten  437  Besitzer  unter  10  ha,  471: 
11  —  100  ha.  315:  101—500  ha  und  169:  500-2000  ha 
und  mehr,  während  gleichzeitig  740  italienische  Grund- 
besitzer im  ganzen  36  400  ha  eigneten. 

Der  europäische  Grundbesitz  umfaßt  im  Nordosten  des 
Landes,  zwischen  Mahadi  und  ßiserta,  13—20  ^'q  des  Bodens, 
in  El  Kef  5  13  *'„,  in  Kairuan  und  Sfax  1 — 5  "„,  im  Süden 
und  Südwesten  des  Landes  aber  noch  nicht  1  "',,;  am 
stärksten  ist  er  in  der  Umgebung  von  der  Stadt  Tunis  und 
von  Susa,  im  reichsten  Teile  der  Sahel  vertreten.  In  der 
Umgebung  von  Tunis  sind  bereits  ''  ?  des  Bodens  in  euro- 
päischen Händen,  und  während  die  Ansiedlungen  von  Ein- 
geborenen stets  auf  Anhöhen  liegen,  entstehen  hier  auch  in 
den  früher  menschenleeren  Ebenen  Siedelungen  von  Frem- 
den, besonders  Sizilianern. 

Mehr  als  die  Hälfte  des  europäischen  Grundbesitzes 
besteht  in  großen  Domänen  von  mindestens  2000  ha, 
deren  Parzellierung  aber  angestrebt  wird  und  zwar  in  der 
verschiedensten  Form:  Der  eine  richtet  den  größten  Teil 
seiner  Besitzung  zu  Pachthöfen  ein;   der  andere   wählt  dazu 


—     160     - 

nur  die  entlegensten  Teile  der  Domäne,  welche  ihm  selbst 
zur  Bewirtschaftung  ungünstig  liegen;  der  dritte  gründet  ein 
Dorf  und  bietet  das  umliegende  Land  aus;  der  Vierte  ver- 
pachtet das  Ganze  auf  Zeit;  der  fünfte  nur  an  Halb- 
bauern, wie  z.  B.  die  von  dem  früheren  Professor  am 
Lyceum  von  Tunis,  Jules  Saurin,  gegründete  Societe  des 
fermes  fran<;aises  de  Tunisie,  welche  mit  einem  Kapital  von 
800  000  Francs  arbeitet,  5 '\,  ige  Pfandbriefe  ausgibt  und  das 
von  ihr  gekaufte  Domänenland  bei  Bescha  und  La  Dsche- 
deida  an  der  Bahn  zwischen  der  algerischen  Grenze  und 
Tunis  in  Lose  von  50 — 100  ha  aufteilt  und  nach  dem  Halb- 
part-System  mit  französischen  Bauern  besiedelt. 

Bereits  1889  machte  die  Societe  Franco-Africaine  den 
Anfang  mit  der  Ansiedlung  kleiner  Ackerbauer  und  stellte 
Lose  von  30 — 40  ha  zum  Verkauf  zu  60  Francs  den  Hektar, 
zahlbar  in  10  Jahren,  mit  der  Verpflichtung,  daß  der  Käufer 
auf  dem  erworbenen  Besitz  wohnen  müsse.  In  den  beiden, 
von  der  Gesellschaft  gegründeten  Dörfern  Enfidaville  an  der 
Bahn  Tunis-Susa  und  Reyville  wohnen  einige  hundert  Euro- 
päer, und  das  Bauterrain  dort  kostet  1^2 — 2  Francs  für  den 
Quadratmeter;  Wasser  ist  gut  und  in  Menge  vorhanden,  ebenso 
sind  eingeborene  Arbeiter  zu  niedrigem  Tagelohn  zu  haben. 

Die  Regierung  selbst  kolonisiert  hier,  wie  bereits 
erwähnt,  nach  den  abschreckenden  Erfahrungen,  die  sie  be- 
sonders in  Algerien  gemacht  hat,  im  allgemeinen  nicht, 
sucht  aber  darauf  hinzuwirken,  daß  die  Kontrakte  möglichst 
die  Bedingung  oder  mindestens  das  Versprechen  enthalten, 
daß  der  „Halbbauer"  oder  der  „Pächter"  früher  oder  später 
„Besitzer"  wird,  weil  sich  nur  so  französische  Ackerbauer 
zur  Übersiedelung  nach  der  Kolonie  verstehen.  Dagegen 
stellt  die  Regierung  der  Privat -Kolonisation  ihre  Presse  zur 
Verfügung,  bewilligt  die  Mitwirkung  ihrer  Agenten  bei  der 
Parzellierung,    trägt    einen   Teil   der  Lasten   für  Aufsuchung 


—     161      — 

und  Zuführung  von  Wasser  und  für  die  Fahrbarkeit  der 
Wege  und  sieht,  wenn  die  Ansiedelung  eine  gewisse  Größe 
erreicht  hat.  die  Erbauung  von  Schule,  Kirche  und  Post- 
station vor.  Auch  hat  sie  in  Tunis  zur  Beratung  der  Ein- 
wanderer ein  Auskunfts-Bureau  errichtet  und  im  Jahre  1900 
den  landwirtschafthchen  Kredit  auf  Grund  öffenthcher  Nieder- 
lagen und  des  Warrant -Systems  organisiert. 

Bei  nachgewiesener Notwendigkeitvon  Bewässerungs- 
arbeiten im  Interesse  einer  größeren  Zahl  führt  die  Re- 
gierung diese  Anlagen  aus,  unter  der  Bedingung,  daß  ihre 
Barauslagen  in  einer  gewissen  Reihe  von  Jahren  zurück- 
erstattet werden,  und  1897  ist  eine  besondere  Kasse  für  land- 
wirtschaftliche Bewässerung  eingerichtet  worden. 

Um  eine  Farm    von    150  ha   einzurichten   und  zu   be-    ^^",?*2''^" 

scnart 

wirtschaften,  von  der  50  ha  bestellt  und  der  Rest  als  Weide 
benutzt  wird,  bedarf  es  18  —  20  000  Francs;  für  eine  solche 
von  30  ha  genügen  10  000  Francs.  Mit  nur  5000  Francs 
aber  kann  ein  Einwanderer  nur  Halbbauer  werden,  d.  h.  der 
Grundbesitzer  überliefert  ihm  eine  Farm  mit  lebendem  und 
totem  Inventar  zur  Bewirtschaftung  und  hat  dafür  Anspruch 
auf  die  Hälfte  der  jährlichen  Ernte;  gewisse  Ausgaben  sind 
dabei  von  dem  Halbbauer  zu  übernehmen.  Auch  für  die 
Einrichtung  einer  Gemüsekultur  genügt  ein  Kapital  von 
4  —  5000  Francs.  Europäische  gewöhnliche  Landarbeiter 
werden  bevorzugt,  wenn  sie  auch  ein  Handwerk  verstehen, 
und  zwar  schwanken  die  Tagelöhne  auf  dem  Lande,  ohne 
Kost,  zwischen  2  und  3  Francs  für  Italiener  und  1 — IV^  Francs 
für  Eingeborene,  sind  also  billiger,  als  in  .Algerien. 

Von  dem  Gesamtareal  der  Regentschaft  rechnet  man  47  ^q 

auf  fruchtbares  Land,  10",,  auf  Hochsteppen  und  43  '^  „  auf  Wüste. 

Nord-Tunesien,  etwa  bis  zur  Linie  Enfidaville-El  Kef, 

eignet   sich  infolge  der  Niederschläge,    welche  50  —  90  cm 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripoliianien.  11 


—     162     — 

betragen,  und  des  fruchtbaren  Bodens,  einer  Mischung  von 
Sand  und  Mergel,  für  den  Anbau  europäischer  Körnerfrüchte 
und  die  Kuhur  der  Fruchtbäume  des  Mittelmeergebiets;  die 
stärkste  Regenzeit  fällt  hier  in  die  Monate  Januar  und 
Februar  und  die  Kolonisten  können  hier  meist  auf  genügende 
Niederschläge  rechnen,  um  gute  Ernten  aus  Getreide-  und 
Weinbau  zu  erzielen.  Natürlich  ist  dementsprechend  die 
Dichtigkeit  der  Bevölkerung,  auch  der  europäischen,  in  dieser 
Zone  am  größten,  besonders  in  den  Küstenstrichen. 

Mittel -Tunesien,  etwa  bis  zur  Linie  Sfax-Gafsa  ge- 
rechnet, ist  schon  bedeutend  weniger  begünstigt,  da  die 
Niederschläge,  durchschnittlich  etwa  20  cm  im  Jahre,  hier 
nur  unregelmäßig  und  selten  fallen  und  so  veränderlich 
sind,  daß  man  bei  Kairuan  nur  jedes  dritte,  bei  Sfax  nur 
jedes  fünfte  Jahr  auf  eine  gute  Weizenernte  rechnen  kann; 
auch  schadet  der  Scirokko  den  Pflanzungen  hier  bedeutend. 
Dagegen  ist  diese  Zone  vorzüglich  für  Olivenbau  und  V^ieh- 
zucht  geeignet. 

In  Süd- Tunesien  endlich  herrschen  infolge  der  hohen 
Temperatur  und  der  außerordentlichen  Trockenheit  Steppe 
und  Wüste  vor,  und  eine  Bodenbewirtschaftung  ist  hier  nur 
in  den  Oasen  und  mittels  künstlicher  Bewässerung  möglich. 

.-^m  fruchtbarsten  sind  das  leichte  Hügelland  um  den 
Golf  von  Tunis,  das  geräumige  Medscherda-Tal  mit  der  be- 
rühmten Landschaft  Frigea,  die  Ebene  von  Soliman.  die 
Küstenränder  der  Halbinsel  Dakhela,  der  breite  Küstenrand 
der  Sahel  und  die  Insel  Dscherba.  Der  vielfach  ausgesogene 
Boden  verlangt  freilich  fast  überall  reichliche  Düngung,  für 
welche  ja  allerdings  im  Lande  selbst  Phosphate  in  großen 
Mengen  vorhanden  sind,  und  sodann  ist  auch  hier  häufig  mit 
Heuschreckenschaden  zu  rechnen.  Ein  jeder  gut  verwaltete 
größere  Besitz  ist  deshalb  auf  Verschiedenartigkeit  des 
Betriebs  basiert  und  betreibt  sowohl  Viehzucht,  wie  Weizen-, 


—     163     — 

Wein-  und  Olivenbau,  sodaß  der  Fehlertrag  des  einen  durch 
günstigeren  Ertrag  des  anderen  Betriebs  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  ausgeglichen  werden  kann.  Weinreben  und 
Ölbäume,  deren  Wurzeln  sich  in  die  tiefer  liegenden  Wasser- 
schichten senken  können,  sind  sicherer  als  Getreide,  dessen 
Gedeihen  von  rechtzeitigem  Regenfall  abhängig  und  außerdem 
den  Schädigungen  durch  Heuschrecken,  Hagel  und  Scirokko 
mehr  ausgesetzt  ist. 

Vor  der  französischen  Schutzherrschaft  wurde  die  mit  Ackerbau. 
Getreide  bestellte  Fläche  auf  56 000  Mec blas  (ein  Flächen- 
maß von  8  — 15  ha,  in  den  verschiedenen  Teilen  Tunesiens 
wechselnd)  geschätzt,  inzwischen  ist  sie  auf  86000  Mechias 
gestiegen.  Den  Hauptertrag  liefern  Hartweizen  und  Gerste, 
daneben  wird  Mohrenhirse  und  iV\ais  angebaut,  und  die  Kolo- 
nisten haben  auch  Hafer  und  Roggen  erfolgreich  eingeführt. 
Nicht  in  jedem  Jahre  produziert  Tunesien  die  für  seinen 
eigenen  Bedarf  nötigen  Zerealien,  der  Getreideertrag  ist  viel- 
mehr außerordentlich  schwankend,  und  je  nachdem  man  ver- 
schieden begünstigte  Frntejahre  vergleicht,  kommt  man  zu 
sehr  verschiedenen  Schlüssen.  Die  französische  offizielle 
Berichterstattung  ist  von  Schönfärberei  nicht  frei,  es  scheint 
aber,  als  wenn  1901,  trotz  der  bedeutenden  Fortschritte  der 
europäischen  Kolonisation,  36  "^  Ackerboden  weniger  be- 
stellt waren  als  in  1891,  und  daß  der  Gesamtwert  der  Ernte 
in  diesem  Zeitraum,  nach  dem  Steuerertrag  gemessen,  um 
15  Millionen  Francs  gesunken  war. 

Es  waren  angebaut  mit 

Weizen  Gerste  Hafer  Mais 

1892:       437  000  429  000  1500  11800  ha 

1903:       462  000  449  000  28  000  10  800    „ 

und  die  Erträge  davon  waren 
1892:     1392000  1418000  15000  95000  hl 

1903:    2  650  000  4  000  000  575  000  137  000    „ 

ir 


—      164     — 

Die  Landbestellung  der  Eingeborenen  ist  meist  noch 
nach  Urväterweise  primitiv,  und  man  sucht  sie  durch  Ein- 
führung moderner  Geräte  zu  bessern;  freilich  haben  für 
Tiefkultur  eingerichtete  Pflüge  da,  wo  die  Humusschicht  nur 
dünn  ist,  die  unteren  Salzschichten  nach  oben  gepflügt  und 
damit  Äcker  und  Ernte  verdorben.  Der  Durchnittsertrag  des 
Hektars  Weizenboden  beträgt  bei  Europäern  12 — 15,  bei 
Eingeborenen  8  hl.  Ihren  Getreidevorrat  bewahren  die  Ein- 
geborenen in  unterirdischen,  flaschenförmigen  Magazinen  auf, 
die  hier  Rabtas  genannt  werden. 

Der  eventuelle  Überschuß  der  Getreideernte  geht,  durch 
die  Zollpolitik  begünstigt,  fast  ausschließlich  nach  Frankreich, 
wo  die  Gerste  für  Brauzwecke  beliebt  ist;  freilich  ist  der 
Überschuß  meist  kein  großer,  und  es  ist  im  letzten  Jahrzehnt 
wiederholt  vorgekommen ,  daß  der  Wert  der  Einfuhr  von 
Zerealien  und  Mehl  den  Wert  der  Ausfuhr  von  Weizen  und 
Gerste  überstieg. 

Von  den  Hülsenfrüchten  werden  Saubohnen,  ein 
sehr  beliebtes  Volksnahrungsmittel,  bevorzugt,  daneben 
Kichererbsen  und  gewöhnliche  Bohnen,  vereinzelt  auch  Erd- 
nüsse, Kartoffeln,  Fenchel  und  Koriander  angebaut. 

Der  Gemüsebau  ist  abhängig  von  der  Möglichkeit 
reichlicher  Bewässerung,  die  fast  durchgängig  durch  primitive 
Schöpfvorrichtungen  aus  tiefen  Brunnen  und  Zisternen  er- 
folgt, und  erstreckt  sich  auf  sämtliche  in  Europa  kultivierte 
Gemüse. 

Luzerne,  Klee  und  andere  unserer  Futterkräuter 
haben  sich  dagegen  in  Tunesien  nicht  bewährt,  wohl  aber 
glaubt  man  in  der  am  Mittelmeer  heimischen  Leguminose 
Sulla  oder  Sainfoin  d'  Espagne  (Hedysarum  coronarium) 
einen  geeigneten  Ersatz  gefunden  zu  haben. 

Das  Landschaftsbild  erhält  seinen  besonderen  Charakter 
vielerorts    durch  die  Olive,    welche    in   großen  Hainen   die 


—     165     — 

Siedelungen  umrahmt  und  die  niedrigen  Höhenzüge  bedeckt. 
Die  Kultur  des  Ölbaumes  und  die  Verbesserung  der  Ölzu- 
bereitung  ist  von  der  französischen  Verwaltung,  welche  darin 
mit  Recht  einen  der  aussichtsvollsten  Zweige  der  tunesischen 
Wirtschaft  erblickt,  außerordentlich  gefördert  worden,  die 
Erträge  aber  sind  je  nach  Trockenheit  in  den  verschiedenen 
Jahren  sehr  verschieden;  so  ergab  1899  eine  Ernte  von 
46  Millionen  Liter  Öl,  1900  dagegen  nur  11  Millionen  Liter. 
Besonders  im  Hinterland  von  Sfax  ist  die  Kultur  des  Oliven- 
baumes im  Zunehmen  begriffen;  im  Jahre  1900  schätzte  man 
die  dortigen  Olivenwälder  auf  192  000  ha  und  die  Zahl  der 
Bäume  darauf  mit  3^ :;  Millionen;  die  Gesamtzahl  der  Oliven- 
bäume in  der  Regentschaft  übersteigt  angeblich  11  Millionen; 
eine  genaue  Statistik  darüber  existiert  nicht.  Das  Öl,  feines 
sowohl,  wie  Trester-Öl,  geht  meist  nach  Frankreich  und 
Italien  und  wird  von  dort  aus,  nach  geschickter  Verarbeitung 
und  Mischung,  als  Eigenprodukt  in  die  Welt  geschickt. 

Der  Weinbau  in  Tunesien  entstand  in  größerem  Maß- 
stab erst  vom  Jahre  1886  ab,  und  in  der  Hoffnung  auf  die 
1890  auch  wirklich  eingetretene  zollpolitische  Begünstigung 
tunesischer  Produkte  in  Frankreich  wurden  auf  den  großen 
Domänen  Hunderte  von  Hektaren  in  Weinland  umgewandelt; 
erst  später  traten  dann  auch  Olivenpflanzungen  hinzu.  Am 
stärksten  wurde  der  Weinbau  bislang  in  der  Nähe  von  Tunis 
betrieben,  im  Jahre  1901  waren  in  diesen,  11300  ha  um- 
fassenden Betrieben  9700  Europäer  und  1600  Eingeborene 
beschäftigt,  und  der  Ertrag  belief  sich  auf  140  000  hl. 
während  das  Vorjahr  225  000  hl  im  Werte  von  je  14-16 
Francs  ergeben  hatte.  Ganz  vorzüglich  ist  die  Weinernte 
von  1903  ausgefallen,  die  von  14  240  ha  300  000  hl  ergab. 
In  manchen  Weinbergen  wurden  gegen  120  hl  Most  vom 
Hektar  erzielt  und  der  Durchschnittsertrag  übertraf  70  hl. 
Die  Preise  waren  allerdings  von  25  auf  15  Francs  gesunken 


—     166     — 

und  bewegten  sich  zwischen  2  und  2^4  Francs  für  jeden 
Alkoholgrad.  Die  Ausfuhr  richtet  sich  ganz  überwiegend 
nach  Frankreich,  und  zwar  wurden  1903  an  landwirtschaft- 
lichen Produkten  ausgeführt:  Weizen  14,  Gerste  10,  Olivenöl 
2^2  und  Wein  1^3  Millionen  Francs. 

Von  Obstbäumen,  die  besonders  im  Kap  Bon-Distrikt 
und  überwiegend  von  Sizilianern  und  Maltesern  viel  kultiviert 
werden,  sind  hervorzuheben  die  Agrumen  Orangen,  Manda- 
rinen und  Zitronen,  sodann  Feigen,  Mandeln,  Granaten, 
Äpfel,  Birnen,  Quitten,  Pfirsiche,  Aprikosen,  Pistazien  und 
Maulbeeren,  auch  zieht  man  gute  Melonen.  Die  Mandelernte 
des  Jahres  1902  ergab  175  000  kg. 

Eine  der  einträglichsten  Einnahmequellen  bildet  die 
Dattelernte  im  Dscherid,  welches  etwa  zwei  Millionen 
Dattelpalmen  besitzt  und  weit  bessere  Früchte  als  die  alge- 
rischen, unter  anderen  die  berühmten  Degla-Datteln  liefert; 
auch  die  Cie.  Tunisienne  ist  dort  erfolgreich  tätig.  Tunesiens 
Dattelexport  betrug  im  Jahre  1900  eine  Million  Kilogramm. 

Von  Narkotika  werden  Tabak,  Hanf  und  Mohn  an- 
gebaut, von  Farbstoffen  Krapp  und  Henna,  daneben  viele 
wohlriechende  Pflanzen,  wie  Rosen,  Rosen-Geranien,  Jas- 
min u.  a. ,  deren  duftende  Blüten  man  ebenso,  wie  die  von 
Orangen,  zur  Bereitung  von  Essenzen  verwendet. 

Auch  dem  Baumwollanbau  hat  man  hier  neuerdings, 
besonders  seitens  der  englischen  Cotton  Supply  Association, 
Aufmerksamkeit  zugewandt  und  in  der  Ackerbauschule  zu 
Tunis  mit  ägyptischen  Arten  gute  Erfolge  erzielt. 

Zur  Förderung  der  Landwirtschaft  hatte  die  französische 
Verwaltung  schon  1887  ein  Laboratorium  für  Ackerbau- 
Chemie  und  Verwaltungs- Dienste  für  Ackerbau,  Weinbau, 
Viehzucht  und  Veterinärdienst  eingerichtet;  1889  legte  sie 
dann  auf  verschiedenen  Besitzungen  Versuchsfelder  an, 
1890  wurde  eine  besondere  Ackerbau -Direktion   geschaffen 


—     167     - 

und  im  Oktober  1898,  2  km  von  Tunis  entfernt,  eine  Schule 
für  koloniale  Landwirtschaft  eröffnet,  welcher  auch  der  schon 
seit  1892  bestehende  V'ersuchsgarten ,  eine  meteorologische 
Station  und  eine  Versuchswirtschaft  angegliedert  sind,  um 
die  Schüler  für  die  Bodenwirtschaft  und  die  Viehzucht  Nord- 
afrikas vorzubereiten;  dieselben  erhalten  auf  Wunsch  dann 
auch  noch  eine  praktische  Ausbildung  auf  einer  der  großen 
Domänen  Tunesiens.  Besondere  Beachtung  widmet  die 
Schule  dem  Anbau  von  Wein,  Oliven,  Frühgemüsen  und 
Futterpflanzen. 

Die  Waldungen  Tunesiens  sind  durch  Dekret  von 
1890  der  Domäne  einverleibt,  unter  Anerkennung  der  vor 
Erlaß  dieses  Gesetzes  rechtmäßig  erworbenenen  Besitz-  und 
Nutzrechte,  und  eine  besondere  Forstdirektion,  1883  zunächst 
dem  Departement  der  öffentlichen  Arbeiten.  1895  dem  Acker- 
bau-Departement unterstellt,  wacht  über  Erhaltung  und  Aus- 
nutzung der  Wälder,  die  im  ganzen  etwa  5000  qkm  um- 
fassen und  am  ausgedehntesten  auf  den  nördlichen  Berg- 
zügen vertreten  sind.  Der  Ertrag  der  fjskalischen  Eichen- 
wälder belief  sich  im  Jahre  1901  auf  533  000  Francs. 

Einen  wichtigen  Artikel  liefert  auch  die  Haifa,  welche 
besonders  auf  den  Steppen  wächst,  die  sich  an  die  mittel- 
tunesischen Gebirge  anlehnen  und  vom  Meere  im  allgemeinen 
durch  einen  Streifen  fruchtbaren  Landes  getrennt  sind,  süd- 
lich von  Gabes  aber  auch  das  Meer  erreichen;  man  schätzt 
das  tunesische  Haifa -Areal  auf  1  500  000  ha.  Schon  vor 
20  Jahren  erhielt  eine  englisch -französische  Gesellschaft  die 
Konzession  auf  Ausbeutung  einer  großen  Strecke  Halfa- 
landes im  Hinterland  des  kleinen  Hafens  Skira.  nahe  der 
Sebcha  Nuail;  wegen  Nichterfüllung  der  Bedingungen  wurde 
dieses  Privileg  aber  später  zurückgezogen.  Die  Stipa  tena- 
cissima  wird   im   Frühjahr  von   Nomaden  geerntet  und   auf 


—     168     — 

Kamelen  zu  den  Küstenstädten,  besonders  nach  Susa,  Sfax 
und  Gabes  gebracht,  wo  sie  in  Ballen  gepreßt  und  sodann 
überwiegend  nach  England  zur  Papierfabrikation  geschickt 
wird.  Zur  Verarbeitung  der  zweiten  Art  aber,  des  Lygeum 
spartum,  hat  sich  in  Sfax  und  auf  den  Kerkena- Inseln  eine 
selbständige  Industrie  herausgebildet. 

Viehzucht.  Die    im  allgemeinen    noch    sehr   nachlässig  betriebene 

Viehzucht  beschäftigt  namentlich  einen  großen  Teil  der 
nomadisierenden  Bevölkerung  und  bildet  deren  hauptsäch- 
lichste und  manchmal  einzige  Hülfsquelle.  Im  Jahre  1892 
wurde  der  Viehstand  angegeben  mit 

Schafen  Ziegen  Rindern  Kamelen 

1223  681  232  122  Tausend, 

Eseln  und  Mauleseln  Pferden 

120  51  Tausend, 

im  letzten  Jahrzehnt  hat  er  aber  zeitweilig  sehr  unter  an- 
steckenden Krankheiten  gelitten,  und  so  waren  im  Jahre  1899 
Schafe  zurückgegangen  auf  795  000,  Ziegen  auf  513  000, 
Rinder  auf  190  000,  Esel  und  Maultiere  auf  114  000  und 
Pferde  auf  38  000,  während  die  Zahl  der  Kamele  auf  186  000 
gestiegen  war;  Schweine  wurden  1899  nur  7400  gezählt. 
Zwischen  1891  und  1901  hat  sich  der  Viehstand  Tunesiens 
um  357  000  Köpfe  und  im  Werte  um  14  Millionen  Francs 
vermindert,  und  wenn  trotzdem  die  Ausfuhr  von  Vieh  und 
Häuten  zugenommen  hat,  so  ist  dies  auf  Kosten  des  Be- 
standes und  nicht  dank  einer  erfreulich  entwickelten  Vieh- 
zucht geschehen.  Während  in  Algerien  auf  jeden  Einge- 
borenen 4  Köpfe  Vieh  kommen,  beträgt  die  Zahl  in 
Tunesien  nur  1  ^jz. 

Das  tunesische  Rind,    meist    von  der  Guelma  -  Rasse, 
ist  von  sehr  kleinem  Schlag  und  dürftig  in  Muskulatur,  aber 


—     169     — 

sehnig  und  zu  allen  Arbeiten  gut  zu  verwenden;  da  das 
Futter  fast  während  des  ganzen  Sommers  nur  aus  Stroh 
besteht,  so  liefern  die  Kühe  nur  wenig  Milch.  Die  Hälfte 
der  Ausfuhr  geht  nach  Malta,  besonders  die  Ochsen  und 
Stiere,  während  Algerien  Kühe  und  Jungvieh  bezieht;  die 
sehr  mittelmäßigen  Ochsenhäute  werden  nach  Frankreich 
geschickt. 

Die  Schafherden  bilden  den  Hauptreichtum  der  No- 
maden und  liefern  ihnen  Milch.  Butter  und  Wolle.  Bislang 
ist  die  Tunis-Wolle  in  Farbe  und  Güte  allerdings  so  stark 
wechselnd,  daß  sie,  mit  Ausnahme  von  Italien,  in  Europa 
unbeliebt  ist;  sie  wird  meist  im  Lande  selbst  verarbeitet  zu 
Gewändern  und  Teppichen,  welche  auch  in  Tripolis  und 
Egypten  gefragt  sind  und  dorthin  e.xportiert  werden,  ebenso 
wie  die  roten  Fes,  welche  allerdings  durch  die  österreichische 
Konkurrenz  rapide  verdrängt  werden.  Zu  dem  einheimischen, 
in  Frankreich  unverkäuflichen  Fettschwanzschaf  haben  die 
französischen  Kolonisten  mit  Erfolg  auch  edlere  Schaf- 
sorten aus  Algerien  und  Frankreich  in  Tunesien  eingeführt, 
und  die  Regierung  hat  für  französische  Rambouillet -Böcke 
zu  Zuchtzwecken  gesorgt. 

Die  zahlreichen,  überwiegend  im  Besitz  der  Einge- 
borenen befindlichen  Ziege nherden  kommen  bei  ihrer 
großen  Genügsamkeit  in  den  Bergen  gut  fort,  richten  aber 
großen  Waldschaden  durch  Benagen  an.  Die  langen,  schwarzen 
oder  rotbraunen  Haare  dienen,  mit  Schafwolle  gemischt, 
zum  Weben  der  Zelttücher,  die  Häute  zu  Wasser-  und  Öl- 
schläuchen.  Die  Schaf-  und  Ziegenfelle,  von  besserer  Qua- 
lität als  die  Rindshäute,  gehen  nach  Nordamerika. 

Die  Pferde  gehören  vorwiegend  der  Berberrasse  an 
und  sind  klein,  aber  ausdauernd  und  genügsam;  bei  den 
Nomaden  des  Südens  sind  Pferde  der  arabischen  Rasse  und 
Mischschläge  mit   dieser  vertreten,    und    die    Regierung   hat 


—     170     — 

letzthin  auch  die  ziemlich  heruntergekommene  Berberrasse 
mit  ausgewählten  tunesischen,  englischen  und  syrischen 
Zuchthengsten  zu  heben  gesucht. 

Die  Maultiere  von  Eselhengst  und  Pferdestute  sind 
wegen  ihres  angenehmen  und  schnellen  Paßganges  von  den 
Mauren  sehr  geschätzt,  im  Innern  aber  selten  zu  finden. 
Die  Ausfuhr  der  Pferde  und  Maultiere  richtet  sich  über- 
wiegend nach  Italien,  der  Rest  geht  nach  Malta,  Algerien 
und  Frankreich. 

Die  kleinen  Esel  sind  ungeheuer  leistungsfähig,  dabei 
noch  zäher  und  ausdauernder  als  das  Pferd,  werden  aber 
von  den  Eingeborenen  schlecht  und  grausam  behandelt. 

Mit  Schweinezucht  ist  in  Nordtunesien  von  den 
Italienern  ein  Anfang  gemacht  worden. 

Haushühner  sind  überall,  selbst  in  den  Zeltdörfern 
der  Nomaden  vertreten  und  wegen  Fleisch,  wie  Eiern  ge- 
schätzt; daneben  wird  als  Luxushuhn  das  aus  dem  Sudan 
eingeführte  Perlhuhn  gehalten,  während  Enten  und  Gänse 
selten  und  meist  nur  bei  europäischen  Kolonisten  anzu- 
treffen sind. 

Die  Bienenzucht    liefert    nennenswerte   Mengen    von 
Honig  und  Wachs,  und  die  französische  Regierung  hat  auch 
die   Seidenraupenzucht    mit    guter    Aussicht    auf    Erfolg 
eingeführt. 
Fischerei.  Das  Meer  liefert  Fische,  Schwämme  und  Schildkröten, 

und  zwar  wurde  ein  Teil  dieser  Fischereien  bis  1892  vom 
Staate  verpachtet;  seitdem  ist  eine  andere  Form  der  Be- 
steuerung eingeführt.  Das  Hauptprodukt  liefern  Sardinen, 
Anchovis  und  Thunfisch,  welche,  ebenso  wie  der  Thun- 
Rogen,  überwiegend  nach  Italien  gehen,  während  im  Golf 
von  Gabes  viel  Tintenfische  gefangen  und  für  den  Sudan- 
handel eingesalzen  werden.  Die  Ausbeutung  des  überaus 
fischreichen   Biserta-Sees  hat  von  jeher  eine  wichtige   Ein- 


—     171     — 

nahmequelle  des  tunesischen  Staates  gebildet  und  ist  jetzt 
an  die  Hafengesellschaft  von  Biserta  verpachtet,  welche 
jährlich  etwa  eine  Million  Pfund  Fische  fängt.  Die  Schwamm- 
fischer, die  mit  Dreizack,  Schleppnetz  oder  Skaphander  ar- 
beiten, sind  überwiegend  Sizilianer,  Neapolitaner  und  Griechen, 
daneben  auch  Einwohner  der  Kerkenas- Inseln,  und  zwar 
sind  die  wichtigsten  Plätze  für  den  Schwammfang  Sfax, 
Gabesund  die  Kerkena-Inseln,  für  den  Fischfang  Monastir 
und  Sidi  Daud.  Die  tunesischen  Schwämme  zeichnen  sich 
durch  Güte  und  Dauerhaftigkeit  aus,  und  die  von  Griechen 
und  Italienern  betriebene  Schwammfischerei  im  Golfe  von 
Gabes  ergab  1901:  117  000  kg  im  Werte  von  1408  000 
Francs;  die  Käufer  sind  große  französische,  belgische  und 
italienische  Firmen,  welche  in  Sfax  Vertreter  unterhalten  und 
den  ganzen  Handel  mit  Schwämmen  in  ihren  Händen  haben. 

Tunesien  hat  auch  sehr  alte  und  berühmte  Hand-  Gewerbe. 
werke,  die  in  der  Hauptstadt  und  anderen  größeren  Städten 
in  Korporationen  organisiert  sind,  aber  angesichts  der  Än- 
derung des  Geschmacks  und  Bedarfs  unter  europäischem 
Einfluß  immer  weniger  gegen  die  europäische  Großindustrie 
anzukämpfen  vermögen  und  meist  im  Rückgang  begriffen 
sind.  Die  früher  in  hoher  Blüte  stehende  Fesfabrikation 
und  Färberei,  welch  letztere,  gleich  der  Seidenweberei,  welche 
noch  5000  Arbeiter  aufweist,  für  eine  vornehme  Beschäf- 
tigung galt,  ist  jetzt  durch  die  von  österreichischen  Fabriken 
ausgehende  Konkurrenz  fast  ganz  verschwunden;  auch  die 
Ledergerberei  und  die  Herstellung  von  Saffian  geht  rapide 
zurück,  und  nur  die  Sattlerei  und  die  Pantoffelfabrikation 
sind  noch  blühend.  Handspinnerei  und  Weberei  stellen  den 
Hausbedarf  an  wollenen  Kleiderstoffen  und  Zeltdecken  her, 
und  die  französische  Regierung  versucht  jetzt  in  Tunis  und 
Kairuan  Arbeiter  heranzubilden,    um   die  alte   Methode  der 


—     172     — 

Färbung  mit  Pflanzenfarben  wieder  zu  Ehren  zu  bringen 
und  dadurch  die  einst  berühmte  Teppichindustrie  aufs  neue 
zu  heben,  die  seit  Jahrzehnten  durch  das  Eindringen  der  Ani- 
linfarben schwer  gelitten  hat.  Erwähnenswert  sind  ferner 
Stickereien,  irdenes  Geschirr  nach  sehr  alten  Mustern,  be- 
sonders in  Nabeul  und  Dscherba,  Gold-  und  Silberschmiede- 
arbeiten, Korbflechtereien  und  Matten  aus  Haifastroh  und 
Palmetto;  auch  destilliert  man  wohlriechende  Wässer,  be- 
reitet Seifen  und  betreibt  primitive  Ölmühlen.  Die  von  den 
Franzosen  eingeführte  und  betriebene  Industrie  beschränkt 
sich  bislang  auf  Mahlmühlen,  Ziegeleien,  Zementfabriken, 
Wollwäscherei,  zwei  Brauereien  und  die  in  Tabarka,  Biserta 
und  Hammamet  betriebene  Konservenindustrie  von  Gemüsen, 
Fleisch  und  Fischen. 

Bergbau.  Bergbau,  obgleich  schon  unter  den  Römern  hier  auf 

Blei  betrieben,  war  für  modernen  Betrieb  vor  Erklärung  der 
französischen  Schutzherrschaft  aussichtslos,  weil  sich  mangels 
Straßen  und  Eisenbahnen  der  Transport  der  Erze  zur  Küste 
zu  schwierig  und  zu  kostspielig  gestaltete,  und  noch  bis  zum 
Jahre  1900  beschränkte  sich  der  ganze  Bergbau  auf  die 
Förderung  von  Zink-  und  Blei- Erzen  aus  vier  Gruben, 
welche  jährlich  für  etwa  eine  Million  Francs  dieser  Erze 
ausführen.  Seitdem  sind  mehrere  größere  Unternehmungen 
eingeleitet  worden,  und  Anfang  1902  waren  im  ganzen  18  Ge- 
sellschaften konzessioniert,  davon  je  eine  in  1876  und  1877, 
die  übrigen  erst  nach  der  französischen  Okkupation;  die 
älteste  Konzession  wurde  1876  der  Cie.  Böne-Guelma  auf  die 
goldreichen  Bleilager  von  Dschebba  erteilt,  welche  im  Jahre 
1900  von  der  Societe  de  la  Vieille  Montagne  übernommen 
wurden.  Die  Zentren  für  den  Abbau  von  Zink  (Galmei  und 
Kieselgalmei)  und  von  Blei  (Galena)  in  Nordturnesien  sind 
Tebursuk,  Beja  und  Suk  el  Arba.    Die  Zink-  (Galmei-)  Lager 


—     173     — 

sind  meist  nur  „Nester"  von  selten  mehr  als  5000  Tons 
Umfang.  Kupfer  ist  an  vielen  Orten  Nordtunesiens  ver- 
treten, abbauwürdig  aber  nur  eine  Ader  nahe  der  algerischen 
Grenze,  und  die  reichen,  teilweise  zutage  liegenden  Eisen- 
läger,  z.  B.  die  in  Tabarka  —  die  allerdings  arsenikhaltig 
sind  —  sind  vorläufig  noch  gar  nicht  in  Angriff  genommen, 
da  Unternehmer  und  Regierung  mit  Kapitalbeschaffung  und 
Eisenbahnbau  zögern.  Auch  in  Süd -Tunesien  fehlt  es  nicht 
an  gleichen  Erzen,  wohl  aber  an  billigen  Transportgelegen- 
heiten nach  geeigneten  Häfen.  Betreffs  der  vor  einiger  Zeit 
viel  besprochenen  Goldfunde  ist  es  ganz  still  geworden. 
Man  hatte  1903  in  den  die  Hauptstadt  umgebenden  Bergen 
goldhaltige  Lager  entdeckt  und  daraufhin  fand  ein  großer 
Zuzug  von  Goldsuchern  statt,  deren  hochgespannte  Erwar- 
tungen sich  aber  nicht  erfüllten,  da  die  Arbeiten  nicht  ein- 
mal die  zur  Goldgewinnung  aufgewandten  Kosten  deckten. 
Eine  große  Wichtigkeit  hat  dagegen  bereits  die  Aus- 
beutung der  Phosphatlager  erlangt,  welche  in  Mittel-  und 
Südtunesien  reichlich  vertreten  sind,  besonders  bei  Gafsa, 
bei  Kalaat  es  Senan  nahe  der  algerischen  Grenze  und  bei 
Kalaat  Dscherda;  aber  auch  bei  Sfax  und  Kairuan  sind  noch 
große  unentwickelte  Läger  vorhanden.  Ein  paar  Probe- 
tonnen von  tunesischen  Phosphaten  wurden  zuerst  1898 
nach  Frankreich  geschickt;  nachdem  1899  die  Bahnlinie 
Sfax  — Gafsa  fertiggestellt  war,  nahm  man  die  Ausbeute  der 
60  km  langen  Lager  bei  Gafsa,  welche  nach  Wegräumung 
einer  Erdschicht  bequem  im  Tagebau  betrieben  wird,  ener- 
gisch in  die  Hand,  und  es  entwickelte  sich  bald  ein  lebhafter 
Export  nach  England,  Frankreich,  Italien  und  Deutschland, 
der  1901  bereits  einen  Umfang  von  175  000  Tons  im  Werte 
von  4'j  Millionen  Francs  erreichte  und  1903  auf  358  000 
Tons  stieg.  Die  500  Francs -Aktien  der  1896  auf  60  Jahre 
konzessionierten  Cie.  des  Phosphates  und  du  chemin  de  fer 


—     174     — 

de  Gafsa,  welche  einen  Franc  pro  Tonne  Förderung  an  den 
Staat  zu  zahlen  hat,  wurden  im  Mai  1904,  bei  einer  letzt- 
bezahlten Dividende  von  30  Francs,  mit  900  Francs  an  der 
Pariser  Börse  notiert,  anfang  1905  dagegen  bereits  mit  1355 
Francs,  obgleich  die  Dividende  währenddem  nur  auf  35 
Francs  gestiegen  war.  Inzwischen  hatte  nämlich  die  Gesell- 
schaft sich  auch  die  ausgedehnten  Phosphatlager  von  Ai'n 
Moulares  und  Dschebel  Mrata,  50  km  westlich  von  Gafsa, 
nahe  der  algerischen  Grenze,  gesichert,  deren  jährlicher 
Minimalertrag  auf  250  000  Tons  geschätzt  wird,  und  mit 
deren  Abbau  sie  1905  beginnen  will.  Der  Staat  genießt 
darauf  eine  Abgabe  von  Francs  1,52  auf  die  Tonne.  Diese 
neuen  Lager  sollen  Eisenbahn -Verbindung  mit  Susa  erhalten, 
und  zwar  soll  diese  Linie  1905  aus  Mitteln  der  Eisenbahn- 
Anleihe  gebaut  werden. 

Betreffs  der  Auffindung  und  Ausbeutung  von  Erz-  und 
Phosphatlagern  bestehen  besondere  tunesische  Gesetze. 

Aus  den  mit  salzhaltigem  Schlamm  gefüllten  Becken 
der  Schotts,  deren  Brackwasser  im  Sommer  größtenteils  ver- 
dunstet, ist  dann  auskristallisiertes  Salz  einfach  wegzu- 
schaufeln und  für  den  Landesbedarf  gebrauchsfertig;  alle 
Salzstellen  sind  Monopol  des  Staates. 

Ein  natürliches  kohlensaures  Mineralwasser,  ähnlich 
dem  von  St.  Galmier,  wird  in  AVn  Garsi  bei  Enfidaville, 
nachdem  es  schon  die  Römer  gefaßt  hatten,  seit  1901  von 
einer  tunesischen  Gesellschaft  ausgebeutet. 

Handel.  \yjr  kommen  nun  zur  Besprechung  des  Handels. 

Vor  Einrichtung  der  internationalen  Finanzkommission 
gab  es  in  Tunesien  überhaupt  keine  statistischen  Anschrei- 
bungen,  und  in  den  Jahren  1875  —  80,  also  kurz  vor  der 
französischen  Okkupation,  betrug  der  gesamte  Fremdhandel 
jährlich  durchschnittlich  nur  22  Millionen  Francs. 


—     175     — 

Bis  zum  Jahre  1890  lag  der  Handel  größtenteils  in 
italienischen  Händen,  da  die  italienische  Einfuhr  in  Frank- 
reich billigere  Zölle,  als  die  tunesische  zahlte;  wurden  doch 
tunesische  Produkte  in  Frankreich  bis  1890  wie  fremde  be- 
handelt und  genossen  nicht  einmal  den  Vorzug  der  Meist- 
begünstigung. Das  änderte  sich  aber  gründlich,  nachdem 
das  Gesetz  vom  19.  Juli  1890  gestattete,  daß  die  Haupt- 
produkte der  Regentschaft :  Getreide,  Vieh,  Oliven  und  Wein, 
in  jedes  Jahr  zu  bestimmenden  Mengen  und  unter  Beibringung 
von  Ursprungszeugnissen,  auf  französischen  Schiffen  freie 
Einfuhr  ins  Mutterland  genießen,  während  die  übrigen  Pro- 
drukte  dem  französischen  Minimaltarif  unterworfen  sein 
sollten.  Dieses  System  verhinderte  zwar  den  Abschluß  von 
Lieferungsverträgen,  da  nie  im  voraus  die  Gewißheit  vor- 
handen ist,  auf  wieviel  sich  die  freie  Einfuhr  in  Frankreich 
belaufen  wird,  und  außerdem  wird  dadurch  die  Aufnahme 
und  Pflege  von  neuen,  aber  nicht  durch  die  Zollpolitik  be- 
günstigten Produkten  in  Tunesien  erschwert,  aber  der  fran- 
zösische Handel  fand  dabei  seine  Rechnung,  in  Getreide, 
Öl  und  Wein  monopolisiert  Frankreich  geradezu  die  tune- 
sische Ausfuhr,  und  im  Juli  1904  nahmen  die  Kammern 
einen  Gesetzentwurf  an,  wonach  die  Einfuhr  tunesischen 
Getreides  in  Frankreich  gänzlich  zollfrei  sein  soll,  sobald 
die  Einfuhr  fremden  Getreides  in  Tunesien  mit  dem  fran- 
zösischen Minimalzoll  belegt  ist. 

Frankreichs  Einfuhr  in  Tunesien  dagegen  war  damals 
noch  nicht  durch  Zolldifferenzierung  zu  heben,  weil  die 
Regentschaft  auch  mit  anderen  europäischen  Staaten  Handels- 
verträge abgeschlossen  hatte,  welche  bei  der  Okkupation  des 
Landes  von  den  Franzosen  garantiert  worden  waren.  Der 
Handelsvertrag  zwischen  Italien  und  Tunesien  vom  8. 
August  1868,  welcher  Meistbegünstigung  vorsah,  lief  1896 
ab,  und  bei  dieser  Gelegenheit  sicherte  sich  Frankreich  eine 


—     176     - 

besonders  günstige  Stellung,  ebenso  wie  bei  der  Erneuerung 
des  Handelsvertrags  mit  England  sowohl,  das  früher  eine 
„ewige"  Meistbegünstigung  von  Tunesien  erwirkt  hatte,  wie 
auch  mit  anderen  Staaten,  und  damit  wurde  dem  nicht- 
französischen Wettbewerb  ein  schwerer  Schlag  zugefügt. 
Durch  das  in  der  Regentschaft  am  2.  Mai  1898  erlassene 
Dekret  wurden  die  Einfuhrzölle  der  Kolonie,  welche  bislang 
8  7o.  auf  Weine  und  Spirituosen  10  %  vom  Werte  betragen 
hatten,  geändert  und  ein  neuer,  sehr  spezialisierter  Tarif 
mit  nicht  weniger  als  827  Positionen  aufgestellt,  welcher 
genau  der  Konkurrenzfähigkeit  der  einzelnen  französischen 
Industrien  angepaßt  ist,  um  diese  in  erster  Linie  zu  be- 
günstigen, und  nur  für  einen  kleinen  Teil  den  alten  Satz  von 
8  %  beibehält,  während  die  meisten  Positionen  dem  fran- 
zösischen Minimaltarif  entsprechen.  Um  die  Einnahmen  der 
Regentschaft  nicht  zu  bedeutend  zurückgehen  zu  lassen, 
ließ  man  zwar  nicht  alle,  aber  doch  die  folgenden  aus 
Frankreich  stammenden  Waren  zollfrei  in  Tunesien  ein: 
Weizen,  Mais,  Gerste,  Tiere,  Wolle,  Seide,  Öl,  Wein  — 
dieser  bezahlt  lO'^o  Octroi  —  Branntwein,  Liköre,  Alkohol, 
Eisen,  Kupfer,  Maschinen,  Eßwaren,  Garne,  Gewebe  und 
Kleider.  Nur  englische  Baumwollwaren  haben  bis  Ende 
1912  die  Vergünstigung  erlangt,  keinen  höheren  Zoll  als  5  % 
zu  zahlen.  Zucker  und  Alkoholika  jeder,  auch  französischer 
Provenienz,  bezahlen  außer  dem  Zoll  noch  eine  Konsum- 
abgabe. 

Auf  Grund  dieser  Maßnahmen  nahm  nunmehr  natür- 
lich auch  Frankreichs  Einfuhr  in  Tunesien  nennenswert  zu, 
und  während  der  französische  Gesamthandel  mit  der  Regent- 
schaft 1890  nur  22  Millionen  Francs  betrug,  war  er  1899 
auf  67  Millionen  gestiegen. 

Algerien  und  Tunesien  bilden  bislang  kein  gemein- 
sames Zollgebiet,    sondern   sind   durch  Zollgrenze  getrennt. 


—     177     — 

Früher  oder  später  und  nach  Ablauf  der  jetzigen  Verträge 
wird  es  aber  auch  zwischen  Frankreich  und  Tunesien  zu 
einer  vollen  Zolleinheit  kommen,  wie  sie  zwischen  Frank- 
reich und  Algerien  bereits  längst  besteht,  und  es  würde  nur 
rationell  sein,  dann  auch  die  Zollgrenze  zwischen  Tunesien 
und  Algerien  sinken  zu  lassen;  realisieren  sich  die  fran- 
zösischen Hoffnungen  in  Marokko,  so  könnte  auch  diesesi 
später  in  das  gemeinsame  Zollgebiet  einbezogen  werden. 

im  Speziellen  weist  die  Entwicklung  folgende  Zahlen  auf: 

1876        85  90  92 


Einfuhr 

12 

27 

29 

39 

Mill. 

Francs 

Ausfuhr 

17 

18 

31 

37 

n 

t» 

Gesamthandel 

29 

45 

60 

76 

" 

" 

1894 

96 

98 

99 

Einfuhr 

42 

46 

53 

56 

Mill. 

Francs 

Ausfuhr 

37 

34 

44 

49 

„ 

„ 

Gesamthandel 

79 

80 

97 

105 

n 

»1 

1900 

Ol 

02 

03 

Einfuhr 

61 

64 

73 

83,6 

Mill. 

Francs 

Ausfuhr 

43 

39 

45 

71,4 

„ 

„ 

Gesamthandel 

104 

103 

118 

155 

„ 

„ 

Die  Handelsbewegung  wird  natürlich  stark  von  dem 
Ausfall  der  Ernten  beeinflußt  und  zeigt  ein  ständiges  Über- 
wiegen der  Einfuhr  über  die  Ausfuhr,  was  sich  besonders 
durch  die  Materialeinfuhr  für  Eisenbahn-  und  Hafenbauten 
und  den  Bedarf  der  Okkupationsarmee  erklärt. 

V^on  der  Einfuhr  des  Jahres  1901  stammten  58 "  o 
aus  Frankreich,  12'-".,  aus  England,  8"o  aus  Italien. 
4 "  I,  aus  Algerien  und  nur  1  "  ,<  aus  Deutschland,  wobei 
allerdings  zu  beachten  ist,  daß  die  über  Marseille  kommenden 
deutschen,    schweizer  und   andern  Waren   einfach  als   „ fran- 


se hanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien. 


12 


—     178     — 

zösische"  aufgeführt  werden.  Auf  die  einzelnen  Artikel  ver- 
teilt, entfielen  1901  auf  Getreide,  Mehl  und  Gries  7,7,  Baum- 
wollgewebe 8,6,  Seidenwaren  1,9,  Wollgewebe  1,  Wäsche 
und  Konfektion  1,  Leinenwaren  1,  Eisenwaren  2,3,  Maschinen 
2,1,  Leder  1,6,  Bauholz  1,4,  Zucker  2,1,  Weine  und  Spiri- 
tuosen 1,9,  Tabak  0,9,  Kaffee  0,7  Millionen  Francs.  Frank- 
reich liefert  besonders  Getreide,  Mehl  und  Gries,  Maschinen 
und  Eisenwaren,  Zucker,  Baumwollwaren,  Rohseide,  Wein 
und  Spirituosen  und  Kolonialprodukte;  England  herrscht 
bislang  noch  in  Baumwoll-Garnen  und  Geweben,  sodann 
in  Kohlen  und  liefert  ferner  Maschinen  und  Eisenwaren. 
Italien  liefert  Teigwaren  und  Käse,  Rußland  Mehl  und 
Gries.  Der  Wert  der  deutschen  Ausfuhr  aus  dem  Zoll- 
gebiet ist  nach  der  Reichsstatistik  in  den  letzten  Jahren  von 
277  000  Mark  in  1899  auf  578  000  Mark  im  Jahre  1902  ge- 
stiegen und  wies  in  erster  Linie  Strumpfwaren  122,  Leder 
89,  Eisen-  57  und  Baumwollwaren  mit  44  Tausend  Mark  in 
1902  auf,  daneben  Glaswaren,  Uhren,  Farben  usw.  1903 
war  diese  Ausfuhr  auf  641  000  Mark  gestiegen.  Das  Zoll- 
abkommen mit  Deutschland  vom  18.  November  1896  lief 
zunächst  bis  zum  31.  Dezember  1903  und  gilt  von  da  ab 
bis  zu  einem  Jahre  nach  erfolgter  Kündigung. 

Aus  dem  Sudan  kommen  etwas  Senna,  Gummi, 
Straußenfedern  und  Elfenbein. 

Von  der  Ausfuhr  des  Jahres  1901  gingen  46  "„  nach 
Frankreich  und  9 "  o  nach  Algerien,  16  "n  nach  Italien,  13^0 
nach  England,  5  ^'2  %>  nach  Malta,  4 "  n  nach  Tripolitanien 
und  Ägypten  und  2  "  0  nach  Deutschland,  und  zwar  entfielen 
davon  auf  Getreide  (wovon  ^'3  Weizen)  6,7,  Olivenöl  5,8, 
Phosphate  4,5,  Haifa  3,  lebende  Tiere  3,3,  Schwämme  2, 
Zinkerze  2,  Felle  und  Häute  1,6,  Thunfisch  1,  Gerbrinden  1 
Million  Francs,  fernere  kleinere  Beträge  von  Wein,  Datteln, 
Blei,    Kork,    Wachs,    Honig    und    Wollfabrikaten.     Frank- 


—     179     — 

reich  empfing  in  der  Hauptsache  Getreide,  Olivenöl,  Vieh, 
Schwämme.  Wein  und  Datteln,  und  zwar  ließ  es  1900  01 
folgende  Mengen  aus  Tunesien  zollfrei  ein :  Weizen  800, 
Gerste  450,  Hafer  80,  Mais  25,  Bohnen  30  Tons;  Pferde 
1000,  Esel  1000,  Rinder  25  000,  Schafe  30000,  Ziegen  1000 
Stück;  Geflügel  8000,  Schildkröten  2000  kg;  Wein  185000  hl; 
Diverse  im  Höchstbetrag  von  zusammen  6  Millionen  Francs, 
darunter  Olivenöl  (1901  2  mit  20  Millionen  kg).  Italien 
bezieht  Olivenöl,  Gerberlohe  und  Fische;  England  Haifa; 
Deutschlands  Einfuhr  ist  von  65  000  Mark  in  1898  auf 
815  000  Mark  in  1901  gestiegen,  sank  1902  wieder  auf 
618  000  Mark  und  bestand  überwiegend  in  Phosphaten  457, 
Bleierzen  58,  Wachs  58,  Hafer  27  und  Schaffellen  mit  10 
Tausend  Mark  für  1902;  das  Jahr  1903  wies  652  000  Mark 
auf  (Phosphate  540,  Schaffelle  48,  Wachs  14  Tausend 
Mark). 

1903  zeigt  eine  bemerkenswerte  Zunahme  des  fremden 
Handels,  und  zwar  kamen  auf 

Einfuhr  Ausfuhr 

Erzeugnisse  der  Landwirtschaft     33,7  49,9 

des  Bergbaus              1,9  12,9 

der  Fischerei               0,5  4,2 

Fabrikate                                        47,5  4,4 

83,6  71,4    Mill.  Francs, 

davon  auf  Frankreich  entfallend     46,1  41,8 

Dem  fremden  Handel  sind  in  Tunesien  16  Häfen  ge- 
öffnet, doch  konzentriert  sich  derselbe  hauptsächlich  in  den 
Städten  Tunis  und  Goletta,  Susa,  Sfax  und  Dscherba.  Durch 
Dekret  von  1895  wurden  in  Tunis  und  Biserta  zollfreie 
Niederlagen  für  fremde  Waren  geschaffen,  und  schon  seit 
1893  dürfen  Kohlen  in  allen  offenen  Häfen  bis  zu  einem 
Jahre  Maximalzeit    zollfrei    gelagert    werden    unter   der   Be- 

12* 


—     180     — 

dingung,  den  Zoll  bei  Übergang  in  den  inländischen  Konsum 
zu  erstatten,  oder  aber  wieder  ausgeführt  zu  werden. 

In  Tunis  befindet  sich  neben  der  französischen  eine 
italienische  und  seit  dem  Jahre  1900  auch  eine  britische 
Handelskammer,  und  die  rührige  Societe  de  geographie 
commerciale  de  Paris  hat  Sektionen  in  Tunis  und  Biserta. 

Was  das  Münzwesen  anbetrifft,  so  gilt  anstelle  der 
1872  eingeführten  Bumia  in  Gold  (zu  etwa  49  Mark)  ä  100 
Piaster  oder  Rial  laut  Dekret  vom  1.  Juli  1891  ausschließ- 
lich die  französische  Währung  ohne  das  5  Francsstück,  aber 
in  eigener  Prägung,  auf  der  einen  Seite  mit  französischer, 
auf  der  andern  mit  arabischer  Inschrift,  und  zwar  hat  man 
in  Tunesien  nicht  die  französische  Doppelwährung,  sondern 
reine  Goldwährung  eingeführt.  Tunesisches  Papiergeld  gibt 
es  nicht,  dagegen  zirkulieren  die  Noten  der  Bank  von  Frank- 
reich und  französisches,  englisches,  italienisches,  russisches 
und  österreichisches  Gold,  ferner  haben  die  5  Francsstücke 
der  lateinischen  Münzunion  gesetzlichen  Kurs,  von  kleineren 
fremden  Silbermünzen  aber  nur  die  französischen,  und  die 
Post  nimmt  auch  diese  nicht.  Die  Einfuhr  fremder  Silber- 
münzen, die  in  ihrem  Ursprungsland  keinen  gesetzlichen 
Kurs  haben,  ist  1904  verboten  worden. 

Von  Banken  existieren  in  Tunis  die  1885  gegründete 
Banque  de  Tunisie,  Kapital  acht  Millionen  Francs,  zur  Hälfte 
eingezahlt,  mit  Filialen  in  Biserta  und  Susa;  Dividende  für 
1902  und  1903  je  4 "  (,.  Ferner  die  Cie.  Algerienne;  das 
Comptoir  d'Escompte  de  Paris  und  der  Credit  foncier  et 
agricole  d'  Algerie.  Im  Frühjahr  1904  hat  auch  die  Banque 
d'  Algerie  das  Privileg  erhalten,  sich  in  Tunesien  mit  dem 
Recht  der  Notenausgabe  niederzulassen,  wogegen  sie  an  die 
Regentschaft  während  der  Dauer  ihrer  Konzession  einen 
zinsfreien  Vorschuß  von  1  Million  Franken  zu  leisten  hat, 
der    dem    landwirtschaftlichen    Kredit    und    der    Förderung 


—     181      — 

französischer  Kolonisation  dienen  soll,  und  außerdem  eine 
von  66  000  bis  100  000  Francs  steigende  Jahresabgabe  bis 
1920,  der  Abiaufzeit  ihres  Privilegs.  Daraufhin  hat  die  Bank 
im  August  1904  eine  Filiale  in  Tunis  eröffnet. 

Der  Zinsfuß  in  Tunesien  ist  bislang  noch  gänzlich 
frei;  als  gesetzlicher  Zinsfuß  gelten  die  landesüblichen  12^'o. 

Auch  Maße  und  Gewichte  sind  seit  1.  März  1895 
metrisch,   mit  Ausnahme  derjenigen  für  Flächen  und  Räume. 

'  Was  den  Verkehr  betrifft,  so  war  das  großartige  verkehr 
römische  Straßennetz  unter  der  arabischen  und  türkischen 
Herrschaft  vollständig  verfallen,  und  es  gab  vor  1881  in  dem 
ganzen  Königreich  Tunesien  nur  noch  zwei  kleine  Straßen, 
die  von  der  Hauptstadt  nach  dem  Bardo  führten,  und  kaum 
zehn  Brücken.  Während  der  ersten  zehn  Jahre  französischen 
Regiments  baute  nur  die  Militärverwaltung  aus  strategischen 
Gründen  einige  Straßen,  im  übrigen  aber  begnügte  man  sich 
mit  der  Verbesserung  der  Fußsteige,  und  erst  1892  begann 
man,  auf  Drängen  der  Kolonisten  hin,  die  für  den  Absatz 
ihrer  Produkte  bequemeren  und  billigeren  Transport  brauchten, 
bessere  V^erkehrsmittel  zu  schaffen.  Heute  verbinden  Kunst- 
straßen wieder  alle  Hauptpunkte  Nord-  und  Mittel-Tunesiens, 
und  zwar  hat  man  dieses  Straßennetz  teils  mit  Hülfe  der 
Truppe,  teils  mit  Frohnarbeiten  hergestellt,  welch  letztere 
1857  infolge  vieler  Mißbräuche  offiziell  zwar  abgeschafft 
worden  waren,  aber  doch  de  facto  fortbestanden  hatten,  und 
zu  denen  seit  1899  auch  die  Europäer  für  jährlich  vier 
Tage  herangezogen  werden ;  letztere  können  sich  durch  Geld, 
die  Eingeborenen  durch  Naturalleistungen  freikaufen.  Im 
Jahre  1903  waren  2500  km  Straßen  gebaut  und  davon  über 
300  km  gut  chaussiert.  An  einzelnen  Orten  und  auf  ge- 
wissen Landstraßen  hat  bereits  ein  regelmäßiger  Automobil- 
Dienst  den  Omnibus-Verkehr  abgelöst;  so  wird  die  139  km 


—     182     — 

lange   Strecke   zwischen    Susa    und    Sfax    seit    1901    durch 
Automobile    in    6^2    Stunden    zurückgelegt,     während    die 
daneben    noch    fahrenden    Diligencen    genau    die    doppelte 
Zeit  gebrauchen. 
Eisenbahnen.  Eisenbahnen    bestanden    schon    vor    Errichtung    des 

französischen  Protektorats  zwei  in  Tunesien,  nämlich  die 
1872  von  einer  englischen  Gesellschaft,  der  „Tunisian  Rail- 
ways  Co."  gebaute  Tunis-Goletta  (17  km)  mit  Abzweigung 
nach  La  Marsa,  im  ganzen  34  km,  welche,  wie  bereits  er- 
wähnt, bei  Auflösung  der  englischen  Gesellschaft  1880  heiß 
umstritten  wurde  von  der  französischen  Eisenbahn-Kompanie 
Böne  -  Guelma  und  der  italienischen  Dampfergesellschaft 
Florio-Rubattino,  welch  letztere  sie  in  öffentlicher  Auktion 
zu  London  schließlich  für  165  000  £  erstand,  während  sie 
den  Aktionären  nur  40  000  £  gekostet  hatte;  und  sodann 
gab  es  noch  die  190  km  lange  Strecke  mit  Normalspur 
(144  cm)  von  Tunis  durch  das  Medscherda-Tal  nach 
Ghardimaou  an  der  algerisch-tunesischen  Grenze.  Die 
Konzession  für  letztere  war  vom  Bei  1876  an  die  Societe 
des  Batignolles  übertragen  und  1877  von  selten  der  fran- 
zösischen Regierung  mit  einer  Zinsgarantie  von  6 "  .1  auf 
das  darin  anzulegende  Kapital  ausgestattet  worden,  worauf 
die  Cie.  des  chemins  de  fer  de  Böne  ä  Guelma  die  Aus- 
führung des  Unternehmens  im  Anschluß  an  ihre  algerische 
Hauptlinie  unternahm.  Die  normalspurige  Bahn  Tunis — 
Ghardimaou  wurde  1879  dem  Betrieb  übergeben  und  1884 
mit  dem  algerischen  Bahnnetz  verbunden. 

Der  französische  Vertreter  Roustan  hatte  den  Dei  zu 
der  Verpflichtung  veranlaßt,  keine  Eisenbahnkonzession  in 
Tunesien  zu  verleihen,  ohne  sie  vorher  der  Cie.  Böne-Guelma 
angeboten  zu  haben;  diese  beeilte  sich  aber  keineswegs  mit 
neuen  Anlagen,  auf  die  seitens  der  sparsamen  französischen 
Verwaltung  keine  weiteren  Zinsgarantien  zu  erwarten  waren. 


—     183     — 

und  so  blieb  der  Bahnbau  in  Tunesien  während  12  Jahren 
vollständig  ruhen.  Erst  im  Jahre  1892  gelangte  die  Cie. 
Böne-Guelma  zu  einem  Abkommen  mit  der  Regentschaft, 
betreffs  der  Konzession  auf  ein  Eisenbahnnetz,  für  welches 
die  französische  Regierung  aber  keine  Zinsgarantie  über- 
nahm und  welches  die  Normalspurbahn  Dschedeida— Biserta 
(73  km)  und  394  km  Schmalspurbahnen  (1  m)  umfaßt;  die 
wichtigste  der  letzteren  ist  die  Linie  Tunis— Susa — Moknine 
(187  km)  mit  Abzweigungen  nach  Pont  du  Fahs,  Saghuan. 
Mensel  und  Nabeul.  Die  laut  Abkommen  von  1892  von 
der  Cie.  Böne-Guelma  gebauten  Bahnen  können  ab  1902 
unter  festgesetzten  Bedingungen  vom  tunesischen  Staate 
übernommen  werden.  Eine  58  km  lange  Decauville-Bahn 
mit  60  cm  Spur  von  Susa  nach  Kairuan  wurde  1882  von 
der  französischen  Genie -Truppe  gelegt  und  anfangs  mit 
Pferden  betrieben,  1888  aber  von  der  Cie.  Böne-Guelma 
übernommen,  die  1898  auch  die  Linie  Tunis — Goletta  für 
7  ^  -  Millionen  Francs  aufkaufte. 

Für  die  Linie  Tunis- Ghardimou  hatte  der  französische 
Staat  bis  vor  kurzem  jährlich  in  runder  Summe  vier  Mil- 
lionen Francs  an  Zinsgarantie  zuzuschießen;  darin  ist  aber 
seit  dem  1.  Januar  1903  eine  Änderung  eingetreten  Von 
diesem  Zeitpunkt  ab  übernimmt  nämlich  die  Regentschaft 
selbst  sowohl  die  jährliche  Zinsgarantie,  wie  auch  die  Ab- 
zahlungsraten bei  einem  eventuellen  Rückkauf  der  Linie. 
Der  französische  Staat  aber  verpflichtet  sich  zur  Liquidation 
seiner  bisherigen  Verbindlichkeiten  den  tunesischen  Bahnen 
gegenüber  zu  jährlichen  festen  Beiträgen,  welche  in  den 
ersten  drei  Jahren  je  zwei  Millionen  Francs  betragen,  aH- 
mählich  abnehmen  und  mit  Ende  1965  ganz  aufhören.  Die 
anderen  tunesischen  Linien  der  Cie.  Böne-Guelma  sind  von 
ihr  für  vorher  festgesetzte  Summen  aus  Mitteln  des  tunesischen 
Budgets  gebaut   und  werden  von   ihr  derart  betrieben,    daß 


—     184     — 

sich  die  Regentschaft  und  die  Bahngesellschaft  in  den  Be- 
triebsüberschuß teilen,  während  eventuelle  Betriebsverluste 
von  der  Gesellschaft  zu  tragen  sind,  ihr  aber  aus  späteren 
Überschüssen  mit  Zinsen  zurückerstattet  werden. 

Von  der  1896  konzessionierten  Compagnie  des  phos- 
phates  et  du  chemin  de  fer  de  Qafsa,  welche  für  60  Jahre 
die  Ausbeutung  der  großen  Phosphatlager  zwischen  Gafsa 
und  der  algerischen  Grenze  und  die  Konzession  für  eine 
dahin  führende  Bahn,  dazu  als  Eigentum  30  000  ha  kulti- 
vierbares Domänenland  im  Bezirk  von  Sfax  erhielt,  wurde 
1899  die  243  km  lange  Strecke  Sfax-Gafsa  (205  km)-Metlaoui 
eröffnet,  und  diese  Schmalspurbahn  (Im)  soll  nach  Toser 
und  Nefta  am  Westrand  des  Schott  Dscherid  fortgesetzt 
werden. 

Mit  Hülfe  der  1902  bewilligten  40  Millionen- Anleihe, 
welche  weiteren  Bahnbau  dem  Staate  anstelle  der  egoistischen 
Cie.  Böne-Guelrqa  ermöglicht,  beabsichtigte  man  die  76  km 
lange  Normalspurbahn  Biserta-Nefsas  und  sodann  folgende 
Schmalspurbahnen  zu  bauen : 

Fortsetzung  der  Linie  Tunis-Saghuan  durch  die  gut 
bewässerten  und  für  Kanalisation  geeigneten  Täler  von  El 
Fahs,  Bu  Arada  und  Ued  Tessa  nach  Kalaat  es  Senan  mit 
30  km  Zweigbahn  nach  El  Kef  zur  Erschließung  des  dortigen 
Kronlands  und  der  Phosphatlager,  im  ganzen  220  km ;  ferner 
die  Linien  Kairuan-Sbeitla,  130  km,  und  eine  Anschlußlinie 
von  Sfax  nach  Susa.  Susa  soll  auch  mit  den  1905  in  An- 
griff zu  nehmenden  Phosphatlagern  von  AVn  Moulares  ver- 
bunden werden. 

Der  französische  Staat  hat  sich  ferner  aus  strate- 
gischen Gründen  verpflichtet,  eine  Normalspurbahn  von 
Mateur  nach  Beja  zu  bauen,  um  die  Verbindung  zwischen 
Biserta  und  Algerien  vor  einem  Handstreich  zu  schützen; 
-/3    der    Kosten    dafür   sollen    in    zinsfreien    Raten    von    der 


—     185     — 

Regentschaft  bis  1966  an  Frankreich  zurückerstattet  werden. 
Strategische  Gründe  werden  dann  auch  dazu  führen,  Susa 
und  Gafsa  mit  Tebessa  zu  verbinden. 

im  Jahre  1904  hatte  die  Böne-Guelma  Gesellschaft  in 
Tunesien  943  km  Bahnen  im  Betrieb,  davon  316  km  mit 
Normaispur,  und  dazu  traten  die  243  km  der  Gafsa- 
Gesellschaft. 

Durch  das  Abkommen  mit  Frankreich  vom  Jahre  1902 
hat  Tunesien  freie  Hand  für  einheith'che  und  selbständige 
Ausgestaltung  seines  Bahnwesens  erlangt. 

In  Tunesien  gilt  offiziell,  ebenso  wie  in  Algerien, 
Pariser  Zeit,  welche  der  mitteleuropäischen  eine  Stunde 
nachgeht. 

Post  und  Telegraph  sind  im  ganzen  Lande  vertreten, 
arbeiten  aber  noch  mit  Defizit;  die  Länge  der  Telegraphen- 
linien betrug  im  Jahre  1902:  3293  km,  diejenige  der  Drähte 
9171  km.  Die  Einrichtung  elektrischer  Telegraphen  in 
Tunesien  wurde  den  Franzosen  schon  1859  konzessioniert. 
Dem  französischen  Staate  gehörige,  unterseeische  Kabel 
verbinden  Tunis  und  Biserta  mit  Böne  und  Marseille,  sowie 
Susa  mit  Sfax,  Dscherba,  Gabes,  EI  Dschorf  und  Sarsiss. 

Die  Hotels  in  Tunis  berechnen  täglich  13—15  Francs 
Pension  bei  voller  Verpflegung  einschließlich  Tischwein 
ä  discretion.  Der  Lebensunterhalt  in  Tunesien  ist  aber  in 
den  letzten  Jahren  wesentlich  teurer  geworden,  da  Fleisch, 
Fische  und  Gemüse,  die  früher  sehr  billig  waren,  letzthin 
im  Preise  stark  gestiegen  sind. 

Unter  den  Dampferlinien,  welche  Tunesien  berühren,    Schiffahrt. 
stehen    obenan    die    mit    staatlicher    Postsubvention    ausge- 
statteten  französischen   der  Cie.  Generale  transatlantique, 
welche  von  Marseille    aus  wöchentlich  zweimal    nach  Tunis 
und  je  einmal  nach  Biserta,    Susa  und  Sfa.x  fährt,    und   der 


—     186     — 

Cie.  mixte  (Touache),  welche  wöchentlich  zweimal  zwischen 
Marseille  und  Tunis  verkehrt.  Seit  dem  Jahre  1900  vermittelt 
die  Cie.  des  bateaux  ä  vapeur  du  Nord  monatlich  dreimal 
eine  Verbindung  via  Algier  mit  Dünkirchen  und  einmal  via 
Neapel  und  Palermo  mit  Antwerpen.  Im  gleichen  Jahre  be- 
gann die  Cie.  Franco-Tunisienne  mit  einem  wöchentlichen 
Dienste  zwischen  Marseille,  Tunis  und  Susa.  Die  italienische 
Navigazione  Generale  Italiana  hat  einen  Wochendienst  zwischen 
Genua,  Tunis  und  Tripolis  und  einen  solchen  zwischen 
Neapel,  Palermo,  Trapani  und  Tunis.  Die  Dampfer  der 
englischen  Prince  Line  schaffen  dreimal  monatlich  direkte 
Verbindung  zwischen  Manchester  und  Tunis,  seltener  von 
London  und  Antwerpen  aus  über  Malta,  wo  Umschiffung 
stattfindet;  auf  der  Rückreise  vom  Mittelmeer  laufen  diese 
Dampfer  Tunis  aber  nicht  an,  sodaß  eine  direkte  Ver- 
bindung zwischen  Tunis  und  England  nicht  besteht.  Von 
deutschen  Dampfern  gehen  diejenigen  der  Freitas- Linie 
von  Hamburg  aus  dreimal  monatlich  nach  Tunis,  ferner  be- 
rühren die  Exkursionsdampfer  der  Levante- Linie  Goletta. 
Die  ungarische  Gesellschaft  „Adria"  läßt  jede  zweite  Woche 
von  Fiume  aus  einen  Dampfer  über  Messina  und  Malta  nach 
Tunis,  Algier  und  Oran  verkehren. 

Die  Schiffsbewegung  im  Jahre  1903  wies  auf  an  Ein- 
gängen : 

1 1  542  Schiffe      mit     3  076  000  Tons 

davon  3  436  Dampfer     „      2  921000      „  und  unter 

franz.  Flagge     1  900  Schiffe         „       1  428  000      „ 

Die  eigene  Handelsmarine  Tunesiens  besaß  im  gleichen 
Jahre  nur  einen  Dampfer  von  1 1  Tons  und  drei  Segler  mit 
zusammen  565  Tons. 

Die  Haupthäfen  sind  unter  französischer  Verwaltung 
wesentlich  verbessert  und  vergrößert  worden,   und  zwar  hat 


—     187     - 

der  Staat  Frankreich  Biserta  zu  dem  mächtigsten  Kriegshafen 
d^s  Mittelmeers  ausgestaltet,  und  die  Compagnie  des  ports  de 
Tunis,  Sousse  et  Sfax  hat  durch  die  Societe  de  Construction 
de  Batignolles  diese  drei  Häfen  ausgebaut  und  den  Betrieb 
derselben  konzessioniert  erhalten.  Die  Hafengesellschaft  hat 
die  für  die  Arbeiten  nötigen  Mittel  durch  eine  4"^  Anleihe 
aufgebracht,  welche  von  der  tunesischen  Regierung  garantiert 
und  in  Jahresraten  getilgt  wird.  Die  mit  4  ^'  o  zu  verzinsenden 
Obligationen  von  500  Francs  dieser  Gesellschaft  wurden 
anfangs  1905  an  der  Pariser  Börse  mit  505  notiert. 

Auch  sonst  haben  die  Franzosen  in  den  Hauptplätzen, 
wo  überall  Europäerviertel  entstanden  sind,  durch  Anlage 
von  Kanalisation,  Wasserleitung  und  Schlachthäusern  viel- 
fache Verbesserungen  eingeführt. 

Des  Landes  Hauptstadt  Hauptone. 

Tunis,  eine  uralte,  schon  vor  der  Phönikerzeit  be- 
standene afrikanische  Siedelung,  die  aber  erst  spät  zur  Be- 
deutung kam,  liegt  auf  einer  hügeligen  Landenge  zwischen 
zwei  flachen  Seen,  hinter  ihr  im  Westen  die  im  Sommer 
fast  trockne  Sebcha  Sedschumi,  nach  dem  Meere  zu  die 
flache,  nur  1—2  m  tiefe  Bahira-Lagune  von  Tunis,  ein 
echtes  Haff,  durch  welches  die  Franzosen  einen  11  km 
langen,  7  m  tiefen  und  100  m  breiten  Kanal  nach  dem 
Hafenort  und  Badeplatz  La  Goletta  (Übersetzung  des  ara- 
bischen Namens  Halk  el  Wadi  =  „Fluß-Gurgel")  ausge- 
baggert haben.  Früher  blieben  die  Seedampfer  auf  der 
dortigen  Reede  liegen,  und  eine  Eisenbahn  beförderte  die 
Passagiere  nach  Tunis;  nach  fünfjährigen  Arbeiten  wurde 
1893  aber  der  Kanal  eröffnet,  welcher  den  Dampfern  erlaubt, 
nach  Tunis  selbst  zu  gehen  und  Passagiere  und  Waren  dort 
direkt  am  Kai  zu  landen.  Kanal-  und  Hafen -Anlagen 
kosteten  17  Millionen  Francs.    An  das   12  ha  große  Hafen- 


—     188     — 

becken  schließt  sich  zunächst  eine  bereits  ziemhch  ausge- 
dehnte und  ganz  modern  ausgestattete  Fremdenstadt  an,  mit 
einer  eleganten,  langen  Avenue,  die  zum  Haupttor  der 
Araberstadt  zieht  und  als  Zentrum  des  europäischen  Handels 
und  Verkehrs  dient;  an  sie  schließen  sich,  die  hochgelegene, 
von  der  Kasbah  überragte  weiße  Araberstadt  umgürtend,  die 
äußeren,  fast  ausschließlich  von  italienischen  Arbeitern  und 
Händlern  bewohnten  Stadtteile  an.  Die  Altstadt  ist,  im 
Gegensatz  zu  Algier,  von  europäischen  Beeinflussungen  noch 
unberührt  geblieben,  und  die  holperigen,  hoizüberdachten 
Gänge  der  Suks  oder  Bazare  mit  ihrem  bunten  Leben  und 
reichen  Warenlagern  bilden  einen  der  interessantesten  Märkte 
des  Orients.  Die  alte  Kasbah  dient  jetzt  als  Kaserne,  auch 
das  Stadtpalais  und  der  westlich  vor  der  Stadt  gelegene 
Bardo-Palast  werden  vom  Bei  nicht  mehr  bewohnt,  derselbe 
benutzt  jetzt  vielmehr  während  des  ganzen  Jahres  das  am 
Meere  ruhig  gelegene  La  Marsa  als  Residenz.  Die  Stadt 
Tunis  zählt  heute  etwa  180  000  Einwohner,  worunter  54  000 
Europäer  —  Italiener  37  000,  Franzosen  10  000,  Malteser 
5000  —  und  50  000  Juden  und  erhält  ihr  Wasser  durch  die 
102  km  lange  Wasserleitung  von  Saghuan,  die  schon  unter 
Hadrian  (117— 1138  nach  Chr.)  angelegt,  wiederholt  zerstört 
und  1862  durch  eine  französische  Gesellschaft  unter  Be- 
nutzung römischer  Reste  und  mit  einem  Kostenaufwand  von 
13  Millionen  Francs  wieder  hergestellt  wurde. 

Von  dem  nur  15  km  nordöstlich  von  Tunis  liegen- 
den, alten 

Karthago  sind,  nachdem  seine  Ruinen  jahrhunderte- 
lang kostbare  Baumaterialien  weithin  geliefert  haben,  nur 
schwache  Reste  übrig  geblieben;  auf  dem  Hügel  der  alten 
Byrsa,  welche  der  Bei  von  Tunis  schon  1830  an  König 
Karl  X.  von  Frankreich  abtrat,  erhebt  sich  jetzt  die  1884 
vom    Kardinal    Lavigerie    gegründete    Kathedrale,     ein     in 


—     189     — 

byzantinisch -maurischem  Stile  aufgeführter,  großartiger  Bau, 
daneben  die  bescheidene  Kapelle  des  heiligen  Ludwig,  an 
seiner  angeblichen  Sterbestelle  errichtet,  und  das  Priester- 
seminar St.  Charles  der  Weißen  Väter. 

Auch  das  in  der  Nähe  der  Farm  Bu  Schater  ge- 
legene alte 

Utika  ist  seit  der  arabischen  Invasion  bis  auf  geringe 
Reste  gänzlich  verschwunden  und  der  frühere  Hafen  heute 
vom  Medscherda  völlig  verschwemmt. 

Dagegen  ist  das  durch  seine  Lage  von  der  Natur 
überaus  begünstigte 

Bisefta  zu  einem  modernen  Kriegshafen  ersten  Ranges 
ausgestaltet  worden,  der  besonders  durch  seine  Nähe  zu 
Sizilien  und  Malta  strategisch  wichtig,  aber  auch  für  Handel 
und  Schiffahrt  noch  günstiger  als  Tunis  gelegen  ist.  Der 
Eifersucht  Englands  und  Italiens  gegenüber  hatte  Frankreich 
zunächst  erklärt,  daß  Biserta  nicht  befestigt  werden  sollte. 
1890  begann  eine  konzessionierte  Gesellschaft  mit  den 
Arbeiten  zur  Schaffung  eines  Handelshafens,  1891  legte 
man  den  Grundstein  zur  Neustadt  und  eröffnete  1895  den 
„Handelshafen",  in  welchen  im  gleichen  Jahre  auch  die 
ersten  großen  französischen  Kriegsschiffe  einliefen.  Nachdem 
man  dann  durch  die  Verträge  von  1896  und  1897  die 
fremden  Mächte  aus  Tunesien  hinauskomplimentiert  hatte, 
begann  man  1897  mit  den  Arbeiten,  um  Biserta  auch  zu 
einem  tatsächlichen  Kriegshafen  auszugestalten. 

Der  an  und  für  sich  wenig  geschützten  Reede  ist 
durch  den  Bau  zweier  950  und  1223  m  langer  Steindämme 
und  eines  610  m  langen  Querdamms,  welcher  zwei  Ein- 
fahrten von  320  und  680  m  Breite  offen  läßt,  ein  86  ha 
großer  Vorhafen  abgewonnen  worden,  dessen  Hügelhöhen 
stark  befestigt  sind.  Die  westlich  vom  äußeren  Hafenzugang 
liegende  Stadt  Biserta  zählt  heute,  einschließlich  5000  Mann 


—     190    — 

Besatzung,  etwa  25  000  Einwohner  und  ist  durch  Chaussee 
(60  km)  und  Bahn  (98  km)  mit  Tunis  verbunden.  Von 
diesem  Vorhafen  aus  führt  jetzt  anstelle  des  alten,  natür- 
lichen, jetzt  teilweise  zugeschütteten  Zufahrtarmes  ein  neu 
ausgegrabener,  1  ^  ^  km  langer,  10  m  tiefer  und  an  der 
Oberfläche  240  m,  an  der  Sohle  200  m  breiter  Zugangs- 
kanal zu  dem  natürlichen,  salzigen  Binnensee,  der  etwa 
15  000  ha  groß  ist  und  in  weiten  Ausdehnungen  9 — 12  m 
und  mehr  Tiefe  besitzt,  im  Innern  dieses  Beckens  sind  nun 
in  zwei  getrennten  Buchten  der  Handels-  und  der  Kriegs- 
hafen angelegt,  und  zwar  stößt  man  zunächst  auf  den 
Handelshafen,  der  z.  Z.  noch  ohne  besondere  Bedeutung 
ist,  da  die  von  der  Hafengesellschaft  eingeführten  hohen 
Tarife  die  Entwicklung  des  Platzes  gehemmt  haben  und  der- 
selbe bislang  auch  keine  Rückfracht  bietet;  es  ist  deshalb 
die  Rede  davon  gewesen,  die  200  km  südwestlich  von  hier 
befindlichen  Phosphatlager  von  Thala  durch  eine  Bahn  mit 
Biserta  zu  verbinden,  um  den  für  die  Marinestation  ein- 
laufenden Kohlenschiffen  eine  Rückfracht  bieten  zu  können. 

Weiter  landein  zu  liegt  an  zwei  verschiedenen  Punkten 
der  Kriegshafen,  und  zwar  trifft  man  zunächst  auf  die 
Kasernen  und  Werkstätten,  tiefer  hinein  auf  Arsenal,  Docks, 
Vorratshäuser  und  Kohlenlager,  deren  Bestand  auf  50  000 
Tons  gebracht  werden  soll.  Das  größte  Trocken -Dock  ist 
1903  bereits  vollendet  worden,  im  allgemeinen  aber  wurden 
die  Arbeiten  nicht  schlank  gefördert,  sondern  mannigfach 
durch  Stillstand  unterbrochen,  und  der  Werftbetrieb  und  das 
geplante  verschanzte  Lager  fehlen  noch.  Immerhin  weist 
die  um  diese  Anlagen  herum  erstandene  neue  Stadt  Ferry- 
ville  bereits  5000  Einwohner  auf. 

Der  Bau  der  Molen  und  des  Kanals  wurde  auf  das 
Tunis- Budget,  die  Anlage  des  Kriegshafens  für  Rechnung 
Frankreichs   übernommen,  und  diese  Arbeiten   haben   bisher 


—     191     — 

46  Millionen  Francs  gekostet  und  sollen  etwa  1908  beendet 
sein.  Biserta  wird  dann  einer  der  größten  und  sichersten 
Seekriegshäfen  der  Welt  und  mit  seinem  reichen  Hinterland 
den  isolierten  Inselfesten  Malta  und  Gibraltar  in  bezug  auf 
gesicherte  Zufuhren  weit  überlegen  sein. 

An  der  Ostküste  Tunesiens  treffen  wir  zunächst  auf 
den  Hafenplatz 

Susa.  das  altberühmte  Hadrumetum,  an  einer  un- 
sicheren Reede,  deren  römischer,  durch  Molen  hergestellter 
Kunsthafen  aber  ganz  versandet  war.  Mit  einem  Kosten- 
aufwand von  4 '  ■>  Millionen  Francs  haben  die  Franzosen 
auch  hier  mit  Hülfe  von  zwei  Dämmen  einen  neuen  Hafen 
angelegt,  sodaß  seit  1899  die  Dampfer  direkt  am  Kai  an- 
legen können.  Die  Stadt  zählt  25000  Einwohner,  darunter 
6000  Europäer,  welche  in  einem  modernen  Viertel  zwischen 
Meer  und  Stadtmauer  wohnen,  und  das  sich  dahinter  aus- 
breitende Hügelland  der  Sahel  weist  besonders  zahlreiche 
Olivenpflanzungen  auf. 

Es  folgen  weiter  südlich  das  auf  einem  hornartigen 
Landvorsprung  gelegene,  unbedeutende  Monastir  mit  6000 
Einwohnern;  nachdem  man  Kap  Dimas  mit  den  Ruinen  des 
alten  Thapsus  umschifft,  die  arabische  Gründung  Mahadia, 
eine  auf  vorspringender  Felszunge  gelegene  Stadt  mit 
schlechter  Reede  und  6000  Einwohnern. 

Wichtig  ist  dagegen  das  nunmehr  folgende,  von  Gärten 
und  Olivenhainen  umgebene  Sfax,  mit  45  000  Einwohnern, 
die  zweitgrößte  Stadt  des  Landes  mit  einer  Reede,  welche 
durch  die  vorgelagerten  Kerkena-lnseln  geschützt,  von  jeher 
als  die  sicherste  in  der  Regentschaft  bekannt  war  und  auch 
hier  durch  eine  künstliche  Hafenanlage  ergänzt  wurde,  die 
man  1897  dem  Verkehr  übergab.  Die  Europäerstadt  liegt 
hier  ebenfalls  zwischen  Meer  und  Altstadt,  und  der  rege 
Verkehr  erstreckt  sich  besonders  auf  Oliven,   Haifa  und  die 


—     192     — 

aus  Gafsa  kommenden  Phosphate.     Die  Umgebung  ist  öde 
Steppe  und  dementsprechend  schwach  besiedelt. 

Der  nächste  Hafenort,  das  jetzige  Gab  es.  entstand  erst 
nach  1881,  zählt  etwa  1200  Einwohner  und  ist  von  einer 
üppigen  Palmenoase  umgeben. 

Der  südlichste  Hafen  der  Regentschaft  ist  Sarsiß, 
bisher  nur  eine  Station  der  Schwammfischer,  aber  ein  Platz, 
der  von  Bedeutung  werden  könnte,  wenn  die  von  hier  aus 
geplante  Bahn  nach  Ghadames  zur  Ausführung  käme.  Für 
dieses  Projekt  kommt  allerdings  auch  die  nahe,  gute  Bucht 
von  Bu  Ghara  in  Betracht. 

Im  Innern  sind  zur  Zeit  eigentlich  nur  zwei  größere 
Orte  bemerkenswert: 

]<airuan,  vor  Einnahme  durch  die  Franzosen  eine 
heilige  Stadt,  die  kein  Ungläubiger  besuchen  durfte,  und  auch 
heute  noch  mit  ihren  22  000  Einwohnern  die  bedeutendste 
Binnenstadt  der  Regentschaft.  Von  öden  Steppen  und  Dünen 
umrahmt,  macht  die  „weiße  Braut  der  Steppe"  mit  ihren 
hohen,  zinnengeschmückten  Umfassungsmauern  einen  ganz 
imposanten  Eindruck;  im  Innern  der  Stadt  findet  man  aber 
auch  hier  ein  Gewirr  enger  Gassen  mit  zahlreichen  Mo- 
scheen, angeblich  85,  unter  denen  die  große  Moschee  Sidi 
Okbas,  des  Gründers  der  Stadt,  die  berühmteste  ist.  ''  im 
Gegensatz  zu  dem  übrigen  Tunesien ,  wo  ebenso  wie  in 
Marokko  und  Tripolitanien  dem  Ungläubigen  der  Zutritt  zu 
den  Moscheen  streng  untersagt  ist,  haben  die  Franzosen 
gerade  hier  an  dieser  heiligen  Stelle  durchgesetzt,  daß  auch 
Christen  —  Juden   nicht  —  die  Moscheen   besuchen  dürfen. 

Gafsa,  das  römische  Capsa,  in  dessen  Nähe  warme 
und  kalte  Quellen  üppige  Oasen  gebildet  haben,  ist  neuer- 
dings durch  die  Ausbeute  der  nahen  Phosphatlager  wichtig 
geworden  und  zählt  z.  Z.  etwa  5J)00  Einwohner, 


-     193     — 

Nach  der  vorstehenden  Schilderung  macht  die  Regent- 
schaft Tunesien  unter  französischer  Verwaltung  im  allge- 
meinen einen  befriedigenden  Eindruck.  Freilich  fehlt  es  ihr 
auch  nicht  an  Schattenseiten.  Trotz  Schaffung  einer  geord- 
neten Verwaltung,  von  Verkehrswegen,  Hafenbauten,  Wasser- 
versorgung der  Städte,  gesundheitlicher  Einrichtungen  ver- 
schiedener Art,  Hebung  von  Unterricht,  Anbau,  Gewerbe- 
tätigkeit und  Handel  ist  die  eingeborene  Bevölkerung 
doch  vielfach  mit  den  neuen  Verhältnissen  unzufrieden,  ein- 
flußreiche Kreise  der  Eingeborenen  verarmen  mehr  und  mehr, 
und  selbst  unbefangene  Franzosen  erklären  die  schön  ge- 
färbten Berichte  ihrer  Regierung  als  irreführend  und  das 
vielgerühmte  System  des  Protektorats  als  einen  Mißerfolg. 

Die  Anbaufläche  von  Getreide  und  der  Viehstand  sind 
im  letzten  Jahrzehnt  zurückgegangen,  dafür  sind  die  Beamten 
in  demselben  Zeitraum  in  Zahl  vervierfacht  worden  und 
teilweise  übertrieben  hoch  bezahlt,  und  daß  große  Summen 
bei  öffentlichen  Bauten  verschleudert  und  veruntreut  werden, 
macht  die  an  sich  schon  teure  Verwaltung  noch  kostspieliger. 
Die  von  Frankreich  eingeführten  scheinbaren  Abgaben- 
erleichterungen sind  denn  auch  durch  neugeschaffene  Ab- 
gaben (wie  auf  Alkohol,  Zucker  usw.)  mehr  als  ersetzt,  und 
so  bleibt  für  eine  wirkliche  gedeihliche  Entwicklung  Tunesiens, 
die  auch  dem  Hauptteile  der  Eingeborenen  zugute  kommt, 
noch  viel  zu  tun  übrig. 


Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  13 


Tripolitanien. 


Das  heutige  Tripolitanien,  zwischen  Tunesien  und  ägyp- 
tischem Gebiet  gelegen,  die  letzte  türkische  Provinz  auf 
afrikanischem  Boden,  ist  nichts  weniger  als  ein  einheitliches 
Gebiet,  sondern  zerfällt  nach  seiner  geographischen  Ge- 
staltung und  historischen  Entwicklung  in  drei  grundver- 
schiedene Teile,  die  nur  zufällig  politisch  vereint  sind,  näm- 
lich: in  die  nach  Norden  vorspringende,  rings  vom  Meere 
oder  wüstenhaften  Strichen  umgebene  Halbinsel  Barka,  die 
alte  Cyrenaika;  in  das  zwischen  der  Großen  und  der 
Kleinen  Syrte  gelegene  eigentliche  Tripolis,  und  endlich 
in  das  Oasengebiet  von  Fessan. 


Geschichte.  Die  alte  Geographie  nennt  als  Bewohner  der  Barka 

die  nomadischen  Libyer  oder  Lehabim,  des  Einschnitts  der 
Großen  Syrte  die  Nasamonen,  an  der  Kleinen  Syrte  die 
Lotophagen ,  als  Oasenbewohner  des  heutigen  Fessan  die 
Garamanten  und  westlich  von  diesen  als  Bewohner  des 
Saharagebiets  die  Gaetuler. 

Frühzeitig  schon  hatten  sich  am  fruchtbaren  Rande  der 
Halbinsel  Barka  griechische  Kolonien  gebildet.  Dorische 
Ansiedler  waren  in  der  Mitte  des  7.  Jahrhunderts  vor  Chr. 
unter  Führung   von   Battos,    einem    Orakel    folgend,    von 


4 


—     195     — 

der  Insel  Thera  (Santorin)  herübergekommen,  wo  ein 
bürgerlicher  Zwist  ihre  Auswanderung  veranlaßte;  etwa  um 
640  ließen  sie  sich  zunächst  auf  der  kleinen  Insel  Platea 
am  Golf  von  Bomba  nieder  und  einige  Jahre  später  siedelten 
sie  sich  auch  auf  dem  schon  vor  ihnen  bekannten  und  be- 
suchten Gestaden  des  Festlandes  an  und  gründeten  dort  631 
das  80  Stadien  vom  Meere  entfernt  gelegene  Kyrene,  dessen 
Herrschaft  Battos  mit  dem  Titel  eines  Königs  übernahm; 
eine  reichlich  strömende  Quelle  Kyra  gab  Anlaß  zur  Siedelung 
und  Benennung  des  Ortes.  Die  Kolonie  verstärkte  sich 
weiterhin  durch  Zuwanderung  zahlreicher  dorischer  Griechen 
vom  Peloponnes,  aus  Kreta  und  anderen  Inseln,  und  man 
konnte  nunmehr  bedeutende  Länderstrecken  der  Halbinsel 
Barka  in  Besitz  nehmen. 

Das  gut  bewässerte  und  fruchtbare  Kulturland  der 
Cyrenaika  ermöglichte  es  einer  zahlreichen  Bevölkerung,  von 
dem  Ertrage  des  Bodens  zu  leben;  die  reichen  Äcker  gaben 
hundertfältiges  Korn,  saftige  Weiden  ernährten  gerühmte 
Rosse,  die  Wälder  lieferten  Material  für  Schiffsbau,  und  sein 
Olivenöl  und  Honig,  seine  Weine,  Wohlgerüche  und  Heil- 
kräuter waren  im  Altertum  weit  und  breit  berühmt.  Zahl- 
reiche Reste  von  Kanälen,  Talsperren,  Aquädukten  und 
Zisternen  beweisen  noch  heute,  wie  geschickt  die  Quellen 
des  Landes  von  den  alten  Griechen  zu  Kulturzwecken  aus- 
genutzt wurden.  War  die  Lage  einerseits  isoliert  genug,  um 
eine  verhältnismäßig  selbständige  und  eigenartige  Entwicklung 
des  jungen  Staates  zu  ermöglichen,  so  bot  sie  andrerseits 
durch  ihre  Nähe  zu  Kreta  und  dem  griechischen  Archipel 
einen  sehr  günstigen  Stützpunkt  für  den  Handel  des  östlichen 
Mittelmeers,  und  zwar  sowohl  als  Stapelplatz  für  den  Zwischen- 
handel, wie  für  die  Waren  Innerafrikas. 

Freilich  kam   es   bald   zu  Streitigkeiten   mit  den  noma- 
disierenden  Libyern,    die    endlich    in    ihrer  Not    den  König 

13* 


—     196     — 

Ägyptens  um  Hülfe  anflehten.  Zum  Glücke  für  Kyrene 
verhinderten  die  Wirren  in  Ägypten  ein  entschiedenes  Ein- 
schreiten des  Nachbarvolkes,  und  ein  gesandtes  ägyptisches 
Heer  wurde  um  570  von  Battos  II.  geschlagen;  doch  schließ- 
lich erwiesen  sich  die  verbündeten  Libyer-Stämme  selbst  als 
gefährliche  Gegner  und  brachten  den  Griechen  um  544  v.  Chr. 
eine  schwere  Niederlage  bei. 

Die  Griechen  wandten  sich  nun  hülfesuchend  an  das 
Mutterland,  mit  dem  sie  ständig  in  innigen  Beziehungen  ge- 
blieben waren  und  das  Orakel  zu  Delphi  riet  ihnen,  den 
Gesetzgeber  Demonax  von  Mantineia  zu  berufen,  der  die 
inneren  Verhältnisse  der  Siedlung  ordnen  und  sie  damit 
auch  zu  kräftigem  Widerstand  nach  außen  befähigen  werde. 
Der  Wandlung  des  politischen  Lebens  in  der  Heimat  ent- 
sprechend, führte  Demonax  auch  in  Kyrene  die  Gleich- 
berechtigung aller  Bürger  durch  und  schränkte  die  Kriegs- 
macht der  battischen  Dynastie  ein;  dadurch  kam  es  aber 
zu  inneren  Kämpfen,  die  zur  Erschlagung  des  Königs  Arke- 
silaos  II.  und  des  Tyrannen  von  Barka  seitens  des  Volkes 
führten. 

Das  100  Stadien  vom  Meere  entfernt  gelegene  Barka 
war  um  540  von  Brüdern  des  Königs  Arkesilaos  II.  von 
Kyrene  an  der  Spitze  von  auswandernden  Neubürgern  Ky- 
renes  und  aufständischei'  Libyer  als  selbständiges  Gemein- 
wesen gebildet  worden,  dem  sich  die  an  der  Westküste  der 
Halbinsel  liegenden,  gleichfalls  durch  griechische  Kolonisten 
gegründeten  Hafenstädte  Tauch  ira  und  Euhesperidä  an- 
schlössen. Da  aber  schon  Arkesilaos  den  Persern  tribut- 
pflichtig geworden  war,  die  unter  Kambyses  damals  Ägypten 
besetzten,  so  griff  nunmehr  der  persische  Statthalter  von 
Ägypten  ein,  zerstörte  um  510  Barka,  das  allerdings  bald 
wieder  emporblühte,  und  hielt  die  wankende  Königsherrschaft 


—     197     — 

aufrecht;   erst   um  das  Jahr  450   brach  diese  endgültig  zu- 
sammen, und  Kyrene  wurde  Republik. 

Dieses  war  inzwischen  trotz  aller  Kämpfe  zu  hoher 
Blüte  gelangt;  der  fruchtbare  Boden,  der  überdies  das  kost- 
bare Silphium  erzeugte,  gab  eine  sichere  Grundlage,  und  der 
Handel,  welcher  teils  zu  Lande  nach  Ägypten  und  dem  Su- 
dan, teils  zur  See  betrieben  wurde,  brachte  große  Reichtümer 
nach  Kyrene,  dessen  Bürger  durch  ihren  Luxus  vor  allen 
Hellenen  hervorragten,  aber  auch  an  den  künstlerischen  und 
philosophischen  Bestrebungen  des  Griechenvolks  regen  An- 
teil nahmen. 

Der  Kampf  mit  der  aufblühenden  Nebenbuhlerin  im 
Westen,  Karthago,  der  zwischen  400  —  330  geführt  wurde, 
endete  damit,  daß  Karthago  die  Grenzen  seines  Einflusses, 
seine  „Interessensphäre",  wie  wir  heute  sagen  würden,  bis 
an  den  Winkel  der  Großen  Syrte  vorschob. 

Mit  Ale.xander  dem  Großen,  dessen  Macht  332  in 
Ägypten  erschien,  kamen  die  Kyrenäer  nicht  in  feindselige 
Berührung,  da  sie  sich  durch  scheinbare  Unterwürfigkeit  von 
vornherein  sicherten  und  die  exzentrische  Lage  der  Stadt  sie 
den  politischen  Wirbelstürmen  ziemlich  entrückte.  Denselben 
Vorteil  genossen  auch  die  anderen,  kleineren  Städterepubliken, 
die  an  der  Küste  der  Halbinsel  entstanden  waren. 

Nach  Alexander  des  Großen  Tod  entging  aber  auch 
die  Cyrenaika  den  Blicken  der  beutelustigen  Soldatenkönige 
nicht;  innere  Zwistigkeiten  vermehrten  die  Gefahr,  und  Flücht- 
linge aus  Kyrene  riefen  den  alexandrinischen  General  Tim- 
bron,  der  damals  auf  Kreta  weilte,  zu  Hülfe.  Diese  Ge- 
legenheit benutzte  Ptolemaios,  der  sich  inzwischen  in 
Ägypten  festgesetzt  hatte,  um  sich  einzumischen,  Timbron 
wurde  geschlagen,  und  322  mußte  die  gesamte  Cyrenaika  die 
Herrschaft  des  schlauen  Ägypterkönigs  anerkennen.  Die 
verschiedenen    kleinen    Republiken    aber    wurden    nunmehr 


—     198     — 

unter  dem  Namen  der  kyrenäischen  Pentapolis  oder  Fünf- 
stadt zusammengefaßt;  es  waren  dies  neben  Kyrene  dessen 
Hafenstadt  Apollonia;  Ptolemais  anstelle  des  nahen  Barka; 
Berenike,  das  alte  Euhesperidä,  das  heutige  Benghasi;  und 
Arsinoe  nahe  dem  alten  Tauchira. 

Das  Gebiet  erlangte  wohl  zuweilen  vorübergehend  seine 
Selbständigkeit  zurück,  blieb  aber  in  der  Hauptsache  unter 
ägyptischem  Einfluß,  und  den  Wettbewerb  mit  Karthago  einer- 
seits, mit  Alexandria  anderseits  vermochte  Kyrene  nicht  mehr 
zu  bestehen.  Die  zunehmende  Volksmischung  drängte  das 
alte  Hellenentum  mehr  und  mehr  zurück,  und  so  trat  auch 
auf  geistigem  Gebiet  der  Rückgang  ein.  Besonders  die  Zahl 
der  Juden  stieg  damals  in  der  Cyrenaika  gewaltig,  dazu  ge- 
sellten sich  libysche,  ägyptische  und  nigritische  Elemente, 
und  anstelle  von  Kyrene  trat  Alexandrien  als  Mittelpunkt 
geistiger  Kultur  des  afrikanischen  Griechentums. 

Nach  dem  Aussterben  eines  jüngeren  Zweiges  der 
Ptolemäerfamilie,  dem  die  Pentapolis  im  Jahre  117  v.  Chr. 
als  selbständiges  Königreich  zugefallen  war,  gelangten  die 
Römer  im  Jahre  96  auf  friedlichem  Wege,  durch  Testament, 
in  den  Besitz  dieses  Gebietes  und  der  östlich  daran  stoßenden 
Marmarika,  die,  wenn  auch  nicht  immer  unter  der  Bot- 
mäßigkeit, so  doch  unter  dem  Kultureinfluß  der  Cyrenaika 
gestanden  hatte,  und  die  beide  nur  lose  mit  dem  römischen 
Weltreiche  verbunden  wurden,  nachdem  sie  ihre  früher  teil- 
weise besessene  Wichtigkeit  längst  verloren  hatten.  Unruhen 
in  dem  nunmehr  zinspflichtigen  Lande  führten  endlich  zur 
völligen  Unterwerfung  unter  Pompejus  im  Jahre  67  v.  Chr. 
und  zur  Vereinigung  unter  einer  Statthalterschaft  mit  Kreta, 
nachdem  es  bereits  74  zur  römischen  Provinz  gemacht 
worden  war.  Die  Grenze  gegen  Ägypten  bildete  das  Vor- 
gebirge Paraetonium,  heute  Ras  el  Kanals. 


—      199     — 

Weilerhin  trat  die  Pentapolis  nur  wenig  mehr  hervor 
und  verfiel  nach  einigen  Jahrhunderten  sinkender  Blüte  mehr 
und  mehr.  Hin  furchtbarer  Aufstand  der  jüdischen  Be- 
völkerung zur  Zeit  Trajans  soll  200  000  Griechen  und 
Römern  das  Leben  gekostet  haben,  sodaß  der  Kaiser  nach 
Niederwerfung  des  Aufslandes  eine  neue  Kolonie,  Adria- 
napolis,  in  der  Cyrenaika  anlegte,  um  das  entvölkerte 
Land  wieder  zu  heben.  Aber  schon  war  die  Schwächung 
der  Provinz  von  den  libyschen  Nomaden  dazu  benutzt 
worden,  einen  Teil  des  Fruchtlandes  zu  besetzen,  ohne  daß 
es  möglich  gewesen  wäre,  ihren  Übergriffen  auf  die  Dauer 
zu  steuern,  trotzdem  Kaiser  Justini  an  Berenike  neu  be- 
festigen ließ. 

Kyrene  wird  bereits  im  vierten  Jahrhundert  nach 
Christus  als  „urbs  deserta"  bezeichnet,  während  Ptolemais 
seine  Bedeutung  besonders  als  alter  Bischofssitz  lange 
behielt. 

Den  letzten  Rest  der  alten  Blüte  an  Kunst  und  Wissen- 
schaft haben  dann  im  siebenten  Jahrhundert  die  Verwüstungen 
der  islamitischen  Eroberungszeit  vernichtet. 

Nachdem  Amru  um  642  die  Eroberung  Ägyptens  be- 
endet, marschierte  er  alsbald  nach  Barka,  das  er  ohne 
Schwertstreich  nahm,  und  schickte  von  dort  den  Feldherrn 
Okba  nach  Fessan,  während  er  selbst  nach  Tripolis 
weiter  zog.  Für  einige  Jahrhunderte  hatte  nun  die  Cyrenaika 
allerdings  einen  ansehnlichen  Durchgangsverkehr  von  Trup- 
pen, Handelskarawanen  und  Mekkapilgern;  besonders  Pto- 
lemais und  F^arka  waren  wichtige  Etappen  zwischen 
Kairuan  und  Kairo.  Nach  Adschedabia,  welches  zur 
f-atimidenzeit  eine  blühende  Handelsstadt  war,  kam  die 
führende  Rolle  im  späteren  Mittelalter  an  Berenike,  das 
zum  Haupt-Handelsplatz  der  ganzen  Küste  wurde,  und  dessen 
natürliche  Vorzüge  um  so  mehr  zur  Geltung  kamen,  je  mehr 


—     200     — 

das  westliche  Mittelmeer  in  den  Vordergrund  trat.  Nament- 
lich führte  Berenike  die  damals  sehr  geschätzte  Wolle  aus. 
Die  anderen  Orte  aber  gingen  allmählich  in  völligem  Dunkel 
unter,  und  das  Aufblühen,  welches  die  von  Spanien  ver- 
triebenen Mauren  nach  hier  brachten,  konnte  nicht  von 
Dauer  sein,  nachdem  die  türkische  Mißwirtschaft  1551 
auch  in  der  Barka  ihren  Einzug  hielt.  Selbst  Berenike  er- 
holte sich  erst  wieder  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts, als  Benghasi,  wie  man  es  nach  einem  hier  ver- 
ehrten arabischen  Heiligen  nannte. 

Sehen  wir  nun  zu,  wie  sich  inzwischen  das  im  Westen 
anstoßende  Syrtengebiet,  das  eigentliche  Tripolitanien, 
entwickelt  hatte. 

Das  von  den  sizilischen  Griechen  später  unter  dem 
Namen  Tripolis  =  „Dreistadt"  zusammengefaßte  Gebiet 
war  frühzeitig  —  etwa  um  800  v.  Chr.  —  von  den  Phöni- 
kern  besiedelt  worden,  wies  als  Hauptorte  die  drei  Städte 
Oea,  das  heutige  Tripolis,  Sabratha  und  Groß  -  Leptis  auf, 
und  bildete  im  Altertum  ein  mittelbares  Gebiet  Karthagos. 
Nach  dem  zweiten  punischen  Kriege  wurde  es  aber  von  den 
Römern  den  numidischen  Königen  überlassen  und  nach 
deren  Unterwerfung  106  v.  Chr.  als  Teil  der  Regio  Syrtica 
zur  römischen  Provinz  Afrika  geschlagen.  Rom  nahm 
durch  seine  Kohorten,  deren  südlichster  strategischer  Stütz- 
punkt Garama  (Dscherma)  in  Phazania  bildete,  auch  die 
Handelszüge  nach  dem  Süden  unter  seine  starke  schützende 
Obhut.  Der  im  Jahre  146  n.  Chr.  in  Leptis  geborene 
römische  Kaiser  Septimus  Severus  bildete  Anfang  des  dritten 
Jahrhunderts  die  Provinci a  Tripolitana,  deren  Haupt- 
stadt das  alt^  Oea  wurde,  und  auf  dieses  ging  sodann  der 
Name  Tripolis    über.      Reste   römischer    Kastelle,    Brücken, 


—     201     — 

Dämme,  Brunnen  und  Wasserleitungen  sind  auch  in  Tripoli- 
tanien  heute  noch  mannigfach  anzutreffen. 

Im  fünften  Jahrhundert  wurde  das  Land  von  den  Van- 
dalen  erobert,  blieb  dann  noch  eine  kurze  Zeit  unter  der 
schwachen  byzantinischen  Herrschaft  und  wurde  darauf 
auch  von  den  Scharen  des  arabischen  Feldherrn  Amru 
überschwemmt;  die  Hauptstadt  Tripolis  selbst  hatten  die 
Araber  647  allerdings  vergeblich  zu  nehmen  gesucht,  aber 
bei  ihrem  zweiten  Einfall  von  Osten  her  im  Jahre  665  ging 
mit  dem  übrigen  Nordafrika  zusammen  auch  ganz  Tripoli- 
tanien  in  ihren  Besitz  über  und  wurde  dem  Islam  unter- 
worfen. 

Nachdem  die  Abbassiden  in  Nordafrika  durch  ihren 
eigenen  Statthalter  verdrängt  waren,  kam  auch  Tripolis  nach- 
einander unter  die  Herrschaft  der  Agiabiden,  Fatimiden 
und  Zeiriden,  deren  letzter,  Hassan  ben  Ali,  1140  von  dem 
König  Roger  II.  von  Sizilien  vertrieben  wurde,  der  Tripolis 
besetzte;  die  Sizilianer  wurden  ihrerseits  schon  1160  wieder 
durch  die  Almohaden  von  Marokko  ersetzt,  und  im  14.  Jahr- 
hundert war  Tripolis  unter  den  Abu  Hafiden  mit  Tunis  ver- 
einigt, erlangte  aber  Ende  des  15.  Jahrhunderts  seine  Selb- 
ständigkeit wieder. 

Im  Jahre  1510  wurde  die  Stadt  Tripolis  von  den 
Spaniern  unter  dem  Grafen  Pietro  von  Navarra  erobert 
und  ein  spanischer  Statthalter  eingesetzt,  1530  überließ  sie 
dann  Karl  V.  den  Johannitern  zum  Lehen,  doch  wurde 
die  Burg  1551  von  Dragut,  einem  ehemaligen  Unterbefehls- 
haber Cheireddins,  den  wir  schon  in  Tunesien  kennen  ge- 
lernt haben ,  erobert,  und  die  Stadt  wurde  seitdem  einer  der 
Hauptsitze  der  Seeräuberei  an  der  nordafrikanischen  Küste. 
.Auch  Tripolis  unterstand  nunmehr  der  Pforte,  und  im 
übrigen    herrschte    hier   dieselbe  Miliz-  und  Säbelwirtschaft, 


—     202     — 

entwickelte  sich  allmählich  dieselbe  anarchistische  Janit- 
scharen-Despotie,  wie  in  Algerien  und  Tunesien. 

Den  Seeräubereien  von  Tripolis  suchte  zunächst  der 
englische  Admiral  Blake  im  Jahre  1663  durch  Vertrag  eine 
Grenze  zu  setzen,  und  als  die  Piraten  sich  wortbrüchig 
zeigten,  zerstörte  John  Narborough  einen  Teil  der  Haupt- 
stadt. 1681  ließ  auch  Ludwig  XIV.  durch  den  Admiral  Du- 
quesne  die  tripolitanischen  Korsaren  im  Hafen  von  Skio 
angreifen  und  viele  ihrer  Schiffe  in  den  Grund  bohren,  und 
1685  bombardierte  Duquesne  die  Stadt  Tripolis  selbst  so 
erfolgreich,  daß  der  Dei  den  Frieden  mit  einer  halben  Mil- 
lion Livres  erkaufen  mußte. 

im  Jahre  1714  machte  sich  der  Araberscheich  Ahmed 
Bei,  dadurch,  daß  er  die  gesamte  türkische  Garnison  von 
Tripolis,  etwa  400  Mann,  gelegentlich  eines  Festes  ermorden 
ließ,  fast  unabhängig  von  der  Pforte,  indem  er  nur  noch 
Tribut  zahlte,  und  gründete  die  Dynastie  der  Karamanli, 
welche  bis  1835  herrschte.  Der  1728  unternommene  neue 
Kriegszug  der  Franzosen  gegen  Tripolis  endete  zwar  mit 
der  fast  vollständigen  Zerstörung  der  Stadt,  aber  im  allge- 
meinen war  die  Herrschaft  von  Ahmed,  wie  seiner  beiden 
Nachfolger  Mohammed  und  ,^li,  eine  verhältnismäßig  gute. 
Der  Bruderkampf  unter  Alis  Söhnen  veraniaßte  schon  1793 
die  Pforte  zu  einem  Einschreiten,  unangenehmer  aber  wurde 
zunächst  Nordamerika.  Die  Amerikaner  waren  nämlich 
schließlich  die  ersten,  deren  Kongreß  es  weder  respektabel, 
noch  profitabel  fand,  weiteren  Tribut  zu  zahlen,  und  so 
wurde  denn  zur  Strafe  für  begangene  Piraterien  und  zum 
Zwecke  der  Befreiung  von  dem  Tribut  1804  die  kleine 
amerikanische  Flotte  nach  Afrika  geschickt.  Kapitän  Decatur 
machte  seinen  berühmten  Angriff  auf  Tripolis,  und  der 
amerikanische  Konsul  in  Tunis,  General  Eaton,  drang,  nach- 
dem sich  Amerika  mit  Sidi  Achmed,  dem  Bruder  des  Paschas 


-     203     - 

von  Ägypten  verbunden,  nunmehr  von  dort  aus  mit  einem 
Marinekorps  tief  ins  Innere  vor  und  erstürmte  am  25.  April 
1805  von  der  Landseite  her  den  Seehafen  Derna,  während 
die  Flotte  vom  Hafen  aus  angriff.  Am  4.  Juni  1S05  wurde 
darauf  an  Bord  des  amerikanischen  Flaggschiffs  von  dem 
eingeschüchterten  Pascha  Jussuf  von  Tripolis  und  von  Kom- 
modore Preble  der  Vertrag  unterzeichnet,  wonach  der  ameri- 
kanische Tribut  aufhörte. 

Im  Jahre  1816  schloß  England  durch  Lord  Exmouth 
einen  Vertrag  wegen  Abschaffung  des  Seeraubes  und  der 
Christensklaverei,  und  nach  dem  Fall  von  Algier,  1830,  er- 
zwang auch  eine  französische  Flottenabteilung  dieselben 
Zugeständnisse. 

Jussuf  Pascha,  der  letzte  Karamanli,  hatte  im  ganzen 
noch  eine  lange  und  glänzende  Regierung,  nach  seiner  Ab- 
dankung aber  entbrannte  der  Erbschaftsstreit,  die  Tripo- 
litaner  riefen  diesmal  selbst  die  Pforte  um  Wiederherstellung 
geordneter  V^erhältnisse  an,  und  so  zog  der  türkische  Kom- 
missar ganz  ohne  Gewaltanwendung  als  erster  Wali  1835  in 
Tripolis  ein,  und  die  Provinz  wurde  als  Elajet  dem  türkischen 
Reiche  einverleibt.  Weiterhin  suchte  man  auch  die  Grenzen 
nach  dem  Innern  zu  auszudehnen,  besetzte  1841  Fessan, 
1864  Ghadames  und  1874  Ghat.  1869  wurde  das  bisher 
dem  Gouverneur  von  Tripolis  unterstellte  Barka  als  „Mutes- 
sariflik  Benghasi"  von  Tripolis  getrennt;  die  Grenze  gegen 
Tunesien  wurde  1886  geregelt,  genau  wenigstens  nahe  der 
Küste. 

Seit  einer  unglücklich  verlaufenen  Rebellion  der  tripoli- 
tanischen  Araber  gegen  die  Türkenherrschaft  während  des 
Krimkriegs  herrscht  zwar  Ruhe  im  Lande,  aber  die  Gleich- 
gültigkeit, ja  Stumpfsinnigkeit,  und  sodann  die  hier,  fern  von 
Stambul,  besonders  krasse  Ausbeutungspolitik  der  türkischen 
Verwaltung  haben  das  Land  aus  seiner  Verwahrlosung  und 


—     204     — 

Verarmung  nicht  erlösen  können;  die  Ruhe  ist  eine  Art 
Kirchhofsruhe. 

Das  allgemeine  Interesse  wandte  sich  dem  Lande  erst 
wieder  zu,  als  Frankreich  und  England  durch  Vertrag 
vom  21.  März  1899  das  Hinterland  von  Tripolitanien 
unter  sich  aufteilten  und  Italien  dadurch  betreffs  seiner 
Mittelmeerstellung  ernstlich  besorgt  wurde;  englische  Ver- 
suche, die  italienischen  Bedenken  zu  entkräften,  überzeugten 
nicht,  und  deshalb  suchte  und  fand  man  im  Herbst  1901 
eine  Verständigung  mit  Frankreich  darüber,  daß  dieses 
Italien  in  Tripolitanien  nicht  hindernd  in  den  Weg  treten 
werde,  wogegen  Frankreich  freie  Hand  in  Marokko  gelassen 
werden  solle.  Im  italienischen  Volke  scheint  allerdings  zur 
Zeit  im  allgemeinen  keine  Lust  dafür  zu  bestehen,  anstelle 
innerer  Reformen  weitere  afrikanische  „Abenteuer"  zu  be- 
treiben, und  da  französische  Kolonialpolitiker  bereits  freund- 
lichst angedeutet  haben,  daß  im  Falle  der  italienischen  Okku- 
pation die  für  den  Karawanenhandel  nach  dem  Tsadsee  so 
wichtigen  Oasen  Ghat  und  Ghadames  Frankreich  zufallen 
würden,  so  wäre  damit  der  Hauptwert  der  Aquisition  über- 
haupt in  Frage  gestellt. 

Durch  die  Teilung  des  Fells,  bevor  man  den  Bären 
erlegt,  hat  sich  denn  aber  doch  auch  die  Türkei  bewogen 
gesehen ,  diesem  letzten  ihrer  Tore  zu  einer  Welt  von 
90  Millionen  Moslims  in  Afrika  eine  etwas  erhöhte  Auf- 
merksamkeit zu  schenken,  Tripolitanien  militärisch  und  ad- 
ministrativ enger  an  das  Reich  anzugliedern  und  alte  Ver- 
säumnisse möglichst  gut  zu  machen  durch  Verbesserung  der 
Verwaltung  und  des  Militär-,  Gerichts-  und  Polizeiwesens. 
Am  schließlichen  Schicksal  Tripolitaniens  werden  diese  ver- 
späteten Maßregeln  aber  kaum  etwas  ändern,  wenn  eine 
„Eroberung"  des  Landes  auch  mit  ernsten  Schwierigkeiten 
verschiedener  Art  zu  rechnen  haben  würde. 


—     205     — 

Werfen  wir  schließlich  auch  noch  einen  Blick  auf  die 
Geschichte  des  Oasengebiets  von  Fessan,  des  alten  Pha- 
zania,  des  Landes  der  Garamanten.  Schon  Herodot  (450 
V.  Chr.)  erwähnt  die  berühmte  alte  Hauptstadt  Garama, 
welche  noch  zur  Zeit  der  arabischen  Eroberung  bestand, 
von  der  heute  aber  nur  noch  einige  Ruinen  aus  der  Römer- 
zeit existieren.  Im  Ostteil  der  Natronseen  befinden  sich 
ebenfalls  einige  Ruinen  und  50  kleine  Pyramidengräber. 
Wie  bereits  erwähnt,  drangen  die  Römer  bis  hierher  vor, 
und  Cornelius  Baibus  triumphierte  im  Jahre  19.  v.  Chr.  über 
das  große,  aber  noch  sehr  unkultivierte  Volk.  Etwa  100 
Jahre  später  gelangten  noch  einige  römische  Expeditionen 
bis  nach  hier,  dann  tritt  das  küstenferne  Land  für  einige  Jahr- 
hunderte aber  gänzlich  zurück.  Das  Christentum  nahmen 
die  Garamanten  erst  567  an,  aber  gegen  Mitte  des  siebenten 
Jahrhunderts  wurde  das  Land  mühelos  von  den  Arabern 
unter  Okba  erobert  und  der  Islam  eingeführt.  Es  herrschten 
hier  nun  eigene  Fürsten  unter  der  Oberherrschaft  der  Aghla- 
biden,  Fatimiden,  Ejjubiden  usw.  im  12.  bis  14.  Jahrhundert 
dehnten  die  Könige  von  Kanem  ihren  Machtbereich  bis  nach 
Fessan  aus,  das  sie  wohl  hauptsächlich  der  unerschöpflichen 
Salzgruben  wegen  schätzten,  und  von  der  zweiten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  ab  beginnt  mit  wechselndem  Erfolg  ein 
energischer  Kampf  mit  Tripolis,  bis  es  diesem  endlich 
dauernd  tributpflichtig  wird.  Um  1831  wurde  Fessan  unter 
Abd  ei  Dschil  wieder  vollständig  unabhängig,  aber  nachdem 
sich  die  Türken  erst  einigermaßen  in  Tripolis  sicher  fühlten, 
rückten  sie  auch  gegen  Fessan  vor,  Abd  el  Dschil  fiel  in 
der  entscheidenden  Schlacht  1842,  und  Fessan  wurde  seitdem 
türkische  Provinz. 

Tripoiitanien    ist    für    eine    ganze    Reihe    von   Afrika-    Forsdiuag. 
forschem,    darunter  zahlreichen   Deutschen,   zur  Zeit  der 


—     206     — 

Blüte  der  Afrikaforschung,  zum  Ausgangspunkt  ihrer  Reisen 
genommen  worden,  da  es  für  die  Erreichung  Zentraiafrikas 
die  aussichtsreichsten  Vorbedingungen  bot;  so  finden  wir  hier 
1797  Hornemann,  1846  47  und  1854  Vogel,  1850  Barth  und 
Overweg,  1860  61  Duveyrier,  1862  Moritz  von  Beurmann, 
1864  65,  1868  69  und  1878  79  Gerhard  Rohlfs,  1869  Nach- 
tigal,  1873  —  76  den  Botaniker  Paul  Ascherson,  1875  Bary, 
1883  Schweinfurth,  1888  Quedenfeldt  und  1895  u.  f.  Hugo 
Grothe.  Italiener  waren  in  der  tripolitanischen  Forschung 
überwiegend  in  der  Cyrenaika  beteiligt,  wo  wir  1817  della 
Cella,  1828  Minutoli  und  1881  Camperio  und  Haimann,  den 
Abkömmling  einer  nach  Mailand  ausgewanderten  bayerischen 
Familie  finden,  während  Buonfanti  1883  von  Tripolis  nach 
dem  Tsadsee  reiste.  Freilich  ist  Tripolitanien,  trotzdem  es 
vor  den  Toren  Europas  liegt,  dank  der  türkischen  Ab- 
sperrungspolitik auch  heute  noch  eins  der  unbekanntesten 
Länder  der  Erde  überhaupt. 

besci^reitung  ^^^  Umfang  von  Tripolitanien,  d.  h.  des  Wilajets  Ta- 

rabolos mit  Fessan  und  des  Mutessarifliks  Benrhasi  wird  mit 
1  051  000  qkm  angegeben,  und  seine  Grenze  ist  nur  an  der 
2000  km  langen  Mittelmeerküste  genau  bestimmt,  welche  im 
Westen  bei  Ras  Adschir  an  Tunesien,  im  Osten  am  Golf  von 
Solum  an  ägyptisches  Gebiet  stößt;  vom  Ras  Adschir  zieht 
die  Grenze  in  gerader  Linie  nach  der  Oase  von  Ghadämes, 
von  da  in  zwei  Bogen  zu  denjenigen  von  Ghat  und  Tümmo, 
steigt  dann  wieder  bis  nahe  zur  Küste  der  großen  Syrte 
empor  und  beschreibt  um  die  Halbinsel  Barka  einen  Bogen, 
der  die  Oasengruppe  von  Audschila  einschließt. 

Schon  im  Altertum  waren  die  Syrten  durch  ihre  Un- 
tiefen und  Sandbänke  verrufen.  Die  meist  niedrige  und 
sandige  Küstenregion  des  eigentlichen  Tripolitaniens  ist 
nur  stellenweise  in  breiten  Oasenbezirken  von  einer  seßhaften 


—     207     — 

Bevölkerung  besiedelt  und  kultiviert,  so  besonders  in  der 
westlichen  Küstenebene  Dschefara,  welche  gutes  Weideland 
und  namentlich  in  der  Nähe  der  Hauptstadt  selbst  schöne 
Kulturen  aufweist.  Dahinter  steigt  das  Land  zu  einem  300  m 
hohen,  von  vulkanischen  Hügeln  übersäten  Plateau  an,  an 
das  sich  weiter  südlich  das  über  800  m  hohe  Hochland  des 
Dschebel  Ghurian  anschließt,  dessen  tief  eingeschnittene  und 
fleißig  bestellte  Täler  von  großer  Fruchtbarkeit  sind  und 
schönste  Weideflächen  bieten;  neben  einer  verhältnismäßig 
wohlhabenden  seßhaften  Bevölkerung  sind  auch  die  Zelte 
ruheloser  Nomaden  hier  zu  finden.  Südlich  davon  wird 
das  eigentliche  Tripolitanien  von  Fessan  durch  die  fast 
100  000  qkm  große  Terrasse  Hammada  el  Homra,  getrennt, 
an  welche  sich  im  Osten  die  bis  900  m  hohen  Schwarzen 
Berge  (Dschebel  Soda)  anschließen.  Die  charakteristische 
Teilung  des  Landes,  wie  sie  der  Atlas  von  Marokko  bis 
Tunesien  bildet,  kommt  bei  Tripolis  in  Wegfall,  und  durch 
das  Fehlen  der  hohen  Bergzüge  ist  auch  die  Bewässerung 
Tripolitaniens  nur  dürftig,  die  Wadis  sind  fast  stets  trocken 
und  führen  nur  zur  Frühjahrszeit  starke  Wassermassen, 
welche  die  Erdbestandteile  oft  weit  über  die  Ufer  tragen 
und  so  oasenartige  Streifen  für  Pflanzen-  und  Baum  wuchs 
bilden;  doch  findet  man  in  den  Flußbetten  durch  Nach- 
graben in  geringer  Tiefe  fast  überall  Wasser. 

Fessan  bildet  eine  große  Hochfläche  von  310 — 500  m 
Höhe,  über  die  einzelne  Bergzüge  emporragen,  nackt  und 
wüst,  wie  der  größte  Teil  des  Landes,  dessen  Südwesten  die 
steinige  Hammada  von  Mursuk  und  die  Sanddünen  von 
Fdeyen  erfüllen;  die  Sandsteinberge  werden  durch  öde  enge 
Täler  ohne  jegliche  Spur  organischen  Lebens  voneinander 
getrennt.  V'ielfach  sind  die  wasserlosen  Wüsten  mit  Salz- 
ausblühungen  bedeckt,  und  nordwestlich  von  Mursuk  sind 
auch    Natronseen    vorhanden.      Fließende    Gewässer    fehlen 


—     208     — 

auch  hier  durchaus,  die  großen  Wadis  sind  breite  Täler,  in 
denen  Wasser  ebenfalls  durch  Nachgraben  in  geringer-  Tiefe 
zu  erlangen  ist,  und  die  neben  einzelnen  blühenden  Oasen 
den  allein  bewohnbaren  Teil  des  Landes  ausmachen. 

Die  Halbinsel  Barka  endlich  bildet  die  äußerste,  gut 
bewässerte  und  vegetationsreiche  Randlandschaft  des  libyschen 
Küstenplateaus,  das  sich  jenseits  der  Wasserscheide,  durch- 
schnittlich 40  —  45  km  landeinwärts,  allmählich  nach  der 
libyschen  Wüste  zu  senkt,  die  hier  eine  Höhe  von  100  bis 
150  m  ü.  M.  hat,  und  zwar  sind  in  dem  Küstengebirge  zwei 
größere,  durch  die  Bomba- Bucht  getrennte  Teile  zu  unter- 
scheiden: Der  westliche  Dschebel  el  Achdar  mit  einer  mitt- 
leren Höhe  von  400  —  500  m  und  Höchsterhebungen  von 
wahrscheinlich  850  m,  und  der  östliche  Dschebel  Akabah 
mit  einer  mittleren  Höhe  von  nur  250  m.  Das  libysche 
Küstenplateau  besteht  in  seinem  Massiv  überwiegend  aus 
hartem,  meist  weißem  Kalkstein,  dessen  Karstformation 
zahlreiche  Kesseleinbrüche  und  —  stellenweise  auch  als 
Wohnungen  benutzte  —  Höhlen  aufweist,  dagegen  zeigt  der 
Küstenrand,  die  sogenannte  Barka  el  Homra,  die  „Rote", 
im  Gegensatz  zu  der  eben  beschriebenen  „Weißen"  oder 
Barka  el  Beida,  meist  fruchtbaren,  roten  Zersetzungslehm, 
der  nach  Süden  zu  dürftiger  wird  und  allmählich  in  Sand 
übergeht.  Die  Barka  el  Homra  ist  Kulturland  und  er- 
streckt sich  von  der  Küste  aus  durchschnittlich  40  km  landein; 
die  Barka  el  Beida  ist  Steppe,  und  die  Grenze  zwischen 
dieser  und  der  Wüste  ist  keine  schroffe,  sondern  es  findet 
ein  allmählicher  Übergang  statt,  der  sogar  jährlichen  Schwan- 
kungen ausgesetzt  ist.  Wenn  auch  nur  von  kleinen  und  nur 
im  Winter  wasserführenden  Küstenflüssen  durchschnitten,  von 
denen  keiner  schiffbar,  ist  der  Nordteil  doch  mit  ergiebigen, 
reichlich  fließenden  Quellen  versehen  und  empfängt  genügend 
Regen;  die  Berge  sind  hier  denn  auch  auf  der  Nordseite  mit 


—     209     — 

majestätischen  Wäldern  bestanden,  Palmen-  und  Olivenhaine 
bedecken  die  Ebenen,  und  gute  Jagdreviere  gehen  nach  dem 
Meere  zu  in  fruchtbares  Ackerland  über.  In  den  Karst- 
bildungen gibt  es  jedenfalls  große  Massen  Wassers,  die  un- 
terirdisch aufgestapelt  sind  und  abfließen,  stellenweise  als 
Quellen  wieder  zutage  tretend,  teilweise  aber  auch  unter- 
irdisch direkt  zum  Meere  ziehend;  diese  Wasserschätze  sind 
bislang  nicht  ausgenutzt.  Im  südlichen  weißen  Barka  da- 
gegen hört  nach  einem  mit  Sträuchern  und  Haifa  bestandenen 
Gürtel  fast  jede  Vegetation  auf. 

Die  EntWickelung  der  überall  durch  starke  Brandung 
benagten  Küste  von  Barka  ist,  der  Natur  des  Schollen- 
landes entsprechend,  keine  günstige,  und  die  hier  liegenden 
Häfen  konnten  zwar  den  bescheidenen  Bedürfnissen  früherer 
Zeiten  genügen,  nicht  aber  den  Ansprüchen  der  Neuzeit; 
nur  Bomba  und  Tobruk  bieten  wirklich  gute  Naturhäfen, 
und  Benghasi  hat  Ansätze  zu  einem  solchen.  Die  3S2  km 
lange,  geradlinige  und  von  Strandseen  umsäumte  Küstenlinie 
vom  Dschebel  Dscheria,  der  gewöhnlich  als  Qrenzpunkt  der 
Cyrenaika  gilt,  bis  nach  Tolmeida  ist  eine  öde,  dünenbesetzte 
und  verkehrsfeindliche  Flachküste,  durch  zahlreiche  vor- 
liegende Untiefen,  Sandbänke  und  Klippen  gefährdet  und 
weist  im  Gegensatz  zu  dem  sonst  so  gut  wie  insellosem 
Syrtengebiet  auch  einige  Inseln  auf.  Dagegen  bildet  die 
603  km  lange  Küste  zwischen  Tolmeida  und  dem  Golf  von 
Solum  eine  wenig  ausgebuchtete,  zum  großen  Teil  ebenfalls 
von  Klippen  begleitete  Steilküste,  die  nur  stellenweise  von 
einer  Schwemmlandküste  unterbrochen  ist. 

Das  Klima,   im   allgemeinen   regelmäßig  und  gesund,      Kiima. 
hat   einen    mehr   kontinentalen  Charakter    als    die    anderen 
Mittelmeerländer  und  weist  an  der  Küste  eine  Mitteltemperatur 
von   20—22  ",   in  der  Oase  Dschofra   nördlich  von   Fessan 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  14 


-     210     - 

30 "  auf;  dagegen  fällt  hier  zuweilen  Schnee  und  sinkt  die 
Temperatur,  ebenso  wie  in  den  Schwarzen  Bergen,  bis  zu 
5"  unter  dem  Gefrierpunkt,  während  der  Sommer  sehr 
heiß  ist,  besonders  wenn  der  Samum  aus  der  Sahara  weht. 
Die  mittlere  Jahrestemperatur  beträgt  in  den  Städten  Tripolis 
und  Benghasi  etwa  20".  Der  Regenfall  ist  an  der  Küste, 
mit  Ausnahme  von  Barka,  das  eine  jährliche  Regenmenge 
von  35-- 50  cm  besitzt,  gering  und  bleibt  im  Innern  sogar 
jahrelang  aus;  der  Sommer,  April  —  September,  ist  fast 
regenlos,  auf  den  Hochplateaus  aber  durch  starken  und 
regelmäßigen  Tau  etwas  gemildert.  In  Fessan  kommt  es 
sehr  selten  zu  Niederschlägen,  und  selbst  Tau  fehlt  dort  fast 
ganz.  Das  Regenmaximum  liegt  im  Dezember;  die  mittlere 
jährliche  Regenmenge  der  Städte  Tripolis  und  Benghasi  be- 
trägt etwa  45  cm.  Zur  Bewässerung  des  Landes  sind 
Brunnen  von  geringer  Tiefe  zahlreich  vorhanden. 

Flora.  Die  Vegetation    des    eigentlichen  Tripolitaniens    und 

der  Cyrenaika  sind  ganz  wesentlich  verschieden.  Charak- 
teristisch für  die  letztere  sind  die  waldbildenden  Nadelhölzer 
von  Zypressen,  Aleppokiefern  und  baumartigen  Juniperus 
neben  den  dichten  Macchien  der  Mittelmeerflora,  die  am 
reinsten  am  Nordabhang  des  Barkaplateaus  auftritt  und  nach 
Süden  hin  allmählich  über  eine  Mischflora  zur  Saharaflora 
übergeht.  Im  eigentlichen  Tripolitanien  dagegen  scheint 
es  Wälder  heutigen  Tages  überhaupt  nicht  mehr  zu  geben, 
von  Gesträuchformation  sind  hier  nur  Rosmarin,  Stachel- 
ginster, der  Mastix  und  eine  Eiche,  alle  nur  spärlich  ver- 
treten; Juniperus,  hier  die  einzige  und  seltene  Konifere,  und 
der  Johannisbrotbaum  sind  auf  die  unmittelbare  Nähe  der 
Küste  beschränkt,  welche  zwar  auch  sonst  nicht  ganz  medi- 
terraner Formen  entbehrt,  strichweise  aber  bereits  Sahara- 
typus  aufweist,    der   dann  in   Fessan   völlig  ausgebildet  ist. 


—     211     — 

Die  atlantische  Pistazie  findet  in  Tripolis  ihre  Ostgrenze, 
Kameldorn  und  arabische  Akazien  ihre  Westgrenze.  Auf  den 
meist  kahlen  Berghöhen  des  Innern  findet  man  nur  Lentisken, 
Tamarinden  und  Artemisien,  während  in  den  kraterartigen 
Bodeneinsenkungen  und  auf  den  Plateauflächen  Haifagräser, 
Euphorbia  dendroides,  Rhamnus  und  Capparis  wuchern  und 
zahlreicher  Pflanzenwuchs  nur  in  den  Oasen  anzutreffen  ist, 
deren  Charakterpflanze  auch  hier  die  Dattelpalme  bildet. 
\''on  den  Haifagräsern  scheint  die  Stipa  nicht  über  die 
tripolitanische  Grenze  hinauszugehen,  dagegen  ist  Lygeum 
noch  in  der  Cyrenaika  häufig.  Auch  der  Bast  von  Thymelea 
hirsuta  dient  zu  Stricken  und  Matten.  Trüffeln  sind  im 
Sandboden  stellenweise  sehr  zahlreich  und  groß  und  werden 
als  Nahrungsmittel  geschätzt.  Von  den  wildwachsenden 
Pflanzen  Fessans  sind  besonders  ein  Tamarixstrauch  und  die 
stachliche  Papilionacee  Alhagi  erwähnenswert. 

Die  Fauna  trägt  den   nordafrikanischen  Charakter,   ist    Fauna, 
aber  ärmer    als  die  von  Tunesien    und   Algerien   und  weist 
unter  den  wilden  Tieren  Hyäne,  Schakal,  Wüstenfuchs,  Gazelle, 
Mähnenschaf,  Wildschwein,  Hase  und  Kaninchen,  von  Vögeln 
u.  a.  den  Strauß,  das  rote  Rebhuhn  und  die  Wachtel  auf. 

Was  die  Bevölkerung  anbetrifft,  so  betrug  dieselbe  uevöikcrum 
nach  einer  Schätzung  des  türkischen  Unterrichtsministeriums 
von  1877  in  Tripolitanien  708  000,  in  Barka  einschließlich 
der  Oasen  Audschila,  Dschalo  und  Leschkerreh  302  000. 
Nach  neueren  Angaben  nimmt  man  das  eigentliche  Tripoli- 
tanien mit  910  000  Seelen  an,  wovon  360  000  auf  das  Sand- 
schak  Tripolis,  350000  auf  Dschebel  und  200  000  auf  Choms 
kommen,  und  schätzt  Fessan  mit  120  000  Köpfen  ein.  Von 
dieser  Gesamtzahl  waren  nur  20  000  Nichtmohammedaner, 
nämlich  15  000  Juden  und  5000  Europäer  und  Kopten. 

14* 


—     212     — 

In  der  Hauptsache  besteht  die  Bevölkerung  aus 
Arabern  und  Berbern,  und  dazu  treten,  nach  Süden  zu 
an  Zahl  zunehmend,  Neger,  die  meist  durch  Sklavenhandel 
aus  Zentralafrika,  namentlich  aus  Bornu  eingeführt  sind. 
Die  Gesamtzahl  der  Neger  mag  ungefähr  50  000  betragen, 
sie  zeigen  aber  eine  große  Sterblichkeit,  und  die  dadurch 
gerissenen  Lücken  werden  heute  nicht  mehr  wie  früher 
durch  den  Sklavenhandel  ausgeglichen;  an  der  Küste  be- 
finden sie  sich  überhaupt  nirgends  mehr  in  Sklavenstellung, 
wohl  aber  noch  im  Gebirge.  Farbiges  Blut  rinnt,  in  den 
verschiedensten  Abstufungen,  in  den  Adern  eines  großen 
Teils  der  Tripolitaner. 

Die  arabische  Bevölkerung  hat  die  berberische  fast 
überall  absorbiert,  und  die  letztere  ist  nur  noch  an  wenigen 
Punkten  deutlich  erkennbar,  so  in  den  Bergländern  und  den 
Oasen  Audschila  und  Dschofra,  sie  tritt  mehr  im  Westen 
hervor,  als  im  Osten.  Die  in  den  Städten  ansässigen  Araber 
treiben  vielfach  Handel,  meist  Karawanenhandel,  die  Be- 
duinen hauptsächlich  Viehzucht.  Der  tripolitanische  und 
ägyptische  Landesdialekt  ist  wesentlich  abweichend  von  dem 
im  Westen  gesprochenen  Maghrebin -Arabisch. 

Die  Türken,  angeblich  50000,  sind  fast  ausschließlich 
Beamte  und  Soldaten  und  bleiben  fast  ohne  Berührung  mit 
den  Landeskindern. 

Die  Kuluglis,  auch  angeblich  50000,  Mischlinge  von 
osttürkischen  Janitscharen  mit  eingeborenen  Frauen,  wurden 
ihrer  hervorragenden  Seeräuberqualitäten  wegen  besonders 
an  der  Küste  angesiedelt  und  verschmolzen  allmählich  ganz 
mit  der  einheimischen  Araberbevölkerung. 

Die  etwa  15  000  tripolitanischen  Juden,  von  den  tür- 
kischen Behörden  verhältnismäßig  wenig  bedrückt,  sind 
streng  orthodox,  zeichnen  sich  vor  ihren  tunesischen  und 
algerischen   Glaubensgenossen    aber   durch    große   Umgang- 


—     213     - 

lichkeit,  üastfreundschaft  und  regen  Bildungseifer  aus,  sind 
körperlich  allerdings  noch  schmutziger.  Auch  hier  haben 
sie  den  größten  Teil  des  Handels  in  den  Händen,  daneben 
treiben  sie  aber  auch  Handwerke  und  sogar  Ackerbau. 

Die  Einwohner  Fessans  sind  teils  Abkömmlinge  der 
alten  Garamanten,  die  man  als  Zwischenglieder  von  Libyern 
und  Äthiopiern  auch  Melanogätuler  nennt,  meist  aber  ge- 
mischte Elemente  und  Angehörige  ganz  fremder,  zentral- 
afrikanischer Stämme;  sie  bilden  den  Übergang  der  Be- 
wohner der  Nordküste  und  der  Wüstenstämme  einerseits, 
zu  den  Sudanesen  anderseits. 

Unter  den  Europäern,  welche  hauptsächlich  in  Tri- Fremde, 
polis  und  sodann  in  den  anderen  Städten  leben,  stehen  der 
Zahl  nach  obenan  die  Malteser  mit  etwa  4  000  Seelen, 
welche  den  Eingeborenen  an  Sitte  und  Sprache  am  meisten 
gleichen  und  als  Kleinhändler,  Handwerker,  Fischer  und  Ge- 
müsehändler tätig  sind,  während  ihre  Frauen  als  Köchinnen, 
Näherinnen  und  Wäscherinnen  arbeiten;  als  Geschäfts- 
vermittler und  Zwischenhändler  machen  die  Malteser  auch 
den  Juden  Konkurrenz. 

Die  Italiener  zählen  5—600  Köpfe,  und  das  italienische 
ist  in  Tripolis  und  in  Benghasi  unter  den  Europäern  und 
den  europäisch  Gebildeten  durchaus  die  Umgangs-  und  Ver- 
kehrssprache. Gemäß  dem  von  Crispi  geschaffenen  System 
der  Regierungsschulen  im  Ausland  unterhält  die  italienische 
Regierung  in  der  Stadt  Tripolis  eine  Realschule,  je  eine 
Elementarschule  für  Knaben  und  Mädchen,  einen  Kinder- 
garten, Handarbeitskurse  für  Mädchen  und  Abendunterrichts- 
kurse für  Erwachsene,  wie  Verheiratete,  desgleichen  Elemen- 
tarschulen in  Choms  und  Benghasi.  In  diesen  so  mannig- 
fach gestalteten  Unterrichtsanstalten  mit  35  vom  Staate 
besoldeten  Lehrern  und  Lehrerinnen  werden  jährlich  5 — 600 


-     214     - 

Kindern  —  darunter  80  ^\,  Juden  —  der  italienischen  Sprache 
zugeführt  und  als  Pioniere  für  italienischen  Einfluß  und 
Handel  gewonnen. 

In  französischer  Sprache  unterrichten  in  Tripolis  die 
Soeurs  de  St.  Joseph,  die  Freres  marianistes  einer  franzö- 
sischen freien  Ordensgesellschaft  und  die  von  der  Pariser 
Alliance  israelite  unterhaltene  Schule. 

Andere  Europäer  neben  den  Maltesern  und  Italienern, 
mit  Ausnahme  von  etwa  100  Griechen,  sind  nur  in 
Dutzenden  vertreten;  selbst  in  der  Stadt  Tripolis  bilden  nur 
etwa  100  Menschen  die  europäische  „Gesellschaft",  nämlich 
die  Berufskonsuln,  die  Beamten  der  Schiffahrtsgesellschaften 
und  der  italienischen  und  französischen  Post,  einige  englische 
Missionare  und  Kaufleute,  10  Brüder  der  Freres  marianistes, 
ein  Dutzend  italienischer  Franziskaner  unter  einem  aus  Malta 
gesandten  Bischof  und  etwa  30  italienische  Lehrer  und 
Lehrerinnen;  einen  gemeinsamen  Sammelpunkt  besitzt  diese 
europäische  Kolonie  aber  nicht,  und  das  gesellige  Leben  in 
Tripolis  ist  gleich  null.  Auch  eine  Zeitung  erscheint  bis- 
lang nicht. 

Berufskonsulate  werden  nur  von  Italien,  Frankreich 
und  England  unterhalten,  Deutschland  ist  in  Tripolis  durch 
einen  italienischen  Großkaufmann  vertreten,  der  aber  kein 
Deutsch  spricht.  „Konsul"  irgend  eines  fremden  Staates  zu 
werden,    bildet  den  höchsten  Ehrgeiz  der  Eingeborenen. 

Was  den  Erwerb  von  Grundeigentum  seitens  Fremder 
anbetrifft,  so  widersetzt  sich  das  Gesetz  von  1883  jeder 
Landkonzession  an  Europäer,  und  auch  das  Eindringen  in 
das  tiefere  Innere  der  Provinz  ist  Fremden  seitens  der  tür- 
kischen Behörden  nur  auf  Grund  eines  in  Konstantinopel 
zu  erwirkenden,  besonderen  kaiserlichen  Fermans  gestattet; 
Italienern  und  Franzosen  wird  ein  solcher  im  allgemeinen 
nicht  zuteil,  ersteren  aus  allgemeinpolitischen,  letzteren  aus 


-     215     - 

handelspolitischen  Befürchtungen,  da  man  bei  den  einen  die 
Annektierung,  bei  den  anderen  den  Wunsch  der  Ablenkung 
des  Karawanenhandels  nach  französischem  Gebiet  wittert. 
Außerdem  haben  die  tripolitanischen  Beamten  auch  Furcht 
vor  Verantworthchkeit  und  Strafe  im  Falle  eines  Fremde 
betreffenden  Unglücks  im  Innern.  Erst  im  April  1904  ist 
den  fremden  Konsuln,  auf  Grund  von  Schwierigkeiten, 
welche  durch  Reisen  von  englischen  und  deutschen  Mis- 
sionaren hervorgerufen  wurden,  erneut  eingeschärft  worden, 
daß  nur  mit  Erlaubnis  versehene  Personen  die  Reise  ins 
Innere  antreten  dürfen. 

Die  ottomanische  Provinz  Tripolitanien,  Tarabulus  Verwaltung, 
i  gharb,  d.  h.  des  Westens  im  Gegensatz  zu  dem  syrischen 
Tripolis  genannt  und  bislang  von  der  Pforte  neben  Yemen 
am  stiefmütterlichsten  behandelt,  ist  einem  vom  Sultan  er- 
nannten Generalgouverneur  oder  W^ali,  gewöhnlich  einem 
General,  unterstellt,  dem  fünf  Minister  für  Finanzen,  Rechts- 
pflege, Auswärtiges,  Militär  und  indirekte  Abgaben  zur  Seite 
stehen.  Für  die  Lokalverwaltung  ist  das  Wilajet  in  Kreise 
oder  Sandschaks  geteilt,  seit  1902  deren  fünf,  die  unter 
Gouverneuren  oder  Mutessarifs  stehen;  es  sind  dies:  die 
Westküste  mit  der  Stadt  Tripolis;  die  Ostküste  mit  Choms; 
das  Gebirgsland  Dschebel  mit  Ghadämes; '  Fessan  mit  derl 
Hauptstadt  Mursuk  und  das  bis  1902  letzterem  angegliedert! 
gewesene  Ghat.  Für  die  Kantone  oder  Kasas  sind  23  Gou- 
verneur- Stellvertreter  oder  Kaimakam.  für  eine  Anzahl  von 
Gemeinden  oder  Nahije  18  Bürgermeister  oder  Mudir  tätig. 
Diese  Beamten  sind  meist  nach  hier  verbannte  Türken, 
deren  Hauptaufgabe  in  der  Eintreibung  von  Steuern  und 
Abgaben  besteht,  und  die  teilweise  nicht  einmal  des  Ara- 
bischen mächtig  sind.  Daneben  hat  jeder  Stamm,  jeder  Ort 
seinen    von    der    Regierung   eingesetzten    Scheich ,    der    die 


-     216     — 

Abgaben  einzutreiben,  oft  auch  Recht  zu  sprechen  hat;  in 
den  Berberdörfern  ist  ein  solcher  Scheich  einfach  Gemeinde- 
vorsteher. 

Das  früher  von  Tripolis  aus  verwaltete  Benghasi  ist 
seit  1869  direkt  dem  Ministerium  des  Innern  in  Stambul 
unterstellt  und  wird  von  einern  Mutessarif  verwaltet,  welcher 
der  Pforte  jährlich  4000  Beutel  oder  3  Millionen  Mark  zahlt. 

Die  jährlichen  Einkünfte  des  Wilajets  Tarabulus 
scheinen  5^2  —  6^2  Millionen  Mark  zu  erreichen,  wozu 
Fessan  etwa  800  000  Piaster  oder  150  000  Mark  beiträgt; 
aber  bei  der  doppelten  Verwaltung,  einer  türkischen  und 
einer  einheimischen,  hat  die  Bevölkerung  durch  unrecht- 
mäßige Erpressungen,  die  besonders  im  Innern  schlimm 
sind,  weit  mehr  aufzubringen. 

Die  Haupteinnahmen  fließen  aus  den  Zehnten  von 
Herden,  Weizen  und  Gerste,  aus  den  staatlichen  Palm- 
beständen, aus  Abgaben  auf  Dattelpalmen  und  Olivenbäume, 
aus  der  Salzgewinnung,  den  Zöllen  der  Tabakregie  und  ver- 
schiedenen Lizenzen.  Das  alte  Zehntensystem  in  Naturalien 
durch  Vermittlung  der  Scheichs,  welche  bei  Eintreibung  und 
Abführung  derselben  stets  Gelegenheit  hatten,  auch  für  ihre 
eigene  Tasche  zu  sorgen,  ist  seit  1902  durch  Einführung 
einer  Grund-  und  Gebäudesteuer  und  einer  allgemeinen 
Kopfsteuer  ersetzt  worden. 

Die  Kriminal  Justiz  ist  ebenso  summarisch,  wie  die 
gesamte  Verwaltung,  in  religiöser  Beziehung  macht  sich  der 
Einfluß  des  fremdenfeindlichen  Senussi- Ordens  geltend,  des 
eifrigen  Förderers  des  panislamitischen  Gedankens  in  Nord- 
afrika, der  seinen  Zentralsitz  in  Borku,  im  Hinterland  von 
Tripolitanien  hat. 
Verteidigung.  Die  militärische  Besatzung    besteht  aus    einer  selb- 

ständigen Division  von  17  Bataillonen,  10  Eskadrons  Ka- 
vallerie und  1  Regiment  Artillerie,  4  fahrenden  und  2  Gebirgs- 


—     217     — 

batterien,  unter  einem  Muschir  oder  Militärgouverneur,  der 
in  seinem  Ressort  von  dem  Wali  unabhängig  ist.  Außer  in 
Tripolis,  wo  etwa  die  Hälfte  der  Truppen  untergebracht 
ist,  und  Benghasi  mit  ungefähr  3000  Mann  stehen  je  ein  De- 
tachement  Kavallerie  und  Artillerie  nur  in  Choms  und  in 
einer  Garnison  an  der  tunesischen  Grenze,  Militärposten 
zwischen  dieser  und  der  ägyptischen  Grenze  aber  sind  der 
ganzen  Küste  entlang  in  Abständen  von  40 — 50  km  ver- 
treten. Bis  zum  Jahre  1897  zählte  die  bewaffnete  Macht 
Tripolitaniens  nur  5000  Mann,  seitdem  hat  man  sie  aber 
auf  etwa  8000  Mann  Türken  gebracht,  teilweise  aus  Europa 
verbannten  Soldaten,  neben  denen  als  Hülfstruppen  früher 
die  unregelmäßige  Reiterei  der  Kuluglis,  die  Gendarmen 
und  eine  Art  Eingeborenen-Miliz  standen;  den  Kuluglis  waren 
die  Offiziersgrade  verschlossen,  sie  genossen  aber  Steuer- 
freiheit. Die  berittenen  Polizeisoldaten  oder  Sapties,  etwa 
500,  stehen  unter  einem  besonderen  Chef  in  Tripolis  und 
werden  in  Abteilungen  von  6 — 12  Mann  den  einzelnen  Kai- 
makams  zur  Verfügung  gestellt.  Im  Jahre  1901,  nach  Ab- 
schluß des  den  türkischen  Besitz  gefährdenden  italienisch- 
französischen Abkommens,  hat  die  Türkei  weitere  Schritte 
getroffen,  um  das  Gebiet  in  Verteidigungszustand  zu  setzen, 
man  führte  dort  die  allgemeine  zweijährige  Wehrpflicht  ein 
und  beschloß,  einige  alte,  ungünstig  gelegene  Küsten- 
befestigungen zu  demolieren,  andere  instand  zu  setzen  und 
neu  zu  errichten.  Im  Frühjahr  1904  verfügte  der  türkische 
Ministerrat  angesichts  der  Verhandlungen  über  die  Marokko- 
frage eine  weitere  wesentliche  Verstärkung  der  Garnisonen 
in  Tripolis,  wohin  4000  Mann  Linientruppen  aus  Kleinasien 
verschifft  werden  sollen,  während  man  gleichzeitig  die  ein- 
geborene Miliz  ersten  Grades  mit  neuen  Gewehren  ver- 
sorgen will.  Hat  die  Provinz  bislang  schon  keine  Über- 
schüsse ergeben,  sondern  vielmehr  Zuschüsse  erfordert,   so 


—     218     - 

wird  sich  dies  ungünstige  Verhältnis  nunmehr  noch  ver- 
schärfen. 

Vor  Tripolis  ist  auch  eine  türkische  Fregatte  von 
dem  übh'chen  harmlosen  Typus  als  Wachtschiff  stationiert. 

Die  Flagge  von  Tunis  ist  die  türkische:  Rot  mit 
weißem  Halbmond  und  Stern. 

Landwirtschaft.  Betrachten  wir  nun  den   wirtschaftlichen   Wert  des 

Landes,  so  finden  wir  zunächst,  daß  das  eigentliche  Tripo- 
litanien  bei  weitem  nicht  so  fruchtbar  ist,  wie  die  übrigen, 
ihm  sonst  ähnlichen  afrikanischen  Mittelmeerländer;  drei 
Fünftel  des  Landes,  die  vegetationslose  Region  der  Hamma- 
das und  Serirs,  der  Fels-  und  Kieselwüsten  und  der  Sand- 
dünen des  Inlands,  werden  immer  unwirtlich  und  jeder 
Bodenpflege  verschlossen  bleiben.  Dagegen  bieten  einzelne 
Striche  im  Küstengebiet  und  den  Randgebirgen,  sowie  die 
Oasen  des  Hinterlands  ein  für  alle  Kulturen  der  gemäßigten 
und  der  tropischen  Zone  geeignetes  Kolonisationsland  un- 
gefähr von  der  Größe  Süddeutschlands,  und  das  durch  die 
Araber  seines  ehemaligen  Waldbestands  fast  völlig  entblößte 
Land  würde  sehr  ertragreich  sein,  wenn  ihm  Bewässerung 
und  Bearbeitung  durch  bessere  Ackergeräte,  statt  der  jetzigen, 
äußerst  primitiven,  zuteil  würde.  Die  vielfachen  Reste 
römischer  Bewässerungsanlagen  zeigen,  wie  stark  das  Land 
der  Syrten  s.  Z.  von  der  römischen  Landwirtschaft  nutzbar 
gemacht  worden  war. 

In  der  Cyrenaika  findet  sich  fast  überall  jungfräu- 
licher, tiefgründiger  und  überaus  fruchtbarer  Boden  für 
Ackerbau,  der  heute  allerdings  nur  denkbar  primitiv  be- 
trieben und  angesichts  des  Erpressungssystems  der  Steuer- 
beamten auf  ein  Minimum  beschränkt  ist;  ist  doch  von  dem 
Kulturland  der  Cyrenaika,  das  man  auf  etwa  45  000  qkm 
schätzt,    noch    nicht    der   zwanzigste   Teil   bearbeitet.      Man 


—     219     — 

rechnet  hier  auf  5  Jahre  2  gute,  2  mittelmäßige  und  1 
schlechte  Ernte.  Auch  das  Küstenland  der  Marmarika 
zwischen  Bomba  und  Alexandrien  ist  auf  30-  60  km  Breite 
vielfach  kultivierbares  Land. 

Im  allgemeinen  ist  der  Araber  ein  schlechter  Acker- 
bauer, und  der  hiesige  Grundbesitzer  pflegt  die  Urbarmachung 
und  Bepflanzung  eines  jungfräulichen  Stück  Landes  meist 
auf  10  Jahre  und  mehr  mit  der  Bestimmung  zu  verpachten, 
daß  mindestens  die  Hälfte  des  Bodens  für  Dattelpalmen  und 
Oliven  verwandt  wird;  vom  Ertrage  dieser  fällt  die  Hälfte 
dem  Verpächter  zu,  während  der  Ertrag  des  Gemüsebaus 
ganz  dem  Pächter  gehört.  Saatgut  und  Dünger  fallen  dem 
letzteren  zur  Last,  werden  sie  aber  vom  Grundbesitzer  ge- 
liefert, so  stehen  diesem  '4  der  Früchte  zu.  Gewöhnlich 
wird  der  Hektar  mit  100  Dattelpalmen  oder  Olivenbäumen 
bepflanzt,  und  deren  jährlicher  Ertrag  ist  etwa  8 — 10  Mark. 
Ein  Wohnhaus  aufzuführen  und  einen  Brunnen  zu  graben 
ist  dem  Pächter  nur  dann  gestattet,  wenn  er  jede  Anlage 
doppelt  ausführt.  Nach  Ablauf  der  Vertragszeit  wird  die 
bestellte  Fläche  in  zwei  gleich  wertvolle  Teile  geteilt:  Einer 
kehrt  in  die  Hände  des  Verpächters  zurück,  der  nun  ein 
wohlgepflegtes  Gartenland  sein  eigen  nennen  kann;  der 
andere  verbleibt  dem  bisherigen  Pächter,  der  nun  zum  Lohne 
seiner  Mühen  selbst  Grundbesitzer  wird.  Die  Einrichtung 
ist  dieselbe,  wie  die  in  Tunesien  als  Mrarsa  beschriebene. 
Dieses  System  existiert  nicht  nur  im  eigentlichen  Tripolitanien, 
sondern  auch  in  der  Umgebung  von  Benghasi  und  Derna. 
Anderwärts  wird  das  Eigentumsrecht  durch  drei  Jahre  hinter- 
einander erfolgende  Bebauung  des  Landes  erworben,  wobei 
der  Staat  aber  immer  Obereigentümer  bleibt  und  von  allem 
den  Zehnten  erhebt. 

Der  Zerealien  bau,  der  in  den  Steppenstrichen  der 
Sahel   und   längs  der  großen  Syrte  eine  gute  Zukunft  hätte, 


—     220     — 

ist  heute  zwar  nur  beschränkt,  doch  wird  bei  guter  Ernte 
immerhin  ein  Getreideexport  mögh'ch,  und  die  hiesige 
Gerste  ist  in  England  für  Brauzwecke  beliebt;  im  Jahre  1901 
konnten  davon  aus  dem  eigenth'chen  Tripolitanien  für  eine 
halbe  Million  Mark  ausgeführt  werden,  während  im  Vor- 
jahre, infolge  schlechter  Ernte,  ein  gleicher  Betrag  von  Ge- 
treide eingeführt  werden  mußte,  und  Mehl  muß  sogar  ständig 
in  großen  Mengen  importiert  werden.  Gebaut  wird  beson- 
ders Gerste,  daneben  Weizen,  Neger-  und  Mohrenhirse,  Mais, 
Saubohnen  und  Erdnüsse,  weiße,  gelbe  und  rote  Rüben, 
Kürbisse,  Artischocken,  spanischer  Pfeffer,  Fenchel,  Kümmel 
und  Klee. 

Tabakbau,  unter  Anleitung  der  Regie  bisher  nur  in 
Suära  mit  Erfolg  betrieben,  hätte  auch  anderweit  —  wie  in 
Derna,  wo  er  in  kleinem  Maße  besteht  —  gute  Aussichten, 
und  in  Fessan  würden  Baumwolle  und  Indigo  vorzüglich 
gedeihen.  Bedeutende  Fortschritte  macht  die  Kultur  der 
Henna- Pflanze  (Lawsonia  inermis)  nicht  nur  wegen  des  Be- 
darfs im  Lande  selbst,  sondern  auch  wegen  der  stetig  wach- 
senden Nachfrage  im  übrigen  Nordafrika,  wo  die  einge- 
borenen Frauen  Hände  und  Füße  mit  der  orange  bis  tief- 
dunkelbraunen Farbe  „verschönen".  Die  Saff ran-Kultur, 
früher  blühend,  ist  heute  gänzlich  vernachlässigt. 

Von  Obst  sind  vertreten  Feigen,  Mandeln,  Pfirsiche, 
Aprikosen,  Granaten,  Bananen  und  Wein,  meist  alle  mit 
sehr  mittelmäßigen  Früchten,  dazu  Melonen  und  bei  be- 
sonderer Pflege  Apfelsinen,  Limonen  und  Pommeranzen. 
Opuntien,  Agaven  und  Aloes  bilden  auch  hier  die  Hecken 
der  Gärten.  Oliven  dienen  bislang  hauptsächlich  den  Be- 
dürfnissen der  einheimischen  Bevölkerung,  sind  vielfach  ganz 
verwildert,  sodaß  die  Früchte  nur  als  Viehfutter  verwendet 
werden,  und  könnten,  ebenso  wie  Wein,  an  der  Küste,  wie 
im   Bergland    noch    weit    mehr    angepflanzt   und   besser  ge- 


221     

pflegt  werden.  Auch  der  Maulbeerbaum  gedeiht  vorzüg- 
lich und  könnte  die  Grundlage  einer  jetzt  noch  gänzlich 
fehlenden  Seidenraupenzucht  bieten.  Den  wahren  Reichtum 
des  Innern,  besonders  der  Oasen,  bilden  die  in  vielen 
Varietäten  vertretenen  Dattelpalmen,  wovon  im  nördlichen 
Tripolitanien  2  Millionen  Stück  —  eine  Million  allein  in  der 
Nähe  der  Hauptstadt  —  stehen,  während  Barka  etwa  100  000, 
die  Oasengruppe  von  Audschila  200  000,  Fessan  aber  5 — 6 
Millionen  aufweist,  wovon  mindestens  700  000  Abgaben  von 
je  1 — P-  Piaster  zahlen.  Die  Ausfuhr  von  Haifa  hat  in 
den  letzten  Jahren  einen  schönen  Umfang  angenommen  und 
liefert  jetzt  bereits  die  Hauptausfuhrwerte  überhaupt;  die 
Eingeborenen  haben  von  vornherein  erkannt,  welche  Schätze 
sie  in  dieser  Pflanze  besitzen,  und  sich  durch  rationelle  Wirt- 
schaft das  Gut  erhalten,  indem  sie  das  Gras  abschnitten  und 
nicht  ausrissen.  Auch  die  Wurzeln  der  Farbpflanze  Krapp 
(Rubia),  deren  Blätter  als  Viehfutter  dienen,  werden  von  den 
Eingeborenen  gesammelt. 

Die  Viehzucht  ist  im  eigentlichen  Tripolitanien  nicht  Viehzucht, 
bedeutend;  die  früher  recht  ansehnliche  Zucht  von  Rindern 
wird  jetzt  nur  an  der  Küste  betrieben,  und  im  Dschebel  Soda 
gibt  es  kleine  Herden  minderwertiger  Schläge;  die  von  dort 
nach  Fessan  eingeführten  Tiere  vermochten  dem  Klima  nur 
sehr  schwer  zu  widerstehen.  Auch  die  Pferde  sind  wenig 
zahlreich,  die  von  Benghasi  zwar  klein  und  häßlich,  dabei 
aber  sehr  ausdauernd,  schnell  und  genügsam;  einige  Stämme 
treiben  in  Barka  übrigens  noch  jetzt  eine  von  alters  her  be- 
rühmte Pferdezucht.  Die  zahlreicheren  Esel  dienen  be- 
sonders den  Warentransporten.  Von  Schafen  gibt  es 
zwei  Arten,  eine  mit  Fettschwanz  und  reichlicher,  aber  grober 
Wolle  im  Norden,  und  eine  mit  langem  Hals  und  Schwanz 
und  mit  Haaren  statt  der  Wolle  im  Süden.     Ziegen   bilden 


222     

auch  hier  viehach  den  Hauptreichtum  der  Eingeborenen. 
Recht  zahlreich  war  der  Viehstand  in  der  Cyrenaika,  bis  er 
1892  stark  geh'chtet  wurde  durch  ganz  verunglückte  Ernten, 
welche  abnorm  geringem  Regenfall  und  zahlreichen  Heu- 
schreckenschwärmen  folgten  und  neben  einer  furchtbaren 
Hungersnot  auch  eine  entsetzliche  Viehseuche  verursachten. 
Trotzdem  schätzte  man  Ende  des  Jahrhunderts  die  Cyre- 
naika wieder  mit  6  Millionen  Schafen,  2  Millionen  Ziegen, 
.^  50000  Rindern  und  20  000  Pferden  ein.  f  Sowohl  auf  dem 
Hochplateau  von  Barka,  wie  auch  in  dem  östlich  daran 
stoßenden  Teil  gibt  es  herrliche  Weidegründe.  Selbst  die 
Syrtengegend  ist  starkem  jahreszeitlichen  Wechsel  ihres  Aus- 
sehens unterworfen  und  bietet  im  Winter  auf  sehr  bedeuten- 
den, sonst  wüstenartigen  Flächen  vorzügliches  Weideland. 
Das  wichtigste  Haustier  jedoch  ist  das  Kamel,  von  denen 
sich  die  vom  Dschebel  Soda  durch  ihre  Größe  und  durch 
die  reichliche  Wolle  auszeichnen,  welche  den  Stoff  zu  Zelt- 
tüchern und  Teppichen  liefert.  Da  das  tripolitanische  Kamel 
ruhiger  als  sein  ägyptischer  Bruder  ist,  so  bildet  es  eine  ge- 
suchte Ausfuhrware  nach  den  Nilländern. "  Straußenzucht 
wäre  recht  aussichtsreich ,  wird  bislang  aber  nicht  betrieben. 
Dagegen  sind  Haushühner  und  Tauben  auch  hier  zahl- 
reich vertreten,  und  daneben  bietet  in  Fessan  eine  beliebte 
Nahrung  der  in  den  Natronseen  in  großen  Mengen  gezüchtete, 
2  cm  lange  Fessanwurm  oder  Dud,  ein  zu  den  Krebs- 
tieren gehöriger  Kiemenfuß,  der  mit  Datteln  und  einer  Alge 
zu  Brei  gemischt,  von  den  ärmeren  Klassen  gern  gegessen 
wird,  da  Fleisch  dort  selten  und  teuer  ist.  Seit  einigen 
Jahren  liefert  Barka  auch  Honig  für  die  Ausfuhr. 
Fischerei.  D^s  Meer    liefert    neben   Fischen    und   Korallen    auch 

zahlreiche  Schwämme,  deren  Fischerei  von  Tunis  bis 
Benghasi  fast  ausschließlich  von  griechischen  Segelbarken 
betrieben    wird,    während    die    Resultate   einiger    neuerdings 


—     223     — 

hinzugetretener  italienischer  Taucherboote  hinter  denen  der 
geübten  griechischen  Schwammfischer  zurückblieben.  Seit- 
dem allerdings  1902  die  Schvvammfischerei  mit  Skaphandern 
innerhalb  der  Dreimeilenzone  von  der  türkischen  Regierung 
verboten  wurde,  da  man  unter  der  Maske  von  Fischerei  auch 
Einschmuggelei  von  Waffen  und  Schießbedarf  betrieb,  ist  die 
griechische  Schwammfischerflotte  an  der  tripolitanischen 
Küste  zurückgegangen,  worunter  freilich  auch  die  türkische 
Schuldenverwaltung  litt,  in  deren  Taschen  die  Einkünfte  aus 
der  Fischerei  fließen.  Die  Syrten-Schwämme  sind  im  allge- 
meinen gröberer  Art  und  nicht  für  feineren  Toilettengebrauch 
geeignet. 

Über  den  Mineralreichtum  weiß  man  bislang  sehr  Bodenschätze, 
wenig.  Man  gewinnt  Salz  als  Regierungsmonopol  aus  der 
Sebcha  von  Tauarga,  sowie  bei  Marsa  Brega,  Karkora, 
Benghasi  und  Bomba,  auch  sonst  ist  es  in  den  Seen  und 
Sümpfen  der  Küste  entlang  massenhaft  zu  finden.  Schwefel 
wird  an  der  großen  Syrte  und  Natron  aus  zwei  Seen  nord- 
westlich von  Mursuk  gewonnen.  Die  Schwefelminen  süd- 
lich von  Muktar  wurden  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  von 
einer  Marseiller  Gesellschaft  exploriert,  der  Betrieb  dann  aber 
auf  Wunsch  der  Pforte  eingestellt.  Die  Ausbeute  des  Natrons 
ist  Regierungsmonopol,  und  die  Beduinen  bringen  es  für 
einen  von  der  Regierung  bestimmten  niedrigen  Satz  etwa 
7  Mark  den  Zentner  auf  Kamelen  in  30  Tagereisen  nach 
Tripolis.  Da  diese  Entlohnung  aber  ganz  ungenügend  ist, 
so  sammeln  die  Beduinen  die  Soda  in  jenen  Gegenden  lieber 
heimlich  und  schmuggeln  sie  über  die  tunesische  Grenze,  wo 
die  französische  V'erwaltung  die  willkommene  Ware  zollfrei 
einläßt,  wie  sie  überhaupt  den  Grenzverkehr  nicht  ohne  Er- 
folg begünstigt    und   erleichtert,    um    den   Karawanenhandel 


—     224     — 

nach  Gabes  zu  ziehen.  Im  Sande  der  nördh'chen  Wadis 
wird  auch  etwas  Gold  gefunden. 

Gewerbe.  Die  Industrie,   die  auch   hier   mehr  und  mehr  durch 

das  Vordringen  europäischer  Fabrikate  eingedämmt  wird, 
beschränkt  sich  auf  die  Erzeugung  von  Wollstoffen  in  der 
Stadt  Tripolis  und  bei  den  nomadisierenden  Stämmen;  von 
groben  Woll-  und  Baumwoligeweben  in  Fessan,  die  ganz  im 
Lande  selbst  verbraucht  werden;  von  sehr  geschätzten  Teppi- 
chen inTraghen;  von  Teppichen,  leichten  Geweben  und  Glas- 
waren in  Mesrata;  von  Lederarbeiten  in  Ghadämes;  ferner 
von  Stroh-,  Schilf-  und  Palmettomatten  und  anderen  Flech- 
tereien, etwas  Töpferei,  Herstellung  von  Essenzen  aus  Rosen-, 
Geranien-,  Orangen-  und  Jasminblüten  und  auch  aus  der 
Artemisia  herba  alba  (Schih),  Silberarbeiten  und  einiges  an- 
dere; so  brennt  man  bei  Derna  Kalk,  und  in  den  Berg- 
schluchten der  Barka  wird  Köhlerei  betrieben. 

Neuerdings,  1901,   ist  in  Tripolis  eine  sehr  gut  ausge- 
stattete Industrieschule  eröffnet  worden. 

Handel.  Was  den  Handel  anbetrifft,  so  erleichtert  die  zentrale 

Lage  des  Landes  im  Mittelmeer  die  Pflege  von  Beziehungen 
nach  Ost  und  West  hin,  besonders  aber  bestimmt  die  natür- 
liche Gestaltung  das  eigentliche  Tripolitanien  zum  Haupt- 
transitland für  Zentralafrika;  liegen  doch  die  Abgangs- 
punkte des  Karawanenhandels,  Tripolis,  Choms  und  Benghasi, 
dem  Sudangebiet  etwa  400  km  näher,  als  die  Häfen  von 
Algerien  und  Tunesien,  da  die  Küste  Nordafrikas  hier  am 
weitesten  nach  Süden  einbuchtet  und  das  keilförmig  tief  ins 
Innere  eindringende  Land  in  den  Oasen  Dschofra,  Audschila, 
Dschalo,  Kufra  und  Fessan  auf  dem  Wege  nach  Süden  von 
der  Natur  gegebene  Halte-  und  Ruhepunkte  für  die  Kara- 
wanen   und  Sammelpunkte    des    innersaharischen  Verkehrs, 


—     225     — 

dazu  zahlreichere  Brunnen,  bedeutende  Salzlager  und  ver- 
hältnismäßige Sicherheit  besitzt.  Im  Vergleich  zu  allen  an- 
deren Wüstenwegen  sind  die  von  Tripolitanien  ausgehenden 
die  bequemsten.  Der  Wert  der  Provinz  liegt  denn  auch  zum 
guten  Teile  in  ihrem  Hinterland,  und  zwar  gehören  zur 
Handelssphäre  Tripolitaniens,  außer  Fessan,  die  Gebiete  von 
Tibesti,  Borku,  Wadai,  das  Asben- Hochland,  die  Tuatoasen 
und  die  Länder  zwischen  Niger  und  Tsadsee  mit  Timbuktu, 
Sokoto,  Katsena,  Kano,  Sinder,  Kuka,  Adamaua,  Kanem  und 
Bagirmi,  also  der  ganze  Zentralsudan  und  ein  großer  Teil 
des  westlichen  Sudans. 

Die  wichtigsten  Handelsartikel  des  Sudans  und  der 
Sahara  sind  Elfenbein,  Straußenfedern  und  rohe  und  gegerbte 
Felle,  sowie  in  geringeren  Mengen  Goldstaub,  Gummi,  Indigo, 
Natron,  Schwefel,  Heilkräuter  und  Kolanüsse.  Der  Sklaven- 
handel, früher  das  einträglichste  Geschäft  der  Karawanen, 
welche  jährlich  etwa  8000  Sklaven  an  die  Küste  brachten, 
ist  jetzt  sehr  zurückgegangen  und  offiziell  verboten;  immer- 
hin werden  auch  jetzt  noch  jährlich  etwa  3000  Sklaven  in 
Tripolitanien  eingeführt,  also  mehr,  als  man  wohl  gewöhnlich 
annimmt,  und  solange  Tripolitanien  türkisch  bleibt,  wird  auch 
der  Sklavenhandel  bleiben  und  nur  weniger  an  der  Küste  sicht- 
bar sein,  obgleich  auch  dort  die  z.  B.  in  Benghasi  und  Derna 
gegründeten  „Sklavenzufluchtshäuser"  keine  Garantie  bieten. 
Die  fremden  Waren,  die  über  Tripolis  nach  dem  Innern 
gehen,  sind  vornehmlich  Kolonialprodukte,  wie  Kaffee,  Tee 
und  Zucker,  sodann  Baumwollwaren,  Seidenabfälle,  Drogen, 
Kerzen,  Parfüms,  Kurzwaren,  Waffen,  Pulver,  Glaswaren  und 
Spiegel,  Perlen,  Korallenimitate,  Amulette,  Boxerringe  usw. 
Im  Jahre  1899  gingen  nach  Kanem,  Kano  und  Wadai  für 
2  Millionen  Mark  Waren  und  es  kamen  von  dort  nach 
Tripolis  für  2^  j  Millionen  Mark. 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  15 


—     226     — 

Handelsmittelpunkte  für  den  Karawanenverkehr 
sind  im  Innern  Ghadämes,  Ghat  und  Mursuk ,  und  zwar 
führen  von  Tripolis  nach  Mursuk  zwei  Straßen,  eine 
kürzere  in  etwa  20  Tagereisen  über  den  Dschebel  Ghurian 
und  Misda,  und  eine  längere  mit  ungefähr  30  Tagereisen 
über  Sokna  und  andere  bevölkerte  Zwischenstationen;  die 
letztere  wird  wegen  ihrer  besseren  Wasserverhältnisse  trotz 
der  größeren  Länge  als  Poststraße  benutzt. 

Die  wichtigsten  Karawanenstraßen  des  eigentlichen 
Tripolitaniens  aber  laufen  von  Ghadämes,  dem  alten  römi- 
schen Cidamus,  aus.  Es  sind  dies  nach. Nordwesten:  die 
Straße  durch  den  Areg,  die  südalgerische  Sanddünenzone, 
nach  Wargla  und  dem  Suf;  nach  Südwesten:  über  El  Biod 
nach  In  Salah,  der  bedeutendsten  der  Tuat-Oasen,  und  weiter 
nach  Timbuktu,  oder  direkt  nach  Timbuktu  über  Timassinin, 
Amgid  und  Ideles;  endlich  südlich  über  Ghat  und  das  AVr- 
oder  Asben- Hochland,  Tintellust,  Agades,  Sinder,  Tessaud 
und  Kano  nach  Sokoto.  Die  Karawanen  nach  Tibesti, 
Wadai  und  Bornu  wählen  den  Weg  durch  die  Hammada  el 
Homra  oder  über  die  kaufkräftige  Oase  Dschofra  nach 
Mursuk;  von  Mursuk  über  Gatrun  und  die  Kauar-Oasen 
(Bilma)  bis  Barrua  am  Nordwestufer  des  Tsadsees  beginnt 
durch  wasserlose  Wüsten  und  wandernde  Dünen  der  gefähr- 
lichere Teil  der  Reise.  Die  beschwerlichste,  längste  und  den 
Europäern  bislang  unbekannteste  Tour  ist  die  nach 
Wadai;  von  Tripolis  aus  führt  sie  zunächst  der  Küste  ent- 
lang nach  Syrt,  dann  südlich  bis  Dschofra  oder  Sella,  und 
von  dort  über  Kufa  nach  Wadai.  Von  Benghasi  ab  führt 
ein  2000  km  langer  Weg  über  Dschalo,  Kufra  und  Tekro 
in  Tibesti  nach  Wadais  Hauptstadt  Abeschr  und  nimmt  ein- 
schließlich 35  Rasttagen  etwa  95  Tage  in  Anspruch,  Diese 
Handelsstraße  Benghasi  —  Wadai  wurde  erst  ab  1810  und 
zwar  auf  Veranlassung  des  Sultans  von  Wadai  benutzt,  weil 


—     227     - 

Darfur  zu  hohe  Zölle  berechnete.  Während  des  Mahdisten- 
Aufstandes  ging  auch  der  Handel  Darfurs  zum  großen  Teil 
über  Wadai  und  Benghasi.  Der  Wert  des  Wadai- Handels 
wird  auf  1 '  -  Millionen  Mark  im  Jahre  geschätzt.  Die  Straße 
Benghasi  —  Wadai  ist  zwar  kurz  und  sicher,  aber  insofern 
ungünstig,  als  auf  ihr  zwei  lange  Durststrecken  von  8  bezw. 
12  Tagereisen  zu  überwinden  sind.  Der  Karawanenweg  von 
Benghasi  nach  dem  Tsadsee  führt  in  32  Reisetagen  über 
Dschalo  und  Kufra  zunächst  auch  nach  Tekro  und  von  da 
in  weiteren  30  Reisetagen  über  AVn  Galakka,  Ed  Dorna  und 
Mao  nach  Guelfei.  Weit  weniger  bedeutend  ist  der  Verkehr 
von  Benghasi,  Derna  und  Solum  mit  Dscharabub  und  Siwah, 
welcher  hauptsächlich  den  Handel  mit  Datteln  aus  den  ägyp- 
tischen Oasen  betrifft. 

Die  Reise  von  Tripolis  über  Ghat  und  Air  nach  Kano 
etwa  2400  km        dauert  137  Tage,  bei  30  Tagen  Aufent- 
halt unterwegs,   die   Reise  von   Tripolis   über  Mursuk  nach 
Bornu  143  Tage  bei  45  Rasttagen. 

Die  direkte  Marschzeit  von  Ghadämes  aus  beträgt 
nach  dem  Tuat  25,  nach  Timbuktu  über  In  Salah  71,  nach 
Kano  74  und  nach  Sokoto  83  Tage;  bis  zur  Rückkehr  einer 
von  Tripolis  ausgehenden  Karawane  nach  Sokoto,  Kuka  und 
Kano  pflegen  aber  14 — 18  Monate  zu  verlaufen,  und  solche 
nach  Timbuktu  oder  Wadai  bleiben  18  —  20  Monate  aus. 

Der  Pracht  preis  wird  nach  Kantar  berechnet,  und 
zwar  trägt  ein  kräftiges  Kamel  3,  im  Notfall  bis  zu  4  Kantar. 
Die  Frachtkosten  zwischen  Tripolis  und  Kano  betragen  für 
die  Tonne  ungefähr  550  Mark. 

Es  gibt  in  Tripolis  auch  einige  jüdische  und  alteinge- 
sessene europäische  Handelshäuser,  die  sich  mit  Entsendung 
von  Karawanen  nach  dem  Innern  befassen,  überwiegend  aber 
liegt  dieser  Handel  in  den  Händen  von  arabischen  und 
berberischen    Kaufleuten,    welche  Züge    von    100      1000 

15* 


-     228     — 

Kamelen  ausrüsten,  von  denen  etwa  ein  Viertel  zum  Tragen 
von  Proviant  und  Wasserschläuchen  nötig  sind.  Das  Ge- 
schäftshaus h'efert  die  Waren ,  Kamele  und  alles  zur  Aus- 
rüstung Nötige  an  den  mit  weitgehenden  Vollmachten  ausge- 
statteten Karawanenführer,  meist  einen  Araber,  der  häufig 
Kaution  zu  stellen  hat,  dessen  Geschäftsgebahrung  aber 
durchgängig  von  großer  Ehrlichkeit  ist.  Der  Karawanen- 
handel wird  durchaus  als  Großhandel  betrieben,  und  der 
Absatz  erfolgt  in  den  Marktplätzen  an  dort  ansässige  Klein- 
händler teils  gegen  bar,  teils  gegen  Tauschwaren.  Der  Kara- 
wanenhandel ist  mit  großem  Gewinn,  aber  auch  mit  ent- 
sprechendem Risiko  verbunden,  wenn  auch  planmäßige 
Beraubungen  verhältnismäßig  selten  sind,  da  solche  den 
notwendigen  Handel  selbst  töten  würden. 

Seit  einigen  Jahren  hat  übrigens  dieser  Handel  eine 
wesentliche  Umgestaltung  erfahren.  Bis  1873  befand  sich 
der  ganze  Verkehr  mit  dem  Hinterland  in  den  Händen  von 
Kaufleuten  aus  Ghadämes,  deren  Handelsagenten  euro- 
päische, tunesische  und  ägyptische  Waren  gegen  Straußen- 
federn, Elfenbein  und  Goldstaub  eintauschten,  die  sie  dann 
in  Tripolis  wieder  verkauften.  Seit  1873  fingen  aber  auch 
Kaufleute  in  Tripolis  an,  sich  an  dem  damals  sehr  ein- 
träglichen Handel  mit  Zentralafrika  direkt  zu  beteiligen  und 
eigene  Karawanen  dahin  auszusenden.  Um  1885  begann 
die  Rentabilität  des  Karawanengeschäfts  nachzulassen,  nament- 
lich infolge  der  Konkurrenz,  welche  die  Kap-Züchtung  den 
Straußenfedern  machte,  und  die  den  Preis  eines  der  Haupt- 
artikel des  Sudans  empfindlich  drückte.  Ein  Aufleben  zeigte 
sich  1890  und  1891,  als  mit  einmal  der  Ausbruch  der 
Kämpfe  in  Zentralafrika  und  das  Auftreten  Rabbehs,  der 
„Geißel  des  Sudans",  den  Verkehr  mit  dem  Innern  lahm- 
legte. 1893  nahm  Rabbeh  Bagirmi,  1894  Kuka  ein,  und  der 
Handel    mit   den   Bornu  -  Landschaften    lag   1894  —  96   voll- 


—     229     — 

ständig  brach ;  nur  Wadai  und  der  Westsudan,  Kano,  Sinder, 
Sokoto  und  Timbuktu  blieben  als  Absatzfeld  für  Tripoli- 
tanien ,  dessen  Kaufleute  vielfach  ihr  Vermögen  verloren 
hatten.  Rabbeh,  der  Usurpator  von  Bornu,  verbot  die  Aus- 
fuhr von  Elfenbein  und  ließ  eine  Karawane  niedermetzeln, 
eine  andere  große  Karawane  wurde  1898  von  feindlichen 
Stämmen  geplündert,  und  so  hielt  sich  der  Handel  vorsichtig 
zurück,  ja  es  kam  zeitweilig  zu  einer  völligen  Einstellung 
des  Karawanenverkehrs  nach  dem  Südwesten;  nur  der  V'^er- 
kehr  von  Benghasi  nach  Wadai  und  Kanem  gestaltete  sich 
erfreulich.  Nachdem  Rabbeh  später  die  tripolitanischen  Kauf- 
leute eingeladen  hatte,  den  Verkehr  mit  seinem  Gebiet  wieder 
aufzunehmen,  stellte  sich  allmählich  ein  größerer  Umsatz 
ein,  und  nachdem  die  Franzosen  im  Jahre  1900  der  Raub- 
wirtschaft Rabbehs  ein  Ende  gemacht,  konnten  friedlicher 
X'erkehr  und  Handel  einen  neuen  Aufschwung  nehmen. 

Das  eifrigste  Bestreben  der  Franzosen  ist  es  nun  aber, 
den  Hauptteil  dieses  Karawanenhandels  nach  Gebieten  zu 
leiten,  die  von  ihnen  abhängig  sind,  und  zwar  einesteils  nach 
Senegambien  und  Guinea,  anderseits  aber  nach  Tunis.  In 
der  Tat  bilden  die  Straßen  von  Ghadämes  über  das  Dscherid 
nach  Gafsa  und  Gabes,  und  die  von  Ghadämes  über  Duirat 
nach  Gabes,  welche  früher  benutzt,  aber  seit  den  dreißiger 
Jahren  des  19.  Jahrhunderts  wegen  ihrer  Unsicherheit  ver- 
nachlässigt wurden,  die  kürzeste  Verbindung  mit  dem 
iUeere,  und  die  Franzosen  haben  durch  die  Errichtung  von 
Militärposten  und  Befriedung  des  Landes  auch  im  Interesse 
der  Heranziehung  dieses  Handels  zu  wirken  gesucht,  bis- 
lang allerdings  ohne  besonderen  Erfolg.  Immerhin  haben 
die  Franzosen  Einfluß  in  der  Oase  Bilma  erlangt,  und  der 
Karawanenweg  von  Kanem  über  Bilma,  Ghat  und  Ghadämes 
nach  der  tunesischen  Küste  ist  belebter  geworden. 


—     230     — 

In  der  Tat  würde  der  Bau  einiger,  verhältnismäßig 
kleiner  Bahnen:  Tripolis-Suara-Ghadämes;  Tripolis-Rharian 
und  Tripolis -Choms-Sliten-Misrata-Sokna-Mursuk  genügen, 
um  den  Handel  mit  Zentralafrika  auch  künftig  hin,  wenig- 
stens teilweise,  für  Tripolitanien  zu  sichern,  trotz  aller  von 
Norden  und  Westen  her  erfolgenden  Konkurrenzvorstöße; 
ernstlich  würde  dann  nur  noch  der  Verkehr  mit  Marokko 
gefährdet  sein.  Diese  Bahnen  würden  aber  nicht  nur  den 
Handel,  sondern,  ähnlich  wie  die  anatolische,  auch  die 
Kolonisation  und  die  wirtschaftliche  Hebung  der  von 
ihnen  durchschnittenen  Ländereien  planmäßig  fördern  können. 
1  Allerdings  liegt  eine  Gefahr  für  Tripolitaniens  Handel  darin, 
daß  die  vier  Mächte,  deren  Einflußsphären  in  den  zentralen 
Sudan  hineinreichen:  Frankreich,  England,  Deutschland  und 
der  Kongostaat,  in  gleicher  Weise  ein  großes  Interesse  daran 
haben,  den  Sudanhandel  in  ihr  Gebiet  hinüberzulenken. 

Die  Hafen  platze  des  Landes  sind,  von  West  nach 
Ost  zu  aufgeführt,  im  eigentlichen  Tripolitanien:  Sauyia, 
Suära,  Sansur,  Tripolis,  Choms,  Sliten,  Tabia,  Misrata  und 
Syrt;  in  Barka:  Benghasi,  Derna,  Bomba  und  Tobruk;  die 
vier  wichtigsten  davon  sind  Tripolis,  Benghasi,  Derna  und 
Tobruk,  der  Auslandhandel  aber  ist  fast  ganz  auf  Tripolis 
und  Benghasi  beschränkt. 

Der  gesamte  Fremdhandel  Tripolitaniens  ist  seit  30 
Jahren  ziemlich  stationär  geblieben,  betrug  durchschnittlich 
etwa  15  Millionen  Mark  im  Jahre  und  verteilte  sich  in 

1899      1900     1901 
auf  Einfuhr  mit    7,4        10        7,4    Millionen  Mark, 
„    Ausfuhr   „       8,1        8,4        6,5 

Im  einzelnen  wies  die  Einfuhr  von  1901  folgende 
Hauptposten  auf:  Gewebe,  überwiegend  englische  Baumwoll- 
waren, 1540  Om  Jahre  1900:  2014),  Mehl  1090  (im  Jahre 
1900:  2056),  Brot -Zucker  580,  Tabak  440,  Tee  270,  Kaffee 


—     231     — 

170,  Reis  250,  andere  Kolonialprodukte  460,  andere  Lebens- 
mittel 390,  Eisen  und  Eisenwaren  320  Tausend  Mark,  ferner 
u.  a.  Seide,  Kerzen,  Petroleum,  Seife,  Olivenöl,  während  die 
Ausfuhr  in  1901  bestand  aus  Haifa  1510  (im  Jahre 
1900:  1980),  Häuten  und  Fellen  888  (1170),  Schwämmen 
750  (1550),  Straußenfedern  560  (1090),  Gerste  490  (— ), 
Rinder  380,  Matten  236,  Henna  230,  Eier  180,  Krapp  144, 
Elfenbein  44  Tausend  Mark. 

Die  Einfuhr  stammte  hauptsächlich  aus  folgenden 
Ländern: 

England,  Frankreich,  Österreich, 

0,84  Millionen  Mark 

1,30 
1,10 
Deutschland, 

0,40  Millionen  Mark 

0,39 
0,35 

Die  Einfuhr  von  England  hat  letzthin  abgenommen, 
und  auch  der  Handel  mit  der  Osttürkei  ist,  hauptsächlich 
wohl  wegen  der  mangelhaften  und  unzuverlässigen  Schiffs- 
verbindung der  türkischen  Dampfergesellschaft,  zurückge- 
gangen. Dagegen  hat  der  Handel  mit  Italien  zugenommen, 
und  die  „Societä  di  esplorazione  commerciale  in  Africa"  zu 
Mailand  gründete  an  der  Küste  eine  Anzahl  Handelsagenturen 
zum  Studium  der  Bedürfnisse  und  Hülfsquellen  des  Landes, 
welche  dem  italienischen  Handel  wertvolle  Fingerzeige  gaben; 
Italien  macht  in  den  wichtigen  Baumwollstoffen  dem  bislang 
auch  hier  herrschenden  England  jetzt  starke  Konkurrenz. 
Etwa  ein  Drittel  der  europäischen  Erzeugnisse,  die  über 
Tripolitanien  nach  der  Sahara  und  dem  Sudan  gelangen, 
sind  deutschen  Ursprungs,  und  in  einzelnen  Warengattungen, 
wie  Eisen-  und  Drahtwaren,  Werkzeugen,  Messern,  Nadeln, 


1899 

2,62 

1,56 

1900 

3,16 

1,80 

1901 

2,54 

0,82 

Türkei, 

Italien, 

1899 

1,— 

0,50 

1900 

0,77 

1,88 

1901 

0,86 

0,88 

—     232     — 

Drogen,  Galanterie-  und  Lederwaren  beherrscht  Deutsch- 
land mit  einer  Einfuhr  von  etwa  2  Millionen  Mark  nahezu 
den  tripolitanischen  Markt;  doch  gehen  diese  Waren  auf 
fremden  Schiffen  über  italienische,  französische  und  andere 
fremde  Häfen  und  verschwinden  deshalb  gewöhnlich  in  der 
Statistik  unter  anderer  Nationalität. 

Die  in  Tripolitanien  gefragten  Waren  sind  sämtlich 
von  billigster  Qualität,  die  dortige  Konkurrenz  ist  zahl- 
reich und  scharf,  der  zu  erzielende  Nutzen  meist  klein.  Die 
europäischen  Fabriken  oder  Ausfuhrhäuser  arbeiten  mit  der 
tripolitanischen  Kundschaft  nur  durch  Vermittlung  ihrer  am 
Platze  ansässigen  Agenten  oder  Kommissionäre  und  senden 
außerdem  noch  jährlich  ein-  bis  zweimal  ihren  Reisenden 
mit  Musterkollektionen,  in  Tripolis  gibt  es  einige  eng- 
lische Häuser  für  die  Haifa -Ausfuhr,  dagegen  ist  trotz  des 
nennenswerten  Anteils  der  deutschen  Einfuhr  hier  bislang 
kein  einziges  deutsches  Haus  vorhanden;  die  Vertretung 
der  deutschen  Kaufleute  liegt  vielmehr  ausschließlich  in  den 
Händen  einheimischer  Kommissionäre,  deren  Zuverlässigkeit 
keineswegs  über  allen  Zweifel  erhaben  ist. 

Der  Einfuhrzoll  in  Tripolitanien  beträgt  8"'o,  der 
Ausfuhrzoll  1"()  vom  Werte. 

Betrachten  wir  nun  zunächst  den  Fremdhandel  des 
eigentlichen  Tripolitaniens.  also  ausschließlich  Benghasis. 
Die  Ausfuhr  richtete  sich  hier  hauptsächlich  nach  folgen- 
den Ländern : 

England,  Frankreich,  Nordamerika,  Türkei 

1900  3410  1900  970  610    Tausend  Mark 

1901  3020  960  610  520 
Tunis,   Italien,   Österreich,   Deutschland, 

1900  350  260  220  50    Tausend  Mark 

1901  320  220  200  30 


—     233     — 

und  betreffs  der  Hauptartikel  der  Ausfuhr  sei  noch  folgendes 
bemerkt. 

Das  Steppenprodukt  Haifa  kommt  auf  Kamelen  nach' 
den  Häfen  Tripolis,  Choms,  Sliten  und  Tabia,  wird  von  den 
Exporteuren  mittels  hydraulischer  Pressen  in  Ballen  kom- 
primiert und  geht  ausschließlich  nach  England  zur  Papier- 
fabrikation; 1901  wurden  davon  33  000,  1902:  47  000  Tons 
verschifft.  Der  Staat  erhebt  von  jeder  Kamelladung  Haifa 
eine  Abgabe  von  30,  die  Verschiffungsstadt  eine  solche  von 
15  Centimes. 

Auch  die  Schwämme  gehen  meist  nach  England  und 
Frankreich,  kleine  Mengen  auch  nach  Deutschland,  Triest 
und  Rußland,  nennenswerte  Posten  aber  (1900  für  500  000 
Mark),  gehen  von  den  Syrien,  ohne  überhaupt  die  tripoli- 
tanische  Küste  zu  berühren,  direkt  nach  Griechenland.  Der 
Preis  in  Tripolis  für  die  Oka  (1280  gr)  war  1900  auf  20, 
1901  auf  den  noch  niemals  dagewesenen  Preis  von  26  Mark 
gestiegen. 

Häute  und  Felle  stammen  vielfach  aus  d^m  Sudan, 
besonders  die  dort  recht  gut  gegerbten,  meist  ziegelrot  oder 
gelb  gefärbten  Ziegenleder,  welche  fast  ausschließlich  nach 
Nordamerika  gehen,  wo  immer  starke  Nachfrage  dafür  vor- 
handen ist. 

Die  aus  dem  Sudan  stammenden  Straußenfedern 
von  meist  geringer  Qualität  gehen  ausschließlich  nach  Paris, 
wo  besonders  die  großen,  fahnenartigen  Sorten  gefragt  sind, 
und  zwar  wurden  im  Jahre  1900  für  das  halbe  Kilogramm 
grauer  10—14,  für  weiße  und  schwarze  28  -35  Francs  ge- 
zahlt.    Besonders  gute  Federn  kommen  aus  Wadai. 

Rinder  recht  mäßiger  Qualität  gehen  ausschließlich 
nach  Malta,  welches  1901:    7200,  1902:    5450  Stück   bezog. 

Schafwolle  ist  von  geringer  Qualität  und  liefert  an 
Exportwerten  jährlich  nur  etwa  100  000  Mark. 


—     234     — 

Elfenbein  stammt  hauptsächlich  aus  Wadai,  sodann 
aus  Bornu  und  dem  übrigen  Sudan,  wo  es  von  tripoh"- 
tanischen  Karawanenhändlern  gegen  europäische  Erzeugnisse 
eingetauscht  wird;  da  sich  dafür  aber  bessere,  bequemere 
und  sichere  Wege  nach  der  Ost-  und  Westküste  entwickelt 
haben,  so  geht  die  sich  nach  London  richtende  Ausfuhr 
von  Elfenbein  über  Tripolis  immer  mehr  zurück;  ein  Kantar 
von  50  kg  wertet  300—600  Mark. 

Die  Ausfuhrmöglichkeit  von  Gerste  ist,  wie  wir  bereits 
sahen,  ganz  von  der  Ernte  abhängig.  Apfelsinen  und 
Zitronen  wurden  im  Jahre  1900  für  120  000  Mark  nach 
Malta,  Tunis  und  Algier  ausgeführt  und  könnten  bei  reich- 
h'cherer  Bodenbewässerung  und  besserer  Pflege  einen  weit 
größeren  Exportartikel  bilden,  im  Januar  und  Februar  ge- 
erntete Kartoffeln  gehen  in  erheblichen  Mengen  nach  Malta 
und  von  dort  als  ,, echte  Malteser"  weiter;  auch  diese  Kultur 
wäre  noch  sehr  ausdehnungsfähig. 

Die  Krapp- Wurzel  (Rubia)  liefert  besonders  dann 
größere  Erträge,  wenn  Mißernten  die  Landbevölkerung  zur 
Einsammlung  anspornen. 

Henna  kam  früher  mit  25 — 30"  d  des  Gesamtgewichts 
Stengeln  gemischt  in  den  Handel,  laut  Regierungs-Verordnung 
von  1900  sind  aber  jetzt  nur  noch  höchstens  5^*0  vom  Ge- 
samtgewicht Stengel  erlaubt. 

Von  den  Schilf-  und  Strohmatten  gehen  80 "^o  nach 
Egypten  und  der  Türkei,  der  Rest  nach  Tunis  und  Algier. 

Hühner  und  Eier  lieferten  1900  einen  Exportwert 
von  200000  Mark  nach  Malta,  Frankreich,  Tunis  und  Algier. 

Der  Natron-Export  ist  von  200  000  Mark  in  1899  auf 
32  000  Mark  in  1901   gefallen. 

Kleinere  Ausfuhrwerte  liefern  noch :  Kamelwolle,  Sennes- 
blätter, roter  Pfeffer,  bittere  Orangenschalen,  Veilchen- 
wurzel usw. 


A 


—     235     — 

Betrachten  wir  nun  den  Fremdhandel  Benghasis,  der 
in  den  Jahren 

1900         1901 
in  der  Einfuhr  mit    2400        3120  Tausend  Mark. 
„    ..    Ausfuhr    „      4280        5080 

angegeben  wird  und  in  der  Einfuhr  dieselben  Artikel,  wie 
Tripolis  aufweist,  darunter  besonders  Baumwollwaren  mit 
700,  arabische  Kleider  360,  Zucker  300,  Olivenöl  300,  Leder 
240,  Gold-  und  Silberwaren  190,  Reis  160,  Eisenwaren  100 
Tausend  Mark,  in  kleineren  Werten  dann  folgend  Seife, 
Weine  und  Spirituosen,  Mehl  und  Gries,  Kaffee,  Tee  und 
Petroleum. 

Dagegen  umfaßt  die  Ausfuhr  folgende  Hauptposten: 

Getreide,  meist  Gerste  zu  Brauzwecken  nach  Eng- 
land, ergibt  je  nach  der  Ernte  sehr  schwankende  Werte,  1901 : 
1  240  000  Mark. 

Lebendes  Vieh  für  Malta  und  Kanea,  besonders 
aber  für  Alexandrien,  wohin  es  während  der  Regenzeit,  die 
an  der  Küste  Marmarikas  gute  Weiden  liefert,  auf  dem  Land- 
wege, von  Derna  aus  in  40  Tagen,  getrieben  wird.  Am 
wertvollsten  sind  die  Kamele,  von  denen  5000  Stück  in 
1901  ausgeführt  wurden,  während  im  gleichen  Jahre  der 
Gesamtexport  an  Schafen  200  000,  an  Rindern  7000  und  an 
Pferden  500  Stück  betrug  und  im  ganzen  2  700  000  Mark 
wertete. 

Wolle,  meist  nach  Marseille,  wurde  1901  für  600000 
Mark  ausgeführt.  Ziegen- Felle  im  Werte  von  140000 
Mark  gingen  nach  Marseille. 

Schwämme  werden  besonders  in  der  großen  Syrte 
und  zwischen  Bomba  und  Tobruk  gefischt,  und  der  jährliche 
Fang  hier  wertet  etwa  1  Million  Mark.  Das  ruhigste  Meer 
und  damit  die  geeignetste  Fangzeit  fällt  in  die  Monate  Mai 
bis  August,  und  die  Fischer  sind  teils  Griechen  von  Hydra, 


—     236     — 

Spezzia  und  Ägina,  teils  Türken  der  Insel  Kalymnos,  welche 
den  Hauptmarkt  bildet;  hier  wird  die  Ware  von  Ver- 
tretern der  englischen  und  französischen  Handelshäuser  auf- 
gekauft. Die  besten  Schwämme  der  Cyrenaika  kommen  von 
Tobruk. 

Die  Sudan -Ausfuhrwaren:  Elfenbein  und  Straußen- 
federn ergeben  je  nach  den  Verhältnissen  im  Innern  sehr 
schwankende  Werte. 

Elfenbein  lieferte  1900:  330000,  1901:  145000  Mark. 

Straußenfedern  ergaben  1900:  320000,  1901  :  110  000 
Mark. 

Zappino- Wurzelrinde,  von  einem  Rhus- Strauch 
stammend  und  zum  Gerben  und  zum  Rotfärben  von  Leder 
und  von  Matten  benutzt,  wird  ausschließlich  nach  Alexandrien 
und  zwar  in  jährlichen  Mengen  von  etwa  150  Tons  =-- 
120  000  Mark  gesandt. 

Butter  von  eigenartigem  Geschmack  wird  überwiegend 
nach  Kandia,  in  geringeren  Mengen  auch  nach  Syrien  und 
Alexandrien  geschickt,  und  sodann  werden  noch  Honig  und 
Wachs,  Eier,  Holz  und  Holzkohle,  Matten,  Binsen,  Esparto 
und  Schwefel  ausgeführt. 

Die  Statistik  des  deutschen  Zollgebiets  gibt  die 
deutsche  Ausfuhr  nach  den  afrikanischen  Besitzungen  der 
Türkei  für  die  Jahre  1901  und  1902  mit  je  270  000  Mark, 
unsere  Einfuhr  von  dort  für  1902  nur  mit  18  000  (1901: 
41  000)  Mark  an,  doch  entsprechen  diese  Zahlen  längst  nicht 
den  tatsächlichen  Verhältnissen,  da  der  Handelsverkehr 
zwischen  Deutschland  und  Tripolitanien,  wie  bereits  bemerkt, 
meist  nicht  direkt  erfolgt,  sondern  über  andere  Länder 
geht;  so  werden  z.  B.  Kartoffeln  von  Tripolitanien  zunächst 
nach  Malta  und  dann  als  „Maltakartoffeln"  weiter  gesandt. 
Deutschland     liefert     besonders    Florettseide,     Wollwaren, 


—     237     - 

Anilinfarben    und  Schmiedeeisen    und   empfängt  Schwämme 
und  Schaffelle. 

Als  Wertmesser  findet  man  im  tripolitanischen  Ge- 
biet selten  die  türkische  Goldlira,  häufiger  aber  die  türkische 
große  Silbermünze  der  Medschidie  zu  etwa  3^-  Mark  und 
den  Mariathcresiataler  zu  1  •'4  Mark,  im  Sudanhandel  ver- 
kehrt neben  letzterem  im  Westen  das  Mitkai  Goldstaub 
(4,27  gr  10  Mark)  und  in  Sokoto,  Kano  und  Kuka  die 
Kaurimuschel,  von  denen  2500  —  3000  auf  ein  Fünffrancs- 
stück gehen.  Auch  französische  Louisd'ors  finden  in  der 
Sahara  und  im  Sudan  allmählich  Eingang.  Tunesisches  Gold- 
und  Silbergeld  wird  in  Tripolis  gern  genommen,  und  auch 
die  übrigen  Münzen  des  Mittelmeers  sind  im  V^erkehr. 

Europäische  Banken  gibt  es  in  Tripolitanien  nicht. 

Was    den    regelmäßigen  Schiffsverkehr    mit  Tripoli-     verkehr. 
tanien    anbelangt,    so  ist  dieser,    der  Handelsbewegung  ent- 
sprechend, gering. 

Von  Dampferlinien  sind  nur  zu  nennen  die  der 
türkischen  Gesellschaft  ,,Idare-e-Mahrussih",  welche  zwischen 
Konstantinopel,  Kandia,  Benghasi  und  Tripolis  regelmäßig 
bezw.  unregelmäßig  verkehren,  aber  nach  jeder  Richtung  hin 
sehr  viel  zu  wünschen  übrig  lassen.  Die  Navigazione 
Generale  Italiana  unterhält,  von  der  italienischen  Regie- 
rung subventioniert,  eine  wöchentliche  Hauptlinie  von  Genua 
über  Malta  nach  Tripolis  und  zurück  über  tunesische  Häfen; 
und  seit  1899  14tägig  auch  eine  Zweiglinie  Malta-Tripolis- 
Misrata- Benghasi- Derna-Kanea  und  zurück.  Die  fran- 
zösische Compagnie  de  navigation  mixte  (Touache  &  Cie.) 
fährt  einmal  in  der  Woche  über  die  Tunisküste  nach  Tripolis. 
Die  anderen  Schiffe  sind  meist  für  Haifa  gecharterte,  über- 
wiegend englische  Kargoboote,    welche  Kohlen  nach  dem 


—     238     — 

Minelmeer  brachten,  und  mit  Ausnahme  von  Haha  findet 
auch  die  englische  Aus-  und  Einfuhr  nur  mit  Umladungen 
statt,  welche  überwiegend  in  .Malta,  aber  auch  in  Tunis  vor 
sich  gehen.  Die  deutsche  Levantelinie  lief  früher  Tripolis 
an,  hat  dies  zum  Bedauern  der  betreffenden  Kreise  aber 
aufgegeben.  A\ontenegrinische  und  türkische  Segelkutter 
bringen  Brennholz  und  Holzkohle,  zwei  Bedarfsartikel,  die 
das  eigentliche  Tripolitanien  nicht  selbst  erzeugt,  nach  dort, 
und  die  griechische  Regierung  entsendet  seit  1900  während 
der  Saisondauer  der  Schwammfischerei  ein  kleines  Kriegs- 
schiff nach  der  Rede  von  Tripolis,  nicht  nur  zur  Über- 
wachung, sondern  auch  als  schwimmendes  Gratis- Hospital 
für  die  griechischen  Schwammfischer,  welche  hier  die  Hülfe 
von  zwei  .Warineärzten  finden.  Im  Hafen  von  Tripolis  liefen 
im  Jahre  1900  1033  Schiffe  mit  246  000  Tons  ein.  darunter 
die  Hälfte  italienisch. 

Bis  zum  Jahre  1880  gab  es  an  der  ganzen  tripoli- 
tanischen  Küste  kein  Leuchtfeuer;  jetzt  existieren  solche 
in  Tripolis,  Benghasi.  Choms  und  Derna. 

Was  Post  und  Telegraph  anbelangt,  so  bestehen  in 
der  Stadt  Tripolis  eine  italienische,  eine  französiche  und 
eine  türkische  Postanstalt,  und  auch  in  der  Stadt  Benghasi, 
welche  bislang  nur  einen  primitiven  und  unzuverlässigen 
Briefverkehr  unter  türkischer  Verwaltung  besaß,  ist  1901 
eine  italienische  Postagentur  mit  Qeldbrief-,  Postauftrags- 
und Paketverkehr  eingeführt  worden.  Eine  regelmäßige 
Kamelpost  verkehrt  wöchentlich  der  Küste  entlang,  eine 
andere  gleichfalls  wöchentlich  in  18  Tagen  von  Tripolis  nach 
.Mursuk,  daneben  werden  schnellfüßige  Boten  je  nach  Be- 
darf verwandt. 

Der  Telegraph  verbindet  Tripolis  einerseits  mit  Gha- 
dämes,   anderseits  mit  den  Militärposten   der  Küste  entlang 


—     239     — 

und  zwar  westlich  bis  Suära  nahe  der  tunesischen  Grenze  und 
östhch  bis  Misrata,  von  wo  aus  die  Linie  nach  Benghasi 
fortgesetzt  werden  soll;  ein  Kabel  der  Eastern  Telegraph 
Co.  verbindet  Tripolis  mit  Malta  und  so  mit  dem  Weltnetz. 
Das  Kabel  derselben  Gesellschaft,  welches  ab  1861  auch 
Benghasi  mit  Tripolis  und  Malta  einerseits,  mit  Alexandria 
andrerseits  verband,  ist  seit  1872  eingezogen,  weil  die  Pforte 
plötzlich  der  englischen  Gesellschaft  die  Subvention  entzog. 
Eisenbahnen  gibt  es  in  Tripolitanien  —  mit  Aus- 
nahme einer  Bahn  von  Benghasi  nach  dem  6  km  entfernten 
Steinbruch  von  Tweihad  zum  Heranrollen  der  Steine  für 
den  Hafenbau  —  bislang  sonst  noch  nirgends;  wo  dieselben 
in  erster  Linie  erwünscht  und  nützlich  wären,  ist  schon  bei 
der  Besprechung  des  Karawanenverkehrs  angedeutet  worden. 
Im  Frühjahr  1904  berichteten  ägyptische  Zeitungen,  daß  der 
Bahnbau  Kairo-Tripolis  beschlossen  sei. 

Werfen    wir   auch  hier  schließlich  einen  Blick  auf  die    Hauptorte, 
wichtigeren     Orte     und     beginnen     mit     dem     eigentlichen 
Tripolitanien. 

Die  von  einer  Oase  umgürtete  Hauptstadt  Tripolis, 
das  Öa  der  Griechen,  türkisch  „Taräbolos  el  gharb"  genannt, 
liegt  auf  einer  Landzunge  der  Kleinen  Syrte  an  einer  von 
Riffen  umgebenen,  offenen  Reede;  zwischen  Dezember  und 
Februar,  während  der  winterlichen  Stürme  und  Regengüsse, 
ist  der  Seegang  hier  zuweilen  so  hoch,  daß  die  Einfahrt  durch 
die  Klippen  zur  Binnenreede  schwierig  und  gefährlich,  ja  zu- 
weilen unmöglich  ist.  Es  sind  denn  auch  in  den  letzten  15 
Jahren  bereits  zweimal  Projekte  für  ausgedehnte  Hafen-  und 
Kai -Anlagen  aufgetaucht,  ernstlich  aber  erst  1902  auf  die  Ta- 
gesordnung gebracht,  und  von  dem  Generalgouverneur  aus 
politischen  und  kommerziellen,  von  dem  Militärkommandanten 
aus  militärischen  und  maritimen  Gründen  befürwortet  worden. 


—     240     — 

und  zwar  soll  die  Konzession  von  der  Zivilliste  des  Sultans 
erworben  werden. 

Vom  Meere  aus  gesehen,  zeigt  sich  die  in  Fünfecksform 
gebaute  und  seit  Jahrhunderten  in  ihrem  Äußern  unveränderte 
Stadt  als  derselbe  weiße  Steinhaufen,  wie  alle  älteren  Küsten- 
städte des  Maghreb;  trotzige,  8  m  hohe  Festungs-Mauern  und 
Bastionen,  die  direkt  aus  dem  Meere  aufsteigen,  werden  von 
einer  Reihe  runder,  spitzer  Minarets  und  im  Osten  von  dem 
alten  spanischen  Kastell  überragt,  einem  massigen,  unregel- 
mäßigen und  unschönen  Bau ,  der  in  den  verschiedensten 
Zeiten  und  Stilen  aneinandergeflickt  wurde;  hier  ist  der  Sitz 
des  Walis  und  der  Verwaltungsbureaus.  Die  Straßen  sind  eng, 
aber  ziemlich  reinlich  und  ohne  europäische  Zutaten  und  An- 
hängsel; es  gibt  aber  gute  Karawansereien  und  auch  euro- 
päische Gasthöfe  oder  Fonduks.  Aus  alter  Zeit  ist  noch 
ein  Triumpfbogen  zu  Ehren  Marc  Aureis  mit  Skulpturen  in 
weißem  Marmor  erhalten.  Die  Stadt  ist  Regierungssitz,  Haupt- 
platz für  den  Handels-  und  Schiffahrtsverkehr  mit  dem  Aus- 
land und  eines  guten  Teils  der  einheimischen  Kleinindustrie, 
welche  besonders  Kordoan  -  Leder,  Teppiche,  Baumwoll-, 
Woll-  und  Seidenstoffe  herstellt.  Unter  den  50000  Einwohnern 
sind  6 — 8000  Juden,  welche  im  Westen  ein  besonderes  Stadt- 
viertel, die  Harra,  bewohnen  und  einen  großen  Teil  des  Han- 
dels in  den  Händen  haben,  und  an  5000  Europäer,  über- 
wiegend Malteser  und  Italiener. 

Eigentliche  „Städte"  sind  sonst  noch  in  Tripolitanien 
nur  der  Hafenplatz  Choms  mit  3509  Einwohnern  —  etwa 
3  km  östlich  davon  die  meist  im  Sande  begrabenen  Ruinen 
der  seit  dem  Arabereinfall  verwüstet  gebliebenen  Hauptstadt 
der  Regio  syrtica,  der  alten  Phönikergründung  Leptis  magna, 
jetzt  Lebda  genannt  — ,  ferner  der  Stapellagerplatz  für  den 
Sudanverkehr,  Ghadämes,   an  der  tunesischen  Grenzecke, 


-     241     — 

mit  8  — 10  000  Einwohnern,  und  der  Karawanenkreuzungs- 
punkt^isda  mit  1000  Seelen.  Dagegen  gleichen  die  Haupt- 
plätze der  Küste  westlich  von  Tripolis  Sauya  (4000  Ein- 
wohnern), Suära  (3000),  Sansur  (2000)  und  die  östlich  ge- 
legenen Sliten  (7  —  8000),  Tabia  (500)  und  Misrata  (3000) 
mehr  ausgedehnten  Gartenkulturen  mit  eingebauten  Lehm- 
und  Steinhäusern,  die  zusammenrücken  in  der  Nähe  des 
„Suk",  dem  Platze  für  die  wöchentlichen  Märkte,  und  des 
„Konak"  oder  Verwaltungs-  und  Gemeindegebäudes.  Eine 
ähnliche  Gruppierung  zeigt  sich  im  Gebirgsland,  wo  die 
als  „Städte"  geltenden  Bevölkerungsmittelpunkte  Rharian 
(8000  Einwohner),  Jefren  (2000)  und  Messellata  (1000)  eine 
weite  Reihe  dichterer  Dorfschaften  bilden,  welche  sich  an  die 
„Kasr",  Gebirgsfesten  und  Garnisonbauten  anschließen,  die 
zugleich  Sitz  der  Distriktsvorsteher  oder  Kaimakam  sind. 
Im  Flachland  und  den  Steppenstrichen  sind  die  ,,Kasr" 
oder  ,,Bordsch"  meist  armselige  Kastelle,  in  deren  Nähe  sich 
ein  paar  Lehmhütten  oder  die  Zelte  einer  Stammesabteilung 
gruppieren.  Die  Zeltdörfer  oder  Fergas  umfassen  meist  nur 
6-12  Familien.  Dazu  treten  hier,  wie  in  Barka,  die  tür- 
kischen Garnisonen,  die  zahlreichen  religiösen  Stiftungen  der 
Sauias  und  die  Marabuts  oder  Gräber  von  Moslim-Heiligen. 
Fessan  umfaßt  etwa  400  000  q km  mit  einer  Reihe  von 
Oasengruppen,  die  ganz  isoliert  innerhalb  der  Wüste  liegen, 
fast  keine  wilde  Flora  und  mangels  Weiden  auch  nur  ge- 
ringe Viehzucht  aufweisen;  nur  Kamele,  Hühner  und  Tauben 
gedeihen  hier  gut.  Fessan  war  immer  ein  wichtiger  Handels- 
mittelpunkt zwischen  der  Syrtengegend  und  den  Negerländern, 
aber  der  Ausfall  im  Sklavenhandel  ist  nicht  durch  die  Pro- 
dukte der  Natronseen  gedeckt  worden,  und  das  Land  ist 
wirtschaftlich  gegen  früher  zurückgegangen  und  verarmt. 
Es  weist  als  „Städte"  und  wichtige  Karawanenpunkte  Alux^ 
§uk  mit  10  000  Einwohnern  auf,  die  törichterweise  zwischen 

Schanz,  Algerien,  Tunesien,  Tripolitanien.  16 


—     242     — 

ungesunden  Salzsümpfen  angelegte  Hauptstadt;  ferner  Ghat 
mit  6  —  8000  Einwohnern,  und  Ederi.  in  etwa  90  Ort- 
schaften der  Oasen  und  Wadis  sind  ungefähr  weitere  33  000 
seßhafte  Einwohner,  Mischlinge  der  Tibbu-,  Bornu-,  Tuareg-, 
Berber-  und  Araber-Völker  vertreten,  und  im  Norden  hausen 
die  nomadisierenden  Araberstämme  der  Riah,  Hotman  und 
Megarha.  Man  treibt  etwas  Acker-,  Oliven-  und  Obst- 
bau, aber  den  Hauptertrag  liefert  die  Dattelpalme,  von  der 
man  allein  bei  Mursuk  37  verschiedene  Arten  zählt.  Rinder 
zieht  man  fast  nur  im  Wadi  el  Schati,  Ziegen,  Schafe  und 
Kamele,  Hühner  und  Tauben  aber  überall,  während  der 
Handel  mit  dem  Nachlassen  des  einst  blühenden  Sklaven- 
handels sehr  zurückgegangen  ist.  Außer  der  arabischen 
Landessprache  spricht  man  hier  auch  die  Sprachen  der 
Tuareg  und  Tibbu,  und  das  Kanuri,  die  Bornusprache. 

Der  Hauptort  von  Barka  und  dessen  natürliche  Ein- 
gangspforte ist 

Benghasi ,  das  Euhesperidae  der  Griechen  und  Hespe- 
rides  der  Römer,  von  den  Ptolemäern,  nach  der  Gemahlin 
von  Ptolemäus  111.,  Berenike  genannt,  die  westlichste  der 
fünf  Städte  der  Pentapolis  an  der  Ostküste  der  Großen  Syrte, 
wohin  die  Alten  die  „Gärten  der  Hesperiden"  verlegten.  Die 
Stadt  liegt  auf  einer  Landzunge,  welche  eine  Strandlagune 
vom  Festland  trennt,  aber  der  Hafen  versandet  und  ver- 
schlammt mehr  und  mehr,  sodaß  nur  Schiffe  von  2^/^  m 
Tiefgang  —  im  Winter  fast  gar  keine  —  Zugang  haben. 
Eine  französische  Gesellschaft,  welche  hier  einen  Leuchtturm 
errichtet  hat  und  gegen  Abgaben  aller  hier  verkehrenden 
Schiffe  unterhält,  beabsichtigt  auch  einen  Hafenausbau,  im 
Gegensatz  zu  allen  anderen  Städten  des  Maghreb  ist  das  in 
einem  unregelmäßigen  Viereck  gebaute  Benghasi  nicht  um- 
wallt, sondern  offen,  und  die  seit  den  Ptolemäer-Zeiten  an- 
sässigen Juden  leben  hier  nicht  in  einem  besonderen  Viertel. 


—     243     — 

An  der  Spitze  der  Landzunge  steht  das  alte  Kastell  mit  dem 
Regierungssitz.  Im  ganzen  leben  in  Benghasi  etwa  1^—20000 
Personen,  darunter  2500  Juden  und  1200  Europäer,  auch 
hier  meist  Malteser,  Italiener  und  Griechen;  England  unter- 
hält auch  hier  ein  Konsulat,  und  der  Handel  ganz  Barkas 
geht  überwiegend  über  Benghasi.  Die  Ruinen  der  alten 
Griechenstadt  liegen  nordöstlich  der  heutigen,  und  nach 
dieser  Richtung  zu  findet  man  auch  blühende  Oasenkulturen, 
und  zwischen  Palmen  und  Obstbäume  lachende  Getreide- 
und  Gemüsefelder. 

Von  dem  alten  Arsinoe  und  dem  nahen  Tauchira 
—  jetzt  Tokra  —  sind  heute  nur  noch  Trümmer  erhalten, 
zwischen  denen  sich  ein  halbes  Hundert  armseliger  Lehm- 
hütten befindet.     Die  nun  folgende  Hafenstadt 

Ptolemais  —  jetzt  Tolmeida  —  die  einst  von  den 
Ptolemäern  als  Rivale  von  Barka  angelegt  und  begünstigt 
wurde,  und  im  Mittelalter  noch  eine  gewerbreiche  arabische 
Stadt  war,  zeigt  heute  nur  noch  schöne  Baureste,  und  der 
sonst  nicht  ungünstig  gelegene  Hafen  leidet  unter  Wasser- 
mangel und  starker  Versandung.  Auch  von  dem  15  km 
landein  liegenden 

Barka  —  heute  Medinet  el  Merdsch  —  sind  nur 
noch  Trümmer  vorhanden,  während  es  einst  die  Hauptstadt 
der  westlichen  Cyrenaika  und  auch  im  Mittelalter  unter  den 
.Arabern  noch  bedeutend  war. 

Apollonia,  in  christlicher  Zeit  Sozopolis,  jetzt  Marsa 
Susa  genannt,  ist  mit  Benghasi  und  Tokra  zusammen  die 
dritte  der  jetzt  noch  bestehenden  „Fünfstädte",  aber  nicht 
blühender  als  Tokra;  im  Altertum  als  trefflicher  Hafen  be- 
zeichnet, bietet  das  heute  versandete  Marsa  Susa  nur  noch 
einen  mäßigen  .Ankerplatz.  Es  bildet  den  Zugang  zu  dem 
im   Hinterlande,    in    der  Luftlinie    nur    16  km    entfernt   und 

16* 


—     244     — 

etwa  610  m  hoch  hegenden,  aber  nur  auf  beschweHichen 
Gebirgswegen  zu  erreichenden 

Kyrene,  im  Mittelalter  Krennah,  heute  Ain  es  Schahad 
genannt,  welches  noch  jetzt  große  Reste  von  Tempeln, 
Theatern,  eines  Stadions,  einer  Nekropole  und  andere 
Ruinen  aufweist. 

Den  östlichen  Hafen  des  eigentlichen  Barka  bildet  das 
in  dem  fruchtbaren  Delta  des  Wadi  Derna  reizend  gelegene 

Derna,  das  alte  Darnis  Zarine,  mit  4000  Einwohnern 
in  fünf  von  einer  Mauer  umschlossenen  Ortschaften.  Derna, 
der  zweitgrößte  Platz  der  Barka,  hat  allerdings  keinen  Hafen, 
sondern  nur  eine  allen  Nord-  und  Ostwinden  offene  Reede. 
Seit  1898  unterhält  England  hier  einen  Konsularagenten. 

Der  weiterhin  folgende  Golf  von 

Bomba  bietet  in  der  Menelaus-Bucht  einen  ausgezeich- 
neten Naturhafen,  der  bereits  Ende  der  vierziger  Jahre  des 
vorigen  Jahrhunderts  von  der  englischen  Marine  genau  unter- 
sucht wurde,  und  auf  den  man  in  England  angeblich  auch 
neuerdings  wieder  begehrliche  Blicke  geworfen  hat. 

An  der  Küste  der  anschließenden  Marmarika  liegt 
noch 

Tobruk,  das  Antipyrgos  der  Alten,  gleichfalls  ein  aus- 
gezeichneter und  sicherer  Hafen  mit  10—15  m  Wassertiefe, 
nur  den  seltenen  Ostwinden  ausgesetzt.  Der  Platz  ist  wichtig 
als  eventueller  Flottenstützpunkt,  besitzt  aber  kein  größeres 
natürliches  Hinterland  und  ist  als  Handelshafen  deshalb  nur 
von  lokaler  Bedeutung.    Die  Hauptausfuhr  besteht  in  Getreide. 

Als  Grenzfort  gegen  Ägypten  dient  Kasr  Dschedid 
am  Golf  von  Solum. 

Die  im  Süden  des  Barka-Gebietes  liegende,  von  Sand- 
dünen umgebene  Oasengruppe  von 

Audschila,  aus  der  gleichnamigen  Oase  mit  4000  Ein- 
wohnern im  Westen,   Dschalo,   mit  6000  Einwohnern  und 


—     245     - 

dem  Hauptort  Sokna  in  der  Mitte  und  Leschkerreh  im 
Osten  bestehend,  wird  von  einem  in  Sokna  residierenden 
Mudir  verwaltet,  der  für  die  100000  Dattelpalmen  seines 
Reviers  jährlich  eine  Abgabe  von  250000  Piastern  nach 
Benghasi  entrichtet.  Ein  Teil  der  Bewohner  besteht  aus 
geschickten  Handelsleuten,  die  mit  ihren  Karawanen  bis  nach 
Wadai  ziehen;  der  Rest  lebt  von  seinen  Dattelpalmen,  Ka- 
melen und  dem  Ertrag  des  Gartenbaues. 

Ist  Tripolitanien  im  allgemeinen  von  der  Natur  auch  I 
weniger  begünstigt,  als  die  westlich  von  ihm  liegenden  drei 
Atlasländer  von  „Klein -Afrika",  so  trägt  die  Hauptschuld  an 
seinem  heutigen  Daniederliegen  doch  die  stumpfsinnige  tür- 
kische Verwaltung.  Verschiedene  Teile  des  Gebietes  haben 
sich  unter  griechischer  und  römischer  Kolonisation  einer 
schönen  Blüte  erfreut,  und  unter  einer  zielbewußten  Ver- 
waltung würde  auch  heute  neues  Leben  aus  den  Ruinen  1 
sprießen. 


Hauptsächlich  benutzte  Quellen. 

Paul  Leroy-Beaulieu:  L"  Algerie  et  la  Tunisie. 

Arthur  Girault:  Principes  de  colonisation  et  de  legislation  coloniale. 

G.  K.  Anton:  Le  regime  foncier  aux  colonies. 

M.  Lambert  Playfair:  Algeria  and  Tunis. 

A.  M.  Broadley:  Tunis  past  and  present. 

Maurice  Wahl:  L'  Algerie. 

Henri  Pensa:  L'  avenir  de  Tunisie. 

Max  Hübner:  Eine  Pforte  zum  schwarzen  Erdteil. 

Paul  Mohr:  Das  Eisenbahnwesen  in  Algerien. 

Paul  Mohr:  Die  französische  Handelspolitik  gegenüber  Tunesien. 

Theobald  Fischer:  Tunis,  Biserta  und  Tunesien  im  Jahre  1904. 

H.  L.  Grothe:  Tripolitanien. 

M.  de  Malthuisieulx:  A  travers  la  Tripolitaine. 

Gotthold  Hildebrand:  Cyrenaika. 


Inhaltsverzeichnis. 


Algerien. 


Seite 
1 

26 
31 
32 
33 


Geschichte 

Landbeschreibung 
Kh'ma    ....... 

Flora 

Fauna  

Bevölkerung 33 

Europäer 36 

Verwaltung 40 

Rechtswesen 48 

Kirchenwesen 49 

Unterricht 49 

Verteidigung  50 

Finanzen 54 


Seite 

Bodenfrage  U.Kolonisation  59 

Bewässerung 67 

Landwirtschaft 69 

Forstwesen 78 

Viehzucht 79 

Fischerei       82 

Bergbau 82 

Gewerbe 85 

Handel 87 

Verkehr 96 

Eisenbahnen 96 

Schiffahrt 106 

Hauptorte 112 


Tunesien. 


Geschichte 114 

Landbeschreibung      .    .     .  128 

Klima 131 

Flora 132 

Fauna 133 

Bodenschätze 133 

Bevölkerung 133 

Europäer  135 

Verwaltung 139 

Heer  und  Flotte    ....  143 

Justiz .  144 

Kirche 145 

Unterricht  145 

l'inanzen 146 


Bodenfrage  U.Kolonisation  151 

Landwirtschaft 161 

Ackerbau      163 

Forstwesen 167 

Viehzucht 168 

Fischerei 170 

Gewerbe 171 

Bergbau 172 

Handel 174 

Verkehr 181 

Eisenbahnen  182 

Schiffahrt      ......  185 

Hauptorte 187 


—     248 


Tripolitanien. 


Seite. 

Geschichte  von  Cyrenaika  194 

„    Tripolis    .  200 

„            „     Fessan     •  205 

Forschung     ......  205 

Landbeschreibung      .    .    .  206 

Khma 209 

Flora 210 

Fauna 211 

Bevölkerung 211 

Fremde 213 


Seite. 

Verwaltung 215 

Verteidigung 216 

Landwirtschaft      ....  218 

Viehzucht 221 

Fischerei 222 

Bodenschätze 223 

Gewerbe 224 

Handel 224 

Verkehr 237 

Hauptorte 239 


Druck  von  Gebauer -Schwetschke  Druckerei  und  Verlag  m.  b.  H.,  Halle  a.  S. 


Angewandte  Geographie. 


Hefte  zur  Verbreitung  geographischer 

Kenntnisse  in  ihrer  Beziehung  zum  Kultur- 

und  Wirtschaftsleben. 


Redaktion:  Professor  Dr.  Karl  Dove,  Jena. 


2,  Serie.    3.  Heft, 
Moritz  Schanz:  Ägypten  und  der  Ägyptische  Sudan. 


Halle  a.  S. 

Gebauer-Schwetscke  Druckerei  und  Verlag  m.  b.  H. 
1904. 


ÄGYPTEN 


R.  ICaltofen 
Amsterdam. 


und  der 


Ägyptische  Sudan. 


Von 


Moritz  Schanz. 


Halle  a.  S. 

Gebauer  Scinvctschke   Druckerei  und  Verlag  m.  b.  H. 
1904. 


Ägypten. 

Wie  in  meinen  t'rüher  erschienenen  Werken:  „Ost-  und 
Südafrika"  und  „Westafrika"  beabsichtige  ich  auch  in  der 
Serie  „Nordafrika",  deren  erstes  Heft  „Ägypten  und  der 
ägyptische  Sudan"  bildet,  die  hier  behandelten  Länder  be- 
sonders mit  Rücksicht  auf  ihre  geschichthche  und  wirtschaft- 
liche Entwicklung  und  ihre  derzeitige  Verwaltung  zu  be- 
sprechen, andere  Punkte  aber  nur  insoweit  mit  heranzu- 
ziehen, als  sie  zur  Erreichung  meines  Zweckes  notwendig 
erscheinen. 


Soweit  unsere  weit  zurückgehenden  geschichtlichen  Geschichte. 
Kenntnisse  über  Ägypten  reichen,  erweisen  sie  bereits  das 
Vorhandensein  eines  großartig  organisierten  Staates  und  einer 
hochentwickelten  Kultur,  die  eine  Vorschule  von  Jahrtausen- 
den voraussetzt  und  sicher  nicht  afrikanischen ,  sondern  asi- 
atischen Ursprungs  ist,  da  das  fruchtbare  Niltal  frühzeitig  eine 
große  Anziehungskraft  auf  die  umwohnenden  Völker  ausübte. 
Aber  das  erstmalige  Erscheinen  von  fremden  Eindringlingen 
weißer  Hautfarbe  aus  Asien  zu  den  ursprünglichen  Bewoh- 
nern Ägyptens  gehört,  so  gut  wie  dasjenige  der  Neger  in 
Mittelafrika,   der  dunklen  V^orgeschichte  an. 

Neuerdings  gemachte  Funde  beweisen  auch  für  Ägyp- 
ten eine  uralte  stein  zeitliche  Kultur,  deren  Ursprung  Schwein- 
furth  auf  Südarabien  zurückzuführen  geneigt  ist,  wo  auch 

Schanz,  Ägypten.  1 


—     2     — 

die  für  Ägyptens  Religion  so  bedeutsam  gewordenen  Pflan- 
zen Weihrauch,  Sykomore  und  Persea  ihre  Heimat  haben. 
Eine  weitere  Einwanderung,  auch  in  vorgeschichtlicher  Zeit, 
erfolgte  dann  vom  Euphrat  her  in  Gestalt  sumerischer 
Scharen,  die  den  Getreidebau,  den  Pflug,  die  Metallbearbei- 
tung und  andere  Errungenschaften  der  hochentwickelten  ba- 
bylonischen Kultur  einführten. 

Es  erscheint  heute  ziemlich  sicher,  daß  die  in  histo- 
rischen Zeiten  als  Ursitz  betrachtete  Landschaft  in  Mittel- 
ägypten, bei  Abydos  und  Negada,  etwas  nördlich  von  The- 
ben lag  und  daß  die  Residenz  unter  dem  Gaufürsten  von 
Thinis,  Menes  (ägyptisch  Mena),  dem  Gründer  der  „Ersten 
Dynastie",  mit  welcher  das  ,, Alte  Reich"  beginnt,  etwa  um 
das  Jahr  3000  v.  Chr.  nach  Memphis  in  Unterägypten  ver- 
legt wurde,  nachdem  er  die  Libyer  besiegt,  welche  durch 
Wegnahme  des  Deltas  den  Verkehr  mit  Mittelägypten  abge- 
schnitten hatten. 

Die  drei  ersten  Dynastien  weisen  in  einem  Zeit- 
raum von  769  Jahren  26  Könige  auf  und  sind  noch  ganz 
mythisch;  Ackerbau,  Landmessung,  Wasserwirtschaft,  Handel, 
Gewerbe,  Schriftkunde,  Mathematik,  Astronomie,  Rechts- 
pflege und  Kunst  müssen  aber  bereits  frühzeitig  hoch  ent- 
wickelt gewesen  sein.  Am  Schlüsse  der  dritten  Dynastie, 
unter  dem  Pharao  Ünephes,  beginnt  die  Zeit  der  Pyramiden, 
deren  älteste,  an  den  Seitenflächen  noch  ungeglättete  Form 
uns  in  der  Stufenpyramide  von  Sakkära  erhalten  ist;  im 
Schatten  der  für  die  Herrscher  errichteten  Pyramiden  aber 
liegen  die  Mastabas  oder  Grabhäuser  für  die  hohen  Beam- 
ten des  alten  Reiches.  Die  drei  mächtigsten  der  „großen" 
Pyramiden  zwischen  Giseh  und  Medum  und  die  Sphynx 
entstehen  unter  der  vierten  Dynastie,  welche  nur  ungefähr 
70  Jahre  dem  Lande  zur  Last  fiel  und  Kupferbergwerke  und 
Türkisminen  in  der  Sinai-Halbinsel  anlegte  und  betrieb.     Die 


sechste  Dynastie  dehnte  das  Reich  nach  Süden  und  Osten 
hin  aus  und  verlegte  dessen  Mittelpunkt  nach  Mittelägypten. 
Bislang  fast  nicht  entschleiert  ist  die  Geschichte  der  7.  bis 
einschließlich  11.  Dynastie,  welch'  letztere  ihre  Residenz  in 
Theben  nimmt.  V^ermutlich  fällt  in  diese  Periode  ein  wei- 
teres Eindringen  von  asiatischen   Elementen. 

Die  12.  Dynastie,  mit  der  man  nach  den  Alten  das 
„Mittlere  Reich"  beginnen  läßt,  ist  die  erste,  deren  Regie- 
rungszeit, 1995 — 1792,  einigermaßen  zuverlässig  zu  bestimmen 
ist.  Der  erste  König  dieser  Dynastie,  welcher  das  Reich  auch 
südlich  vom  2.  Katarakt  ausdehnte,  legte  sich  den  Titel 
„Herr  beider  Länder",  d.  h.  von  Ober-  und  Unterägypten 
bei.  Usertesen  III.  setzte  die  Südgrenze  des  Reichs  beim 
Dorfe  Semne,  60  km  oberhalb  des  zweiten  Kataraktes,  fest 
und  legte  dort  zum  Schutze  Festungen  an.  Obgleich  als 
,,Thebaner"  bezeichnet,  verlegen  die  Herrscher  der  12.  Dy- 
nastie die  Residenzen  doch  nach  Mittelägypten,  Behnasa 
und  Arsinoe,  und  errichteten  große  Bauten  in  Heliopolis, 
von  denen  ein  heute  in  Matarieh  bei  Kairo  noch  stehender 
Obelisk  der  älteste  aller  überhaupt  in  Ägypten  erhaltenen  ist. 
Die  Königsgräber  des  mittleren  Reichs  sind  die  Felsengräber 
von  Beni  Hassan.  Amenemha  111.  machte  sich  berühmt 
durch  Anlage  des  jetzt  längst  eingetrockneten  und  verschüt- 
teten Sees  Möris  in  der  Oase  Fayüm,  welcher  die  Über- 
schwemmung des  Nils  verlangsamen  und  dadurch  nutzbarer 
machen  sollte  und  erbaute  am  See  u.  a.  einen  Reichstempel, 
das  berühmte  ägyptische  Labyrinth.  Unter  den  Nachfolgern 
der  12.  Dynastie  erfolgte  der  Einfall  schwer  bewaffneter,  ver- 
mutlich semitischer  Asiaten,  die  nach  ihren  Königen  Hyksos 
Hirtenkönige  benannt  wurden  und  zu  einer  Völkerwelle 
gehörten ,  die  ihren  Anfang  weit  im  Osten  genommen  haben 
muß;  diese  verwüsteten  zunächst  das  Land,  nahmen  dann 
aber   selbst    ägyptische  Sitten    und  Sprache    an    und   hatten 


ihren  Stützpunkt  in  Unterägypten;  unter  ihnen  kam  auch 
der  Joseph  der  Bibel  nach  Ägypten  und  diente  ihnen  als 
Landverwalter.  Oberägypten  jedoch  hatte  sich  zeitig  der 
direkten  Verwaltung  durch  die  Hyksos  entwunden  und  die 
17.,  wieder  in  Theben  residierende  Dynastie  wußte  gegen 
Tributzahlung  eine  gewisse  Selbständigkeit  aufrechtzuerhal- 
ten; wohl  mit  Hülfe  der  Libyer  drängten  sie  dann  die  Hyk- 
sos zunächst  in  das  östliche  Delta  zurück  und  vertrieben  sie 
schließlich  in  wütendem  Endkampfe  etwa  um  1560  ganz  aus 
Ägypten. 

Es  beginnt  nun  unter  der  18.  Dynastie  das  „Neue 
Reich"  mit  der  glänzenden  Hauptstadt  Theben,  das  Land 
nimmt  für  Jahrhunderte  einen  militärischen  Charakter  an  und 
zwar  gingen  die  Kriegszüge  sowohl  nilaufwärts,  wie  nach  dem 
tributpflichtigen  Syrien,  wobei  die  Soldaten  dem  Ackerbau- 
staat hauptsächlich  von  den  Stämmen  südlich  des  zweiten 
Kataraktes  gestellt  wurden.  Der  Wunsch,  den  viel  begehrten 
Weihrauch  ohne  störenden  Zwischenhandel  zu  erlangen,  trieb 
die  nicht  eben  seekundigen  Ägypter  auf  die  unsicheren 
Wogen  des  Roten  Meeres  und  über  die  Bucht  von  Aden 
hinaus  nach  ,,Punt",  und  zwar  führte  eine  Handelsstraße  von 
Theben  aus  durch  das  öde  Gebirgsland  nach  dem  Hafen 
Kosser.  Ägypten  erreichte  unter  den  Königen  der  18.  und 
19.  Dynastie  den  Höhepunkt  seiner  Macht  und  Kultur.  Zur 
Verherrlichung  seiner  Siege  in  Syrien  und  Mesopotamien 
erbaute  Thutmos  111.  den  großen  Säulensaal  in  Karnak, 
und  Amenothis  111.  errichtete  den  Ammonstempel  bei  Luxor 
und  die  Memnonsbilder  auf  der  andern  Seite  des  Nils. 
Die  Königsgräber  werden  von  jetzt  ab  nicht  mehr  in 
Grabkammern  mit  Vorbau,  sondern  in  den  Felsstollen  der 
Schlucht  Biban  el  Moluk  bei  Theben  angelegt.  Unter  Ame- 
nophis  IV.  (1583—66),  der  im  Gegensatz  zur  überwiegenden 
Mehrheit  der  Ägypter,  welche   dem  Ammon-Kultus  huldigte, 


—     5     — 

die  Verehrung  der  sichtbaren  Sonnenscheibe  Aten  begün- 
stigte, verließ  der  Hof  Theben  und  verlegte  die  Residenz 
nach  Chut-Aten,  der  heutigen  Trümmerstätte  von  Teil  el 
Amarna,  fast  genau  in  der  Mitte  des  ägyptischen  Niltals;  schon 
unter  seinen  Nachfolgern  aber  wurde  die  Hofhaltung  zurück 
nach  Theben  verlegt  und  der  Sonnenscheibendienst  nach- 
sichtslos verfolgt. 

Besonders  glänzend  waren  die  Regierungen  von  Sethos  1. 
(1327—17)  und  Ramses  11.  (1317—1250),  dem  Sesostris  der 
Griechen,  welche  glücklich  in  Syrien  und  Äthiopien  kämpf- 
ten und  eine  großartige  Bautätigkeit  entfalteten;  so  errich- 
tete Ramses  11.  u.  a.  das  Ramesseum  bei  Theben  und 
den  berühmten  Felsentempel  von  Abu  Simbel.  Ramses  11. 
begann  auch  mit  dem  Bau  eines  Kanals  zwischen  dem  Nil 
und  dem  Roten  Meere  und  zwar  mußten  dafür  und  für  den 
Bau  von  Vorratsstädten  die  Israeliten  Frohndienste  leisten; 
dieser  Bedrückungen  wegen  wanderten  sie  unter  seinem  Nach- 
folger Mineptah,  dem  „Pharao"  der  Bibel,  aus.  Nach  Mi- 
neptahs  Tod  wurde  das  Reich  durch  innere  Unruhen  und 
Wirren  stark  erschüttert  und  von  Syrien  zinsbar  gemacht, 
und  erst  durch  die  20.  Dynastie  der  jüngeren  Ramessiden 
(1200—1085)  wurde  Ägypten  wieder  frei.  Ramses  111.  (1200 
bis  1168)  schlug  die  Libyer  und  die  mit  ihnen  verbündeten 
kleinasiatischen  Seeräuber,  welche  immer  von  neuem  in 
Ägypten  einfielen  und  bis  Heliopolis  vordrangen.  Aber  mit 
Ramses  111.  starb  der  letzte  große  Pharao  des  Neuen  Reiches, 
die  Könige  kamen  bald  ganz  in  Abhängigkeit  von  der  Priester- 
aristokratie und  es  bildeten  sich  Gegendynastien  in  Unter- 
ägypten. Es  beginnt  die  Zeit  unverfrorener  Grabdiebstähle, 
selbst  in  den  Grüften  der  alten  Herrscher,  sodaß  man  unter  der 
nächsten  Dynastie  die  bedrohten  Mumien  in  den  Felsspalt 
oberhalb  Der  el  Bahari  rettete,  bis  sie  nach  3000  Jahren 
wieder  aufgefunden    und    nach    siebenjährigen  gelegentlichen 


Plünderungen   durch  die  Fellachen  1881    den  Museen  zuge- 
führt wurden. 

Die  21.  Dynastie  (1085—950),  welche  die  Ammon- 
Priesterkönige  nach  Nubien  verbannte,  hatte  ihren  Sitz  in 
Tanis.  Die  22.  Dynastie  (950—780),  einem  libyschen 
Fürstengeschlecht  entstammend,  residierte  in  Bu hast is,  machte 
auf  kurze  Zeit  Palästina  tributpflichtig  und  trug  als  Vertreter 
der  Heeresmacht  die  Doppelkrone,  aber  der  Verfall  Ägyptens 
nahm  unter  ihr  und  ihren  Nachfolgern  reißend  zu;  The- 
ben ging  schon  um  840  an  die  Äthiopier  verloren  und 
unter  der  23.  Dynastie  war  das  Land  unter  etwa  20  Fürsten 
aufgeteilt.  Umsonst  suchte  Tafnecht  aus  Sais,  einer  der 
Könige  der  24.  Dynastie,  das  Land  wieder  zu  einen;  seine 
Gegner  wandten  sich  um  Hülfe  nach  Nubien,  wo  die  unter 
der  21.  Dynastie  vertriebenen  Priesterkönige  des  Ammon 
unterhalb  des  4.  Katarakts  ein  selbständiges  Reich  Napata 
geschaffen  hatten,  und  der  damalige  Äthiopier-König  Pianchi 
drang  nach  Unterägypten  vor,  eroberte  Memphis,  bedrohte 
das  Delta  und  gab  schließlich  dem  um  Frieden  bittenden 
Tafnecht  Ägypten  zum  Lehn.  Aber  schon  sein  unternehmen- 
der Nachfolger  unterlag  716  dem  Äthiopier-König  Sabako 
und  mit  diesem  .beginnt  die  25.,  aus  drei  Äthiopier-Herr- 
schern bestehende  Dynastie,  unter  deren  weisen  und  wohl- 
wollenden Regierung  sich  das  Land  zunächst  erholte,  aber  dann 
in  die  Kämpfe  der  Syrer  gegen  die  Assyrer  verwickelt  wurde. 
Das  anfängliche  Glück  wurde  bald  untreu,  die  Assyrer  er- 
oberten im  Jahre  671  Ägypten,  plünderten  Theben  gründ- 
lich und  stürzten  die  Herrschaft  der  Äthiopier;  sie  gaben  den 
20  Teilfürsten  ihre  Selbständigkeit  wieder,  nahmen  Tribut 
von  ihnen  und  setzten  König  Necho  von  Sais  als  Oberhaupt 
dieses  Bundesstaates  ein.  Die  Äthiopier  drangen  aber  noch 
wiederholt  bis  Memphis  vor  und  erst  unter  Nechos  Sohn 
Psametich  1.  (664 — 10),  dem  Gründer  der  berühmten  26.  Dy- 


nastie,  gelang  es  mit  Hülfe  griechischer  Söldner  von  Klein- 
asien ,  das  Land  sowohl  von  den  Assyrern ,  wie  von  den 
Äthiopiern  zu  befreien  und  sich  auch  der  lästigen  Stadt-  und 
Gaufürsten  zu  entledigen,  in  dieser  sogenannten  ägyptischen 
Renaissance-Periode  fanden  Kunst  und  Wissenschaft  verständ- 
nisvolle Pflege  und  es  entwickelte  sich  wieder  eine  reiche 
Bautätigkeit,  auch  Ackerbau  und  Wasserwirtschaft  wurden  ge- 
fördert und  anderseits  Nubien  und  das  Land  der  Philister 
dem  Reiche  wieder  unterworfen.  Indessen  erregte  es  das 
Mißfallen  der  Ägypter,  daß  Psametich  die  Ausländer  über- 
mäßig begünstigte,  besonders  die,  übrigens  erst  aus  ange- 
siedelten Söldnern  erwachsene,  Kriegerkaste  fühlte  sich  zurück- 
gesetzt und  wanderte  deshalb,  angeblich  in  einer  Stärke  von 
240000  Mann,  nach  Äthiopien  aus,  wo  sie  das  sembritische 
Reich  gründete.  Der  Schwerpunkt  des  Reiches  aber  wurde 
immer  mehr  von  Oberägypten  weg  und  nach  Memphis 
verlegt,  während  das  „hunderttorige  Theben"  in  unaufhalt- 
samen Verfall  geriet,  und  an  Stelle  von  Ammon  Osiris  trat. 
Necho  II.  (610 — 594)  unterwarf  608  nach  dem  Falle  Assyriens 
für  kurze  Zeit  wieder  Syrien  bis  zum  Euphrat,  wurde  dort 
aber  schon  604  von  Nebukadnezar  geschlagen  und  mußte 
das  eroberte  Land  ganz  räumen ;  er  begann  aufs  neue  mit 
dem  Bau  des  Kanals  zwischen  dem  Nil  und  dem  Roten 
Meere  und  ließ  durch  die  Phöniker  in  dreijähriger  Reise  ganz 
Afrika  umschiffen,  ohne  daß  diese  nautische  Großtat  prak- 
tische Folgen  zeitigte.  Die  Vorteile  der  geographischen  Lage 
zwischen  zwei  Meeren  gingen  für  das  alte  Ägypten  überhaupt 
großenteils  verloren,  weil  das  Volk  eine  durch  religiöse  \^or- 
stellungen  genährte  Abneigung  gegen  das  Meer  empfand  und 
sich  mit  dem  Seewesen  nicht  befreunden  konnte.  Erleuch- 
tete Herrscher,  die  die  Vorteile  der  Seeschiffahrt  für  Macht 
und  Wohlstand  erkannten,  mußten  sich  dafür  Fremder,  der 
Phöniker  und  Griechen  bedienen,  und  mit  dem  Tode  solcher 


Fürsten  gingen  die  Früchte  ihrer  Taten  verloren.  Unter 
Nechos  Sohn  Psametich  II.  (594—89)  suchte  man  Land- 
gewinn nach  Süden  zu  bis  über  Abu  Simbel  hinaus  zu 
gewinnen. 

Der  unglückh'ch  verlaufene  Feldzug  der  Ägypter  gegen 
König  Battos  II.  von  Kyrene  kostete  dem  Enkel  Psametich  II., 
Uahabra,  der  sich  wieder  Phönikiens  bemächtigt  hatte,  den 
Thron,  und  Amasis  II.,  ein  Mann  von  niederer  Herkunft,  ge- 
langte 570—28  zur  Herrschaft.  Dieser  eroberte  Cypern, 
verstand  sich  mit  Kyros,  dem  Gründer  der  neuen  asiatischen 
Großmacht  Persien  und  mit  Kyrene  gut  zu  stellen  und  war 
ein  begeisterter  Freund  der  Griechen,  denen  er  um  560  die 
Stadt  Naukratis  bei  dem  heutigen  Desuk  am  Rosette-Mün- 
dungsarm als  privilegierte  Handelsstation  überließ.  Schon 
um  das  Jahr  700  herum  hatten  sich  hier  griechische  Händ- 
ler niedergelassen,  die  Faktorei  war  allmählich  zu  einer 
Fremdenstadt  unter  eigener  Verwaltung  angewachsen  und 
auf  sie  wurde  der  ganze  Handelsverkehr  mit  den  ionischen 
und  dorischen  Städten  beschränkt.  Kurz  nach  Amasis  Tode 
aber  rückte  Kyros  Sohn  Kambyses  gegen  Ägypten,  die  ein- 
zige noch  übrige  Großmacht  der  alten  Welt  vor,  schlug 
Psametich  111.  527  bei  Pelusium  bis  zur  Vernichtung,  er- 
stürmte Memphis  und  ließ  den  gefangen  genommenen 
Psametich,  als  sich  dieser  in  eine  Verschwörung  einließ, 
töten. 

Ägypten  wurde  nun  persische  Provinz  und  zinste, 
statt  nach  Sais,  200  Jahre  lang  nach  Susa,  ohne  daß  das 
ägyptische  Kulturleben  dadurch  merklich  beeinflußt  wurde. 
Unter  Kambyses  Nachfolger  Darius  I.  wurde  der  mehrmals 
in  Angriff  genommene  Kanal  zwischen  Nil  und  Rotem  Meere 
endlich  vollendet.  Perioden  geglückter  Aufstände  gaben  dem 
Lande  sogar  zeitweilig  seine  Selbständigkeit  wieder  und  nach 


—     9     — 

stets  wiederholten  Rebellionen  ging  Ägypten  durch  eine  solche 
im  Jahre  415  dem  Reiche  des  Ostens  verloren,  dadurch,  daß 
ein  saitischer  Fürst  mit  Hülfe  griechischer  Söldner  die 
Perser  vertrieb.  Diese  Unabhängigkeit  währte  aber  nur  bis 
zur  Mitte  des  nächsten  Jahrhunderts;  zunächst  gelang  es 
343-332  den  Persern  noch  einmal,  sich  für  kurze  Zeit  des 
Landes  zu  bemächtigen,  aber  schon  332  zog  Alexander 
der  Große  in  das  widerstandslose  Ägypten  ein  und  dies 
blieb  nun  bis  v306  unter  makedonischer  Herrschaft.  Bei  der 
großen  Satrapienverteilung  nach  Alexander  des  Großen  Tod 
mit  Ägypten  bedacht,  traf  der  makedonische  Feldherr  Pto- 
lemäus  323  dort  ein,  nahm  305  den  Königstitel  an  und 
seine  Nachfolger  regierten  das  Land  bis  zum  Jahre  30 
vor  Christo. 

Die  Dynastie  der  Ptolemäer  brachte  Ägypten  anfäng- 
lich noch  einmal  eine  Zeit  des  Glanzes  zurück.  Durch 
Staatsklugheit,  weises  Schonen  der  Religion  und  Anbequemen 
an  die  Sitten  ihrer  Untertanen,  durch  kriegerische  Erfolge 
und  Pflege  der  Wissenschaften  und  Künste,  sowie  des  Han- 
dels und  der  Industrie  wußten  die  ersten  Herrscher  dieses 
Hauses  sich  nicht  nur  die  Liebe  der  Ägypter,  sondern  auch 
Ansehen  bei  den  übrigen  Nationen  zu  verschaffen.  Das  im 
Jahre  331  von  Alexander  begründete  und  nach  ihm  benannte 
Alexandria,  soeben  erst  aus  dem  Nichts  emporgetaucht, 
konnte  als  Hauptstadt  der  Ptolemäer  bereits  nach  wenigen 
Jahrzehnten  an  der  Spitze  des  hellenistischen  Orients  strah- 
len, als  Sitz  des  Hofes,  der  Gelehrsamkeit  —  schon  Ptole- 
mäus  I.  gründete  das  weltberühmte  Museum  —  und  Stapelplatz 
eines  blühenden  Handels,  der  die  Schätze  Indiens  gegen  die 
Produkte  des  Abendlandes  eintauschte.  Memphis  Bedeutung 
freilich  hatte  mit  der  Gründung  von  Alexandria  ihren  Todes- 
stoß erhalten,  die  Bevölkerung  schwand,  nur  die  Gebäude 
blieben  übrig,  und  heute  sind   von  der  einst  so  prächtigen 


—     10     — 

Residenz  nur  noch  wenige  Trümmer  vorhanden,  nachdem 
sie  allmählich  als  Steinbruch  für  die  Bauten  Kairos  gedient 
hatte.  Die  griechische  Handelsstadt  Naukratis  aber  hatte 
natürlich  schon  unter  den  Persern  ihre  Stapelvorrechte  ein- 
gebüßt. 

Während  die  Ptolemäer  in  Alexandrien  griechische  Kultur 
pflegten ,  ließen  sie  im  Binnenlande  das  altägyptische  Wesen, 
welches  der  mittelländischen  Kultur  fremd  gegenüber  stehen 
blieb,  bestehen  und  errichteten  sogar  selbst  den  altägyptischen 
Gottheiten  Tempel  im  früheren  Stile;  das  beste,  was  außer- 
halb Thebens  von  Proben  ägyptischer  Baukunst  erhalten  ist, 
die  herrlichen  Tempel  zu  Philä,  Edfu,  Esneh  und  Dende- 
rah,  rühren  aus  jener  Zeit  her.  Nach  außen  hin  entfaltete 
das  Reich  zuweilen  erfolgreich  seine  Kraft  und  erwarb  Ky- 
rene,  Cypern  und  einen  Teil  von  Syrien,  im  Innern  aber 
nahmen  Unruhen  und  Sittenlosigkeit  mehr  und  mehr  zu, 
ebenso  wie  Zwietracht  und  Mordtaten  unter  den  könig- 
lichen Geschwistern,  und  nachdem  das  Land  schon  seit  168 
unter  Vormundschaft  Roms  gekommen  war,  wurde  es  nach 
dem  Tode  Kleopatras  und  des  ihren  Versuchungen  erlegenen 
Antonius  im  Jahre  30  v.  Chr.  durch  Octavianus  dem  römi- 
schen Reiche  einverleibt  und  unter  August  zur  kaiserlichen 
Domäne  gemacht,  die  von  römischen  Präfekten  in  Alexandria 
regiert  wurde.  Ägypten  wurde  eine  Kornkammer  des  Reiches, 
und  verschiedene  Versuche,  ihre  Unabhängigkeit  wieder  zu 
gewinnen,  mußten  die  Ägypter  meist  hart  büßen.  Auch  die 
römischen  Kaiser  setzten  übrigens  die  pharaonische  Bau- 
tätigkeit fort,  und  der  Dienst  der  Isis  und  des  Serapis  fand 
selbst  in  Rom  Eingang.  Mit  Decius  (249—251)  aber  neh- 
men die  hieroglyphischen  Erwähnungen  römischer  Cäsaren 
in  den  Inschriften  der  ägyptischen  Tempel  ein  Ende,  bald 
zeigen  sich  auch  hier  Zeichen  des  Verfalls  der  Römerherr- 
schaft, und  neben   der  Beamtenhierarchie  beginnen    mit   zu- 


—    11    — 

nehmender  Christianisierung   der  Patriarch   von  Alexandrien 
und  die  Bischöfe  ihre  Rolle  zu  spielen. 

Das  Christentum  hatte  schon  im  1.  Jahrhundert, 
angeblich  durch  Markus,  Eingang  in  Ägypten  gefunden,  doch 
wurden  die  alten  Götter  erst  allmählich  verdrängt  und  der 
isiskultus  in  Philä  erst  um  die  Mitte  des  6.  Jahrhunderts 
unter  Justinian  aufgehoben;  unter  dem  Einfluß  des  von  öden 
Felsketten  und  Wüsten  eingeschlossenen  Landes  aber  kam 
gerade  in  Ägypten,  zuerst  unter  dem  heiligen  Antonius  von 
Theben  (251 — 356),  das  Einsiedler-  und  Klosterleben  auf. 
Heftige  Verfolgungen  hatten  die  Christen  auch  hier  beson- 
ders unter  Septimus  Severus  (193 — 211),  Caracalla  (211  bis 
217),  Decius  (249— 251)  und  Diocletian  (284— 305)  zu  leiden 
und  erst  mit  der  Thronbesteigung  Konstantins  des  Großen 
im  Jahre  324,  des  ersten  christlichen  Kaisers,  fanden  diese 
Bedrückungen  ihren  Abschluß.  Die  Greuel  wiederholten  sich 
freilich  schon  im  4.  Jahrhundert  wieder,  als  die  christlichen 
Kirchenlehrer  in  ihren  dogmatischen  Streitigkeiten  über  das 
Verhältnis  der  göttlichen  und  menschlichen  Natur  in  Christus 
untereinander  für  den  rechten  Glauben  kämpften.  Die  Ein- 
geborenen schlössen  sich  meist  der  für  ketzerisch  erklärten 
Partei  der  Monophysiten  an,  erwählten  sich  ihren  eigenen 
Patriarchen  und  bekämpften  die,  unter  dem  vom  Kaiser- 
hof ernannten  Patriarchen  von  Alexandria  stehende,  ortho- 
doxe Kirche   auf  das  heftigste. 

Bei  der  Teilung  Roms  im  Jahre  395  unter  die  ost- 
römischen Kaiser  gestellt,  teilte  Ägypten  den  Verfall  des 
byzantinischen  Reiches  und  war  den  Raubzügen  von 
Äthiopiern  und  Arabern  wehrlos  preisgegeben,  während 
Alexandrias  Einfluß  mehr  und  mehr  auf  Konstantinopel 
überging.  619  —  628  war  Ägypten  durch  Eroberung  in 
dem  Besitz  des  Perserkönigs,  aber  auch  nach  dessen  erkauf- 
tem Abzug  sollten  sich  die  Byzantiner  des  Landes  nicht  mehr 


-     12     - 

lange  erfreuen,  denn  im  Jahre  638  wurde  es  von  Amru,  den 
Feldherrn  des  Khah'fen  Omar  erobert,  der  641  auch  Alexan- 
dria einnahm ,  wobei  er  die  Unterstützung  der  mono- 
physitischen  Einwohner  (Kopten)  fand,  die  Byzanz  glühend 
haßten. 

Ägypten  wurde  nun  eine  Provinz  des  arabischen  Khali- 
fats  und  Alexandrien  verlor  seine  Stellung  zu  Gunsten  des 
von  Amru  gegründeten  Lagerplatzes  Fostät  =  Alt-Kairo  an 
der  Wurzel  des  Deltas,  da  man  von  dem  Einfluß  des  üppi- 
gen Alexandria  eine  V^erweichlichung  der  Araber  befürchtete. 
Durch  Omar  und  dessen  Nachfolger  Othman  wurden  meh- 
rere arabische  Stämme  im  Niltal  angesiedelt,  zahlreiche  Kop- 
ten traten  zum  Islam  über,  und  dieser  erlangte  bald  das 
Übergewicht  über  das  Christentum,  welches  in  gänzliche 
Ohnmacht  sank.  Unter  den  Omajjaden  (661 — 750)  und  Ab- 
bassiden  (750—870)  spielte  Ägypten  keine  maßgebende  Rolle, 
es  stand  unter  häufig  wechselnden  Statthaltern,  die  bei  Ver- 
fall des  Khalifats  nach  Unabhängigkeit  strebten.  So  gelang 
es  dem  Statthalter  Ahmed  Ibn  Tulun  870,  die  bis  904  dau- 
ernde Herrschaft  derTuluniden  zu  begründen,  und  nachdem 
von  904 — 935  noch  einmal  die  Abbassiden,  dann  bis  969 
ein  türkischer  Statthalter  ichschid  die  Macht  an  sich  gerissen, 
drangen  nach  verschiedenen  mißglückten  Versuchen  im  letz- 
teren Jahre  die  Schiiten  unter  dem  Feldherrn  Dschohar  von 
Westen  her  ein  und  eroberten  Ägypten  für  den  Fatimiden- 
Herrscher  Muis,  welcher  im  Jahre  972  seine  Residenz  nach 
der,  wenig  nördlich  von  Fostat  angelegten,  neuen  Stadt  El 
Kahira  (Kairo),  d.h.  die  „Siegreiche",  verlegte.  Dieses  wurde 
nun  der  Mittelpunkt  des  weiten  Reiches  der  Fatimiden, 
deren  Herrscher  den  Titel  Khalif  annahmen.  Nach  glanz- 
voller Regierung  wurde  diese  Dynastie  1171  durch  den  Kur- 
den Saladin  verdrängt,  welcher  die  kurze  Herrschaft  der 
Ejjubiden  begründete,  unter  denen  der  Handel  von  Alexan- 


—     13     — 

dria  wieder  aufblühte  und  die  während  der  damahgen  Kreuz- 
züge auch  Syrien  besaßen.  Die  schon  unter  den  Fatimiden 
begonnene  Begünstigung  des  fremden  Handels  und  der  Nie- 
derlassung der  durch  besondere  „Kapitulationen"  geschützten 
fremden  Kaufleute  in  Ägypten  wurde  fortgesetzt,  zuerst  hatte 
davon  1154  Pisa  Gebrauch  gemacht,  Amalfi  und  Venedig 
folgten,  1177  auch  Genua,  1250  Frankreich  und  1282  das 
Königreich  Arragon ;  selbst  während  der  Kreuzzüge  dauerten 
diese  sehr  einträglichen  Handelsbeziehungen  fort,  obgleich 
die  Päpste  sie  unter  Androhung  des  Bannes  verboten.  Konn- 
ten doch  die  Waren  Indiens  und  Arabiens  auf  keinem  an- 
deren Wege,  als  den  über  Ägypten  bezogen  werden. 

Freilich  wurde  unter  den  Ejjubiden  auch  eine  der 
traurigsten  Perioden  der  ägyptischen  Geschichte,  die  der 
Mameluken  eingeleitet.  Diese  Mameluken  waren  von  den 
Türken  gekaufte  Kriegsgefangene  aus  Turan  und  dem  Kau- 
kasus und  bildeten  wegen  ihrer  kriegerischen  Tüchtigkeit  die 
Leibgarde  der  Ejjubiden;  der  Khalif  Nedschem  Eddin  ver- 
teilte auch  den  größten  Teil  Ägyptens  als  Lehen  unter  sie 
und  sie  wußten  dessen  Land-Bevölkerung  völlig  zu  Leibeige- 
nen herabzudrücken.  Als  aber  König  Ludwig  IX.  von  Frank- 
reich, bei  seinem  Versuch,  Ägypten  zu  erobern,  1250  in  die 
Gefangenschaft  des  Khalifen  Moadham  fiel  und  dieser,  ohne 
die  Mameluken  zu  befragen,  mit  dem  König  einen  Vertrag 
schloß,  wurde  er  von  der  Leibgarde  ermordet  und  es  folgte 
nun  die  Mameluken-Herrschaft  der  Bahariden  1250—1382. 
Vollbrachten  einige  derselben  auch  mannhafte  Kriegszüge  in 
Syrien,  schmückten  Kairo  mit  prachtvollen  Bauten  und  pfleg- 
ten arabische  Wissenschaft,  so  sank  das  ganze  Land  doch  un- 
aufhaltsam in  elende  Zustände,  die  noch  schlimmer  wurden 
unter  den  tscherkessischen  Mameluken  oder  Bordschiden 
1382 — 1517,  deren  Geschichte  eine  fast  ununterbrochene 
Reihe  von  Gräueln  und  Gewalttaten  ist.     Viel  wurde  daran 


—     14     — 

auch  nicht  geändert,  als  der  Osmanensultan  Selim  I.  1517 
Ägypten  eroberte,  denn  das  Niltal  war  dem  Großsultan  am 
Bosporus  nur  als  Quelle  seiner  Steuereinkünfte  wertvoll,  und 
dementsprechend  wurde  zum  Beglerbeg  oder  Pascha  von  Kairo 
nicht  der  Tüchtigste,  sondern  derjenige  bestellt,  welcher  sich 
zur  Ablieferung  der  größten  Summen  verpflichtete.  Die  Pa- 
schas selbst  wieder  aber  waren  ganz  von  den  24  Mameluken- 
begs  abhängig,  welche  die  Miliz  befehligten,  die  Steuern  ein- 
zogen und  nur  einen  Tribut  an  den  Pascha  zahlten,  im  übri- 
gen aber  in  beständiger  Fehde  untereinander  lebten  und  das 
Land  verwüsteten,  im  Jahre  1768  erklärte  sich  der  Mame- 
lukenbeg  Ali  als  unabhängiger  Herrscher  Ägyptens  und  brach 
1770  in  Syrien  ein,  wurde  aber  von  seinem,  durch  die  Tür- 
ken bestochenen  Schwiegersohn  Mohammed  Beg  vertrieben 
und  letzterer  1773  von  der  Pforte  als  Pascha  von  Ägypten 
eingesetzt.  Nach  ihm  teilten  sich  die  Begs  Murad  und  Ibra- 
him die  Herrschaft. 

So  lagen  die  Dinge,  als  die  Franzosen,  um  ihren  Ruhm 
im  Mittelmeer  zu  erhöhen,  gleichzeitig  den  englischen  Han- 
del zu  schädigen,  und  von  Ägypten  aus  die  britische  Macht 
in  Ostindien  zu  bedrohen,  nach  einem  von  Bonaparte  selbst 
entworfenen  Plane  in  Ägypten  erschienen.  Am  I.Juli  1798 
traf  die  französische  Flotte  vor  Alexandria  ein,  das  schon 
am  nächsten  Tage  von  dem  Landungskorps  im  Sturm  ge- 
nommen wurde,  am  21.  Juli  wurden  die  Mameluken  beiden 
Pyramiden  geschlagen,  wobei  man  immense  Beute  machte 
und  am  22.  Juli  fiel  Kairo.  Allein  die  Vernichtung  der  fran- 
zösischen Flotte  durch  Nelson  bei  Abukir  am  1.  August 
zerstörte  die  weitgehenden  Hoffnungen  Bonapartes  und 
auch  die  Türken  rüsteten  nunmehr  Heer  und  Flotte  gegen 
ihn  aus. 

Zwar  wurden  die  Grundzüge  einer  französischen  Ver- 
waltung Ägyptens  festgestellt  und   die  flüchtigen  Mameluken 


—     15     — 

bis  zum  ersten  Katarakt  verfolgt,  aber  nach  dem  1799  ergeb- 
nislos verlaufenen  Feldzug  in  Syrien  und  Bonapartes  heim- 
licher Rückkehr  nach  Frankreich  1800  hielten  die  Franzosen 
den  vereinten  Angriffen  der  englischen  und  türkischen  Flotte 
und  des  türkischen  Heeres  nicht  stand;  am  27.  Juni  1801 
kapitulierte  Kairo,  am  2.  September  1801  Alexandria,  und 
die  französischen  Besatzungen,  welchen  man  freien  Abzug 
mit  Waffen  und  Gepäck  zugestanden,  wurden  auf  Kosten 
Englands  nach  Frankreich  eingeschifft.  .'Vuch  der  größere 
Teil  der  wissenschaftlichen  Sammlungen  konnte  von  den 
Franzosen  nach  Paris  gerettet  werden  und  bildete  den  Haupt- 
erfolg der  Expedition  überhaupt,  welche  für  das  Abend- 
land zum  ersten  Male  den  über  Geschichte  und  Geographie 
Ägyptens  liegenden  Schleier  gelüftet  hatte.  Im  Jahre  1803 
zogen  sich  auch  die  Engländer  von  Ägypten  zurück,  nach- 
dem auf  ihre  Veranlassung  die  aufständischen  Mameluken 
von  der  Pforte  begnadigt  worden  waren  gegen  das  Ver- 
sprechen der  Begs,  sich  nicht  mehr  in  die  Regierung  Ägyp- 
tens einmischen  zu  wollen. 

Ägyptens  neue  Zeit  beginnt  mit  Mohammed  Ali, 
einem  aus  niederen  Kreisen  stammenden,  im  Jahre  1769  zu 
Kavala  in  Rumelien  geborenen  Makedonier,  der  daheim  Offi- 
zier geworden  und  im  Jahre  1800  als  Befehlshaber  des  vom 
Sultan  entsandten  Albanesenkorps  nach  Ägypten  gekommen 
war,  wo  er  sich  auch  wieder  bei  jeder  Gelegenheit  auszeich- 
nete und  Dank  seines  durch  kluge  Mäßigung  und  eine 
schlaue,  wenn  auch  nicht  ehrliche  Politik  erworbenen  An- 
sehens 1805  zum  Pascha  erhoben  wurde.  Aber  Ägyptens 
Kassen  waren  leer  und  es  galt  sich  auf  geschickte  Weise  der 
drohenden  Mameluken  zu  entledigen,  die  ihren  Rückhalt 
gleichmäßig  an  England  und  an  der,  auf  die  Macht  des  Statt- 
halters eifersüchtigen  und  dem  Golde  der  Mameluken  zu- 
gänglichen Pforte  fanden.     Des    Beistands   der   Mameluken 


—     16     — 

sich  sicher  wähnend,  bemächtigte  sich  England  der  Städte 
Alexandrien  und  Rosette  und  sandte  Truppen  gegen  Moham- 
med Ah",  mußte  aber  nach  zwei  empfindlichen  Niederlagen 
1807  wieder  abziehen.  Nunmehr  galt  es  mit  den  Mameluken 
aufzuräumen  und  zu  diesem  Zwecke  lud  Ali  sie  zu  einem 
Feste  auf  die  Zitadelle  in  Kairo  und  ließ  hier  am  1.  März 
1811  die  erschienenen  480  der  angesehensten  Begs  ver- 
räterisch massakrieren  und  gleichzeitig  den  Befehl  an  die 
Gouverneure  der  Provinzen  ergehen,  alle  dortigen  Mameluken 
niederzumachen. 

Nachdem  so  Mohammed  Ali  von  seinen  bittersten  Fein- 
den, das  Land  von  seinen  größten  Tyrannen  befreit  war, 
ging  der  Pascha  daran,  Regierung  und  Verwaltung  des  Lan- 
des gründlich  zu  reformieren,  den  Finanzen  aufzuhelfen, 
Handel-  und  Ackerbau  zu  beleben,  industrielle  Unternehmungen 
einzuführen,  überall  Ruhe  und  Ordnung  herzustellen,  nach 
europäischem  Muster  ein  stehendes,  durch  Konskription  ge- 
bildetes Heer  und  eine  Kriegsflotte  zu  organisieren  und  sein 
Volk  durch  Schulen  und  Institute  aller  Art  zu  bilden.  Frei- 
lich wurde  dabei  vieles  überstürzt,  manches  in  den  Mitteln 
verfehlt  und  besonders  berüchtigt  ist  sein  zur  Hebung  der 
Finanzen  eingerichtetes  Monopolsystem.  Mohammed  Ali 
hatte  das  Niltal  in  seinen  Privatbesitz  gebracht;  1814  ließ  er 
die  Güter  zur  toten  Hand  und  alles  Stiftungsvermögen  in 
liegenden  Gründen,  den  Waküf,  endlich  auch  alles  in  Erb- 
pacht befindliche  Land  für  sich  einziehen,  er  nahm  den  Han- 
del Ägyptens  nahezu  in  eigenen  Betrieb  und  bedrückte  die 
Bauern  (Fellachen)  nicht  nur  durch  hohe  Kopfsteuern,  son- 
dern auch  durch  den  Zwang,  alle  Ernten  an  die  Regierung 
zu  verkaufen;  statt  Pächter  wurden  die  Fellachen  somit  elend 
bezahlte  Tagelöhner,  die  neben  drückendsten  Abgaben  schwere 
Frohndienste  zu  leisten  hatten.  Bis  zum  Jahre  1833  wurde 
jedem  Fellachen  seine  ganze  Ernte  um  einen   von  der  Re- 


-      17     — 

gierung  festgesetzten  Preis  abgekauft  und  ihm  sodann  um 
einen  höheren  Preis  soviel  Getreide  wieder  verkauft,  als  er 
zum  Lebensunterhalt  und  zur  neuen  Aussaat  brauchte.  Nach 
1833  nahm  die  Regierung  von  der  Ernte  nur  soviel,  als  die 
Steuern  betrugen,  schrieb  aber  den  Bauern  vor,  was  und 
wieviel  sie  an  Getreide,  Baumwolle,  Indigo  usw.  bauen  soll- 
ten; Baumwolle  und  Indigo  wurden  für  Monopole  erklärt 
und  nur  an  die  Regierung  verkauft.  Durch  umfangreiche 
Damm-  und  Kanal-Anlagen,  wie  z.  B.  des  .1823  begonnenen 
Alahmudieh-Kanals,  vermehrte  Mohammed  Ali  den  kultur- 
fähigen Boden  bedeutend.  Nachdem  er  1829  die  Grundzüge 
der  Reform  mit  einer  Notablenversammlung  beraten  hatte, 
wurde  die  Verwaltung  reorganisiert,  er  ernannte  auch  viele 
Christen,  besonders  Franzosen,  zu  Beamten  und  schickte 
junge  Araber  und  Türken  zu  ihrer  Ausbildung  nach  Frank- 
reich. 

Die  äußere  Macht  Ägyptens  aber  breitete  besonders 
sein  kriegserfahrener  Adoptivsohn  Ibrahim  aus,  der  1816 
bis  1818  den  Wahabitenstaat  in  Arabien  brach  und  die  Land- 
schaft Hedschas  mit  den  heiligen  Städten  Mekka  und  Medina 
unterwarf.  Ein  anderer  Krieg  wurde  gegen  die  Nubier  und 
Sudanneger  in  Szene  gesetzt,  um  die  immer  unbequemer 
werdenden  albanesischen  Söldner  zu  beschäftigen  und  zu- 
gleich unter  den  Negern  Mannschaften  zu  gewinnen  für  das 
Heer,  zu  dem  man  in  der  Zwischenzeit  auch  Fellachen  mit 
so  gutem  Erfolge  heranzog,  daß  die  überflüssig  gewordenen 
Albanesen  nach  ihrer  Rückkehr  vom  Süden  größtenteils  ent- 
lassen wurden,  in  der  Tat  bewährten  sich  die  Fellachen,  als 
der  Sultan  gegen  die  aufständigen  Griechen  Heer  und  Flotte 
Ägyptens  zur  Hülfe  erbat  und  Ibrahim  1824  Morea  eroberte, 
wo  er  sich  auch  bis  1828  hielt,  nachdem  1827  die  türkisch- 
ägyptische Flotte  bei  Navarino  vernichtet  worden  war.  Der 
vom  Sultan  geforderten  Hülfeleistung  im   Kriege  der  Pforte 

Schanz,  Ägypten.  2 


—     18     — 

gegen  Rußland  1828 — 29  wußte  sich  Mohammed  Ali  aber 
zu  entziehen,  denn  er  war  nicht  mehr  geneigt,  seine  Kräfte 
im  Dienste  der  Pforte  aufzubrauchen,  sondern  hielt  es  viel- 
mehr an  der  Zeit,  sich  selbständig  zu  machen,  und  als  ihm  das 
als  Belohnung  für  gebrachte  Opfer  von  ihm  für  seinen  Sohn 
Ibrahim  geforderte  Paschalik  Damaskus  verweigert  wurde, 
ließ  er  diesen  in  Syrien  einrücken.  Ibrahim  eroberte  ganz 
Syrien  und  drang  über  den  Taurus  auch  nach  Kleinasien  vor, 
wurde  aber  durch  die  Intervention  der  besorgten  Westmächte 
am  4.  Mai  1833  zum  Frieden  von  Konia  gezwungen,  welcher 
Mohammed  Ali  Syrien  bis  zum  Taurus  beließ.  Der  Besitz 
dieser  Provinz  wurde  freilich  durch  ständige  Kleinkriege  sehr 
entwertet.  1838  erklärte  Mohammed  Ali  endlich  energisch, 
die  ihm  1833  versagte  vollständige  Unabhängigkeit  erringen 
zu  wollen,  und  durch  Ibrahims  Sieg  bei  Nisibi  und  den  Über- 
gang der  türkischen  Flotte  zur  ägyptischen  glaubte  er  sie 
auch  bereits  erreicht  zu  haben  und  den  Fall  der  Pforte  sicher, 
als  sich  die  Quadrupelallianz  Rußlands,  Englands,  Österreichs 
und  Preußens  ins  Mittel  legte,  an  der  Bekämpfung  Moham- 
med Alis  teilnahm  und  diesen  schließlich,  als  er  auch  von 
Frankreich  die  anfangs  in  Aussicht  gestellte  Hülfe  nicht  er- 
hielt, im  November  1840  zur  bedingungslosen  Unterwerfung 
zwangen,  die  er  tief  gebeugt  zugestand.  In  einem  Ferman 
vom  13.  Februar  1841  gewährte  ihm  die  Pforte  zwar  die 
erbliche  Herrschaft  Ägyptens,  aber  mit  so  viel  einschränken- 
den Bedingungen,  daß  ihn  Mohammed  Ali  würdevoll  zurück- 
wies und  eine  Revision  durchsetzte,  aus  welcher  der  In- 
vestitur-Ferman  vom  1.  Juli  1841  hervorging.  Derselbe  ge- 
stand zu:  Die  Erblichkeit  der  Herrschaft  Ägyptens  in  der 
Familie  Mohammed  Alis  an  den  jeweilig  Ältesten,  vorbehalt- 
lich der  jedesmaligen  Belehnung  des  neuen  Walis;  Selbst- 
ständigkeit der  Verwaltung  im  Innern,  Ernennungsrecht  für 
die  Beamten    und    für  die  Offiziere  bis  zum  Obersten,    das 


-     19     - 

Recht  von  Abschluß  von  Verträgen  mit  fremden  Staaten  mit 
Ausnahme  von  pohtischen;  gefordert  dagegen  wurden  die 
Erhebung  der  Steuern  im  Namen  des  Sultans,  Beschränkung 
der  ägyptischen  Armee  auf  18000  Mann,  und  ein  jährhcher 
Tribut  von  60000  Beuteln  =  etwa  6  Milh'onen  Mark.  Syrien 
hatten  die  Ägypter  schon  1840  räumen  müssen. 

Mohammed  Ah"  widmete  sich  nun  wieder  der  Kultur 
des  durch  kostspielige  Kriege  ausgesogenen  Landes,  erbaute 
einen  großen  Nildamm  und  legte  Straßen  an;  aber  seine 
Kraft  war  gebrochen,  er  verfiel  bald  in  Stumpfsinn,  sodaß  seit 
1844  seine  Söhne  in  die  Regierung  eingreifen  mußten,  und 
1848  wurde  Ibrahim  mit  Ägypten  belehnt.  Leider  starb 
dieser,  nicht  nur  als  Feldherr,  sondern  auch  als  Regent  und 
Organisator  sehr  tüchtige  Pascha  bereits  nach  wenigen  Mo- 
naten, und  als  am  2.  August  1849  Mohammed  Ali  einsam 
auf  seinem  Landsitz  Schubra  verschied,  regierte  bereits  sein 
Enkel  Abbas  Pascha  (1848 — 54).  Dieser  entfernte  zunächst, 
nicht  unbegreiflicher  Weise,  alle  Abendländer,  mit  Ausnahme 
der  Engländer,  aus  ägyptischen  Diensten,  und  wenn  er  selbst 
auch  roh,  lasterhaft,  grausam  und  habgierig  war,  so  mußte 
er  sich,  obgleich  widerwillig,  unter  europäischem  Einfluß  doch 
zur  Einführung  von  mancherlei  Verbesserungen  entschließen. 

So  wurde  das  Monopolwesen  beseitigt,  der  Landbauer 
von  willkürlichen  Erpressungen  befreit  und  der  Bau  der 
Bahnen  von  Kairo  nach  Alexandrien  und  Suez  begonnen. 
Die  Pforte  machte  ihm  gegenüber  ihre  Rechte  mehrfach  nach- 
drücklicher geltend,  und  empfing  im  Krimkriege  auch  ein 
ägyptisches  Hülfsheer  von  15000  Mann.  Nach  Abbas'  Er- 
mordung folgte  1854—63  Mohammed  Ali's  vierter  Sohn  Said 
Pascha,  der  selbst  europäische  Bildung  genossen  hatte,  sich 
gern  mit  Europäern,  besonders  Franzosen,  umgab  und  den 
besten  Willen  besaß,  dem  Lande  zu  nützen,  in  seinen  Ent- 
schlüssen aber  sehr  wankelmütig  und    in  seiner  Finanzwirt- 

2* 


-     20     - 

Schaft  sehr  locker  war,  ein  Umstand,  den  zahlreiche  Aben- 
teurer, die  er  nicht  durchschaute,  auf  das  ausgiebigste  aus- 
nützten. Verdient  machte  er  sich  aber  dadurch,  daß  er  die 
Sklaverei  abschaffte,  der  Bauernschaft  die  freie  Verfügung 
über  den  Anbau-Ertrag  zurückgab,  eine  gerechtere  Verteilung 
und  Erleichterung  der  Steuern  durchführte,  und  durch  die  Vol- 
lendung und  Erweiterung  der  Bahnbauten.  Vor  allem  aber 
gereicht  ihm  zum  Ruhme,  die  Erbauung  des  Sueskanals  mit 
Begeisterung  und  großartiger  Liberalität  gefördert  zu  haben, 
trotz  des  Widerstandes,  welchen  die  Pforte  und  England  Lesseps 
Plänen  entgegenstellten.  Zu  Gunsten  des  Kanalbaues  wurde 
1862  auch  die  erste  ägyptische  Anleihe  aufgenommen  und  von 
den  400  000  Stück  Suezkanal-Aktien  ä  500  Francs  erwarb 
Said  177  000  Stück  für  82^2  Millionen  Francs.  Mit  dem  Bau 
des  Kanals  wurde  im  April  1859  begonnen. 

Hatte  Said  Pascha  den  eigentlichen  Grund  zur  heutigen 
Entwickelung  Ägyptens  gelegt,  so  schien  sein  Nachfolger 
Ismail  Pascha  (1 863^-79),  der  in  Paris  erzogene  Sohn 
Ibrahims,  dazu  berufen,  die  Überleitung  des  Landes  in  die 
Reihe  moderner  Kulturstaaten  zu  vollenden.  In  der  Tat  ge- 
wann er  mit  der  ihm  eigenen  Lebhaftigkeit  große  Strecken 
wüsten  und  versumpften  Landes  der  Kultur,  führte  Dampf- 
pflüge und  moderne  Zuckerfabrikation  ein.  schenkte  den 
Kanälen  seine  Aufmerksamkeit,  bedeckte  das  Delta  mit  einem 
Netz  von  Eisenbahnen,  brachte  Post  und  Telegraph  in  vor- 
züglichen Zustand  und  unterstützte  liberal  wissenschaftliche 
und  historische  Erforschung  des  Landes.  Freilich  war  auch 
vieles  dabei  recht  oberflächlich,  und  die  Prunk-  und  Ver- 
schwendungssucht belastete  die  Staatskasse,  nachdem  bereits 
Said  Pascha  30  Millionen  Pfund  Sterling  Schulden  hinterlassen 
hatte,  immer  empfindlicher.  Er  verlieh  deshalb,  um  neue 
Mittel  aufzubringen,  1866  eine  Art  Konstitution  und  berief 
als  Karrikatur   eines  Parlaments   eine  Notabeinversammlung 


—     21     - 

von  75  auf  drei  Jahre  gewählten  Mitgh'edern.  Gleichzeitig 
bewarb  sich  Ismail  bei  der  Pforte  um  Zugeständnisse  und 
erreichte  mit  Hülfe  kostspieliger  Bemühungen  1866  die  An- 
erkennung der  linearen  Erbfolge  in  seiner  Familie  und  1867 
den  Titel  Chediv  (persisch  =  Fürst)  an  Stelle  des  bisher  ge- 
führten Wali  =  Statthalter,  in  der  neuen  Würde  konnte  er 
im  November  1869  bei  der  prunkvollen  Einweihung  des  1859 
begonnenen  Suezkanals  eine  Reihe  Vertreter  europäischer 
Fürstenfamilien  bewirten. 

Nach  langjährigem  Widerstreben  der  Pforte  und  nur 
durch  reiche  Geschenke  an  den  Sultan  und  die  Hofwürden- 
träger gewann  Ismail  1873  endlich  die  völlige  innere  Selbst- 
ständigkeit Ägyptens,  und  die  Oberherrlichkeit  des  Padischah 
kam  nunmehr  nur  noch  in  dem  Vorbehalt  von  Staatsverträ- 
gen, in  der  Verpflichtung  zur  Heeresfolge  und  dem  auf 
500000  Beutel  erhöhten  Jahrestribut  zum  Ausdruck.  Auch 
auf  die  Ausdehnung  seines  Reiches  war  Ismail  lebhaft  be- 
dacht. Bereits  1865  und  1866  hatte  er  von  der  Pforte  die 
beiden  Hafenplätze  Suakin  und  Massaua  erworben,  und  nach- 
dem 1871  der  Reisende  Werner  Munzinger  als  Gouverneur 
von  Massaua  in  seine  Dienste  getreten  war,  eroberte  dieser 
einen  Teil  der  nordabessinischen  Grenzländer  und  wurde 
1872  zum  Pascha  und  Generalgouverneur  des  östlichen  Su- 
dan ernannt.  Ägyptische  Truppen  waren  inzwischen  unter 
Baker  Pascha  bis  zu  den  Nilquellen  vorgedrungen,  eroberten 
1874  auch  Darfur  und  1875  wurden  vom  Sultan  die  Plätze 
Sela  und  Berbera  an  der  Nordseite  des  Somalihorns  erwor- 
ben, um  auch  vom  Süden  her  den  König  Johannes  von 
Abessinien  angreifen  zu  können;  aber  der  von  der  Tad- 
schura-Bai  vorrückende  Munzinger  wurde  am  14.  November 
1874  bei  Aussa  im  Lande  der  Galla  überfallen  und  tötlich 
verwundet,  und  ein  von  Massaua  aus  unter  Ismails  Sohn 
Hassan    herangerücktes  Heer  von  20000  Mann  am  7.  März 


—     22     — 

1876  vom  König  Johannes  bei  Gura  vollständig  geschlagen, 
sodaß  Ägypten  von  den  abessinischen  Eroberungen  nur  das 
von  Sela  aus  erworbene  Harrar  verblieb.  Erst  1877  kam 
der  Friede  mit  Abessinien  zustande. 

Im  Juni  1875  waren  nach  Aufhebung  der  Konsular- 
gerichtsbarkeit die  internationalen  Gerichtshöfe  zur  Entschei- 
dung von  Streitigkeiten  zwischen  Eingeborenen  und  Fremden 
und  der  letzteren  untereinander  ins  Leben  getreten,  mit  einem 
obersten  Gericht  in  Alexandrien  an  der  Spitze,  dessen  Tätig- 
keit Ismail  selbst  allerdings  illusorisch  machte,  als  des  Ge- 
setzes Schärfe  sich  gegen  seine  eigene  verderbliche  Finanz- 
wirtschaft richtete.  Bereits  1875  versagten  die  Kassen  und 
die  Leistungsfähigkeit  des  Landes.  Noch  einmal  half  sich 
derChedive  momentan  dadurch,  daß  er  die  noch  in  seinem 
Besitze  befindlichen  176600  Suezkanalaktien,  nachdem  er 
deren  Koupons  bis  1894  schon  vorher  veräußert,  für  vier 
Millionen  Pfund  an  die  britische  Regierung  verkaufte  —  ein 
politischer  Meisterschachzug  Disraelis  und  ein  glänzendes 
Geschäft  für  England  —  und  sich  von  dieser  einen  tüch- 
tigen Finanzmann,  den  Generalzahlmeister  Cave,  zur  Regelung 
der  Finanzen  erbat;  da  aber  Ismail  nicht  zu  Einschränkungen 
in  seinem  Hofhalt  zu  bewegen  war,  so  brach  der  Staats- 
bankrott aus  und  im  Mai  1876  wurden  die  Zahlungen  für 
die  Zinsen  der,  von  3\'3  Millionen  Pfund  in  1863  auf  nomi- 
nell 68^  2  Millionen  in  1873  angewachsenen  Staatsschuld  und 
ferner  auch  auf  die  Privatschuld  des  Chedivs,  der  Daira,  auf 
ein  Vierteljahr  eingestellt. 

Zur  Regelung  der  gesamten  Schuld  und  zur  Vertretung 
der  Staatsgläubiger  wurde  durch  Erlaß  vom  2.  Mai  1876  die 
Caisse  de  la  dette  publique,  eine  Staatsschuldentilgungskasse 
mit  ausländischen  Kommissaren  errichtet,  und  nach  Zustim- 
mung der  Gläubiger,  durch  Erlaß  vom  18.  November  1876, 
die  Staatsschuld  in  59  Millionen  unifizierte  und  17  Millionen 


—     23     - 

Pfund  privilegierte  Schuld  umgewandelt,  die  beide  an  Stelle 
der  bisherigen  7  Prozent  nur  noch  mit  5  Prozent  verzinst 
und  in  65  Jahren  amortisiert  werden  sollten.  Durch  Erlaß 
vom  17.  Juli  1877  wurden  auch  die  schwebende  Schuld  und 
die  Dairah-Anleihe  in  eine  konsolidierte  „Dairah-Anleihe"  von 
8'^  .5  Millionen  Pfund  umgewandelt,  die  gleichfalls  mit  5  "  o 
verzinst  werden  sollte. 

Die  Ausgaben  für  die  Kriege,  ein  Aufstand  in  Darfur 
und  die  Entsendung  von  5000  Mann  Hülfstruppen  gegen  Ruß- 
land 1877  hatten  die  Finanznot  noch  mehr  erhöht,  die  be- 
denklichen Mittel,  die  Steuern  doppelt  zu  erheben,  den  Be- 
amten keinen  Gehalt,  den  Lieferanten  keine  Rechnungen  zu 
bezahlen  und  das  riesige  Vermögen  des  nach  Dongola  ver- 
bannten Finanzministers  zu  konfiszieren,  schafften  keine  aus- 
giebige Hülfe,  und  so  entschloß  sich  der  Chedive  endlich, 
seinen  ganzen  Besitz  an  den  überschuldeten  Staat  abzutreten 
und  sich  in  Zukunft  an  Stelle  der  Domäneneinkunft  mit 
einer  Zivilliste  zu  begnügen.  Nach  Übereinkommen  mit  den 
Westmächten  beauftragte  er  im  August  1878,  unter  Erteilung 
weitgehender  Reform-Vollmachten,  Nubar  Pascha  mit  der 
Bildung  eines  halb  europäischen  Kabinetts,  in  welchem  der 
Engländer  Charles  R.  Wilson  als  Finanzminister  und  der 
Franzose  Blignieres  das  Ministerium  der  öffentlichen  Arbeiten 
übernahmen,  und  am  25.  Oktober  1878  traten  auch  alle 
Prinzen  und  Prinzessinnen  des  vizeköniglichen  Hauses  den 
einst  von  Mohammed  Ali  geraubten  Landbesitz  ab.  Wilson 
wurde  daraufhin  vom  Chedive  autorisiert,  mit  Rothschild  wegen 
einer  5  "n  igen  Domänen-Anleihe  von  8^2  Millionen  Pfund 
zu  unterhandeln.  Ismail  aber  konnte  sich  in  diese  neue 
Lage  nicht  hineinfinden  und  benutzte  eine  wohl  auf  seinen 
Betrieb  hin  am  18.  Februar  1879  entstandene  Meuterei  der 
in  Menge  entlassenen  und  nicht  bezahlten  Offiziere,  um  seine 
Zahlungsverpflichtungen  zu  ändern. 


—     24     — 

Während  Nubar  Pascha,  den  richtigen  Zusammenhang 
der  Dinge  erkennend,  sofort  seinen  Abschied  nahm,  erhielten 
Wilson  und  Blignieres  von  ihren  Regierungen  den  Befehl, 
auf  ihren  Posten  zu  bleiben,  wurden  aber  im  April  von  Is- 
mail abgesetzt,  der  die  Zinszahlungen  einstellte  und  sich 
durch  Vorbereitung  der  offiziellen  Erklärung  des  Staats- 
bankerotts aller  seiner  Verpflichtungen  zu  entledigen  hoffte. 
Die  Westmächte  waren  davon  zunächst  verblüfft.  Aber  einem 
Protest  Deutschlands  schlössen  sich  sämtliche  Großmächte 
an,  und  am  25.  Juni  1879  sprach  der  Sultan,  trotz  der  von 
Ismail  reichlich  gespendeten  Bestechungsgelder,  die  Absetzung 
von  Ismail  zu  Gunsten  von  dessen  Sohn  Taufik  aus.  Mit 
einer  Zivilliste  von  50  000  Pfund  ausgestattet,  ging  Ismail 
zunächst  nach  Neapel  und  dann  nach  Konstantinopel,  wo  er 
1895  starb. 

Bei  der  Investitur  Taufiks  (1879 — 92)  hatte  die  Pforte 
zunächst  versucht,  den  Ferman  von  1873  zu  Gunsten  des- 
jenigen von  1841  aufzuheben  und  erst  auf  Drängen  der 
Westmächte  hin  kam  ein  neuer  Ferman  zustande,  welcher 
dem  Chediven  das  Recht  zubilligte,  Zoll-  und  Handelsverträge 
mit  fremden  Staaten  abzuschließen ,  die  Finanzen  Ägyptens 
selbständig  zu  verwalten  und  ein  Heer  von  18000  Mann  zu 
halten;  dagegen  durfte  er  ohne  Genehmigung  des  Sultans 
keine  Anleihen  aufnehmen,  keine  Panzerschiffe  bauen  und 
mußte  einen  Jahrestribut  von  150000  Beuteln  ==  665000  £ 
zahlen. 

In  das  neue  Ministerium  unter  Rias  Pascha  waren  aus 
Rücksicht  auf  die  Gefühle  der  mohammedanischen  Bevölkerung 
keine  Fremden  aufgenommen  worden,  dagegen  übertrug  man 
die  Kontrolle  der  Finanzen  einem  englischen  und  einem 
französischen  Kommissar,  E.  Baring  und  Blignieres,  welche 
beratende  Stimme  im  Ministerrat  hatten,  das  Budget  ins 
Gleichgewicht  brachten   und  einen  Haushaltsplan   aufstellten, 


-     25     — 

der  Ägypten  nach  und  nach  zu  entlasten  versprach,  freih'ch 
nicht  ohne  harte  Bedrückung  der  mit  Steuern  belasteten  Ein- 
geborenen und  nicht  ohne  scharfe  Maßregeln  gegen  die  sich 
selbst  bereichernden  Beamten;  auch  zahlreiche  Offiziere  wur- 
den entlassen,  ohne  daß  ihnen  der  rückständige  Sold  aus- 
gezahlt wurde.  Die  hierdurch  veranlaßte  Unzufriedenheit 
benutzte  die  Militärpartei  unter  dem  fremdenfeindlichen  Oberst 
Arabi,  welche  eine  Vermehrung  der  Armee  erstrebte,  bereits 
1881  zu  einigen  Revolten,  durch  welche  sie  den  wohlwollen- 
den, aber  schwachen  Chediven  zwangen,  den  Premierminister 
Rias  Pascha,  welcher  sich  der  Vermehrung  widersetzte,  zu 
entlassen  und  eine  Notabeinversammlung  zu  berufen.  Diese 
Erfolge  ermutigten  Arabi  Pascha,  der  im  Februar  1882  zum 
Kriegsminister  ernannt  wurde,  die  Parole:  „Ägypten  für  die 
Ägypter"  auszugeben  und  die  Abschaffung  der  europäischen 
Finanzkontrolle  und  die  Beseitigung  aller  europäischen  Be- 
amten zu  fordern.  Da  der  Chediv  sich  ganz  haltlos  zeigte 
und  der  Sultan  nicht  rechtzeitig  einschritt,  so  riß  Arabi  Pascha 
alle  Gewalt  an  sich  und  proklamierte  sich  als  Haupt  der 
Nationalpartei,  die  das  Volk  von  allem  Druck  befreien 
werde. 

Das  Erscheinen  einer  englisch-französischen  Flotte  vor 
Alexandrien  im  Mai  1882  erschwerte  nur  die  Lage,  weil 
Taufik  nunmehr  Arabi  entließ;  darauf  wurden  die  Europäer 
von  der  Menge  bedroht  und  Arabi  mußte  sofort  zurück- 
berufen werden.  Schon  am  11.  Juli  1882  fielen  in  Alexan- 
drien durch  den  aufgereizten  Pöbel  die  ersten  europäischen 
Opfer  des  Fremdenhasses,  und  da  die  Übeltäter  nicht  bestraft 
wurden  und  Arabi  die  Befestigungen  von  Alexandrien  ver- 
stärkte, schritt  die  inzwischen  auch  verstärkte  englische  Flotte 
unter  dem  Vizeadmiral  Frederik  Beauchamp  Seymour  am 
11.  Juli  1882  in  völkerrechtswidriger  Weise  zum  Bombarde- 
ment,  worauf  die   Eingeborenen    an    der    ganzen   Fremden- 


—     26     — 

Kolonie  blutige  Rache  nahmen  und  deren  Häuser  meist  in 
Brand  steckten.  Arabi  Pascha,  nunmehr  vollkommen  als 
Diktator  handelnd,  zog  ein  Heer  in  Unterägypten  zusammen. 
Aber  England  erklärte  daraufhin  den  Suezkanal  für  gefährdet, 
sandte  ein  Landheer  unter  Wolseley,  und  dieses  nötigte  am 
13.  September  1882  bei  dem  befestigten  Teil  el  Kebir  die 
feige  ägyptische  Armee  zur  Übergabe  und  bemächtigte  sich 
ihres  nach  Kairo  geflohenen  Führers  und  seiner  Minister, 
die  ein  Kriegsgericht  zu  dauernder  Verbannung  nach  Ceylon 
verurteilte. 

Taufik  aber  wurde  nach  Kairo  zurückgeführt  und  die 
Verwaltung  sogleich  unter  britischen  Einfluß  gebracht.  Mit 
„Genehmigung"  des  Chediven,  wenn  auch  unter  Protest  der 
Pforte,  übernahm  die  britische  Regierung  im  Namen  des 
Chediven  die  Verwaltung  des  Landes,  die  Ämter  in  den 
Ministerien  wurden  mit  britischen  Untertanen  besetzt,  das 
Finanzwesen  wurde  nach  englischem  Muster  geregelt,  die 
ägyptische  Armee  aufgelöst  und  später  durch  englische  Offi- 
ziere neu  organisiert.  Der  eigentliche  Verwalter  des  Landes 
aber  wurde  mehr  und  mehr  der  kluge  Finanzmann  Sir  Eve- 
lyn Baring,  1877^79  englischer  Kommissar  bei  der  Schulden- 
verwaltung, 1879 — 80  Generalkontrolleur,  seit  1883  britischer 
bevollmächtigter  Minister  und  Generalkonsul,  1892  zum  Lord 
Cromer  ernannt  und  1901  in  den  erblichen  Grafenstand 
erhoben. 

Inzwischen  war  1883  durch  den  neu  erweckten  islami- 
tischen Gedanken,  den  Mahdismus,  der  Sudan  abgefallen, 
nachdem  ein  ägyptisches  Heer  am  3.  November  1883  bei 
Kaschgil  vernichtet  worden  war.  Gordons  Versuch,  den 
Sudan  wiederzugewinnen,  scheiterte;  von  England  nicht  recht- 
zeitig unterstützt,  fand  er  in  Chartum  am  26.  Januar  1885 
seinen  Tod,  und  die  Ägypter  räumten  nun  auch  die  von  ihnen 
besetzten  Plätze  am  roten  Meere  und  in  Harrar.    Auch  nach 


—     27     — 

dem  Tode  des  Mahdi  Mohammed  Achmed  wurde  eine  Wieder- 
eroberung des  Sudans  nicht  versucht;  Wadi  Haifa  am  2.  Ka- 
tarakt bh'eb  die  südhche  Grenzstation  des  Reiches,  und  die 
engh'sch-ägyptischen  Truppen  in  Suakin,  des  einzigen  am 
roten  Meere  gehaltenen  Platzes,  beschränkten  sich  darauf, 
die  räuberischen  Angriffe  der  Scharen  Osman  Digmas  zurück- 
zuweisen. 

Ließen  so  die  Engländer  eine  bedeutende  Schwächung 
der  ägyptischen  Macht  und  die  Vernichtung  der  Anfänge  der 
Zivilisation  am  oberen  Nil  zu,  so  gelang  es  ihnen  doch,  die 
Finanzen  Ägyptens  durch  umsichtige  und  sparsame  Verwal- 
tung zu  ordnen.  Mit  Zustimmung  der  an  der  Finanzkontrolle 
beteiligten  Mächte  und  unter  deren  Garantie  wurde  1885  eine 
3  "  oige  amortisierbare  Anleihe  von  9  Millionen  Pfund  aufge- 
nommen, welche  die  Zahlung  der  Entschädigungsgelder  für 
die  1882  erlittenen  Verluste  ermöglichte.  Die  teilweise  von 
englischen  Offizieren  befehligte  Armee  wurde  auf  5000  Mann 
reduziert;  dazu  kamen  6000  Mann  Gensdarmerie  und  5000 
Mann  englischer  Besatzung.  Hierdurch  wurde  es  möglich, 
die  Ausgaben  so  zu  vermindern,  daß  schon  1885  ein  Über- 
schuß über  den  Voranschlag  erzielt  wurde,  der  sich  mit 
jedem  Jahre  mehrte  und  eine  Erleichterung  der  Steuerlast 
gestattete.  • 

Die  Ereignisse  im  Sudan,  das  Drängen  der  Pforte  und 
allgemeine  politische  Erwägungen  hatten  England  bestimmt, 
sich  1885  wegen  Zurückziehung  seiner  Truppen  auf  Ver- 
handlungen in  Konstantinopel  einzulassen,  und  in  der  Tat 
wurde  am  22.  Mai  1887  ein  Abkommen  getroffen,  demzu- 
folge Mitte  1890  die  Räumung  Ägyptens  durch  die  Engländer 
vollzogen  sein  sollte;  der  von  Rußland  beeinflußte  Sultan 
aber  verwarf  es  im  letzten  Moment,  und  seitdem  hat  die 
englische  Besatzung,  trotz  des  französischen  Widerspruchs, 
tatsächlich    den  Charakter    eines   Protektorats  angenommen. 


—     28     — 

1886  wurde  die  Aufhebung  der  Frohnarbeit  beschlossen, 
und  am  29.  Oktober  1888  wurde  in  Konstantinopel  der 
Vertrag  zur  Sicherung  der  freien  Passage  im  Suezkanal  ge- 
zeichnet und  dessen  unbedingte  Neutralität  ausgesprochen; 
dagegen  scheiterte  die  im  Jahre  1889  geplante  Konvertierung 
und  Zinsreduktion  der  privilegierten  Schuld  zunächst  an  dem 
Widerspruch  Frankreichs,  das  sich  für  seine  Verdrängung 
aus  Ägypten  rächen  wollte,  und  konnte  erst  1890  durch- 
geführt werden. 

Der  plötzliche  Tod  Taufik  Paschas  am  7.  Januar  1892 
und  die  Thronbesteigung  seines  noch  nicht  18jährigen,  im 
Wiener  Theresianum  erzogenen  Sohnes  Abbas  II.  Hilmi 
gaben  den  Engländern  erwünschten  Vorwand,  die  Räumung 
Ägyptens  von  neuem  zu  verschieben.  Im  Januar  1893  suchte 
sich  zwar  der  junge  Chedive  der  drückenden  englischen 
Oberherrschaft,  die  trotz  ihrer  finanziellen  Erfolge  auch  beim 
Volke  höchst  unbeliebt  war,  zu  entziehen,  aber  die  englische 
Regierung  schritt  gegen  diese  Bestrebungen  sofort  energisch 
ein.  Der  englische  Vertreter  in  Kairo  forderte  und  erreichte 
vom  Chediven  die  Ernennung  des  England  freundlich  ge- 
sinnten Rias  Pascha  zum  Ministerpräsidenten;  unter  dem 
Vorwand,  daß  durch  die  Aufreizung  der  niederen  Volks- 
klassen die  Sicherheit  der  Europäer  in  Ägypten  gefährdet 
sei,  wurde  noch  im  Januar  die  damals  3500  Mann  zählende 
englische  Besatzung  um  2000  Mann  verstärkt  und  der  eng- 
lische Staatssekretär  des  Auswärtigen,  Lord  Roseberry,  be- 
nutzte die  Gelegenheit,  um  in  einem  Schreiben  an  Lord 
Cromer  zu  erklären,  daß  die  Zurückziehung  der  englischen 
Truppen  aus  Ägypten  unmöglich  sei,  da  sie  die  Sicher- 
heit der  dortigen  Europäer  gefährden,  den  Rückfall  des 
Landes  in  die  Verwirrung  herbeiführen  und  damit  ein  neues 
Einschreiten  nötig  machen  würde.  Und  als  Abbas  Pascha 
sich  bei  einem  Besuche  der  Südgrenze,  wo  englische  Truppen 


—     29     — 

zum  Schutze  derselben  zusammengezogen  waren,  im  Januar 
1894  in  Wadi  Haifa  ungünstig  über  die  englischen  Offiziere 
und  die  von  ihnen  befehligten  Truppen  äußerte,  wurde  er 
von  Lord  Cromer  sofort  gezwungen,  als  Sühne  den  Unter- 
staatssekretär des  Krieges,  Mäher  Pascha,  zu  entlassen  und 
in  einem  Tagesbefehl  die  Beschaffenheit  und  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Truppe  und  ihrer  englischen  Offiziere  lobend 
anzuerkennen.  Als  der  Chedive  darauf  Rias  Pascha  entließ 
und  an  dessen  Stelle  Nubar  Pascha  an  die  Spitze  des  Mini- 
steriums berief,  rhußte  er  einen  englischen  Beirat  in  dem 
Ministerium  des  Innern  zulassen. 

Die  Klagen  des  gesetzgebenden  Rats  über  zu  hohe 
Besteuerung  und  seine  Forderung,  daß  die  Zahl  der  Be- 
amten, besonders  der  europäischen,  vermindert  und  die 
öffentlichen  Bauten  eingeschränkt  würden,  wies  auf  Englands 
Verlangen  die  ägyptische  Regierung  einfach  zurück,  vielmehr 
setzte  sie  im  Februar  1895  einen  besonderen  Gerichtshof 
ein  zur  Aburteilung  von  Verbrechen  und  Vergehen,  die  sich 
Eingeborene  gegen  englische  Offiziere  und  Soldaten  zu 
Schulden  kommen  lassen  würden.  Da  Nubar  Pascha  wegen 
eines  Beinbruchs  schon  im  November  1895  zurücktrat,  wurde 
der  ganz  unter  englischem  Einfluß  stehende  Mustapha  Fehmi 
Ministerpräsident. 

Im  Jahre  1896  beschloß  England,  die  Wiedereroberung 
des  1885  durch  seine  Schuld  verloren  gegangenen,  ehemaligen 
ägyptischen  Sudan  in  Angriff  zu  nehmen;  einmal  wollte  es 
damit  einen  neuen  Vorwand  zur  ferneren  Besetzung  Ägyptens 
gewinnen,  sodann  aber  auf  ägyptische  Kosten  seine  Inter- 
essensphäre bis  ins  Quellgebiet  des  Nils  auch  von  Norden  her 
ausdehnen.  Unter  dem  Oberbefehl  des  Generals  Kitchener 
wurde  um  Wadi  Haifa  ein  12000  Mann  starkes,  zumeist  aus 
Eingeborenen  bestehendes  Heer  zusammengezogen  und  dieses 
drang,  nachdem  eine  Feldeisenbahn  nilaufwärts  gebaut  worden 


—     30     — 

war,  zunächst  in  Dongola  ein.  Zur  Deckung  der  Kosten 
des  Feldzugs  aber  entnahm  die  ägyptische  Regierung  500  000 
Pfund  aus  der  von  den  Vertretern  der  Großmächte  verwal- 
teten Staatsschuldkasse,  wogegen  Rußland  und  Frankreich 
Einsprache  erhoben,  und  auf  Klage  mehrerer  Obligationen- 
besitzer wurde  die  Regierung  von  dem  Gerichtshof  in  Alexan- 
drien  zur  Rückzahlung  dieser  Summe  verurteilt,  worauf  Eng- 
land, das  dadurch  ein  neues  Anrecht  auf  den  Besitz  Ägyptens 
erlangt  zu  haben  hoffte,  das  Geld  einstweilen  vorstreckte. 
Der  Sudanfeldzug,  über  den  das  nächste  Kapitel  weiter  be- 
richtet, wurde  im  wesentlichen  durch  die  am  2.  September 
1898  durch  Kitchener  vollzogene  Einnahme  Omdurmans 
beendet  und  ein  am  19.  Januar  1899  abgeschlossener  Ver- 
trag regelte  die  zukünftige  Verwaltung  des  „ägyptischen" 
Sudan  dahin,  daß  er  tatsächlich  eine  englische  Provinz  wurde, 
ein  Bindeglied  des  „.Afrika  englisch  vom  Kap  bis  zum  Nil", 
eines  Programms,  das  zum  eisernen  Bestand  des  englischen 
Imperialismus  gehört,  ist  Ägypten  z.  Z.  auch  noch  kein 
direkter  englischer  Besitz,  so  ist  doch  sicher,  daß  England 
sich  nur  dann  wieder  von  hier  zurückziehen  würde,  wenn 
es  sich  zwingender  Notwendigkeit  gegenüber  befände. 

Eine  wesentliche  Festigung  seiner  Stellung  in  Ägypten 
hat  England  durch  das  englisch -französische  Kolonial -Ab- 
kommen vom  8.  April  1904  gefunden,  in  welchem  Frankreich 
als  Entgeld  für  die  ihm  in  Marokko  zugestandene  Politik 
der  freien  Hand  seine  bisherige  feindselige  Haltung  gegenüber 
der  englischen  Okkupation  Ägyptens  aufgibt.  Dieses  Ab- 
kommen bestimmt,  Ägypten  betreffend,  Folgendes: 

Die  Regierung  Sr.  britischen  Majestät  erklärt,  daß  sie 
nicht  die  Absicht  hat,  den  politischen  Zustand  Ägyptens  zu 
ändern.  Die  Regierung  der  französischen  Republik  erklärt 
ihrerseits,  daß  sie  die  Aktion  Englands  in  diesem  Lande 
nicht  hemmen  wird,  indem   sie  etwa  eine  Zeit  grenze 


-     31     — 

für  die  britische  Besetzung  fordert,  oder  in  irgend 
einer  anderen  Weise,  und  daß  sie  weiter  ihre  Zustimmung 
gibt  zu  dem  Entwurf  eines  Erlasses  des  Chediven,  welcher 
die  Funktionen  der  Kasse  der  öffentlichen  Schuld  streng  be- 
schränkt auf  die  Erhebung  der  Einkünfte,  welche  zur  Zahlung 
der  Kupons  bestimmt  sind;  in  die  allgemeine  Verwaltung 
des  Landes  einzugreifen,  soll  die  Kassenverwaltung  aber  nicht 
mehr  das  Recht  haben.  Der  seit  14  Jahren  angesammelte 
Reservefonds,  welcher  z.  Z.  5 '2  Millionen  Pfund  beträgt, 
soll  der  ägyptischen  Regierung  zu  Ameliorationszwecken 
überlassen  werden.  Um  die  freie  Durchfahrt  durch  den 
Suezkanal  zu  sichern,  tritt  England  dem  bisher  von  ihm  nur 
bedingungsweise  anerkannten  V^ertrag  vom  29.  Oktober  1888 
betr.  der  Neutralität  des  Kanals  ohne  Einschränkung  bei. 
Den  französischen  Schiffen  verbleibt  das  ihnen  gewährte 
Recht  der  Küstenschiffahrt  zwischen  den  ägj/ptischen  Häfen. 
Der  Grundsatz  der  Handelsfreiheit  und  Gleichheit  in 
Auferlegung  von  Zöllen,  Abgaben  und  Eisenbahntarifen  wird 
für  30  Jahre  anerkannt.  Dagegen  behält  sich  die  englische 
Regierung  vor,  in  Ägypten  darüber  zu  wachen,  daß  die 
Konzessionen  für  Wege,  Eisenbahnen,  Häfen  und  andere 
große  Unternehmungen  von  allgemeinem  Nutzen  unter  solchen 
Bedingungen  erteilt  werden,  daß  die  Staatsautorität  ganz  ge- 
wahrt bleibt.  Die  französischen  Beamten  im  ägyptischen 
Staatsdienste  sollen  nicht  schlechter  gestellt  werden,  als  die 
englischen;  die  Generaldirektion  der  Altertümer  in  Äg>'pten 
soll,  wie  bislang,  auch  künftig  einem  französischen  Gelehrten 
anvertraut  werden  und  die  französischen  Schulen  in 
Ägypten  werden  in  Zukunft  dieselben  Freiheiten  genießen, 
wie  bisher.  Für  die  Ausführung  dieses  Abkommens  ver- 
sprechen sich  beide  Regierungen  den  gegenseitigen  Beistand 
ihrer  Diplomatie. 


—     32     - 

Rußland,  Italien,  Österreich-Ungarn  und  Deutschland 
erklärten  in  den  nächsten  Monaten  ihr  Einverständnis  mit 
dem  finanziellen  Teil  dieses  Abkommens,  und  zwar  stimmten 
die  drei  letztgenannten  Mächte  nicht  nur,  wie  Rußland,  dem 
Chedivialerlaß  zu,  sondern  verpflichteten  sich  auch,  das  Vor- 
gehen Englands  in  Ägypten  nicht  durch  das  Verlangen  nach 
Festsetzung  einer  Frist  für  die  englische  Okkupation  Ägyp- 
tens oder  in  irgend  einer  anderen  Weise  zu  behindern. 
Diese  Mächte  gaben  auch  ihre  Zustimmung  dazu,  daß  die 
Ausführung  des  letzten  Satzes  der  Paragraphen  1  und  2  des 
Artikels  8  des  Vertrags  vom  29.  Oktober  1888  unterbleiben 
solle.  Andrerseits  gab  die  englische  Regierung  diesen  drei 
Staaten  die  Versicherung,  daß  sie  ihrem  Handel  die  Behand- 
lung der  meistbegünstigten  Nationen  auf  30  Jahre  verbürgen 
und  daß  sie  die  Rechte  respektieren  werde,  die  sie  auf 
Grund  von  Verträgen,  Konventionen  und  Gewohnheitsrecht 
genießen.  Ferner  sollen  die  Schulen  der  erwähnten  Mächte 
dieselbe  Freiheit  wie  in  der  Vergangenheit  fortdauernd  haben 
und  die  Beamten  dieser  Nationalitäten,  die  gegenwärtig  in 
ägyptischen  Diensten  stehen,  nicht  Bedingungen  unterworfen 
werden,  die  weniger  vorteilhaft  seien  als  diejenigen,  die  sich 
auf  englische  Beamte  in  denselben  Diensten  beziehen. 

Angeblich  haben  sowohl  die  Pforte,  w^'e  auch  der 
Chedive  in  London  und  Paris  gegen  das  ohne  ihre  Zu- 
stimmung getroffene  Übereinkommen  Protest  eingelegt  — 
natürlich  vergeblich. 

Land  und  Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  Land  und  Leute. 

Leute. 

Das  Wort  „Aegypten",  ursprünglich  nur  für  einen 
Mündungsarm  des  Nil  gebraucht,  ist  griechischen  Ursprungs 
und  seine  Bedeutung  unbekannt,  im  Altertum  lautete  die 
einheimische  Bezeichnung  des  Landes  „Kernt",  später  „Kemi" 
oder    „Chemi",  d.  h.  das  dunkelschollige  Land,  so  benannt 


—     33     — 

nach  der  schwarzen  Erde  des  fruchtbaren  Niltals;  sich 
selbst  nannten  die  alten  Ägypter  einfach  Rometu,  d.  h. 
„Leute".  Die  semitischen  Völker  gaben  dem  Lande  den 
Namen  Misr,  und  noch  heute  bezeichnet  man  auf  ara- 
bisch sowohl  das  Land,  wie  die  Hauptstadt  mit  dem 
Namen  Masr,  einem  Wort,  dessen  Bedeutung  gleichfalls  un- 
bekannt ist. 

Die  Grenzen  des  Reiches  sind  sehr  wechselnde  ge- 
wesen. Unter  den  Pharaonen  reichte  es  zeitweilig  bis  700  km 
südlich  von  Syene;  in  der  Folge  aber  begriff  es  auch  unter 
seinen  mohammedanischen  Herrschern  nur  das  Niltal  bis 
zum  ersten  Katarakt.  Die  Alten  teilten  dieses  eigentliche 
Ägypten  in  ein  Ober-,  Mittel-  und  Unter-Ägypten  ein,  wobei 
EI  Amarna  und  Memphis  die  Grenzpunkte  bildeten.  Die 
Eroberungen  Mohammed  Alis  und  seiner  Nachfolger  dehnten 
das  Reich  immer  weiter  nach  Süden  aus,  das  bald  Nubien, 
Kordofan,  Darfur,  den  übrigen  Sudan  bis  zum  Somerset-Nil 
und  Albert-See  umfaßte  und  einen  Gesamtumfang  von  gegen 
3  Millionen  Quadratkilometer  besaß.  Das  durch  den  Mahdi- 
Aufstand  zeitweilig  verloren  gegangene  Gebiet  ist  inzwischen 
zwar  meist  wieder  zurückerobert  worden,  aber  nur  der 
nördlich  vom  22.  Breitengrad  gelegene  Teil  wird  gemäß  dem 
englisch-ägyptischen  Abkommen  vom  19.  Januar  1899  zu 
„Ägypten"  gerechnet,  der  Rest  als  „Sudan"  gesondert  ver- 
waltet. Von  Mittel-Ägypten  spricht  man  heute  nicht  mehr, 
man  unterscheidet  nur  noch  Ober-  und  Unter-Ägypten,  wo- 
bei letzteres  das  Deltagebiet  von  Kairo  abwärts,  ersteres 
das  schmale  Tal  von  Giseh  aufwärts  begreift,  in  dessen 
Grund  der  Nil  fließt. 

Dieses  Ägypten  bis  zum  22  "  umfaßt  994  300  Quadrat- 
kilometer und  wird  im  Norden  von  dem  Mittelländischen, 
im  Osten  von  dem  Roten  Meere  bespült,  an  dessen  nörd- 
lichem  Ende    der    Isthmus  von  Sues   die    Brücke    zwischen 

Sch  anz,  .Ägypten.  3 


—     34     — 

Afrika  und  Asien  bildet;  die  Grundlage  dieser  Landenge  ist 
Meeresboden,  ein  Beweis  dafür,  daß  die  beiden  Meere  früher 
nicht  getrennt  waren.  PoHtisch  gehört  der  größere  Teil  der 
wüsten  Sinai-Halbinsel  zu  Ägypten,  doch  weist  die  vom  Akaba- 
Golf  aus  nach  Norden  ziehende  Grenzlinie  gegen  Syrien  eine 
tiefe  Einbuchtung  nach  Westen  '  auf.  Die  Westgrenze  geht 
vom  Golf  von  Solum  aus  zunächst  der  türkischen  Provinz 
Barka  entlang  und  dann  in  einem  großen  Bogen  durch  die 
Libysche  Wüste.  Die  Hauptmasse  des  Landes  ist  öde,  un- 
fruchtbare Stein-  und  Sandwüste,  während  das  durch  Wasser- 
adern bebauungsfähige  Land  von  Assuan  bis  zu  den  Grenzen 
des  Deltas,  gewissermaßen  eine  Oase,  nur  gegen  30  000 
Quadratkilometer  umfaßt,  also  ungefähr  so  groß  wie  Belgien, 
aber  mit  9^  i  Millionen  Bewohnern  um  ein  Drittel  stärker 
bevölkert  als  dieses  ist. 

Die  Arabische  Wüste  zwischen  Nil  und  Rotem  Meere 
besitzt  tief  eingeschnittene  Täler,  großartig  geformte  Fels- 
massen bis  2180  m  Höhe  und  besonders  im  Norden  auch 
einige  Quellen  und  in  den  Tälern  eine  ansehnliche  Kraut- 
vegetation, während  die  Hochflächen  ganz  kahl  sind,  in 
einer  Entfernung  von  30—40  km  vom  Roten  Meere  erheben 
sich,  diesem  parallel,  steile  Gebirgsketten  von  Granit  und 
Porphyr,  und  daran  stößt  landeinwärts  ein  hohes  Kalkplateau, 
dessen  Südgrenze  etwa  durch  eine  Linie  zwischen  Edfu  am  Nil 
und  Kosser  am  Roten  Meere  begrenzt  wird,  und  dessen  größte 
Erhebung  der  schroffe  Ostrand  mit  1500  m  Höhe  aufweist. 
Von  diesem  Ostrand  aus  verlaufen  zum  Nil  zahlreiche 
Täler  mit  tief  eingeschnittenen,  engen  Betten ;  der  Abfall  des 
Plateaus  selbst  erfolgt  nach  dem  Nil  hin  in  mehreren  steilen 
Stufen.  Südlich  von  dem  Kalkplateau  folgt  der  quarzreiche, 
sogenannte  nubische  Sandstein.  Noch  weit  trostloser  ist  die 
zur  Sahara  verlaufende  Libysche  Wüste,  eine  riesige,  vom 
Nil  allmählich    aufsteigende  Kalkstein-Hochfläche   ohne  her- 


-     35     - 

vorragende  Gipfel  oder  größere  Täler,  steinig  und  durchaus 
wasserlos,  in  ihrem  östlichen  Teile  unterbrochen  durch  eine 
dem  Nile  parallel  laufende  Kette  von  Einsenkungen,  an  deren 
tiefsten  Stellen  Oasen  liegen,  teilweise  bis  zu  70  m  unter 
dem  Meeresspiegel;  die  bedeutendsten  derselben  sind  von 
Süd  nach  Nord  die  Oasen  Schargeh,  Daschel,  Farafrah, 
Baharieh  und  Siwah.  Einige  Tagereisen  hinter  diesen  be- 
ginnt die  endlose  Sandwüste.  Die  von  Dünen  und  Fels- 
riffen umsäumte  Mittelmeerküste  ist  sehr  flach  und  dringt 
meist  als  Sandbank  ins  Meer  ein ;  die  Häfen  von  Alexandria 
und  Port  Said  sind  künstliche  Anlagen.  Die  Küste  des 
Roten  Meeres  ist  öde,  felsig  und  sandig,  und  die  beiden 
nördlichen  Häfen  Sues  und  Kosser,  von  denen  besonders 
das  erstere  früher  für  den  Durchgangshandel  von  großer  Be- 
deutung war,  sind  seit  Eröffnung  des  Sueskanals  ganz  her- 
untergekommen; Kosser  besitzt  überdies  nur  eine  unsichere 
Rhede.  Dagegen  bietet  das  auf  einer  Küsteninsel  gelegene 
Suakin  einen  durchaus  sicheren  Hafen,  dem  nach  dem  Bau 
der  Bahn  nach  Berber  ein  gut  Teil  des  Sudanhandels  zu- 
fallen wird. 

Es  ist  klar,  daß  der  wirtschaftliche  Wert  eines  Landes,  Bewässerung, 
das  überwiegend  aus  Sand-  und  Steinwüsten  besteht  und 
keine  nennenswerten  Niederschläge  besitzt,  ganz  von  der 
Bewässerungsmöglichkeit  abhängt  und  so  hat  denn 
auch  von  jeher  sein  einziger  Strom,  der  Nil,  die  Lebens- 
ader Ägyptens  gebildet.  Andere  fließende  Gewässer  besitzt 
das  Land  nicht  und  selbst  der  perennierenden  Quellen  ent- 
behrt der  größte  Teil  Ägyptens  ganz;  dagegen  finden  sich 
mineralische,  zum  Teil  lauwarme  Quellen  an  verschiedenen 
Stellen.  Die  bedeutendsten  der  Binnenseen  sind  der  brackige, 
40  m  unter  Meereshöhe  liegende  Birket  el  Kerun  am  West- 
rand des  Fayum,  die  6  kleinen  Natronseen  südlich  von 
Alexandrien    und  die  drei  Bitterseen  auf  der  Landenge  von 

3* 


—     36     — 

Sues,  die  vom  Nile  her  einen  schon  im  Altertum  angelegten, 
aber  immer  wieder  verfallenen  Süßwasserkanal  bei  Ismailia 
aufnehmen. 

Weit  umfangreicher  aber  sind  die  vom  Mittelmeer  meist 
nur  durch  schmale,  sandige  Landzungen  getrennten,  seichten 
Strandseen,  welche  teils  durch  Überflutungen  bei  hohem 
Seegang,  teils  durch  Nilüberschwemmungen  entstanden  sind 
und  deren  größter  der  zwischen  Damiette  und  Port  Said  ge- 
legene Mensaleh-See  (184  000  ha)  ist;  seit  der  britischen 
Okkupation  ist  man  ernstlich  bestrebt,  diese  Lagunen  trocken 
zu  legen  und  ihren  Boden  für  die  Kultur  zu  gewinnen.  In 
neuerer  Zeit  hat  man  auch  bisher  wüste  Landstriche  am 
Süßwasserkanal  im  Wadi  Tumilat,  einem  Teile  des  biblischen 
Gosen,  der  Kultur  gewonnen,  ebenso  in  der  Umgebung 
von  Sues. 

Aber  die  eigentliche  Lebensader  des  Landes  bleibt  der 
Nil,  ohne  dessen  regelmäßige  Anschwellung,  welche  das 
urbare  Gebiet  im  Oktober  ganz  unter  Wasser  setzt,  das 
regenarme  Ägypten  höchstens  Steppe  sein  würde.  Gerade 
im  trostlosesten  Teile  des  Wüstengebiets  bildet  das  Niltal 
einen  schmalen  Kulturstreifen,  der  zugleich  ein  bequemer 
Zugang  zum  Innern  Afrikas  sein  könnte,  wenn  der  Strom 
nicht  in  seinem  Mittellaufe  so  von  Felswänden  eingedämmt 
wäre,  daß  der  grüne  Ufersaum  stellenweise  ganz  verschwin- 
det und  der  Nil  die  Hindernisse  in  Katarakten  und  Strom- 
schnellen überwinden  muß.  In  früheren  Zeiten  bildete  das 
heute  bewohnbare  Ägypten  einen  langen,  vom  Mittelmeer 
aus  trichterförmig  ansetzenden  und  bis  zum  ersten  Katarakt 
schmal  verlaufenden,  seichten  Golf,  der  durch  die  starken 
Schlammablagerungen  des  Nils  allmählig  ausgefüllt  wurde 
und  zwar  derart,  daß  sich  der  Nillauf  vermöge  seiner  eigenen 
Ablagerungen  inmitten  des  Tals  einen  Damm  bildete,  auf 
dem   er  seine  Rinne   zieht,    während  die  das  Strombett  be- 


—     37     — 

gleitenden  Talflächen  tiefer  liegen  als  dieses  selbst  und  so 
bequemer  Bewässerung  beim  Übertreten  des  Stromes  fähig 
sind.  Dieser  Kulturstreifen,  im  unterm  Niltale  nirgends  über 
30  km,  im  oberen  selten  über  7  km  breit,  ist  heute  von 
einer  10—12  m  dicken  Schicht  fruchtbaren  Schlammes  be- 
deckt, einer  feintonigen,  etwas  kalkhaltigen  Masse,  welche 
zu  4 — 9  "  I,  aus  organischen  Substanzen  besteht,  getrocknet 
sehr  hart  wird  und  schon  von  jeher  zur  Ziegelbereitung  be- 
nutzt wurde. 

Bei  Assuan  verläßt  der  Nil  Nubien,  durchbricht  einen 
vom  Roten  Meere  her  vordringenden  Granit-Querriegel,  dessen 
Qesteintrümmer  den  „Ersten  Katarakt"  bilden  und  beginnt 
seinen  Unterlauf,  der  60  km  abwärts  bei  Selseleh  noch  ein- 
mal durch  eine  Sandsteinschlucht  von  nur  200  m  Breite  ein- 
geengt wird,  worauf  er  sich  ausdehnen  kann.  Größtenteils 
fließt  der  Strom  am  Fuße  des  meist  steil  aufsteigenden  Ost- 
rands hin,  während  ihn  links  ein  breiterer,  flacher  Uferstreifen 
begleitet,  der  den  Übergang  zu  dem  sanft  aufsteigenden  West- 
gehänge bildet.  Das  Gefälle  ist  sehr  gering  und  beträgt  von 
Assuan  bis  Kairo  nur  92,  von  da  zum  Meere  noch  10  m. 
Bei  Lu.xor,  dem  alten  Theben,  ist  der  anbaufähige  Raum 
zwischen  den  Kalkbergen  schon  10  km  breit,  und  bald  darauf 
beginnt  das  System  der  Seitenkanäle.  Während  die  Berg- 
kette im  Osten  ihren  steilen  Charakter  bewahrt  und  sich  bei 
Kairo  mit  dem  Mokkatam  vereinigt,  gestattet  das  wellenförmige 
Westufer  dem  vom  Nile  abzweigenden,  uralten  und  350  km 
langen,  sogenannten  Josephskanal  (Bahr  Jusuf),  die  Hügel- 
linie zu  durchbrechen  und  dahinter  als  einziges  Seitental  des 
Nils  die  Landschaft  des  Fayum  zu  schaffen,  welche  im 
Altertum  durch  Anlage  eines  jetzt  längst  verschütteten,  großen 
Stauweihers,  des  „See  Moeris"  der  Griechen,  in  hoher  Kul- 
tur gehalten  wurde,  während  sich  der  Kanal  heute  weiter 
westlich  in  den  brackigen  Birket  el  Kerun  verliert,   der  aber 


—     38     — 

noch  immer  einen  beträchtlichen  Teil  des  Fayum  befruchtet. 
Die  mittlere  Tiefe  des  Nils  bei  Kairo  beträgt  7  m.  Das 
Niltal  von  Assuan  bis  Kairo  ist  900  km  lang  und  besitzt 
eine  Bodenfläche  von  17000  Z  km. 

22  km  unterhalb  von  Kairo  teilt  sich  der  dort  1000  m 
breite  Nil  in  seine  jetzigen  zwei  —  früher  sieben  —  Mün- 
dungsarme: den  westlichen,  kürzeren  und  schwächeren  Nil 
von  Rosette  und  den  östlichen  von  Damiette,  womit  das 
von  zahllosen  Verbindungskanälen  —  im  Ganzen  13  440  km  — 
quer  durchzogene  Delta  seinen  Anfang  nimmt.  Diese,  im 
höheren  Altertum  fast  ganz  von  Papyrussümpfen  erfüllte 
Mündungslandschaft,  ein  Geschenk  des  Nils,  nimmt  heute 
einen  Flächenraum  von  22  200  Z  km  ein  mit  einer  Küsten- 
länge von  270  km  und  einer  längsten  Ausdehnung  von  171  km 
in  der  Richtung  von  Süd  nach  Nord.  Das  Delta  erhebt  sich 
nur  wenige  Fuß  über  die  Meereshöhe  und  ist  mit  seinem 
steinlosen  Boden  eines  der  fruchtbarsten  Getreideländer  der 
Erde. 

Der  administrativ  noch  zu  Ägypten  gehörige  nubische 
Teil  des  Niltals  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Katarakt 
ist  bedeutend  schmäler,  als  in  Oberägypten,  der  Bergcharakter 
ist  hier  härter,  das  Material  an  Stelle  von  Kalkstein  in  mono- 
tonen horizontalen  Linien  häufig  Granit  und  Sandstein  in 
mannigfaltiger  Form  und  dunkler  Farbe.  Das  anbaufähige 
Land  schrumpft  in  Nubien  sehr  zusammen,  erstreckt  sich 
selten  ein  paar  hundert  Meter  landein  vom  Flusse,  ist  oft 
nur  wenige  Schritte  breit,  und  häufig  reichen  Fels  und  Wüsten- 
sand bis  an  den  Nil. 

Von  entscheidendem  Einfluß  für  fast  alle  Verhältnisse 
des  Landes  ist  das  jährliche  Anschwellen  des  Stromes, 
welches  durch  die  tropischen  Regengüsse  im  Gebiet  der 
großen  zentralafrikanischen  Seen  und  des  abessinischen  Berg- 
lands bedingt  wird,  bei  Assuan  Ende  Juni,  bei  Kairo  Anfang 


—     39     — 

Juli  beginnt  und  in  der  ersten  Hälfte  des  Oktobers  seinen  höch- 
sten Stand  erreicht;  die  darauf  folgende  Abnahme  ist  im 
allgemeinen  eine  langsame,  sodaß  der  Fluß  erst  im  April, 
Mai  und  in  den  ersten  Tagen  des  Juni  auf  den  niedrigsten 
Stand  sinkt.  Der  Unterschied  zwischen  höchstem  und  tief- 
stem Wasserstand  beträgt  bei  Assuan  15,  bei  Theben  8V2, 
bei  Kairo  7 '  -  m,  und  ein  Zurückbleiben  hinter  der  heute 
normalen  Überschwemmung  von  8  Metern  auch  nur  um 
einen  Meter  hat  in  Oberägypten  bereits  Dürre  und  Hungers- 
not im  Gefolge,  während  anderseits  schon  50  cm  mehr 
furchtbare  Verwüstungen  im  Delta  anrichten  können.  So  ist 
der  Nilmesser  wirklich  die  Nationaluhr  Ägyptens  und  seine  An- 
gaben werden  noch  heute,  wie  im  Altertum,  mit  Spannung 
verfolgt. 

Um  zu  verhüten,  daß  sich  das  Hochwasser  des  Nils 
mit  seinem  befruchtenden  Inhalt  zu  schnell  in  das  Meer  er- 
gieße, wurde  das  ganze  kulturfähige  Land  seit  Urzeiten 
durch  Dämme,  die  während  der  Überschwemmung  auch 
als  Verkehrswege  dienen,  in  ungeheure  Bassins  eingeteilt,  in 
welche  das  kostbare  Naß  durch  Kanäle  unter  Obhut  be- 
sonderer Ingenieure  eingeführt  und  so  lange  —  gewöhnlich 
60  Tage  —  auf  einer  gewissen  Höhe  gehalten  wird,  bis  die 
gehörige  Menge  Nilschlamm  abgesetzt  ist.  Wird  die  Be- 
wässerung der  Felder  zwei  Jahre  unterlassen,  so  werden  sie 
salzhaltig  und  unfruchtbar,  weil  dann  das  Grundwasser  an 
die  Oberfläche  steigt;  andrerseits  kann  Übermaß  von  Wasser- 
zufuhr schweren  Schaden  anrichten.  Dieser  bis  ins  kleinste 
organisierte  Bewässerungsdienst  bewährt  sich  vortrefflich  und 
leistet  der  Landwirtschaft  die  wertvollsten  Dienste;  das  Land 
ist  heute  in  fünf  Wasserbaubezirke  geteilt  mit  je  einem  eng- 
lischen Ingenieur  an  der  Spitze.  Ein  willkürliches  Über- 
fluten des  Landes  ist  jetzt  ganz  ausgeschlossen  und  Ägypten 
hat  aufgehört,    zur  Zeit   der  Nilschwelle,  wie  ehemals,  ein 


—     40     — 

großer  See  zu  sein.  Die  Pächter  müssen  die  Dämme  an 
den  Ufern  des  Nils  während  seines  Steigens  in  Ordnung 
halten  und  im  Notfall  auf  erste  Aufforderung  hin  zu  Hülfs- 
arbeiten    erscheinen. 

Um  das  Nilwasser  auch  auf  höher  gelegene  Terrains 
zu  bringen,  wohin  die  Überschwemmung  nicht  gelangt  und 
um  die  Bewässerung  während  der  langen  trockenen  Zeit  zu 
besorgen,  benutzt  man  als  primitivstes  Mittel  an  Stricken 
geschwungene  Bastkörbe  zum  Schöpfen,  oder  die  von  einer 
Person  bedienten,  schlagbaumähnlichen  Ziehbrunnen  der 
Schadufs,  oder  die  von  Ochsen  getriebenen,  letzthin  wesent- 
lich verbesserten,  Schöpfräder  der  Sakijes,  vereinzelt  auch 
hydraulische  Maschinen  und  Dampfpumpwerke  und  hebt 
mit  diesen  Mitteln  das  Wasser  in  mehrere,  übereinander 
gelegene  Etagen.  Im  Jahre  1890  betrug  die  Länge  der 
Bewässerungskanäle  16  770  km,  die  Zahl  der  Dampfpumpen 
500,  der  Sakijes  30000  und  der  Schadufs  70000.  Die 
größte  der  Kanalanlagen  ist  der  1819  von  Mohammed 
Ali  geschaffene  und  nach  dem  damaligen  Sultan  benannte 
Mahmudije-Kanal  im  Delta,  und  an  diesen  und  die  beiden 
Hauptarme  des  Nils  schließt  sich  ein  engmaschiges  und  weit- 
verzweigtes Netz  kleinerer  Kanäle  an.  Die  Regulierung  des 
Nilhochwassers  für  dieses,  wegen  seiner  gleichmäßigen  Nie- 
drigkeit besonders  schwierige  Delta-Gebiet  hat  man  erst  im 
vorigen  Jahrhundert  durch  den  Bau  eines  Brückenstauwerks, 
der  Barrage  an  der  Südspitze  des  Dreiecks,  versucht.  Diese 
schon  von  Bonaparte  geplante  und  von  Mohammed  Ali  mit 
einem  Kostenaufwand  von  30  Millionen  Francs  durch  fran- 
zösische Ingenieure  errichtete  Stauschleuse  sollte  den  Wasser- 
stand des  Nils  im  Delta  und  oberhalb  das  ganze  Jahr  über 
auf  gleicher  Höhe  halten  und  sowohl  die  alten,  viele  Menschen- 
kräfte absorbierenden  Schöpfvorrichtungen  zur  Bewässerung 
des  Landes  ersetzen,   wie  auch   die  Schiffahrt  während   der 


—     41     — 

drei  Monate  niedrigen  Wassers  erleichtern.  Das  mit  Über- 
stürzung in  Angriff  genommene  Werk  wurde  jedoch  zeit- 
weih'g  eingestellt,  dann  wieder  fortgeführt  und  schließlich  dem 
Gebrauch  übergeben,  ohne  wirklich  fertig  zu  sein.  1885 
beendete  der  englische  Ingenieur  Moncrieff  mit  500000  £ 
Kosten  das  Werk  soweit,  daß  1890  eine  Stauung  bis  zu  einem 
Meter  Höhe  möglich  wurde,  aber  erst  nachdem  die  Schuld- 
kasse 1897  eine  weitere  halbe  Million  Pfund  bewilligt  hatte, 
um  die  Haltbarkeit  dieses  bedeutungsvollen  Werkes  zu  er- 
höhen, konnten  die  an  den  Dämmen  des  Rosette  und  Da- 
miette-Arms  vorgenommenen  Ausbesserungen  völlig  zum  Ab- 
schluß gebracht  werden.  Eine  zweite  Barrage  wurde  nilab- 
wärts  bei  Zifta  am  Damiette-Arm  geschaffen. 

Nach  vieljährigen  Erfahrungen  pflegt  auf  vier  wasser- 
reiche Jahre  gewöhnlich  ein  wasserarmes  zu  folgen,  in  wel- 
chem die  im  Nil  herabfließende  Wassermenge  nicht  zur  Be- 
fruchtung sämtlicher  kultivierten  Felder  ausreicht,  und  um 
die  Landwirtschaft,  die  sich  jährlich  weiter  ausbreitet,  für  die 
Zukunft  von  den  in  den  einzelnen  Jahren  sehr  verschiedenen 
Nilstandsverhältnissen  weniger  abhängig  zu  machen,  hat  man 
im  letzten  Jahrzehnt  des  vorigen  Jahrhunderts  zunächst  Vor- 
kehrungen getroffen,  dem  übermäßigen  Wasserverbrauch  zu 
steuern  und  sodann  auch  Projekte  in  Angriff  genommen, 
um  den  an  und  für  sich  ausreichenden  Wasserreichtum 
des  Nils  aufzuspeichern  und  der  Landwirtschaft  zu  jeder 
Jahreszeit  dienstbar  zu  machen.  Existieren  in  Ägypten 
doch  noch  große  Strecken  kultivierbaren  und  ertragreichen 
Bodens,  die  nur  darauf  warten,  daß  man  ihnen  Wasser  zuführt. 

Englische  Ingenieure  arbeiteten  von  1890  ab  verschie- 
dene Projekte  aus,  und  schließlich  entschloß  man  sich  zu 
dem  Bau  eines  großen  Nildamms  bei  Assuan  nördlich  der 
Insel  Philä.  Am  28.  Februar  1898  zeichnete  die  ägyptische 
Regierung  den   Kontrakt    mit    der    in   London   domizilierten 


—     42     — 

schottischen  Firma  John  Aird  &  Co.,  welche  sich  verpflich- 
tete, die  Arbeiten  gegen  30  Jahresraten  von  je  153000  ägypt. 
Pfund  auszuführen  und  den  Bau  innerhalb  von  fünf  Jahren 
zu  beenden ;  um  die  internationale  Caisse  de  la  dette  auszu- 
schalten, wurde  das  Riesenwerk  auf  englischen  Kredit  hin 
unternommen  und  schon  im  Juli  1902  beendet.  Ursprüng- 
lich war  die  Dammhöhe  bei  Assuan  nach  den  Plänen  des 
berühmten  Wasserbauingenieurs  Willcox  auf  114  m.  ü.  M. 
angesetzt,  da  aber  dabei  das  Kleinod  der  Insel  Philä  über- 
schwemmt worden  wäre,  entschloß  man  sich  auf  lebhaften 
Einspruch  der  archäologischen  Gesellschaften  hin,  das  Re- 
servoir wesentlich  zu  verkleinern  und  den  Damm  auf  106  m 
Meereshöhe  zu  reduzieren;  da  das  niedrigste  Niveau  des 
Wasserstandes  in  Assuan  86  m  hoch  liegt,  so  können  bei 
völliger  Füllung  also  mindestens  20  Meter  Höhe  aufgestaut 
werden,  und  es  ergibt  sich  ein  Fassungsvermögen  von  1065 
Millionen  Kubikmetern.  Die  Länge  des  mächtigen,  in  Assuan 
aufgeführten  Granitdamms  ist  1962  m,  die  Breite  an  der 
Spitze  8,7,  an  der  Basis  27,2  m ,  die  größte  Höhe  an  der 
tiefsten  Stelle  30^ '2  m;  um  zu  verhüten,  daß  das  Reservoir 
durch  die  vom  Wasser  mitgeführten  festen  Bestandteile  in 
seinem  Fassungsvermögen  beeinträchtigt  werde  —  wie  dies 
z.  B.  bei  Stauanlagen  in  Algerien  geschah  —  ist  der  Damm 
nahe  an  seiner  Basis  von  140  Unterschleusen  mit  je  14qm 
Öffnung  unterbrochen,  die  man  zu  geeigneter  Zeit  schließen 
kann,  während  das  Berieselungswasser  seinen  Weg  durch 
40  Oberschleusen  von  je  7  qm  Öffnung  nimmt.  Um  den 
Schiffsverkehr  zu  ermöglichen,  dient  auf  der  linken  Seite  des 
Dammes  ein  Kanal  mit  vier  Schleusen  von  80  X  9^  2 
Meter.  Der  Tempel  von  Philä  freilich  ist  für  einen  Teil 
des  Jahres  unter  Wasser,  und  Willcox  hat  deshalb  des- 
sen gänzliche  Überführung  nach  der  nahen  Insel  Bigeh  vor- 
geschlagen. 


1 


—     43     - 

Außerdem  ist  weiter  nilabwärts  bei  Siut  ein  offener 
Staudamm  von  822  m  Länge  und  mit  111,  je  5,45  m  breiten 
Öffnungen  errichtet  worden,  der  ähnlich  der  Barrage  im 
Deha  quer  über  den  Nil  geht  und  während  des  Frühhngs 
und  Sommers  durch  eine  Reguherungsschleusenbrücke  eine 
große  Wassermenge  dem  Ibrahim-Kanal  zulenkt,  der  Mittel- 
ägypten befruchtet;  die  17^  -  m  breite  Schleuse  am  West- 
ufer gestattet  auch  großen  Dampfern  den  Durchgang.  Die 
Kosten  des  Assuan-  und  des  Siut-Dammes  beliefen  sich  in 
runder  Summe  auf  3^  -i  Millionen  ägypt.  Pfund. 

Die  Fertigstellung  der  durch  die  Assuan-  und  Siut-Stau- 
werke  bedingten  Anlagen  von  hunderten  von  Kilometern  neuer 
Kanäle,  Abzugsgräben  und  Dämme  aber  erfordert  noch 
weitere  P-  Millionen  Pfund,  und  es  ist  bereits  im  Plane, 
auch  noch  zwischen  Siut  und  Keneh  zwei  Staudämme 
aufzuführen,  welche  2  Millionen  Pfund  kosten  sollen. 

Der  Kampf  gegen  die  Trockenheit  ist  mit  dem  Assuan- 
Damm  bis  an  die  Grenze  von  Oberägypten  vorgeschoben, 
aber  auch  hier  soll  kein  Halt  gemacht  werden  und  es  sind 
noch  2600  Millionen  Kubikmeter  Wasser  nötig.  Wo  sollen 
diese  herkommen? 

Um  die  Stromverhältnisse  des  Nils  auf  seinem  ganzen 
Laufe  zum  Zwecke  einer  geregelten  und  vermehrten  Wasser- 
zufuhr nach  Ägypten  und  dem  Delta  zu  verbessern  und  die 
Schiffbarkeit  des  Stroms  nach  Möglichkeit  auszudehnen  und 
zu  sichern,  hat  die  Regierung  verschiedene  Kommissionen 
unter  den  Wasserbau-Sachverständigen  Sir  William  Willcocks, 
Sir  William  Garstin  und  C.  Dupuis  zum  Studium  der  Ent- 
stehungsorte der  Nilschwelle  nach  dem  Gebiet  der  großen 
Seen,  dem  Sudan  und  nach  Abessinien  geschickt.  Ein  sehr 
interessanter,  zusammenfassender  Bericht  über  diese  Studien 
ist  seitens  Sir  William  Garstin,  dem  ägyptischen  Unterstaats- 
sekretär für  öffentliche  Arbeiten,  im  Sommer  1904  erschienen 


—     44     — 

und  derselbe  gipfelt  in  dem  Vorschlag,  weitere  Bewässerungs- 
arbeiten im  Stromgebiet  des  Nils  für  eine  Gesamtkosten- 
summe von  21,4  Millionen  Pfund  auszuführen,  wovon 
13  Millionen  auf  das  Gebiet  des  Sudans,  8,4  Millionen  auf 
dasjenige  Ägyptens  entfallen  würden  und  wobei  die  Wässer 
des  Weißen  Nils  in  erster  Linie  für  Ägypten,  die  des  Blauen 
Nils  für  die  an  ihn  grenzenden  Länder  nutzbar  zu  machen 
wären.  Bei  Zugrundelegung  der  in  Mittelägypten  erhobenen 
Steuer  von  50  Piaster  für  den  Acre  auf  750000  Acres  Bassin- 
land in  Oberägypten  und  1  Million  Acres  im  Sudan,  ferner 
je  30  Piaster  für  100000  Acres  mit  Pumpen  zu  bewässern- 
des Land  in  Oberägypten  und  Erhöhung  der  Steuer  auf 
800000  Acres  in  Unterägypten  von  50  auf  100  Piaster  rech- 
net Garstin  eine  jährliche  Einnahme  von  1,7  Million  ägypt. 
Pfunden  oder  8  ^.^  Verzinsung  der  Gesamt-Kapitalanlage  aus. 
Diese  geplanten  Arbeiten  würden  übrigens,  auch  wenn  das 
dazu  nötige  Geld  sofort  verfügbar  wäre,  nicht  unter  10  bis 
15  Jahren  auszuführen  sein. 

Soweit  das  eigentliche  Ägypten  dabei  in  Frage  kommt, 
dürften  nach  Lord  Cromers  Ansicht  zunächst  in  Angriff  ge- 
nommen werden:  Die  Erhöhung  des  Assuan-Dammes  um 
6  Meter,  welche  600000  £  kosten  und  die  dort  aufgestaute 
Wassermasse  verdoppeln  soll;  und  sodann  die  auf  900000  £ 
veranschlagte  Regulierung  des  Rosette-  und  des  Damiette- 
Mündungsarmes.  Wie  erwähnt,  sind  rund  30  Millionen  Mark 
bereits  bewilligt,  um  in  den  nächsten  Jahren  die  Ländereien 
Mittel-Ägyptens,  welche  bisher  nur  aus  Bassins  (Staubecken) 
gespeist  wurden,  in  Berieselungsfelder  umzuwandeln.  Nach 
Garstins  Plänen  sollen  aber  zu  diesem  Zwecke  später  wei- 
tere 100  Millionen  Mark  aufgewandt  werden,  von  denen  40 
Millionen  Mark  auf  die  Anlage  von  zwei  Staudämmen  zwischen 
Siut  und  Keneh,  60  Millionen  auf  Umwandlung  der  Bassin- 
ländereien  in  Berieselungsfelder  entfallen. 


—     45     — 

Die  Sudan -Projekte  werden  im    nächsten   Kapitel   Er- 
wähnung finden. 


Das  Klima  Ägyptens  hat  im  Laufe  der  Zeiten  wesent-  Kiima. 
h'che  Veränderungen  erfahren  und  muß  früher  viel  feuchter 
gewesen  sein,  wie  dies  u.  a.  die  mächtigen  und  wohlaus- 
gebildeten Uferterrassen  an  den  Ausmündungen  der  Täler 
aus  den  Gebirgen  beweisen  und  das  ehemalige  Vorhanden- 
sein von  Häfen  an  Küstenpunkten  des  Roten  Meeres,  die 
jetzt  durch  Korallenbänke  für  die  Schiffahrt  gänzlich  unzu- 
gänglich sind,  während  früher  durch  die  Täler  und  Schluch- 
ten vermutlich  ständig  Süßwasser  zugeführt  wurde.  Auch 
sprechen  für  die  Richtigkeit  dieser  Annahme  die  großartigen 
und  prachtvollen  Bauten  in  jetzt  völlig  wüsten  Gegenden 
und  die  Überreste  einer  jetzt  ganz  verschwundenen  V^ege- 
tation,  die  sogenannten  „versteinerten  Wälder"  in  der  ägyp- 
tischen Wüste. 

Heute  haben  die  höher  gelegenen  südlichen  Gegenden 
als  einzige  Jahreszeit  einen  fast  regenlosen  und  heißen 
Sommer  und  das  ganze  Jahr  über  eine  ziemlich  gleichmäßige 
Temperatur;  die  mittleren  und  nördlichen  dagegen  eine 
kühle  und  eine  heiße  Jahreszeit.  Jene  dauert  von  Dezember 
bis  März  und  gleicht  der  Frühlings-  und  Herbstzeit  der  ge- 
mäßigten Länder  Europas.  An  der  Nordküste  regnet  es  von 
Oktober  bis  März  und  April  häufig,  in  den  übrigen  Monaten 
aber  stellenweise  gar  nicht,  und  die  Gesamtniederschläge  be- 
tragen nur  ungefähr  20  cm,  in  Oberägypten  aber  gehört 
Regen  überhaupt  zu  den  größten  Seltenheiten;  indessen  ist 
im  Niltal  die  Feuchtigkeit  der  Luft  wegen  der  Verdunstung 
des  Nilwassers  und  der  bewässerten  Gewächse  größer,  als 
in  der  Sahara,  im  südlichen  Ägypten  ist  die  Atmosphäre 
außerordentlich  trocken.     Die  größte  Hitze  im  Delta  ist  30^ 


—     46     — 

in  Kairo  gegen  43  ^  der  tiefste  Stand  im  Delta  gewöhnlich 
+  2  '\  in  Kairo  +  4  *',  die  mittlere  Jahrestemperatur  in 
Alexandrien  und  Kairo  21",  in  Theben  29".  Unter  den 
Gefrierpunkt  fällt  das  Thermometer  im  Niltal  nicht,  ganz 
ausnahmsweise  ist  im  Delta  aber  hin  und  wieder  einmal 
Schnee  gefallen.  Die  überwiegenden  Nordwinde  lindern  nicht 
nur  die  Tageshitze,  sondern  sind  auch  für  die  Flußschiffahrt 
vom  größten  Nutzen.  Der  heiße,  aus  den  Äquatorgegenden 
kommende  und  bis  zur  Küste  reichende  „50  Tage-Wind" 
Chamsin,  der  Samum  der  Nubier,  tritt  50  Tage  vor  der 
Sommersonnenwende  ein,  weht  durchschnittlich  aber  nur  1 1 
Tage  und  bringt  einen  nebelartig  feinen  Staub  mit.  Während 
des  größten  Teil  des  Jahres  ist  das  Klima  gesund,  nament- 
lich in  ganz  Ober-Ägypten  und  mehr  noch  in  der  Wüste, 
als  in  der  Nähe  des  Flusses;  Kairo  und  besonders  das  nahe 
Heluan  mit  seiner  trocknen  und  staubfreien  Luft  sind  klima- 
tische Kurorte  ersten  Ranges  für  Brustkranke. 
F'ora.  Die  Flora  Ägyptens  gehört  fünf  verschiedenen  Regionen 

an.  Ein  schmaler  Streifen  am  Delta  weist  Mittelmeer- 
flora auf  und  zeigt  im  Westen  mehr  die  auch  anderen 
Mittelmeerländern  eigenen  Arten,  im  Osten  mehr  Anklänge 
an  Syrien  und  die  Sinai-Halbinsel.  Unter  der  dürftigen  Flora 
der  Roten  Meeres-Küste  ist  am  auffallendsten  die  zu  der 
Mangroven-Formation  gehörende  Verbenacee  Avicennia  offi- 
cinalis.  Das  Niltal  mit  seiner  überwiegenden  Ackerflora 
besitzt  nur  wenige,  ihm  eigentümliche  Arten;  besonders  cha- 
rakteristisch sind  der  dornige  Suntbaum  (Acacia  nilotica), 
dessen  Holz  namentlich  im  Schiffbau  Verwendung  findet,  die 
breitkronige  Sykomore,  zwei  Arten  Tamarisken,  Zizyphus, 
die  Dattelpalme  und  von  Oberägypten  an  auch  die  Dum- 
Palme.  Die  früher  für  Ägypten  so  charakteristischen  Pa- 
pyrus-Stauden sind  heute  nur  noch  im  Niltal  oberhalb 
Chartums  anzutreffen,    und    die  Lotospflanze   ist  überhaupt 


d 


—     47     — 

aus  Afrika  verschwunden.  Die  erst  von  Mohammed  Ah'  aus 
Ostindien  eingeführte  Lebbach-Akazie  lAlbizzia  Lebbek),  ein 
Baum  von  großer  Lebenskraft  und  wichtig  durch  sein  Nutz- 
holz, ist  in  Ägypten  vielfach  bei  Alleen  verwandt  und  hat 
zusammen  mit  verschiedenen  anderen,  meist  aus  Indien  ein- 
geführten Bäumen  das  ägyptische  Landschaftsbild  an  vielen 
Orten  wesentlich  geändert.  Ganz  unvermittelt  steht  der  Nil- 
talflora die  Wüstenflora  gegenüber,  die  in  der  Libyschen 
Wüste  weit  artenärmer,  als  in  der  arabisch-ägyptischen  ist, 
während  die  Oasen,  deren  charakteristischer  Baum  die 
Dattelpalme  bildet,  in  der  wildwachsenden  Flora  teils  Pflanzen 
der  Wüstenränder,  wie  Koloquinten  und  Zwergmimosen,  teils 
Einwanderer  aus  dem  Mittelmeergebiet  umfassen. 

Unter  den  Nutzpflanzen  stehen  obenan  Weizen,  Gerste, 
Durra,  Mais  und  Reis,  als  Futterpflanze  der  ägyptische  Klee, 
ferner  Baumwolle,  Zuckerrohr  und  Indigo;  Olive  und  Weinstock 
sind  nur  spärlich  vertreten,  zahlreich  dagegen  sind  Obstbäume, 
und  die  Dattelkultur  ist  uralt.    Ricinus  dient  zur  Ölgewinnung. 

Die  Tierwelt  umfaßt  Mittelmeer-  und  äthiopische  Ele-  Fauna, 
mente  und  ist  an  Säugetieren  ziemlich  arm.  Vertreten  sind 
Hyäne,  Schakal,  Wolf,  Fuchs,  Luchs,  Wildschwein,  Wildkatzen, 
Stinktier,  Hase,  Ichneumon,  Klippdachs,  Igel,  Springmäuse 
und  Fledermäuse,  in  der  Wüste  Gazelle  und  Steinbock,  hin 
und  wieder  auch  das  Mähnenschaf;  das  Nilpferd,  welches 
früher  bis  zum  Delta  herunterkam,  ist  jetzt  erst  von  Don- 
gola  aufwärts  anzutreffen,  und  auch  das  früher  in  Unter- 
Ägypten häufige  Nilkrokodil  gelangt  heute  kaum  noch  bis 
Theben.  Ebenso  hat  sich  der  in  alter  Zeit  so  zahlreich  ver- 
tretene und  wegen  seiner  Heiligkeit  geschonte  Ibis  nach  dem 
Süden  zurückgezogen.  Zahlreich  sind  Raub-  und  allerlei 
Wasservögel,  ebenso  Schlangen,  Skorpione,  Heuschrecken, 
Fliegen  und  Moskitos  und  bei  den  Eingeborenen  Schma- 
rotzerwürmer.    Der  Nil  ist  sehr  fischreich,  teilweise  an  eigen- 


-     48     — 

artig  häßlichen  Sorten,  und  auch  die  Fischerei  des  Mensaieh- 
Sees  ist  sehr  ergiebig. 

Als  Haustiere  dienen  Kamele,  Büffel,  Rinder,  Pferde, 
Maultiere,  Esel,  Schafe,  Ziegen,  Hühner  und  Tauben. 
Bodenschätze.  /s^p  Metallen  ist  Ägypten  nicht  reich,  und  manche  von 

den  Alten  ausgebeutete  Gruben  scheinen  erschöpft  zu  sein; 
es  handelte  sich  dabei  um  Gold,  Kupfer  und  Blei.  Nach 
Kohlen  hat  man  bislang  vergeblich  geforscht,  dagegen  sind 
Schwefel,  Erdöl,  Natron,  Kochsalz  und  verschiedene  Edel- 
steine vertreten,  Granit,  Porphyr,  Sandstein  und  Alabaster 
werden  in  nennenswerten  Mengen  ausgebeutet  und  der  pla- 
stische Ton  liefert  das  Material  zu  den  berühmten  porösen 
Wasserflaschen,  zu  Pfeifenköpfen  usw. 

Bevölkerung.  Die  Bevöl^e rungs zah  1  Ägyptens  hat  außerordentlich 

geschwankt;  nach  priesterlichen  Angaben  zählte  das  Land 
unter  den  Pharaonen  in  etwa  18  000  Städten  gegen  sieben 
Millionen  Einwohner  und  zur  Zeit  seines  größten  Umfangs 
gegen  17^2  Millionen;  im  Jahre  1800  aber  war  die  Zahl  auf 
2^  2  Millionen  gesunken  und  hat  sich  erst  seitdem  wieder 
ständig  gehoben,  sodaß  die  letzte  Zählung  von  1897  im 
ganzen  9740000  Köpfe  ergab.  Davon  waren  rund  9  Mil- 
lionen ansässige  Eingeborene,  600000  Beduinen  und  112000 
Fremde;  auf  Nubien  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Ka- 
tarakt kamen  dabei  nur  240000  Einwohner.  Die  wiederholte 
Fremdherrschaft  und  die  zahlreiche  Einwanderung  altsemi- 
tischer, hamitischer,  griechischer,  römischer,  arabischer  und 
türkischer  Elemente  haben  hier  ein  ziemliches  Völkergemisch 
entstehen  lassen,  das  aber  noch  immer  das  konservativste 
Kulturelement  der  Völkergruppe  am  Mittelmeere  bildet.  Fast 
reine  Abkömmlinge  der  alten  Ägypter  sind  die  630000  Kop- 
ten, welche  vornehmlich  in  den  Städten  des  mittleren  Ägyp- 
tens sitzen   und  bis  auf  25000  katholische  oder  protestan- 


—     49     — 

tische  Christen  ihren  ahen  Glauben  behahen  haben.  Auch 
die  rotbraunen  Bewohner  des  flachen  Landes,  die  moham- 
medanischen Fellachen,  d.  h.  „Pflüger",  oder  Bauern, 
welche  den  Hauptteil  der  Bevölkerung  bilden,  weisen  trotz 
ihrer  vielfachen  Vermischung  mit  Einwanderern  und  Er- 
oberern noch  heute  den  altägyptischen  Typus  auf,  und  ob- 
gleich sie  eine  arme  und  unter  der  Last  von  Arbeit  und  Ab- 
gaben fast  erliegende  Menschenklasse  sind,  ist  ihre  Rasse 
doch  eine  ser.r  kräftige;  ebenso  beschaffen,  aber  in  etwas 
besserer  Lage  ist  die  Bevölkerung  der  kleinen  Städte,  die 
Gewerbe  und  Kleinhandel  treibt  und  öfters  zur  Wohlhaben- 
heit gelangt,  während  in  den  größeren  Städten,  besonders  in 
Kairo,  das  arabische  Element  eine  ausschlaggebende  Stel- 
lung einnimmt.  Am  reinsten  sind  die  Araber  bei  den  Wüsten- 
stämmen vertreten,  die  in  75,  oft  untereinander  in  Streit 
verwickelten,  aber  der  ägyptischen  Regierung  jetzt  unter- 
worfenen Stämmen,  über  das  Land  verstreut,  mit  ihren  Her- 
den von  Kamelen,  Schafen  und  Ziegen  nomadisierend  herum- 
ziehen und  teilweise  noch  ganz  wie  ihre  Vorfahren  vor  vielen 
Jahrhunderten  leben.  Nur  die  7000  Bewohner  der  Oase 
Siwah  sind  reine  Berber.  Die  früheren  Beduinen  des  Ray  um 
sind  jetzt  ansässig  geworden  und  treiben  Ackerbau  und  V^ieh- 
zucht;  diejenigen  der  Sinai-Halbinsel  und  die  zwischen  dem 
Nil  und  dem  Roten  Meere  lebenden  Bescharin  und  Ababdeh 
besorgen  die  Warentransporte  der  Wüste.  Die  180000  Nu- 
bier  oder  Barabra  stehen  im  Rufe  besonderer  Ehrlichkeit 
und  sind  deshalb  in  den  größeren  Städten  zahlreich  als 
Diener  und  Kutscher  angestellt  zu  finden.  Sudan-Neger, 
nominell  Moslims,  wurden  1897  140000  gezählt,  Zigeuner 
30000.  Von  den  10  000  Armeniern,  die  als  begabt  und 
ehrlich  gelten,  stehen  viele  im  Dienste  der  Regierung,  wäh- 
rend die  nur  in  den  Städten  lebenden  30000  Levantiner, 
Nachkömmlinge     eingewanderter    syrischer    Christen,    zwar 

Schanz,  Ägypten.  4 


—     50     — 

sprach-  und  handelsgewandt,  vielfach  aber  sehr  zweifelhafte 
Charaktere  sind.  Die  25  000,  meist  in  Kairo  und  Alexandrien 
wohnenden  Juden  verschwinden  fast  in  der  Bevölkerung, 
sind  sehr  gehaßt  und  können  selbst  im  Handel  nicht  gegen 
die  ihnen  überlegene  Konkurrenz  der  Griechen  aufkommen. 
Die  durch  ihre  soziale  Stellung  hervorragenden  Türken 
hatten  früher  alle  höheren  Stellungen  im  Staatsdienst  und 
Heere  inne  und  sind  teilweise  auch  Kaufleute,  in  grö- 
ßerer Zahl  aber  nur  in  Alexandrien  und  Kairo  anzutreffen. 
Der  früher  blühende  Sklavenhandel  ist,  seitdem  er 
unter  scharfe  Kontrolle  genommen  und  unter  schwere  Stra- 
fen gestellt  worden  ist,  sehr  stark  zurückgegangen  und 
in  den  letzten  Jahren  fast  ganz   verschwunden. 

Fremde.  y^^  ^^^  112  000  Fremden  lebten  46000  in  Alexandrien, 

35  000  in  Kairo  und  16  000  in  Port  Said  und  am  Suezkanal 
und  zwar  stehen  dieselben  teilweise  im  Dienste  der  Regierung, 
meist  aber  treiben  sie  Handel.  .Am  zahlreichsten,  mit  38000, 
waren  die  Griechen  vertreten,  welche  vielfach  Krämer  und 
Inhaber  von  Cafes  und  Restaurants  sind;  es  folgten  die 
Italiener  mit  24  000,  1901  von  der  italienischen  Regierung 
mit  38000  angegeben,  Engländer  und  britische  Untertanen 
aus  Malta  und  Indien,  einschließlich  4500  Mann  Besatzungs- 
truppen, mit  20  000,  Franzosen  14  000,  Österreicher  und 
Ungarn  7000,  ferner  1400  Russen,  1300  Perser,  1280  Deutsche, 
765  Spanier,  470  Schweizer,  300  Nordamerikaner,  265  Bel- 
gier und  250  Holländer.  Das  deutsche  Reich  unterhält  in 
Kairo  ein  Generalkonsulat,  Konsulate  in  Alexandrien,  Port 
Said  und  Suez  und  Konsularagenturen  in  Tantah,  Sagasig, 
Mansurah,  Siut,  Keneh  und  Luxor. 

Sprache.  [)je  vorherrschende  Landessprache    ist   ein    Dialekt 

des  Arabischen,  während  die  altägyptische  koptische 
Sprache  ungefähr  im  ersten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts  in 
Ägypten  ausgestorben  ist.     Die  Regierung  verkehrt  mit  ihren 


i 


—     51     — 

Untertanen  in  arabischer,  mit  den  Fremden  in  französischer 
und  engh'scher,  mit  der  Pforte  in  türkischer  Sprache,  welch' 
letztere  im  übrigen  hier  ganz  unbekannt  geworden  ist.  Der 
Vielsprachigkeit  entsprechend,  gibt  es  im  Kabinett  des 
Chediven  je  ein  arabisches  und  türkisches  Bureau,  neben 
einem  französischen  und  englischen  Sekretariat.  War  frü- 
her unter  den  europäischen  Sprachen  das  Französische 
am  meisten  verbreitet,  so  macht  jetzt  das  Englische  schnelle 
Fortschritte,  da  die  Ägypter  wohl  einsehen,  daß  ein  frei- 
williges Aufgeben  ihres  Landes  seitens  Englands  nie  erfolgen 
wird. 

Der  Religion  nach  zählte  Ägypten  im  Jahre  1897  rund  Re''g'on- 
9  Millionen  Mohammedaner,  fast  ausschließlich  orthodoxe 
Sunniten,  und  730000  Christen,  nämlich  608000  der  jako- 
bitisch-koptischen  Kirche,  56000  Römisch-Katholische,  53000 
Griechisch-Katholische  und  12000  Protestanten.  Das  Christen- 
tum wurde  in  Ägypten  schon  im  1.  Jahrhundert  eingeführt, 
von  den  zahlreichen  Klöstern  aus  alter  Zeit  sind  heute  aber 
nur  die  vier  an  den  Naironseen  und  drei  weitere  zwischen 
Nil  und  Rotem  Meere  erhalten.  Die  katholische  Mission 
setzte  schon  unter  Franz  1.  von  Frankreich  durch  den  Orden 
der  Brüder  vom  heiligen  Lande  ein,  und  laut  Vertrag  vom 
Jahre  1740  zwischen  Ludwig  XV.  und  Sultan  Mahmud  wurde 
der  französische  Vertreter  in  Kairo  an  allen  katholischen 
Kirchen  Ägyptens  —  als  Teil  des  ottomanischen  Reichs  — 
als  Repräsentant  des  heiligen  Stuhls  angesehen  und  Schutz- 
herr aller  Katholiken  ohne  Unterschied  der  Abstammung, 
an  den  sie  sich  bei  etwaigen  Konflikten  mit  den  ägyptischen 
Behörden  zu  wenden  hatten.  Obgleich  dieses  Protektorat 
dem  Buchstaben  nach  noch  heute  besteht,  wird  es  von  meh- 
reren Mächten,  insbesondere  von  England  nach  dessen  Ok- 
kupation Ägyptens,  aber  auch  von  Deutschland,  nicht  mehr 

4* 


—     52     — 

anerkannt.  Die  Römisch-katholische  Kirche  besitzt  einen 
Erzbischof  in  Alexandrien,  ebenso  die  Armenier,  während  die 
Griechisch-Orthodoxen  einen  Patriarchen  in  Alexandrien,  die 
Kopten  aber  einen  solchen  in  Kairo  haben,  und  zwar  ernennt 
das  ägyptische  Haupt  der  Kopten  auch  den  Abuna,  den 
höchsten  geistigen  Würdenträger  Abessiniens.  Eine  deutsch- 
evangelische Gemeinde  besteht  in  Alexandrien  seit  1857,  und 
dieselbe  besitzt  seit  1866  auch  ihre  eigene  Kirche;  Kairo  weist 
ebenfalls  eine  deutsche  protestantische  und  eine  deutsche 
katholische  Kirche  auf.  Die  katholische  Mission  ist 
durch  verschiedene  Gesellschaften  vertreten,  welche  auch 
französischen  Schulunterricht  erteilen,  ebenso  unterhalten 
zwei  englische  und  eine  amerikanische,  protestantische 
Missionsgesellschaft  eine  Reihe  von  Schulen,  während 
die  Kaiserswerther  Diakonissenanstalt  seit  1856  in  Alexan- 
drien und  seit  1880  in  Kairo  Hospitäler  für  alle  Konfessionen 
unterhält. 
Unterricht.  Die  Schulbildung  steht  auch   heute  noch   auf  einer 

sehr  niedrigen  Stufe.  Die  eigentlichen  Schulen  sind  teils 
Privatunternehmen  einzelner  Lehrer,  ganz  überwiegend  aber 
religiöse  Anstalten,  Anhängsel  von  Moscheen,  und  zwar  wird 
in  diesen,  nur  von  Knaben  besuchten  Elementarschulen  nur 
notdürftig  Lesen  und  Schreiben,  zuweilen  etwas  Rechnen  ge- 
lehrt und  der  Koran  auswendig  gelernt.  Anfang  1895  be- 
standen in  ganz  Ägypten  8913  Schulen  mit  196  000  Zög- 
lingen, und  im  Jahre  1897  konnten  von  1000  eingeborenen 
Personen  männlichen  Geschlechts  912  und  von  1000  Per- 
sonen weiblichen  Geschlechts  993  weder  lesen  noch  schrei- 
ben, während  sich  das  Verhältnis  bei  den  in  Ägypten  leben- 
den Fremden  auf  125  bezw.  222  "  uu  stellte.  Zwar  hatte 
schon  Mohammed  Ali  den  Versuch  gemacht,  höhere  Lehr- 
anstalten nach  europäischem  Muster  zu  gründen,  aber  erst 
Ismael  rief  1868  eine  Reihe  von  Regierungsschulen   für  Ele- 


—     53     — 

mentar-,  höheren  und  Fach-Unterricht  ins  Leben,  in  denen 
Unterricht  und  Lebensunterhalt  unentgelth"ch  gewährt  wurden. 
Im  Jahre  1901  bestanden  an  Regierungsschulen  neun  höhere 
und  40  gewöhnliche  Schulen  mit  zusammen  760  Lehrern  und 
11930  Schülern,  dazu  standen  unter  Regierungskontrolle  87 
von  Wakuf-Geldern  unterhaltene  Dorfschulen  mit  39  000  Kin- 
dern ,  denen  mohammedanischer  Religionsunterricht  erteilt 
wird,  während  das  Lehren  fremder  Sprachen  in  diesen  Dorf- 
schulen verboten  ist.  in  den  Regierungsschulen  aber  steht 
den  Zöglingen  die  Wahl  zwischen  Englisch  und  Französisch 
frei,  und  während  von  100  Schülern  1889  noch  74  Franzö- 
sisch und  26  Englisch  trieben,  entschieden  sich  1898  bereits 
67  für  Englisch  und  nur  33  für  Französisch.  Hauptsitz  der 
mohammedanischen  Gelehrsamkeit  und  allerdings  gleichzeitig 
auch  des  mohammedanischen  Fanatismus  ist  die  berühmte, 
sofort  nach  Eroberung  des  Landes  angelegte  Universität  El 
Ahsar  in  Kairo,  die  bedeutendste  des  Orients  überhaupt,  die 
während  ihrer  größten  Blüte  20  000,  jetzt  etwas  über  7000 
Schüler  und  200  Lehrer  zählt,  auch  von  Persern  und  Bo- 
charen  besucht  wird  und  fast  nur  Religions-  und  Gesetzes- 
lehre pflegt.  An  modernen,  von  der  Regierung  begründeten 
Instituten  bestehen  Schulen  für  Rechtswissenschaft,  Medizin, 
Ackerbau,  Technik,  Militärwesen  und  drei  Lehrerseminare, 
bislang  ist  aber  das  Angebot  der  mit  der  nötigen  Vorbildung 
ausgerüsteten  Ägypter  für  den  Zivildienst  kleiner  als  der  Be- 
darf, und  die  englische  Regierung  legt  begreiflicherweise  auch 
gar  keinen  Wert  auf  eine  Überproduktion  halbgebildeter 
Ägypter,  sondern  möchte  mehr  den  Handwerksunterricht 
fördern.  Außer  der  schon  seit  1889  in  Bulak  bestehenden 
technischen  Schule  und  einer  solchen  in  Mansurah  sind 
neuerdings  auch  Musterwerkstätten  in  Kairo  eingerichtet 
worden.  Im  Jahre  1903  gab  die  Regierung  rund  200000 
Pfund  für   Unterrichtszwecke  aus.     Weiterblickende  Ägypter 


Presse 


—     54     — 

betrachten  die  Organisation  der  \'olkserziehung  als  die  wich- 
tigste Aufgabe  der  Gegenwart  überhaupt  und  erstreben,  wenn 
sich  die  Regierung  der  Sache  nicht  mehr  als  bislang  an- 
nehmen will,  einen  Ausbau  des  Privatschulwesens. 

Die  Kopten.  Israeliten  und  Fremden  haben  ihre  eigenen 
Schulen.  Neben  den  reich  ausgestatteten  Jesuitenkollegs, 
früher  den  einzigen  Schulen  für  Europäer  und  Ägypter,  die 
ihren  Kindern  einen  höheren  Unterricht  zuteil  werden  lassen 
konnten,  und  in  denen  die  französische  Sprache  vorherrscht, 
ist  seit  1902  endlich  auch  ein  britisches  Institut,  das  Victoria 
College  getreten.  Die  Deutschen  besitzen  in  Alexandrien 
neben  einem  Privatg\mnasium  und  einer  Handelsschule  eine 
von  der  Reichsregierung,  dem  Allgemeinen  Deutschen  Schul- 
verein und  dem  Gustav  Adolf-Verein  unterstützte,  konfessions- 
lose „Deutsche  Schule"  und  eine  Mittelschule  in  \'erbindung  mit 
der  evangelischen  Kirche  in  Kairo;  die  Italiener  neben  einer 
Anzahl  andrer  Schulen  das  Collegio  italiano  in  Kairo  und  die 
Griechen  ein  Lyceum  in  Alexandrien. 

Die  ..Deutsche  Schule"  in  .Alexandrien,  1865  von  der 
Chrischona-.Mission  gegründet  und  nach  verschiedenen  Wand- 
lungen seit  1S84  eine  konfessionslose,  besitzt  seit  1895  ein 
eigenes  prächtiges  Schulhaus  und  zählte  1901  96  Knaben  und 
Mädchen,  darunter  allerdings  nur  38  Reichsdeutsche;  außer 
dem  Direktor  waren  an  der  Anstalt  drei  ordentliche  und  ein 
Hülfslehrer  tätig,  dazu  je  ein  Hülfslehrer  für  .Arabisch  und 
Französisch  und  eine  Handarbeitslehrerin. 

Um  geeignete  englische  Beamte  für  den  ägyptischen  und 
sudanesischen  \'erwaltungsdienst  heranzuziehen,  hat  man  jüngst 
beschlossen,  kompetente  Scheichs  an  den  Universitäten  von 
Cambridge  und  Oxford  als  Lehrer  des  .Arabischen  anzustellen. 

Die  ägyptische  Presse  zählt  etwa  30  Zeitungen,  welche 
teils  täglich,  teils  halbwöchentlich  und  wöchentlich  in  ara- 
bischer,   französischer,    italienischer,    griechischer   und  eng- 


o:) 


lischer  Sprache  erscheinen.  Die  „Egx'ptian  Gazette"  vertritt 
besonders  die  engh"schen  Interessen,  dagegen  sind  die  fran- 
zösischen Blätter,  mit  Ausnahme  des  Regierungsorgans 
„Journal  officiel"  und  die  meisten  arabischen  Zeitungen  im 
allgemeinen  Gegner  der  englischen  Regierung  und  bekämpfen 
jede  Maßregel,  die  dahin  zielt,  das  Land  in  eine  britische 
Dependenz  zu  verwandeln.  England  hat  den  zuweilen  sehr 
heftigen  Äußerungen  dieser  Presse  gegenüber  anerkennens- 
werte Geduld  bewiesen  und  vielleicht  gerade  dadurch  erreicht, 
daß  diese  Preßfehde  in  der  letzten  Zeit  wesentlich  milder 
geworden  ist. 

W^as  die  Verwaltungsform  des  Landes  anbetrifft,  so  venvaitung. 
ist  dasselbe,  da  die  englische  Okkupation  völkerrechtlich 
noch  nicht  anerkannt  ist,  nominell  ein  Tributärstaat  der  hohen 
Pforte,  unter  absoluter,  erblicher  Herrschaft  nach  dem  Rechte 
der  Erstgeburt  eines  Fürsten,  der  seit  1867  den  Titel  Che- 
dive  und  Hoheit  führt  und  sich  „Chedive  von  Ägypten,  Sou- 
verain  von  Nubien,  des  Sudans,  Kordofans  und  Dar  Fürs" 
nennt,  der  tatsächlich  aber  kaum  noch  eine  Scheingewalt 
besitzt,  da  die  Verwaltung  durchaus  von  den  Engländern 
kontrolliert  wird,  das  ägyptische  Heer  unter  einem  englischen 
General  steht  und  die  Staatsschuldenverwaltung  von  einer 
europäischen  Kommission  besorgt  wird.  Der  an  die 
Pforte  zu  zahlende  und  1890  für  60  Jahre  garantierte  Tribut 
beträgt  jährlich  750000  türkische  Pfund.  Die  Pforte  ist  in 
Ägypten  durch  einen  Oberkommissar  vertreten. 

Das  schon  von  Mohammed  Ali  nach  europäischem 
Muster  geschaffene  Ministerium  weist  sechs  Departements 
auf,  nämlich  solche  für  Justiz,  Finanzen,  Inneres,  .Auswärtiges, 
Krieg  und  Marine,  und  öffentliche  Arbeiten  und  Unterricht, 
und  zwar  stehen  an  der  Spitze  überall  Ägypter,  dieselben 
sind  aber  willenlose  oder  unfähige  Werkzeuge   in   der  Hand 


—     56     — 

der  Engländer,  welche  als  „Beiräte"  und  „Generaldirektoren" 
den  Ausschlag  geben  und  auch  den  Sitzungen  des  Minister- 
rats mit  Stimmrecht  beiwohnen.  Der  tatsächliche  Beherr- 
scher des  Landes  ist  Lord  Cromer,  die  Departementsleitung 
liegt  in  den  Händen  der  englischen  Staatsuntersekretäre,  und 
alle  höheren  Beamtenstellen,  besonders  bei  den  öffentlichen 
Arbeiten,  im  Finanz-,  Zoll-,  Saiiitäts-,  Eisenbahn-  und  Tele- 
graphenwesen, sind  mit  gut  bezahlten  Engländern  besetzt. 

Sitz  der  Zentralbehörden,  sowie  die  gewöhnliche,  nur 
periodisch  mit  Alexandrien  wechselnde  Residenz  des  Chediven 
ist  Kairo. 

Das  Organisationsgesetz  vom  1.  Mai  1883  hat  auch 
einen  gesetzgebenden  Rat  (conseil  legislatif),  eine  National- 
versammlung (assemblee  generale)  und  Provinzräte  eingeführt. 
Der  gesetzgebende  Rat  besteht  aus  30  Mitgliedern,  von 
denen  die  Regierung  14  ernennt  und  versammelt  sich  jeden 
Monat  in  Kairo,  um  über  das  Budget  und  über  Verwaltungs- 
maßregeln zu  beraten.  Doch  dürfen  Anträge  aus  seiner 
Mitte  nicht  gestellt  werden,  und  auch  an  seine  Beschlüsse  ist 
der  Chedive,  d.  h.  England,  nicht  gebunden.  Die  in  Kairo 
wohnenden  Mitglieder  erhalten  jährlich  1800  Mark,  die  in  der 
Provinz  wohnenden  5000  Mark  und  Reisekosten.  Die  Na- 
tional versamm  lung  besteht  aus  den  sechs  Ministern,  den 
Mitgliedern  des  Generalrats  und  46  gewählten  Notabein;  über 
Gesetzesvorlagen  hat  diese  Körperschaft  keine  Stimme,  da- 
gegen darf  keine  Auflage  ohne  ihre  Zustimmung  erhoben 
werden.  Sie  versammelt  sich  alle  zwei  Jahre  für  acht  Tage 
in  Kairo,  und  während  dieser  Zeit  erhalten  die  Mitglieder, 
außer  den  Reisekosten,  20  Mark  Tagegelder.  Die  Provinz- 
räte endlich  gehen  aus  allgemeinen  Wahlen  hervor,  treten 
jährlich  mindestens  einmal  zusammen  und  haben  nur  eine 
beratende  Stimme.  Überhaupt  schränken  diese  konstitutio- 
nellen Formen  die  absolute  Gewalt  des  Chediven  bezw.  der 


—     57     — 

englischen  Regierung  nur  sehr  wenig  ein  und  sind  nur  da, 
um  meist  nicht  beachtet  zu  werden. 

Allerdings  macht  sich  neuerdings,  angeblich  auf  An- 
regung des  Chediven  selbst,  unter  den  Ägyptern  eine  Bewe- 
gung geltend,  welche  eine  Erweiterung  der  Befugnisse  des 
conseil  legislatif  anstrebt;  aber  die  gemäßigten  Mohamme- 
daner wissen  recht  wohl,  daß  das  Volk  für  ein  konstitutio- 
nelles Regiment  noch  lange  nicht  reif  ist,  und  sicher  ist.  daß 
England  ein  ägyptisches  Regiment  nicht  dulden  würde. 

Für  die  innere  Verwaltung  wird  das  Land  in  7  selbst- 
ständige Governorate  oder  Mohafizate  und  14  Provinzen 
oder  Mudiriehs  eingeteilt  und  zwar  entfallen  davon  auf  Unter- 
ägypten und  angrenzende  Distrikte  die  Governorate  Kairo, 
Alexandrien,  Damiette,  Rosette,  Port  Said  mif  dem  Kanal 
und  Suez,  und  El  Arisch,  und  sechs  Mudiriehs,  im  ganzen 
5  700000  Einwohner  zählend;  auf  Oberägypten  aber  mit  im 
ganzen  4  Millionen  Einwohnern  8  Muduriehs  und  das  Go- 
vernorat  Kosser.  An  der  Spitze  jeder  Provinz  steht  ein 
Mudir  und  ihm  zur  Seite  ein  Diwan  oder  Ratskollegium,  be- 
stehend aus  seinem  Stellvertreter  oder  Wakil,  dem  Kadi,  der 
die  oberste  richterliche  und  geistliche  Gewalt  der  Provinz 
repräsentiert,  dem  Saraf  oder  Rendant,  einem  Chefingenieur, 
einem  Obermedizinalrat  und  einem  Polizeichef.  Der  unter 
scharfer  Kontrolle  des  Generalinspektors  stehende  Mudir  ver- 
waltet die  Provinz  in  finanzieller  und  politischer  Beziehung 
und  hat  besonders  für  Eintreibung  der  Steuern  zu  sorgen, 
besitzt  heute  aber  keine  Gerichtsbarkeit  mehr.  Unter  ihm 
stehen  die  Kreisverwalter  Kaschif  und  die  Kantonverwal- 
ter Nasir  el  Kism,  von  denen  die  Dorfschulzen  Scheich 
el  Beled  und  die  Vorsteher  der  Stadtviertel  Scheich  el 
Tume  abhängig  sind.  Die  Unterbeamten  sind  vielfach  Kop- 
ten. Die  einzige  Stadt,  welche  bislang  und  zwar  seit  1890, 
durch  internationale  Übereinkunft,   eine  Munizipalverwaltung 


-     58     — 

besitzt,  istAlexandrien,  während  daneben  nur  noch  24  Städte 
Lokalkommissionen  eingerichtet  haben,  welche  besonders  für 
Wasserbeschaffung,  das  Feuer-Löschwesen   und  die  Straßen- 
pflasterung sorgen. 
Justiz.  Was  die  Rechtspflege  anbetrifft,  so  bildet  der  Koran 

deren  Grundlage  und  die  dem  Gelehrtenstand  der  Ulemas 
angehörigen  Muftis  und  Kadis  sind  die  islamitischen  Rechts- 
erklärer und  Richter;  unter  Said  Pascha  erschien  ein  Gesetzbuch 
El  Kanun,  eine  wunderliche  Verschmelzung  von  religiösem  und 
weltlichem  Rechtswesen  und  später  wurden  auch  Richterkollegien 
moderner  Fassung  eingesetzt.  Da  der  Koran  Verbrechen  gegen 
Ungläubige  für  straflos  und  deren  Zeugnis  für  ungültig  erklärt, 
so  trafen  die  christlichen  Mächte  schon  im  Mittelalter  Kapi- 
tulationen mit  Ägypten,  wonach  Abendländer  dort  von  ihren 
Konsuln  gerichtet  werden;  diese  Konsulargerichtsbarkeit  war 
in  Ägypten  sogar  auf  Klagen  der  Einheimischen  gegen  An- 
gehörige fremder  Nationen  ausgedehnt  worden,  aber  nach 
Abschluß  von  neuen  Verträgen  mit  17  Staaten,  denen  die 
Konsulargerichtsbarkeit  zustand,  wurden  1875  internationale 
gemischte  Gerichtshöfe  eingesetzt  und  seitdem  bestehen  neben- 
einander vier  getrennte  Jurisdiktionen. 

Die  internationalen  gemischten  Gerichtshöfe 
in  Kairo,  Alexandrien  und  Mansurah  treten  in  Kraft,  wenn 
es  sich  um  Streitigkeiten  zwischen  Europäern  verschiedener 
Nationalität  oder  zwischen  Europäern  und  Eingeborenen 
handelt,  und  zwar  unterstehen  ihrer  Kompetenz  Zivil-  und 
Handelssachen,  während  ihnen  von  Strafsachen  nur  einige 
Übertretungen  übertragen  sind.  Die  Generalkonsulate,  Kon- 
sulate und  religiösen  Körperschaften  sind  diesen  Gerichten 
nicht  unterstellt.  Die  Gerichtshöfe  setzen  sich  aus  einhei- 
mischen und  fremden  Richtern  zusammen,  letztere  werden 
von  den  Großmächten  vorgeschlagen  und  von  dem  Chediven 
für  fünf  Jahre  als  ägyptische  Beamte  ernannt;  Präsident  jedes 


—     59     — 

Gerichtshofes  ist  ein  Eingeborener,  mehr  Einfluß  aber  hat 
der  europäische  Vizepräsident,  und  die  Zahl  der  europäischen 
Richter  überwiegt  die  der  eingeborenen  mit  32:17.  Über 
den  gemischten  Gerichtshöfen  steht  ein  gemischter  Appell- 
hof in  Alexandrien,  einer  weiteren  Kontrolle  irgend  welcher 
Art  aber  unterstehen  diese  internationalen  Gerichtshöfe  nicht; 
immerhin  muß  vor  der  Exekution  dem  Konsul  des  Verur- 
teilten Mitteilung  gemacht  werden. 

Der  Konsulargerichtsbarkeit  unterstehen  auch 
heute  noch  alle  Straf-  und  Zivilsachen  und  die  Angelegen- 
heiten des  Familien-  und  Erbrechts,  soweit  dieselben 
zwischen  Personen  derselben  fremden  Nationalität  schwe- 
ben ;  dagegen  ist  die  strafrichterliche  Zuständigkeit  der 
Konsuln  in  Ägypten  durch  Vereinbarung  der  Mächte 
1901  dahin  eingeschränkt  worden,  daß  sie  für  strafbare 
Handlungen,  deren  Tatbestand  einen  Konkurs  oder  eine 
Zahlungseinstellung  zur  Voraussetzung  hat,  außer  Übung 
gesetzt  wird,  sofern  der  Schuldner  ein  Kaufmann  oder 
eine  Handelsgesellschaft  ist,  und  der  Schuldner  oder 
einer  der  Gläubiger  der  Konsular  -  Gerichtsbarkeit  nicht 
untersteht. 

Einheimische  Tribunale  für  Zivil-  und  Strafsachen 
der  Eingeborenen  bestehen  in  acht  Städten  und  urteilen  auf 
Grund  von  besonderen,  nach  Errichtung  der  gemischten  Ge- 
richtshöfe ausgearbeiteten  Gesetzen,  welche  sich  an  den 
französischen  Code  anlehnen,  aber  daneben  auch  die 
eigenartigen  Landes-  und  religiösen  Sitten  berücksichtigen; 
über  diesen  Eingeborenen-Gerichtshöfen  steht  ein  einheimi- 
scher Appellhof  in  Kairo;  und  endlich  existiert  noch  das 
Mehkemeh,  welches  die  auf  den  Personenstand  der  Ein- 
geborenen sich  beziehenden  Fragen  nach  dem  Scheriat,  dem 
religiösen  Gesetz  des  Islams  entscheidet  und  Vormundschafts- 
sachen und  Hypothekenbücher  führt. 


—     60     — 

Auch  die  Patriarchen  der  christh'chen  Sekten  und  die 
jüdischen  Rabbiner  haben  gewisse,  von  ihnen  meist  unrecht- 
mäßig erweiterte  richterh"che  Befugnisse. 

Die  Gerichtskosten  der  einheimischen  Tribunale  sind 
so  hoch,  daß  die  Verwaltung  damit  Überschüsse  erzielt; 
trotzdem  und  trotz  der  noch  immer  vorkommenden  Auf- 
ruhrbewegungen der  eingeborenen  Bevölkerung  wird  das 
Gerichts-  und  Polizeiwesen  von  der  englischen  Regierung 
finanziell  noch  immer  sehr  stiefmütterlich  behandelt. 

Die  Polizei  wird  von  englischen  Offizieren  komman- 
diert, besteht  meist  aus  angeworbenen  Ausländern  und  Sol- 
daten der  ägyptischen  Armee  und  zählt  im  ganzen  6  200 
Mann,  die  den  vier  Divisionen  Alexandrien,  Kairo,  Unter- 
und  Oberägypten  zugeteilt  sind. 
Gesundheits-  Die  Gesundheitspflege,  früher  stark  vernachlässigt, 

pflege.  K         fe    >  * 

ist  unter  englischer  Verwaltung  sehr  gehoben  worden,  und 
man  hat  sogar  angefangen,  die  Mißstände  zu  beseitigen, 
welche  durch  Islam  und  Herkommen  seit  Jahrhunderten  ge- 
heiligt waren.  Das  Sanitätswesen  untersteht  einem  englischen 
Chef  und  acht,  meist  englischen  Delegierten,  unter  deren 
Leitung  Sümpfe  ausgetrocknet,  Wasserleitungen  und  Fried- 
höfe angelegt  und  neben  dem  großartigen  Krankenhaus  in 
Kairo  vier  große  Provinzhospitäler  errichtet  wurden,  in  Tor 
auf  der  Sinai-Halbinsel  schuf  man  eine  Station  für  Aufnahme 
und  Desinfektion  der  Mekkapilger,  eine  zweite  Quarantäne- 
station besteht  in  El  Mex  bei  Alexandrien,  und  zwar  gaben 
die  Choleraepidemie  von  1895  und  das  Auftreten  der  Pest 
in  Bombay  den  Anstoß  zu  diesen  Maßregeln,  die  auch  Eu- 
ropa gegen  die  Seuchen  des  Orients  schützen  sollen.  Um 
eine  bessere  Gesundheitskontrolle  der  Mekkapilger  zu  er- 
möglichen, zwang  man  dieselben  1903,  sich  sämtlich  der 
jährlich  von  Kairo  ausgehenden  Karawane  mit  dem  Teppich- 
Weihgeschenk  anzuschließen;  freilich  war  die  Beteiligung  in- 


—     61     — 

folge  dieser  Einschränkung  sehr  gering  und  die  Maß- 
regel mußte  schon  1904  wieder  aufgehoben  werden. 
Durch  Einführung  umfangreicher  Impfungen  dürften  auch 
die  Pocken,  eine  ständige  Plage  des  Niltals,  wesentlich 
abnehmen. 

Das  Heer  ist  schon  von  Mohammed  Ali  nach  euro- Verteidigung. 
päischem  Muster  organisiert  worden  und  rekrutiert  sich  nach 
den  Gesetzen  von  1880  und  1882  aus  der  allgemeinen  Wehr- 
pflicht, welche  jeden  Ägypter,  mit  Ausnahme  von  Geistlichen, 
Lehrern  und  Studenten,  vom  21.  Jahre  ab  zu  einem  vierjährigen 
aktiven  Dienste  im  Heere  oder  zu  sechsjährigem  aktiven 
Dienste  in  der  Marine  oder  den  Arbeiterabteilungen  ver- 
pflichtet und  sodann  noch  fünf  bezw.  vier  Jahre  Dienste  in 
der  Landwehr  (Redif)  und  fünf  bezw.  sechs  Jahre  im  Land- 
sturm vorsieht.  Ausgenommen  vom  Militärdienst  sind  die 
Bewohner  von  Kairo  und  Alexandrien,  sowie  die  Beduinen- 
stämme, welch'  letztere  indessen  im  Kriegsfalle  irreguläre 
Reiterei  zu  stellen  haben.  Der  Freikauf  vom  Militärdienst 
kostet  20  ägyptische  Pfund  und  ergibt  jährlich  etwa  60  000 
Pfund,  obgleich,  dem  Budget  entsprechend,  jährlich  nur  eine 
recht  geringe  Zahl  von  Rekruten  wirklich  eingestellt  werden. 
Die  Gesamt-Sollstärke  des  ägyptischen  Heeres  beträgt,  der 
Konvention  mit  der  Pforte  gemäß,  18  000  Mann,  und  dazu 
tritt  das  gleichfalls  von  Ägypten  bezahlte  englische  Besatzungs- 
korps, das  in  normalen  Zeiten  jetzt  drei  Bataillone  Infanterie, 
ein  Regiment  Husaren,  je  eine  Batterie  Feld-  und  Festungs- 
Artillerie  und  eine  Kompanie  Pioniere  aufweist.  Das  ge- 
samte ägyptische  Heer  steht  unter  einem  englischen  Ober- 
befehlshaber oder  Sirdar,  alle  Offiziersstellen  vom  Major 
aufwärts  sind,  mit  verschwindenden  Ausnahmen,  mit  Voll- 
blutengländern besetzt,  nachdem  nichtbritische  Offiziere  fast 
gänzlich  verdrängt  sind,  die  unteren  Offizierchargen  auch 
mit  Eingeborenen.     Ebenso  wie  die  Polizei,   sind   auch   die 


-     62     — 

1850  Mann  Küstenwache  militärisch  organisiert  und  unter 
enghschem  Kommando. 

Die  ägyptische  Flotte,  vor  dem  Krimkrieg  nicht  un- 
bedeutend, aber  bei  Sinope  zum  größten  Teile  zerstört,  ist 
heute  ziemlich  vernachlässigt  und  weist  z.  Z.  außer  der  gro- 
ßen Jacht  des  Chediven,  nur  noch  sechs  Raddampfer  und 
vier  kleine  Avisos  für  den  Küstendienst  auf,  daneben  drei 
Dampfer  und  acht  Kanonenboote  auf  dem  oberen  Nil. 

Die  Flagge  Ägyptens  ist  rot  mit  einem  weißen  Halb- 
mond und  einem  sechszackigen  weißen  Stern;  die  Handels- 
flagge grün  mit  einem  gelben  Horizontalstreifen.  Das  Wap- 
pen zeigt  einen  silbernen,  drei  silberne  Sterne  umfassenden 
Halbmond  in  einem  runden,  blauen  Schilde. 

Finanzen.  Die  Finanz  Verwaltung  Ägyptens   war   kurz  vor  der 

englischen  Okkupation  vollständig  zusammengebrochen;  zwar 
gab  man  für  das  Jahr  1868— 69  die  Einnahmen  mit  1  458  000 
Beuteln  und  die  Ausgaben  nur  mit  941  000  Beuteln  an,  aber 
die  unter  Ismail  eingerissene  Prunk-  und  Verschwendungssucht 
machte  einen  jeden  Haushaltsplan  zu  Schanden,  und  die  Kor- 
ruption war  in  allen  Beamtenkreisen,  vom  Pascha  abwärts, 
eine  selbstverständliche  Institution.  Der  Unternehmer  spickte 
die  Zivilbehörden,  der  auf  Beförderung  harrende  Untergebene 
seine  Vorgesetzten,  der  Landbebauer  die  Wasserinspektoren, 
Landmesser  und  Steuerbeamten;  Polizei  und  Richter  waren 
käuflich,  letztere  oft  für  beide  Seiten;  statt  ein  Eisenbahn- 
billet  zu  kaufen,  begnügte  man  sich  mit  einem  Trinkgeld,  und 
so  mit  Grazie  weiter  in  allen  Lebens-  und  Geschäftslagen. 
Wie  konnte  man  auch  Zuverlässigkeit  von  einem  Beamten- 
stand erwarten,  der  seiner  Stellung  nie  sicher  und  dabei  viel- 
fach schlecht  und  unpünktlich  bezahlt  war.  Nachdem  unter 
Ismail  die  mit  7 "  „  verzinste  Staatsschuld  auf  94  Millionen 
Pfund  aufgelaufen  war,  denen  wenig  genug  greifbare  Gegen- 


—     63     — 

werte  gegenüber  standen,  wurde  durch  Dekrete  des  Chediven 
vom  2.  Mai  und  18.  November  1876  in  Kairo  die  „Com- 
mission  de  la  Dette  publique  egyptienne",  gewöhnlich  kurz- 
weg die  „Caisse"  genannt,  als  einseitig  selbständige  Institu- 
tion des  ägyptischen  Staates  eingesetzt  und  dann  durch  das 
zur  Regelung  der  festen  Schuld  Ägyptens  erlassene  Liquida- 
tionsgesetz vom  17.  Juli  1880  auf  internationale  Rechtsgrund- 
lage gestellt.  Die  Mitglieder  der  Caisse,  welche  bis  zur  voll- 
ständigen Tilgung  der  festen  Schuld  Ägyptens  fortzubestehen 
hat,  werden  auf  V^orschlag  der  beteiligten  Mächte  vom  Che- 
diven ernannt  und  sind  ägyptische,  vom  ägyptischen  Staate 
bezahlte  Beamte,  können  aber  ihrer  Funktionen  nicht  ohne 
Genehmigung  ihrer  heimischen  Regierung  enthoben  werden. 
Die  Kasse  verwaltet  die  für  den  Zins-  und  Tilgungsdienst  über- 
wiesenen Einnahmen  und  übte  bislang  eine  weitgehende  all- 
gemeine Finanzkontrolle  aus.  Bis  1885  waren  nur  England, 
Frankreich,  Italien  und  Österreich  durch  Kommissare  in  der 
Caisse  vertreten;  auf  Verlangen  Deutschlands  und  Rußlands 
wurden  dann  aber  auch  Vertreter  dieser  Staaten  berufen. 

Die  internationale  Finanzkommission  hatte  zwar  in  den 
Jahren  1876—82  einiges  geleistet,  immerhin  aber  fand  Eng- 
land nach  Übernahme  der  Verwaltung  noch  ein  ziemliches 
Chaos,  allgemeine  Konfusion  und  Korruption  und  ein  mit 
Steuern  überbürdetes  Volk  vor,  und  erst  1890  konnte  der 
Staatshaushalt  wirklich  ins  Gleichgewicht  gebracht  und  seit- 
dem auch  an  ernstere  Reformen  gegangen  werden. 

Das  Programm,  von  welchem  man  sich  dabei  eng- 
lischerseits  leiten  ließ,  war  das  folgende.  Als  notwendigste 
erachtete  man  die  Finanz  reform  und  die  Entlastung  der 
Steuerzahler  durch  strikte  Sparsamkeit  und  Ehrlichkeit  in 
der  Verwaltung.  Was  dann  zu  sparen  war,  sollte  in  erster 
Linie  auf  Bewässerungs-  und  andere  produktive  Arbeiten 
verwandt  werden.    Verwaltungsreformen  jedoch,  welche 


—     64     — 

größere  Auslagen  bedingen,  stellte  man  für  später  zurück, 
wenn  man  auch  nach  Möglichkeit  im  Sanitäts-,  Justiz-  und 
Erziehungswesen  zu  bessern  getrachtet  hat. 

Blickt  man  heute  auf  diese  Programmpunkte  zurück 
und  vergleicht  damit,  was  in  geduldiger  und  zielbewußter 
Arbeit  erreicht  worden  ist,  so  kann  man  der  englischen  Ver- 
waltung Anerkennung  nicht  versagen.  Was  den  ersten  Punkt, 
Steuererleichterungen,  anbetrifft,  so  sind  darin  folgende 
Resultate  erzielt  worden.  Die  Fronarbeit,  dieses  Über- 
bleibsel der  Sklaverei,  ist  im  Jahre  1886  so  gut  wie  aufge- 
hoben worden.  Der  Suezkanal  war  großenteils  durch  Fron- 
arbeit erbaut  und  noch  1881  leisteten  281 000  Menschen 
Zwangsarbeit  bei  Bewässerungsarbeiten.  Nur  wenn  plötzliche 
Nilüberschwemmungen  eintreten,  darf  auch  heute  noch  die 
ganze  Bevölkerung  aufgerufen  werden,  doch  wird  sie  dafür 
bezahlt,  das  Budget  weist  seit  1886  jährliche  Posten  von 
265  000—400000  E.  L.  unter  dem  Titel  „Aufhebung  des 
Frondienstes"  auf,  und  die  Zahl  der  so  beschäftigten  Ar- 
beiter ist  mehr  und  mehr  gesunken,  im  Jahre  1902  auf  4900. 
Die  Grundsteuer,  diese  drückendste  aller  ägyptischen  Ab- 
gaben, ist  heute  jährlich  um  570  000  Pfund  geringer  als 
früher,  nachdem  man  sie  herabgesetzt,  gerechter  verteilt  und 
das  unfruchtbare  Land  von  der  Besteuerung  ausgeschieden 
hat.  Die  Gewerbesteuer,  welche  jährlich  180000  Pfund 
einbrachte  und  nur  die  Eingeborenen  traf,  ist  gänzlich  abge- 
schafft, ebenso  die  Schaf-  und  Ziegensteuer,  welche 
40000  Pfund  ergab.  Dadurch,  daß  1901  die  Nilschiffahrt 
frei  erklärt  wurde,  fielen  jährlich  46000  Pfund  Abgaben  weg, 
und  durch  die  1903  erfolgte  Aufhebung  des  9  ^'d  vom  Werte 
betragenden  Octrois  auch  in  Alexandrien  und  Kairo,  nach- 
dem diese  Verbrauchssteuer  bereits  früher  für  die  meisten 
anderen  Städte  abgeschafft  worden  war,  200000 Pfund,  wäh- 
rend eine  Reihe  weiterer  Steuerermäßigungen  sich  auf  81 000 


—     65     — 

Pfund  im  Jahre  belaufen.  Die  Salzsteuer  ist  um  40 "  o 
herabgesetzt  worden;  die  Haussteuer  von  12  " ,.  des  Roh- 
ertrages wird  jetzt  nicht  nur  von  türkischen  Untertanen, 
sondern  von  allen  Einwohnern  bezahlt,  und  die  Gebühren  im 
Post-  und  Telegraphenwesen  sind  gegen  früher  um  50"  u, 
auch  die  Eisenbahntarife  wesentlich  verbilligt  worden. 
Diesen  zahlreichen  Nachlässen  steht  als  einzige  Erhöhung  die 
des  Tabakzolls  von  14  auf  20  Piaster  für  das  Kilogramm 
gegenüber,  und  so  ist  es  denn,  trotz  des  jährlich  erforder- 
lichen Zuschusses  von  rund  300000  Pfund  für  den  Sudan, 
möglich  gewesen,  die  Summe  der  jährlichen  direkten  .Ab- 
gaben seit  1882  um  rund  1  600  000  Pfund  zu  reduzieren,  und 
die  Steuerlast  pro  Kopf  und  Jahr  ist  von  21  Mark  in  1882 
auf  16  Mark  in  1902  zurückgegangen,  was  allerdings  für  eine 
durchschnittlich  so  arme  Bevölkerung  wie  die  ägyptische 
noch  immer  sehr  hoch  ist.  Konnten  die  Einnahmen  1882 
nur  mit  Schwierigkeiten  auf  9  Millionen  gebracht  werden, 
so  ergeben  sie  jetzt  unter  geordneter  Verwaltung  11  — 1 1^2 
Mill.  Pfund  und  die  Steuerrückstände  sind  heute  sehr  gering. 

Was  den  zweiten  Punkt  des  Finanzprogramms,  Schaf- 
fung produktiver  Anlagen  anbetrifft,  so  hat  sich  diese 
ganz  überwiegend  auf  Bewässerungsarbeiten  erstreckt,  um 
Ägypten  unabhängiger  von  der  Nilschwelle  zu  machen  und 
man  hat  dafür  zwischen  den  Jahren  1882  und  1902  rund 
neun  Millionen  Pfund  verwandt.  Als  Resultate  dieser  Arbei- 
ten sind  zu  betrachten:  Ein  allgemeines  Steigen  der  Land- 
preise;  ein  Anwachsen  der  besteue  rten  Landfläche  von 
19  000  qkm  in  1882  auf  22  000  qkm  in  1902;  eine  Ver- 
größerung der  Baumwollernte  von  den  früheren  2^2  bis 
3  Millionen  Kantar  auf  jetzt  5-6  Millionen  im  Jahre,  wäh- 
rend derZuckere.xport  von  den  früheren  20 -25000  Tons 
1896  bis  auf  73  500  Tons  stieg  und  auch  seitdem  nicht 
wieder  unter  49000  Tons  gefallen  ist.     Die  Importe  stiegen 

Schanz,  Ägypten.  5 


—     66     — 

von  8  Millionen  im  Jahre  1883  84  auf  15  Millionen  in 
1901  und  die  Exporte  im  gleichen  Zeitraum  von  12  auf 
16  Millionen  Pfund.  Diese  wenigen  Zahlen  beweisen  zur 
Genüge,  daß  die  Ausgaben  für  Bewässerung  in  der  Tat  pro- 
duktive waren. 

Es  wird  nunmehr,  nachdem  man  zunächst  eine  sichere 
finanzielle  Basis  geschaffen  hat  und  alle  Anzeigen  auf  ein 
stetiges  Anwachsen  fast  aller  Einnahmequellen  deuten,  auch 
möglich  werden,  dem  Punkt  3  des  Programms,  den  all- 
gemeinen Verwaltungsreformen,  näher  zu  treten,  und 
zwar  gedenkt  man  zunächst  die  schlecht  bezahlte  Polizei,  die 
Justizverwaltung  und  sanitäre  Anlagen  zu  bedenken. 

Die  Jahresabschlüsse  der  Staatsverwaltung  weisen 
folgende  Zahlen  auf  für 

1890    1892    1894    1896    1898     1900     1901 
in  Einnahmen  10,23  10,36  10,30  10,69  11,34    11,66    12,16 
in  Ausgaben      9,63     9,59     9,52    10,37  10,12    11,10    11,40 
1902     1903 

12,14    12,46  Mill.  Pfund 
11,43    11,72      „ 
und  die  Überschüsse,  welche   den  Voranschlag  regelmäßig 
übertrafen,  beliefen  sich  auf  559000  Pfund  in  1900,  768000 
in  1901,  716000  in  1902  und  743000  in  1903. 

Das  mit  11060000  Pfund  aufgestellte  Budget  für  1902 
sah  folgende  Einnahmen  vor:  Direkte  Steuern  4880000  £; 
indirekte  Steuern  2  477000  £  (davon  je  1  Million  auf  Zölle 
und  Tabak);  Einnahme -Verwaltungen,  besonders  Eisenbahn, 
Post  und  Telegraph,  2630000  4';  Einnahmen  der  Verwal- 
tungsbehörden, Sportein,  Militärloskauf  usw.:  707000  £\ 
Diverse  366000  £.  Dagegen  figurierten  unter  den  Aus- 
gaben in  Tausenden  von  Pfunden:  Staatsschuldenverwaltung 
3735,  Verwaltungs-  und  Erhebungskosten  2343,  Einnahme- 
verwaltungen  1287,   Tribut  an  die  Pforte  665,   Reservefonds 


—     67     — 

619,  Heer  448,  Sudan  390,  Zivilliste  für  den  Chediven  und 
seine  Familie  255,  Aufhebung  von  Frohndienst  250,  Englische 
Okkupationsarmee  85,  Diverse  773,  Überschuß  210  Tausend 
Pfund,  der  sich  aber  tatsächlich,  wie  oben  bereits  erwähnt, 
auf  716000  £  belief. 

Ist  im  kleinen  auch  heute  noch  immerhin  viel  Bestech- 
lichkeit in  der  Verwaltung  vorhanden,  so  können  doch 
öffentliche  Gelder  nicht  mehr,  wie  früher,  einfach  verschwin- 
den, und  die  pünktliche  Bezahlung  der  Beamten  hat  zur 
Besserung  der  Verhältnisse  wesentlich  beigetragen. 

Von  den  direkten  Steuern  kommen  besonders  drei  in 
Betracht:  die  Grundsteuer  oder  Scharak,  die  Einkommen- 
steuer Werko  oder  Firdeh,  und  die  Marktsteuer   oder  Himl. 

Fast  die  Hälfte  des  gesamten  Staatseinkommens  entfällt 
auf  die  Grundsteuer,  die  bislang  sehr  ungleichmäßig  und 
ganz  willkürlich  aufgelegt  war,  den  kleinen  Landbesitzer 
schwer  drückt  und  den  Großbesitzer  häufig  gar  nicht  traf. 
Die  ^englische  Verwaltung  strebt  aber  die  Entlastung  der 
Schwachen  und  die  Belastung  leistungsfähigerer  Schultern  an, 
arbeitet  seit  1899  an  der  Anlage  eines  neuen  Katasters,  wel- 
ches allerdings  erst  1907  fertiggestellt  sein  wird,  und  hat  die 
Grundsteuer,  welche  bis  dahin  auf  alles  bebaute  Land  er- 
hoben wurde,  1899  auf  solche  Ländereien  aufgehoben,  wel- 
che so  hoch  liegen,  daß  bei  niedrigem  Nilstand  kostspielige 
Bewässerung  durch  Brunnen  nötig  wird.  Die  Höhe  der 
Grundsteuer  ist  keine  einheitliche,  sondern  nach  der  Art  der 
Ländereien  wechselnd:  Die  sogenannten  Tschifliks,  die 
früheren  Privatgüter  des  Chediven  und  jetzt  Staatsdomänen, 
bezahlen  überhaupt  keine  Grundsteuer;  die  Ibadiye -Län- 
dereien, welche  Kleinbauern  zur  Urbarmachung  mit  vollem 
Eigentumsrecht  verliehen  werden,  sind  in  den  ersten  drei 
Jahren  steuerfrei  und  bezahlen  alsdann  10  "i,  vom  Ertrag; 
die  Urudschi    oder  privilegierten  Zehntländer  des  moham- 

5* 


—     68     — 

medanischen  Bodeneigentumsgesetzes  (Scher),  welche  den 
Bodenbesitz  der  zum  Islam  übergetretenen  Bürger  unter- 
worfener Länder  umfaßten,  werden  jedes  Jahr  neu  abge- 
schätzt, nach  der  Güte  in  drei  Klassen  geteilt  und  bezahlen 
für  den  Feddan  von  44^2  Ar  in  Ober-Ägypten  8,  14  und 
20,  in  Unter-Ägypten  10,  18  und  26  Piaster;  am  höchsten 
besteuert  sind  die  alten  Tributländer  oder  Karadschi,  etwa 
zwei  Drittel  aller  Ländereien,  welche  in  Unter-Ägypten  20 
bis  125,  in  Ober-Ägypten  25  bis  70  Piaster  zahlen.  Ebenso 
drückend  wie  die  Grundsteuer  ist  die  Dattelpalmensteuer, 
die  früher  auf  jeden  tragenden  oder  nichttragenden  Baum 
jährlich  mit  2^  '2  Piaster  berechnet  wurde,  jetzt  aber  auf  den 
mit  Palmen  bestandenen  Grund  umgelegt  ist.  Der  jährliche 
Ertrag  der  Grund-  und  Dattelpalmensteuer  beträgt  etwa 
876000  Beutel. 

Die  Einkommensteuer,  welche  von  den  Handwer- 
kern, Kaufleuten  und  Bazarinhabern  zu  zahlen  ist,  schwankt 
zwischen  4  und  20  f',,,  während  die  Marktsteuer  für  alle 
auf  den  städtischen  Märkten  zum  Verkaufe  gebrachten  Landes- 
produkte durchschnittlich  P'2  ''o  beträgt. 

Die  öffentliche  Schuld  Ägyptens  wies  z.  Z.  des  Finanz- 
gesetzes vom  17.  Juli  1880,  nachdem  im  gleichen  Jahre  die 
5  °  0  Unifizierte  und  die  5  '^  „  Daira-Anleihe  auf  4  bezw.  4^/2  °/o 
konvertiert  worden  war,  auf: 
61   Millionen     4  "0     Unifizierte  Schuld  von  1876, 
17         „  5%     Privilegierte     „       von    1876,    1890  auf 

3^  2  %  konvertiert, 

91.  Millionen  4^2  "^o  Daira  Sanieh  Anleihe  von  1877,  1890 
auf  4  %  konvertiert, 

8^2  Millionen  5%    Domänen-Anleihe   von  1878,   1893  auf 
4^  4  "0  konvertiert, 

5^4  Millionen  5  %  Schwebende  Schuld 
101' 4  Millionen  Pfund. 


—     69     — 

Anfang  1904    wiesen    die    verschiedenen    Anleihen   die 
folgenden  Beträge  auf: 

i"  55  972  000  4 '\,     Unifizierte  Schuld  von  1876, 
„   31  127  000  3^  j-'o  Privilegierte    „ 
„     4  986  000  4  \,     DairaSanieh-Anleihe  von  1877, 
„     2  058  000  4' 4     Domänen-Anleihe  von  1878, 
„     8  044  000  3  ••„    Garantierte  Anleihe  von  1885,  1900  durch 
eine  Eisenbahnanleihe  vermehrt. 


102  187  000  Pfund  Sterling. 

Dazu  tritt  noch  die  Mukabalah-Schuld,  eine  innere 
Zwangsanleihe,  die  in  50  Jahresraten  von  150  000  ägyptischen 
Pfund  bis  zum  Jahre  1930  zu  tilgen  ist. 

Von  den  102  Millionen  Pfund  waren  aber  nur  93  383  000 
Pfund  in  Zirkulation  und  8  800  000  Pfund  in  den  Händen 
der  Caisse-  und  der  Finanzverwaltung.  An  angesammelten 
Reserven  waren  Anfang  1904  vorhanden: 

5  507  000  Pfund  Ersparnisse  durch  Konvertierungen, 
2  761  000       „      Allgemeine  Reserve-Fonds, 
1678  000       „      Spezielle 
9  946  000  Pfund. 

Während  der  spezielle  Reservefonds  zur  unbeschränk- 
ten Verfügung  der  ägyptischen  Regierung  steht,  durften  die 
beiden  anderen  Posten  bislang  nur  mit  Bewilligung  der  Caisse 
verwandt  werden.  Der  gelegentlich  des  englisch-französischen 
Abkommens  vom  8.  April  1904  erlassenen  Erklärung  des 
Chediven  betr.  der  Einschränkung  der  Befugnisse  der  Caisse 
traten  schon  im  Mai  1904  Rußland,  Italien  und  Österreich- 
Ungarn,  Ende  Juni  1904  auch  Deutschland  bei. 

Die  drei  erstgenannten  Anleihen,  die  unifizierte,  die 
privilegierte  und  die  garantierte  stehen  unter  der  Verwaltung 
der  Internationalen  Finanzkommission  und  zwar  ist  für 
Deckung  der  Zinsen  und  Tilgung  in  erster  Linie  der  Brutto- 


-     70     - 

ertrag  der  Grundsteuer  bestimmt.  Die  Zahlungen  für  diese 
drei  Anleihen  erfolgen  in  Gold  und  ohne  jeden  Abzug  in 
Kairo,  London,  Paris  und  Berlin,  und  laut  Dekret  von  1904 
soll  die  ägyptische  Regierung  das  Recht  haben,  von  1910  ab 
die  garantierte  und  die  privilegierte,  von  1912  ab  die  unifi- 
zierte al  pari  durch  Auslosung  zurückzuzahlen,  oder,  wenn 
das  günstiger  erscheint,  freihändig  zurückzukaufen. 

Auch  die  Domänen-Anleihe  und  die  Daira-Sanieh  be- 
sitzen eine  abgesonderte  und  fremdländischen  Kommissaren 
anvertraute  Verwaltung,  deren  Überwachung  das  Ministerium 
des  Inneren  besorgt. 

Die  aus  Verkaufserlösen  und  Verwaltungsüberschüssen 
zu  tilgende  Domänenanleihe  von  1878  war  ursprünglich 
gegen  Verpfändung  von  171400  Hektar  aufgenommen;  ein 
Teil  dieses  Besitzes  ist  im  Laufe  der  Zeit  bereits  verkauft 
worden,  die  Anfang  1904  noch  vorhandenen  63000  ha  aber 
repräsentierten  einen  Wert  von  mindestens  3^/3  Millionen 
Pfund,  sodaß  also  dem  Reste  der  Anleiheschuld  ein  sehr 
reichliches  Aktivum  gegenübersteht.  Vom  Jahre  1915  ab  ist 
die  Regierung  berechtigt,  diese  Anleihe  jederzeit  al  pari 
zurückzuzahlen. 

Die  Daira-Sanieh-Verwaltung  aber,  welche  anfänglich 
204000  ha  umfaßte,  geht  ihrer  Auflösung  entgegen  durch 
einen  Kontrakt  vom  21.  Juni  1898,  wonach  sie  sämtliche 
ihr  verpfändete,  meist  in  Oberägypten  gelegene  Güter  und 
Fabriken  an  ein  Konsortium  von  englischen,  französi- 
schen und  ägyptischen  Kapitalisten  für  6  431000  Pfund  ver- 
kaufte, doch  muß  die  jetzige  Verwaltung,  an  deren  Spitze 
ein  englischer  und  ein  französischer  Delegierter  stehen,  noch 
bis  zum  15.  Oktober  1905  verbleiben;  gegen  Abzahlung  der 
noch  ausstehenden  Schuld,  welche  von  der  Regierung  zur 
baren  Rückzahlung  für  den  15.  Oktober  1905  gekündigt  ist, 
werden  dann  die  Ländereien  an  das  Konsortium  abgetreten. 


—     71      - 

welches  den  Besitz  innerhalb  der  nächsten  7  Jahre  zu  ver- 
kaufen hat,  vorausgesetzt,  daß  mindestens  20  "^  dabei  ver- 
dient werden;  die  Hälfte  des  schh"eßlich  dabei  erzielten  Ge- 
winns fällt  der  ägyptischen  Regierung  zu.  Bis  Ende  1902 
hatte  das  Syndikat  bereits  sämtliche  zu  dem  Besitz  gehörigen 
9  Zuckerfabriken  und  75000  ha  Land  zu  rund  7^  -i  Millionen 
Pfund  verkauft,  und  es  verblieben  ihr  noch  38000  ha,  deren 
Wert  man  auf  3,7  Millionen  Pfund  schätzte.  So  ist  also 
jetzt  auch  hier  ein  sehr  betriedigender  Abschluß  in  Aussicht, 
während  bis  zum  Jahre  1890  die  Einkommen  der  Daira 
nicht  für  den  Zinsendienst  genügten  und  die  Staatskasse  all- 
jährliche Zuschüsse  dafür  leisten  mußte. 

Die  Börsennotierungen  für  ägyptische  Anleihen  betrugen 
in  der  ersten  Hälfte  1904  für  3 '^0  3^:i'^o  4 '\,  Daira.  Domänen. 

971  •>     101      106     102      107%, 

Frankreich  hat  in  Ägyptischen  Fonds  und  anderen 
Anlagen  ungefähr  57  Millionen  Pfund  in  Ägypten  investiert, 
und  es  ist  deshalb  begreiflich,  daß  sich  England  durch  das 
Kolonialabkommen  vom  8.  April  1904  vor  allem  Frankreichs 
Zustimmung  zu  den  geplanten  Erleichterungen  in  der  inter- 
nationalen Finanzkontrolle  zu  sichern  bestrebt  war. 

Eine  nicht  unbedeutende  Einnahmequelle  hätte  man  sich 
in  Ägypten  dadurch  erschließen  können,  daß  man  seine 
Zustimmung  zu  der  wiederholt  beantragten  Konzession  einer 
Spielbank  ä  la  Monaco  in  Kairo  gegeben  hätte;  aber  diese 
Anträge  sind  von  der  englischen  Regierung  auf  das  entschie- 
denste bekämpft  worden,  besonders  mit  Rücksicht  darauf, 
daß  der  Ägypter  sowieso  schon  mehr  als  gut  zum  Spiele  neigt. 

Die  Hauptquelle  der  Ernährung  des  ägyptischen  Volkes  Bodenfrage, 
bildet  der  Ackerbau  und  es  dürfte  deshalb  zunächst  ein  Blick 
auf  die  Boden  frage   am  Platze  sein.     Früher  gehörte  tat- 
sächlich alles  Land  der  Regierung,  und  ein  volles  Eigentums- 


—     72     — 

recht  des  ägyptischen  Bauern  an  seinen  Grund  und  Boden 
besteht  erst  seit  den  70  er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts. 
Die  gesamte  Kulturfläche  betrug  1882  27700  qkm,  wovon 
16100  auf  Unter-  und  11600  auf  Ober-Ägypten  entfielen; 
1897  war  die  Kulturfläche  auf  29090  qkm  angewachsen. 
Dieses  Land  gehört  teils  zu  den  Staatsdomänen,  denChediv- 
Domänen  der  Daira-Sanieh,  oder  dem  Wakuf,  der  Ver- 
waltung frommer  Stiftungen  für  Moscheen  und  Schulen;  ein 
andrer  großer  Teil  liegt  in  den  Händen  von  Gesellschaften, 
besonders  der  Sueskanal-Kompagnie  und  der  New  Egyptian 
Co.  und  von  Großgrundbesitzern;  die  um  die  Dörfer  herum- 
liegenden kleinen  Parzellen,  die  von  den  Fellachen  bewirt- 
schaftet werden,  und  der  Gemeindebesitz  umfassen  die  klei- 
nere Hälfte  des  Kulturlandes,  doch  sind  die  Fellachen  meist 
nicht  Eigentümer  des  von  ihnen  bewirtschafteten  Bodens, 
sondern  nur  Pächter  der  Regierung  gegen  eine  jährliche  Ab- 
gabe von  etwa  ^ :,  des  Bodenertrags;  sie  können  aber  durch 
Zahlung  des  sechsfachen  Betrags  der  jährlichen  Abgaben  in 
den  erblichen  Besitz  des  Landes  gelangen.  Mehr  als  die 
Hälfte  des  Grundbesitzes  also  ist  im  Besitz  des  Staates  und 
der  Großgrundbesitzer,  der  verbleibende  Rest  von  etwa  ein 
Million  Hektar  muß  für  die  gesamte  Landbevölkerung  von 
4  200000  Köpfen  genügen,  welche  durch  Steuer-  und  Hypo- 
thekenlast, trotz  wiederholter  Steuernachlässe  seitens  der  eng- 
lischen Verwaltung,  noch  immer  bedenklich  bedrückt  ist. 

Der  s.  Z.  in  Staatsdomänen  verwandelte  Grund- 
besitz des  Chediven  und  seiner  Familie,  welcher  den  euro- 
päischen Kapitalisten  für  verschiedene  Anleihen  verpfändet 
wurde,  umfaßte  fast  ein  Fünftel  alles  kulturfähigen  Landes 
überhaupt;  ein  Teil  dieses  Besitzes  ist  allmählich  verkauft 
worden;  einen  großen  Teil  verpachtete  man  an  Unternehmer, 
welche  die  Bezahlung  der  fälligen  Steuern  übernahmen  und 
das  Land  in  bescheidenen  Parzellen  an  Eingeborene  weiter  ver- 


J 


—     73     — 

pachteten;  einen  kleinen  Teil  verpachtete  die  Staatsregierung  di- 
rekt an  Eingeborene;  sodann  gibt  es  Lehen  der  Regierung, 
auf  denen  jeder  Arbeiter  1 — 3  Feddan  Land,  ein  Wohnhaus 
und  Freiheit  vom  Militärdienst  erhält;  und  ein  beträchtlicher 
Teil  endlich  liegt  aus  Mangel  an  Arbeitskräften  brach.  An- 
fang 1903  waren  noch  158  464  acres  (ä  40  Ar)  Domänen- 
land, hauptsächlich  in  Unter-Ägypten  liegend,  vorhanden  und 
die  Regierung  sucht  dieses  Land  mit  Vorliebe  an  kleine 
Bebauer  zu  verkaufen.  Die  Durchschnittsgröße  von  160  im 
Jahre  1902  verkauften  Landlosen  war  etwas  unter  30  acres, 
und  zwar  waren  die  Käufer  dafür  überwiegend  die  Bewohner 
des  betreffenden  Dorfes  selbst  oder  Nachbarn;  unter  den 
verkauften  Losen  war  nur  ein  größeres  von  1200  acres,  und 
der  Gesamtertrag  der  in  1902  verkauften  5950  acres  belief 
sich  auf  232000  Pfund.  Dagegen  war  die  Durchschnitts- 
pacht von  Domänenland  für  den  acre  von  16  Mark  in  1898 
auf  21  Mark  in  1902,  im  Fayum  nach  Ausführung  der  neuen 
Bewässerungsarbeiten  im  gleichen  Zeitraum  sogar  von  23 
auf  32  Mark  gestiegen;  die  Gesamtzahl  der  Landbevölkerung 
auf  dem  Domänenland  betrug  im  Jahre  1902:  27600  Köpfe. 
Grund  und  Boden  bei  Luxor,  noch  vor  20  Jahren  nur  120 
bis  140  Mark  für  den  Feddan  kostend,  wird  heute  mit  600  Mark 
verkauft  und  bringt  jährlich  etwa  100—120  Mark  ein. 

Die  Ländereien  des  Wakuf,  die  meist  gegen  mäßigen 
Zins  verpachtet  sind,  und  deren  Ertrag  w^ohltätigen  Stiftun- 
gen und  der  Erhaltung  von  Schulen  zugute  kommt,  sind 
über  das  ganze  Land  verstreut  und  meist  sehr  klein;  um- 
fassen diese  5900  Landlose  doch  nur  7500  acres  im  ganzen, 
und  so  ist  man  jetzt  im  Interesse  der  Vereinfachung  und 
Verbilligung  der  Verwaltung  darüber,  diesen  Besitz  mit  einem 
geschlossenen  zu  tauschen. 

Was  das  V^erhältnis  zwischen  Groß-  und  Kleingrund- 
besitz anbetrifft,  so  ist  es  unmöglich,   darüber  z.  Z.  genaue 


—     74     — 

Zahlen  zu  haben,  da  nicht  alle  Landüberschreibungen  regi- 
striert werden  und  die  im  Gange  befindliche  Neuaufnahme 
des  Katasters  nicht  vor  1907  beendet  sein  dürfte. 

im  Jahre  1901  standen  5097000  acres  im  Landregister 
und  davon  entfielen 
2  216000  acres  =  44%    auf  11952    Besitzer  von    50  acres 

und  mehr  und 
2881000  acres  =  56%   auf  955000  Besitzer  von   weniger 

als  50  acres. 

Dieses  Verhältnis  ist  seit  Jahren  stetig  geblieben  und 
stimmt  eigentlich  schlecht  zu  den  an  und  für  sich  nahelie- 
genden Behauptungen  guter  Kenner  des  Landes,  daß  Groß- 
grundbesitzer und  Wucherer  die  Armut  der  kleinen  Leute 
ausnutzen,  um  immer  mehr  Land  in  verhältnismäßig  wenigen 
Händen  zu  vereinigen,  eine  Tendenz,  die  durch  den  unglei- 
chen Wettkampf  zwischen  moderner  Maschinenkultur  und 
der  primitiven  Landbestellung  der  Fellachen  erleichtert  wird. 

im  Jahre  1901  waren  von  dem  registrierten  Land  nur 
11  %  =  554000  acres  im  Besitz  von  6126  Europäern,  und 
zwar  besaßen  davon  1484  Ländereien  von  über  50  und  4642 
Personen  solche  von  unter  50  acres. 

Die  Pacht-  und  Lohn  arten  sind  sehr  verschieden. 
Einige  Verwaltungen  geben  Barlohn  (2 — 2^  j  Piaster,  Kinder 
1 — P'2  Piaster)  und  Naturalien,  außerdem  jedem  Familien- 
haupt einen  Feddan  Boden  zum  Kleebau.  Andere  haben 
das  System  der  Teilung  des  Ertrags  eingeführt,  da  die  Fel- 
lachen im  allgemeinen  Naturalleistungen  dem  Qeldlohn  vor- 
ziehen; so  wird  für  Säen  und  Mähen  des  Korns  5  %  der 
Ernte,  für  Dreschen  1  %  der  Körner  und  des  Strohs  gewährt; 
die  in  den  Baumwoll  kulturen  beschäftigten  Arbeiter  be- 
kommen bei  schlechtem  Boden  etwa  ^  3 — ^  2  der  Ernte,  bei 
gutem  Boden  nur  ^':,  und  dazu  noch  die  als  Brennmaterial 
zu  verwendenden  Zweige  der  Baumwollstauden;   vom  Mais 


—     75     — 

bekommt  der  Arbeiter  die  halbe  Ernte,  vom  Reis,  der  viele 
Bevvässerungsarbeiten  nötig  macht,  sogar  ^ .-.  Wieder  andre 
Grundbesitzer  verpachten  das  Land  und  zwar  entweder  für 
nur  eine  Spezialkultur  von  Mais,  Klee  usw.  (130 — 140  Pi- 
aster Pacht  für  den  Feddan),  oder  für  ein  oder  drei  Jahre 
(Jahrespacht  für  den  Feddan  in  Ober-Ägypten  100,  im  Delta 
140—150,  für  Zuckerrohrland  350— 450  Piaster).  Die  reinen 
Tagelöhne  sind  im  allgemeinen  niedrig;  in  Ober-Ägypten 
werden  40—50,  in  Unter-Ägypten  60—80  Pfennige  ohne 
Kost  bezahlt,  und  neben  Tage-  und  Monatslohn,  letzteren  für 
Aufseher,  kennt  man  auch  Akkordarbeit;  so  bezahlt  man  für 
Umgraben  eines  Feddan  4  Mark,  für  seine'  Bewässerung 
3  Mark.  In  den  letzten  Jahren  sind  die  Tagelöhne  für  ge- 
wöhnliche Landarbeiter  in  Mittel-Ägypten  von  3  auf  5  Piaster 
gestiegen. 

Eine  schwer  empfundene  Lücke  bildete  bis  vor  kurzem 
der  Mangel  an  Bodenkreditinstituten  für  den  wirklich 
kleinen  Mann.  Zwar  hatten  die  schon  seit  Jahren  bestehen- 
den „Credit  foncier  egyptien"  und  die  „Land  and  Mortgage 
Company"  um  die  Jahrhundertwende  den  Mindestbetrag  einer 
Anleihesumme  auf  100  E.  Pfunde  herabgesetzt,  für  die  be- 
scheidenen Verhältnisse  der  ägyptischen  Bauern  war  aber 
auch  das  noch  viel  zu  hoch,  und  letztere  blieben  deshalb 
nach  wie  vor  auf  den  —  meist  griechischen  —  Wucherer 
angewiesen,  der  sie,  wenn  nicht  besonders  günstige  Jahre 
kommen,  dem  Ruine  entgegenführt.  Um  die  Fellachen  vor 
dieser  wucherischen  Ausbeutung  zu  schützen  und  manche 
bäuerliche  Existenz  vor  sicherem  Untergang  zu  bewahren, 
hatte  die  1898  gegründete  National  Bank  of  Egypt  bis  zu 
Ende  des  Jahres  1901  400000  Pfund  in  kleinen  Summen  zu 
10  "o  p.  a.  an  Fellachen  ausgeliehen,  und  als  das  Institut 
zögerte,  weitere  Kapitalien  in  diesem  Geschäft  festzulegen, 
schoß  auch   die  Regierung  250000  Pfund  dafür  vor.     Diese 


—     76    ^ 

Anleihen  wurden  dann  übertragen  auf  eine  am  1.  Juli  1902 
ins  Leben  getretene  „Agricultural  Bank  of  Egypt",  welche 
mit  einem  Kapital  von  2V2  Millionen  Pfund  begann,  und  den 
Fellachen  kleine  Summen  zu  9  %,  statt  bisher  10  %  p.  a., 
bis  zur  Höhe  von  50  "  „  des  Verkaufswertes  ihrer  Ländereien 
leiht.  Die  ägyptische  Regierung  gewährleistet  der  Bank  eine  jähr- 
liche Verzinsung  ihres  Kapitals  mit  3  "/o  und  läßt  die  Zinsen 
und  Amortisationsquoten  der  gewährten  Vorschüsse  durch 
ihre  Steuerstellen  gleichzeitig  mit  der  Grundsteuer  einziehen, 
sodaß  der  Bank  nur  die  Allgemeinverwaltung  verbleibt.  Die 
im  Jahre  1902  eingegangenen  Leihanträge  erstreckten  sich 
in  34500  Fällen  auf  203000  Pfund,  rückzahlbar  in  15  Monaten, 
und  zwar  kam  die  Hälfte  dieser  Summe  auf  Beträge  unter 
5  Pfund,  der  Rest  auf  solche  bis  20  Pfund;  weitere  20300 
Kontrakte  in  der  Gesamthöhe  von  750000  Pfund  erstreckten 
sich  auf  Summen,  die  in  5  Jahresraten  rückzahlbar  sind,  und 
davon  waren  8500  Beträge  unter  20  Pfund  und  die  Maximal- 
summe 300  Pfund.  Ende  1903  hatten  bereits  78900  Klein- 
besitzer mit  zusammen  2  186  000  Pfund  Anleihen  von  diesem 
Institut  Gebrauch  gemacht,  und  es  wurde  die  Vergrößerung 
des  Bankkapitals  um  weitere  2^  ^  Millionen  Pfund  nötig,  um 
die  Operationen  fortsetzen  zu  können.  Bislang  ist  das 
neue  Institut  fast  nur  in  Unter-Ägypten  bekannt  und  benutzt, 
und  es  wird  von  großem  Interesse  sein,  das  Wirken  dieser 
Bank  weiter  zu  verfolgen. 

in  jeder  Provinz  besteht  ein  Agrikulturrat,  der  sich 
aber  nicht  mit  dem  Ackerbau,  sondern  mit  der  zweckmäßigen 
Verteilung  des  Wassers,  dem  Öffnen  und  Schließen  der  Bas- 
sins zu  befassen  hat  und  den  leitenden  Ingenieuren  beratend 
zur  Seite  steht.  Diese  Wasserbau-Ingenieure  wurden  1882 
aus  Indien  berufen  und  sind  bei  großen  Gehältern  mit 
fast  unumschränkter  Vollmacht  ausgerüstet;  Ober-  und 
Unter-Ägypten  haben  je  einen  Generalinspektor,    und    unter 


—     77     — 

ihnen    stehen     fünf    Ingenieure    ebensoviel    Wasserbau  -  Be- 
zirken vor. 

Das  ganze  Kulturland  Ägyptens,  dessen  Ausdehnung 
immer  an  die  Möglichkeit  der  Bewässerung  durch  das  Nil- 
wasser gebunden  und  deshalb  verhältnismäßig  eng  begrenzt 
bleiben  wird,  zerfällt  in  zwei  große  Klassen,  in  die  Raye, 
welche  durch  die  Überschwemmung  selbst  bewässert  werden, 
und  in  die  Scharaki,  welche  zu  hoch  liegen,  um  von  dieser 
noch  erreicht  zu  werden,  und  deshalb  künstliche  Bewässerung 
erfordern.  Rayeländer  ergeben  gewöhnlich  nur  eine 
Ernte  im  Jahre,  welche  in  Ober-Ägypten  in  den  Februar,  in 
Mittel-Ägypten  in  den  März  und  im  Delta  in  den  April  fällt; 
dagegen  sind  auf  Scharaki  drei  Ernten  im  Jahre  möglich, 
und  zwar  erstreckt  sich  die  in  den  Oktober  bis  Mai  fallende 
WinterkulturaufWeizen,ägyptischenKlee,  Gerste,  Saubohnen 
und  Linsen;  die  in  April  bis  Oktober  fallende  Somm er kul tu r 
auf  Baumwolle,  Zucker,  Indigo,  Hirse  und  Reis;  und  die 
zwischen  August  und  Oktober  liegende  Herbstkultur  fast  aus- 
schließlich auf  Mais,  daneben  noch  etwas  Reis  und  Gerste. 
Fast  in  jeder  Jahreszeit  ist  ein  Teil  des  Bodens  bebaut,  ein 
anderer  brachliegend.  Im  Delta,  wo  ausreichende  Bewäs- 
serung auch  außerhalb  der  Überschwemmungszeit  möglich 
ist,  wird  der  Boden  durchschnittlich  etwa  viermal  in  drei 
Jahren  bebaut,  in  Ober-Ägypten  dagegen  nur  etwa  sieben- 
mal in  sechs  Jahren,  und  erst  in  neuerer  Zeit  sind  durch 
Anlage  von  Bassins  auch  in  Ober-Ägypten  Sommerkulturen 
ermöglicht  worden,  wo  die  Ernten  übrigens,  trotzdem  man 
dort  weder  pflügt,  noch  düngt,  viel  reichlicher  sind,  als  in 
Unter-Ägypten.  Die  Kultur  von  Baumwolle  und  Zuckerrohr 
ist  allerdings  in  Ober-Ägypten  fast  unmöglich,  da  deren  Ve- 
getationsperiode gerade  in  die  Überschwemmungszeit  fällt 
und  mangelnde  Kanalisation  bislang  hier  nicht  eine  so  gün- 


Landbau. 


—     78     - 

stige  Verteilung  und  Ableitung  des  Wassers  erlauben,  wie  in 
Unter-Ägypten.  Im  ganzen  sind  von  der  Kulturfläche  be- 
stellt mit: 

Weizen,  Klee,  Baumwolle,  Saubohnen,  Mais,  Gerste,  Durra 
etwa  20        15  14  12  119  8% 

Die  Fruchtbarkeit  des  Landes  erlaubt  dem  Bauer,  sein 
Land  mühelos  zu  bewirtschaften;  mit  den  primitivsten  Hilfs- 
mitteln ausgestattet,  nach  uralter  Weise  bestellt  er  sein  Feld, 
ohne  Befürchtung  ungünstiger  Witterung,  sicher  der  Frucht- 
barkeit des  Nilschlamms,  sicher  der  reifenden  Kraft  der 
Sonnenstrahlen.  Reis  liefert  im  Delta  50— 100  fältigen,  Wei- 
zen 25— 50  fältigen  Ertrag.  Erst  neuerdings  kommt  auch 
Düngung  mehr  in  Aufnahme,  ebenso  die  Anwendung  von 
Dampfpflügen,  welche  das  durch  Viehepidemien  nicht  selten 
bedrohte  tierische  Zugmaterial  vorteilhaft  ersetzen,  für  den 
kleinen  Landbauer  allerdings  unerschwinglich  sind. 

Von  Hülsenfrüchten  werden  meist  Saubohnen,  daneben 
Linsen,  Kichererbsen  und  Lupinen,  von  Grünfutter  über- 
wiegend ägyptischer  Klee  mit  jährlich  5— 10  Schnitt,  weniger 
griechisches  Heu  und  Luzerne  gepflanzt. 

Die  Landwirtschaftliche  Schule  und  Versuchsanstalt  in 
Giseh  lehrt  rationelle  Kultur  und  Ausnutzung  des  Bodens, 
vornehmlich  aber  zeigt  die  Staatsverwaltung  auf  ihren,  im 
ganzen  Lande  verstreuten  Domänen,  deren  Ertrag  sich  durch 
Einführung  besserer  Kulturmethoden  von  1889—1897  ver- 
doppelte, dem  Landwirt  den  richtigen  Weg.  Blumenkultur, 
Anbau  von  Obst  und  Gemüse  der  verschiedensten  Teile  der 
Erde  haben  in  den  letzten  Jahren  einen  großartigen  Auf- 
schwung genommen. 

Von  Obstsorten  wurden  bislang  besonders  die  Mittel- 
meer-Arten, im  Delta  überwiegend  Orangen  und  Zitronen, 
im  Niltal  Feigen  gebaut,  daneben  aber  auch  zahlreiche  Ba- 
nanen.   Wein,  nur  als  Tafelobst  gebraucht,  kommt  besonders 


—     79     — 

aus  dem  Fayum,  und  auch  die  beschränkte  Oh'venkultur  ist 
besonders  dort  und  im  Delta  anzutreffen.  Neben  allerlei 
Gemüsen  und  Gurkenfrüchten  verdienen  besondere  Erwäh- 
nungen Zwiebel  und  Lauch,  die  schon  im  Altertum  hier  mit 
Vorliebe  kultiviert  wurden,  und  auch  heute  noch  werden  viele 
Zwiebeln  von  hier  nach  England  ausgeführt. 

Dattelpalmen  zählte  man  1882  je  1^3  Million  in 
Ober-  und  Unter-Ägypten  und  schätzte  deren  jährlichen  Er- 
trag auf  100 — 120000  Tons  Früchte;  jetzt  rechnet  man  un- 
gefähr 4^  2  Millionen  Bäume. 

Die  Grundlage  der  heutigen  Prosperität  des  Landes 
aber  bildet  die  B  a  u  m  w  o  1 1  k  u  1 1  u  r.  Seit  undenklichen  Zeiten 
zwar  war  Baumwolle  und  ihre  Verwendung  in  Ägypten  be- 
kannt, aber  ihre  Kultur  war  bis  zu  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts ziemlich  beschränkt  und  erstreckte  sich  nur  auf  eine 
grobe,  kurzfaserige  indische  Qualität,  welche  die  Ausfuhr 
nicht  lohnte.  Auch  hierin  schuf  der  unternehmende  Moham- 
med Ali  Wandel.  Auf  seine  Veranlassung  sandte  Mako  Bey 
von  Dongola  aus  Samen  einer  weiter  südlich  angebauten 
Baumwoll-Varietät  nach  Kairo,  und  diese  gedieh  im  Delta 
ausgezeichnet.  Das  Produkt  dieser  Spielart  wurde  später 
von  den  Engländern  „Mako",  von  den  Franzosen  nach  einem 
bei  Einführung  des  Baumwollbaus  in  Unter-Ägypten  tätigen 
Landsmann  „Jumel"  benannt.  Anfangs  waren  die  Fellachen 
nur  mit  Gewaltmaßregeln  zum  Anbau  zu  zwingen,  aber  schon 
1821  begann  die  Ausfuhr,  welche  seitdem  im  allgemeinen 
eine  steigende  Tendenz  aufwies,  wenn  die  Zunahme  auch 
keine  regelmäßige  und  ununterbrochene  war.  Bald  wurde 
auch  die  amerikanische  Sea  Island  Saat  mit  bestem  Erfolge 
im  Delta  angebaut,  deren  ursprünglicher  Charakter  aber  all- 
mählich verloren  ging,  während  zahlreiche  Kreuzungen  mit 
einheimischen  Sorten  erfolgten.  Heute  unterscheidet  man 
etwa  60  verschiedene  Arten  ägyptischer  Baumwolle,  die  sich 


—     80     — 

sämtlich  durch  Stapellänge,  Feinheit  und  Spinnfähigkeit  der 
Faser  auszeichnen  und  zwar  liefert  Unter-Ägypten  im  allge- 
meinen bessere  Qualitäten  als  Ober-Ägypten.  Eine  der  wich- 
tigsten Sorten  ist  die  Mitafifi,  die  älteste  der  im  Delta  kul- 
tivierten Arten,  welche  sich  durch  Feinheit  der  Faser,  guten 
Ertrag  und  frühzeitige  Reife  auszeichnet.  Die  Zweitälteste, 
die  Abassi -Varietät,  wird  besonders  gut  auf  großen  Flächen 
kultiviert,  und  die  erst  seit  Ende  vorigen  Jahrhunderts  in 
Ägypten  angebaute  Ivanowich-Varietät  liefert  zwar  ein  um 
8— lO'^y  geringeres  Erträgnis  als  die  beiden  anderen,  jedoch 
die  beste  in  Ägypten  produzierte  Qualität.  Die  in  Ober- 
Ägypten  angebaute  Aschumi-Sorte  steht  ziemlich  weit  hinter 
den  Produkten  des  Deltas  zurück. 

Der  fette,  schwarze  Alluvialboden,  der  mit  80—100 
Pfund  und  mehr  für  den  Feddan  bezahh  wird,  liefert  an 
Güte  und  Menge  die  besten  Erträge,  während  auf  leichterem, 
sandigem  Boden  zwar  auch  ein  befriedigendes  Wachstum, 
aber  eine  geringere  Ernte  erzielt  wird.  Man  pflanzt  hier 
von  Mitte  März  bis  Mitte  April,  erntet  in  den  Monaten  Sep- 
tember bis  Dezember  und  erzielt  vom  Feddan  durchschnitt- 
lich 4  bis  5,  bei  besserer  Pflege  des  Bodens  und  reichlicher  Be- 
wässerung 6  bis  7  Kantar  ä  44,9  kg  entkernte  Baumwolle.  Die 
gesamte,  in  zweijähriger  Fruchtfolge  bestellte  Anbaufläche  Ägyp- 
tens für  Baumwolle  betrug  1901 :  1600000,  1902:  1  700000  und 
stieg  1903  infolge  der  Fertigstellung  des  Nildammes  in  Assuan 
auf  2  Millionen  Feddan;  für  Unter-Ägypten  dürfte  damit  die 
äußerste  Grenze  der  bewässerbaren  Anbaufläche  ziemlich 
erlangt  sein,  dagegen  stehen  noch  größere  Flächen  in  Ober- 
Ägypten  und  im  Sudan  zur  Verfügung,  und  auf  den  ärmeren 
Bodenlagen  können  durch  verbesserte  Methoden,  sorgfältige 
Auswahl  des  Samens  und  allgemeine  Verwendung  künstlichen 
Düngers  doch  noch  bessere  Resultate  als  bislang  erzielt 
werden.      Diese  Bestrebungen    werden    gefördert    durch  die 


-     81     - 

Khedivial  Agricultural  Society.  Die  mit  Baumwolle  kultivierte 
Fläche  wurde  1902  auf  1  276  000  Feddan  geschätzt.  Zum 
ersten  Male  seit  1891  sind  1904  wiederj  große  Massen  von 
Heuschrecken  aufgetreten  und  haben  die  junge  Baumwolle 
geschädigt.  Die  Einfuhr  amerikanischer  Baumwollsaat  ist  von 
der  ägyptischen  Regierung  im  Juni  1904  verboten  worden, 
um  der  Einschleppung  der  Insekten  vorzubeugen,  welche  in 
den  nordamerikanischen  Baumwollpflanzungen  so  große  Ver- 
heerungen anrichten. 

Die  ägyptische  Baumwoll-Erzeugung  wies  in  den 
letzten  Jahren,  die  Saisons  vom  I.September  bis  31.  August 
gerechnet,  folgende  Mengen  in  Tausenden  von  Kantaren  auf: 
1890  1.  91  2.  92  3.  93  4.  94  5.  95  6.  96  7.  97  8.  98/9. 
4072.    4672.  5118.  4933.  4615.  5275.  5879.  6543.  5589. 
1899  1900.   1900  1.   Ol  2.    02  3. 
6509.  5435.     6369.  5838. 

Die  Preisbestimmung  der  ägyptischen  Baumwolle  ge- 
schieht in  Alexandrien  in  Talleri  oder  Maria-Theresia-Thalern 
pro  Kantar,  und  infolge  der  Preissteigerung  der  Baumwolle 
im  Weltmarkt  hat  der  ägyptische  Bauer  letzthin  glänzende 
Preise  erzielt.  Da  Ägypten  eine  nennenswerte  einheimische 
Baumwollindustrie  nicht  besitzt,  so  geht  der  größte  Teil  der 
Ernte  ins  Ausland,  und  die  europäische  Industrie  ist  mit 
ihrem  Konsum  an  feinen  Baumwollsorten  fast  ausschließlich 
auf  Ägypten  angewiesen. 

Die  Kultur  des  Zuckerrohres  ist  wohl  schon  im  12. 
Jahrhundert  von  Ostindien  aus  eingeführt  worden,  die  Her- 
stellung des  Zuckers  aber  wurde  lange  Zeit  nur  sehr  primi- 
tiv betrieben  und  erst  unter  Ismail  Pascha  wurden  in  den 
70  er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  Fabriken  modernen 
Systems,  besonders  in  der  Provinz  Minieh,  angelegt.  Neben 
den  staatlichen  Zuckersiedereien  entstanden  unter  Führung 
des    bekannten    Großindustriellen   Say    französische,    später 

Schanz,  Ägypten.  6 


-     82     — 

auch  englische  Unternehmungen,  und  nachdem  die  Societe 
generale  des  Sucreries  et  de  la  Raffinerie  d'Egypte  bereits 
vor  einigen  Jahren  die  Fabriken  der  Egyptian  Land  and 
Sugar  Co.  gepachtet  und  seitdem  sämtliche  neun  Fabriken 
der  Daira  Sanieh  gekauft  hat,  nimmt  die  französische  Ge- 
sellschaft eine  tatsächliche  Monopolstellung  in  der  ägyptischen 
Zuckerfabrikation  ein. 

Das  Rohr  wird  Mitte  März  bis  Mitte  April  gepflanzt 
und  erfordert  eine  sehr  mühevolle  Pflege,  da  es  15  bis  17 
Bewässerungen  braucht;  die  Ernte  beginnt  im  Dezember  und 
dauert  bis  Ende  März.  Ein  Feddan  (42  Ar)  liefert  durch- 
schnittlich etwa  400  Kantar  (ä  44^ '2  kg)  Rohr,  bei  sorgfäl- 
tiger Kultur  und  guter  Düngung  wesentlich  mehr,  und  der 
Zuckerertrag  beträgt  im  allgemeinen  9 — 11,  steigt  aber  bis  zu 

14  %,  sodaß  bei  einem  Durchschnittsertrag  von  400  Kantar 
und  10  %  der  Hektar  4,28  Tons  Zucker  liefert,  d.  h.  also  unge- 
fähr ebensoviel,  wie  in  Deutschland  ein  Hektar  Zuckerrüben. 

Zuckerrübenbau    in   Ägypten    hielt    man    noch  vor 

15  Jahren  für  unmöglich.  Durch  entsprechende  Auswahl 
des  Samens,  Verlängerung  der  Vegetationsdauer  und  geeig- 
neten Boden  erzielt  man  aber  heute  dort  ein  Produkt,  wel- 
ches an  Zuckergehalt  die  europäische  Rübe  übertrifft  und 
auf  den  Feddan  450,  bei  sorgfältiger  Kultur  und  reichlicher 
Düngung  bis  700  Kantar  liefert.  Der  Rübenanbau  hat  des- 
halb auch  von  Jahr  zu  Jahr  zugenommen,  besonders  in 
Unter-Ägypten,  im  Fayum  und  in  der  Gegend  von  Luxor. 
Dagegen  ist  unter  den  z.  Z.  regulierenden  hohen  Weltmarkt- 
preisen für  Baumwolle  deren  Anpflanzung  weit  nutzbringen- 
der, als  diejenige  von  Zuckerrohr,  und  dessen  Kultur  in 
Ägypten  dürfte  zugunsten  der  Baumvvollpflanzungen  ab- 
nehmen, solange  die  Verhältnisse  ähnlich   bleiben. 

Die  Zuckerproduktion  der  17  ägyptischen  Fabriken  be- 
iief  sich  1901  auf  72000,  1902  auf  96000  Tons;  1902  waren 


—     83     — 

90000  Feddan  mit  Zuckerrohr  bepflanzt  und  ergaben  einen 
Ertrag  von  3  375  000  Kantar  Zucker  und  675  000  Kantar 
Melasse. 

Früher  gab  man  als  Wirtschaftsmaxime  das  Motto: 
„Unter-Ägypten  für  Baumwolle,  Ober-Ägypten  für  Zucker- 
rohr" aus;  jetzt  dringt  aber  Baumwolle  erfolgreich  immer 
weiter  nach  Süden  vor,  die  niedrigen  Zuckerpreise  trugen 
auch  zu  einer  Verringerung  des  Rohranbaues  bei,  und  so 
ging  die  ägyptische  Zuckerproduktion  von  99000  Tons  im 
Jahre  1900  auf  70000  Tons  in  1903  zurück. 

Der  früher  sehr  einträgliche  Tabaks  bau  ist  seit  1889 
durch  fiskalische  Maßnahmen  unmöglich  gemacht,  1890  ganz 
verboten  worden,  und  der  zu  „ägyptischen"  Zigaretten  ver- 
wandte Tabak  stammt  heute  ausschließlich  vom  Ausland. 
Bis  zum  Jahre  1902  war  die  Tabakeinfuhr  nur  aus  der 
Türkei  und  solchen  Ländern  erlaubt,  mit  welchen  Ägypten 
besondere  Abkommen  darüber  hatte;  seitdem  ist  der  Import 
aber  auch  aus  allen  anderen  Ländern  zulässig,  allerdings 
mit   einem  kleinen  Extrazuschlag  an  Zollgebühren. 

Der  Viehstand  in  Ägypten  ist  im  allgemeinen  kein  ^''-'^i^^^'^'- 
guter,  weil  die  häufig  aufgetretenen  Epidemien  fast  ganze 
Bestände  vernichtet  haben,  und  weil  andererseits  die  Ernäh- 
rung eine  sehr  ungleichmäßige  ist:  8  Monate  lang  bekommt 
das  Vieh  schlechtes,  trockenes  Futter,  nur  vom  Dezember 
bis  April  Klee,  und  dabei  ist  es  Tag  und  Nacht  im  Freien 
den  Unbilden  der  Witterung  ausgesetzt.  Immerhin  hat  sich 
der  Viehstand  in  der  letzten  Zeit  vermehrt,  und  zur  Ver- 
hütung der  Einschleppung  von  Epidemien  hat  man  eine 
ständige  Quarantäne  für  Rinder  eingeführt. 

Im  Jahre  1890  schätzte  man  den  Viehbestand  auf 
250000  Büffel,  210000  Rinder,  957000  Schafe  und  Ziegen, 
170000  Esel,  20  000  Pferde,  3000  Maultiere  und  55000  Ka- 


—     84     — 

mele.  Das  nützlichste  Tier  ist  der  Büffel,  welcher  am  besten 
in  der  Sumpfgegend  des  Deltas  gedeiht,  von  der  seit  Mitte 
der  sechziger  Jahre  wütenden  Rinderpest  verschont  blieb  und 
wichtige  Dienste  in  der  Landwirtschaft  leistet;  sein  Fleisch 
ist  nicht  so  gut  wie  das  vom  Rind,  dagegen  ist  die  Büffel- 
milch sehr  geschätzt.  Die  Rinder,  meist  syrischer  Rasse, 
kommen  besser  im  trockenen  Ober-Ägypten  fort  und  sind 
gleichfalls  wertvolle  Stützen  des  Landbaues,  während  ihr 
Fleisch  wenig  genossen  wird.  Das  eigentliche  Schlachtvieh 
Ägyptens  ist  der  Hammel,  und  zwar  sindSchafe  und  Zie- 
gen hier  durch  besondere  Rassen  vertreten.  Das  dem  Mos- 
lim  unreine  Schwein  wird  nur  von  Griechen  und  Kopten 
gehalten.  Der  seit  dem  frühesten  Altertum  in  Ägypten  be- 
kannte Esel  ist  stark,  feurig  und  ausdauernd  und  bildet  für 
Lasttragen  und  Reiten  das  allgemeinste  Nutztier.  Das  Pferd 
erscheint  erst  in  den  Monumenten  des  „Neuen  Reiches", 
scheint  aus  Vorderasien  eingeführt  zu  sein  und  wurde  da- 
mals nur  zum  Ziehen,  nicht  zum  Reiten  gebraucht;  man 
findet  es  hauptsächlich  in  Unter-Ägypten,  neben  dem  einhei- 
mischen auch  das  Dongola-  und  das  syrische  Pferd,  seltener 
das  edle  arabische  Nedschdi.  Für  die  Veredelung  des  Pferdes 
geschieht  in  Ägypten  selbst  sehr  wenig.  Die  Maultiere 
trifft  man  nur  in  den  größeren  Städten,  namentlich  werden 
sie  in  der  Armee  zur  Bespannung  gebraucht.  Das  wohl 
auch  erst  zur  Zeit  des  „Neuen  Reiches"  eingeführte  Kamel, 
zum  Reiten  und  Lasttragen  benutzt,  ist  im  Delta  und  in 
Kairo  häufiger  als  in  Ober-Ägypten,  trägt  eine  Last  von 
240  kg  und  wird  etwa  20  Jahre  alt,  aber  gewöhnlich  nach 
10 — 12  jähriger  Arbeit  geschlachtet.  Überhaupt  ist  mit  zu- 
nehmender Besserung  der  Lebenshaltung  auch  der  Fleisch- 
bedarf gestiegen,  und  im  Jahre  1902  wurden  für  Schlacht- 
zwecke 29000  Rinder  und  176000  Schafe  und  Ziegen  ein- 
geführt.    Die  Hauskatze  ist  heute  noch,  zahlreich  vertreten. 


i 


—    85     — 

das  Lieblingstier  des  Ägypters,  während  der  Hund  fast  nur 
verwildert  vorkommt  und  sich  in  den  großen  Städten  bisher 
durch  Verzehrung  der  Abfälle  nützlich  machte.  Die  Hühner 
sind  zahlreich,  aber  sehr  klein,  die  Gänse  mager  und  selten 
wie  die  Enten,  Perl-  und  Truthühner  dagegen  vorzüglich. 
Die  Hühner  sind  zwar  gute  Eierleger  —  1902  wurden  nicht 
weniger  als  fast  80  Millionen  Eier  ausgeführt  —  aber  sie 
brüten  ungern,  und  deshalb  werden  die  Eier,  wie  schon  im 
Altertum,  hier  und  da  in  Brutöfen  ausgebrütet;  die  vorhan- 
denen 600  Brutöfen  liefern  jährlich  etwa  6  Millionen  Kücken. 
Haustauben  umschwärmen  wolkenartig  die  bescheidenen 
Fellachen-Dörfer,  deren  stattlichste  Bauten  meist  die  hohen 
Taubenhäuser  sind;  doch  schätzt  man  die  Tauben  weniger 
ihres  Fleisches,  als  ihres  wertvollen  Düngers  wegen,  da  man 
den  Kot  der  Vierfüßer  in  dem  holzarmen  Lande  als  Brenn- 
material verbraucht.  Bei  Matarieh,  in  der  Nähe  von  Kairo, 
treibt  man  auch  etwas  Straußenzucht.  Die  ehemals  be- 
rühmte Bienenzucht  steht  jetzt  nicht  mehr  auf  der  frü- 
heren Höhe,  und  das  ausgeführte  Bienenwachs  stammt  teil- 
weise von  wilden  Bienen. 

Die  mit  einem  Kapital  von  \  4  Million  Pfund  gegründete 
Societe  agricole  et  industrielle  bezweckt  durch  Terrain- 
verbesserung, Trockenlegen  von  Sümpfen,  Bewässerungs- 
anlagen in  wasserarmen  Landstrichen,  Bau  schmalspuriger 
Kleinbahnen  und  Anlage  von  Musterwirtschaften  die  Land- 
wirtschaft und  die  mit  ihr  in  Verbindung  stehende  Industrie 
zu  fördern. 

Die  Fischerei  im  Nil  und  in  den  Strandseen  wurde  bis  F'scherei. 
vor  kurzem  durch  Steuerpächter  kontrolliert,  ist  seit  1903 
aber  überall  frei  erklärt  worden,  und  die  Regierung  erhebt 
nunmehr  eine  Abgabe  von  jedem  einzelnen  Fischerboot. 
Seit  kurzem  hat  eine  Hamburger  Firma  die  Ausfuhr  von 
Aalen  aus  dem  Mensaleh-See  in  großem  Maßstab  eingerichtet. 


—     86     — 

Industrie.  Was  die  Hausindustrie  Ägyptens  anbelangt,   so  fin- 

den sich  die  besten  Handwerker  unter  den  Kopten,  Griechen 
und  Armeniern,  und  zwar  h'efern  dieselben  hauptsächh'ch 
grobe  Baumwollstoffe,  halbwollene  blaue  Zeuge  für  die  Fel- 
lachen, Wolldecken,  Teppiche,  Goldstickereien,  Posamenten, 
Korb-  und  Mattenflechterei,  Schuhwaaren,  früher  besonders 
von  Griechen,  jetzt  auch  von  zahlreichen  Eingeborenen  her- 
gestellt, zierliche  Holzdrechslerarbeit  (Muschrebiyen),  schöne 
kupferne  und  messingene  Geräte.  Keneh  und  andere  Orte 
Ober-Ägyptens  liefern  treffliche  poröse  Tonkrüge,  Siut  und 
Assuan  stellen  zierliche  Gefäße  her  und  in  Kairo  und  Luxor 
wird  eine  schwungvolle  Fabrikation  von  „Altertümern"  und 
„sudanesischen"  Kriegsgeräten  betrieben. 

Die  moderne  Industrie  ist  noch  unbedeutend.  Zwar 
wurden  schon  unter  Mohammed  Ali  in  verschiedenen  Städten 
und  namentlich  auf  den  Besitzungen  des  Vizekönigs  große 
Zuckerfabriken,  Baumwoll-,  Tuch-,  Seiden-  und  Segeltuch- 
Webereien,  Färbereien,  Gewehr-  und  Pulverfabriken,  Kanonen- 
gießereien, Salz-  und  Salpeterwerke  angelegt,  doch  gerieten 
von  den  Anstalten  der  Regierung  viele  in  Verfall.  Seit  der 
englischen  Okkupation  ist  Lord  Cromer  zwar  nicht  müde 
geworden,  fremde  und  besonders  englische  Kapitalien  anzu- 
locken und  1890—99  wurden  auch  'rund  3  Millionen  Pfund 
in  industriellen  Unternehmungen  angelegt,  doch  sind  schon 
seit  Jahren  keine  Fortschritte  in  der  ägyptischen  Industrie  zu 
konstatieren,  und  das  Land  scheint  in  der  Tat,  wie  zahlreich 
unternommene  und  fehlgeschlagene  Versuche  beweisen,  für 
die  Entfaltung  einer  regen  industriellen  Tätigkeit  keinen  ge- 
eigneten Boden  zu  bieten.  Die  Eingeborenen  sind  Acker- 
bauer und  Händler,  aber  keine  Industriearbeiter;  tüchtige 
fremde  Fachleute  nach  Ägypten  zu  ziehen,  hat  sich  als  schwie- 
rig herausgestellt,  und  zu  diesem  Mangel  an  Personal  tritt 
Mangel  an  Brennstoffen  und  allerlei  Rohmaterialien  und  die 


—     87     — 

Zurückhaltung  des  einheimischen  Kapitals,  das  sich  h'eber 
Bodenspekulationen,  als  Industrie-Unternehmungen  zuwendet. 
Auch  Strikes  sind  in  Ägypten  bereits  wiederholt  vor- 
gekommen. 

Unter  den  größeren  Unternehmungen  sind  zu  nennen 
die  Societe  generale  de  pressage  et  de  depots,  die  mit  einem 
Kapital  von  1  Million  Pfund  arbeitet,  die  Societe  anonyme 
des  presses  libres  egyptiennes  und  die  Societe  des  huileries 
et  savonneries  d'Egypte,  sämtlich  in  Alexandrien;  die  schon 
erwähnte,  mit  einem  Kapital  von  32^2  Millionen  Francs  ar- 
beitende Societe  generale  des  sucreries  et  de  la  raffinerie 
d'Eg>'pte  und  die  viel  kleinere  Sugar  and  Land  Company; 
zwei  große  Ziegeleien  mit  Dampfbetrieb  bei  Kairo,  eine 
Zündhölzchen-  und  eine  Strohpapier-Fabrik,  die  beide,  ebenso 
wie  die  drei  Seifenfabriken,  aufs  beste  gedeihen,  während 
die  Eis-  und  die  belgischen  Eisenwerke,  sowie  eine  öster- 
reichische Glasfabrik  den  Betrieb  einstellen  mußten.  In 
Alexandrien  befinden  sich  mehrere  Eisengießereien,  die  auch 
Maschinenteile,  Dampfkessel,  Schornsteine,  Röhrenleitungen, 
sowie  Bronze-  und  Kupferguß  herstellen.  Wasserwerke, 
Dampfmahlmühlen,  Baumwollentkernungs-Mühlen,  Baumwoll- 
öl-  und  andere  Ölpressen,  Seifensiedereien  und  Brennereien 
gibt  es  an  verschiedenen  Orten,  in  Kairo  1000  Webstühle 
für  Baumwollstoffe  und  500 Stühle  für  Seidenwaren,  Indigo- 
färbereien färben  die  englischen  Baumwollhemden  für  die 
Fellahs.  Die  beiden  englischen  Baumwollspinnereien  in 
Kairo  und  Alexandrien  befinden  sich  in  keiner  guten  Lage, 
und  auch  die  Salz-  und  Soda-Kompanie  hat  trotz  ihrer 
Monopolstellung  bislang  keine  großen  Erfolge  erzielt.  Da- 
gegen ergaben  eine  Anzahl  belgischer  Gesellschaften,  wie 
z.  B.  Tramways.  Wagons  Lits,  Hotels  Shepheard  und  Ghe- 
sireh  in  Kairo  und  zwei  Brauereien  in  Alexandrien  und  Kairo, 
teils  sehr  hohe  Einnahmen,  teils  wenigstens  gute  Aussichten. 


Deutsche  wirtschaftliche  Unternehmungen  dieser  Art  fehl- 
ten bis  vor  kurzem  gänzlich;  erst  in  neuerer  Zeit  sind  deren 
einige  ins  Leben  gerufen,  wie  die  elektrische  Beleuchtung 
von  Ismailia,  der  diejenige  von  Suez  folgen  sollte. 

Bemerkenswert  ist  der  große  Aufschwung  derZi  gar  etten- 
fabrikation,  die  zu  einem  großen  Teile  für  Deutschland 
arbeitet  und  eine  Ausfuhrprämie  von  10  Piaster  für  das  Kilo- 
gramm, gleich  einer  Rückvergütung  von  50  %  des  gezahlten 
Zolls  auf  den  eingeführten  Tabak,  genießt,  in  den  ägyp- 
tischen Zigarettenfabriken  wird  niemals  eine  Tabaksorte 
allein  verarbeitet,  sondern  es  werden  stets  mehrere  Sorten 
gemischt;  auf  der  Mischung  beruht  die  Güte  der  Zigarette 
und  in  der  Kunst  der  Mischung  das  Geheimnis  der  einzelnen 
Fabrikanten.  Die  Tabakmischer  sind  ausnahmslos  Griechen, 
die  Arbeiter  in  den  größeren  Betrieben  überwiegend  Griechen 
und  Armenier,  in  den  kleineren  Syrier  und  Ägypter.  Alle 
besseren  Sorten  Zigaretten  werden  mit  der  Hand  gerollt.  In 
Kairo  allein  gibt  es  angeblich  5000  Zigarettenarbeiter.  Be- 
merkenswert ist,  daß  bei  dieser  Fabrikation  sämtliche  Zu- 
taten: Tabak,  Zigarettenpapier  (meist  aus  Österreich-Ungarn), 
Stopfmaschinen  und  Verpackungsmaterialien  aus  dem  Aus- 
land bezogen  werden.  Von  den  im  Jahre  1903  in  Ägypten 
eingeführten  6^  -  Millionen  Kilogramm  Tabak  stammten 
48  7o  aus  der  Türkei  und  34  7o  aus  Griechenland.  Die  Zi- 
garetten-Ausfuhr des  Jahres  1902  wertete  429000  Pfund,  und 
davon  gingen  38  %  nach  Deutschland. 

Arabische,  mit  Perlmutter,  Elfenbein  und  anderen  Ein- 
lagen verzierte  Möbel  werden  unter  Leitung  von  Italienern 
durch  Araber  und  Fellachen  für  die  Ausfuhr  nach  Europa 
fabriziert.  In  Kairo  besteht  auch  ein  nennenswerter  Schiff- 
Bau. 


—     89     — 

Bergwerksunternehmungen  haben  schon  im  alten  Bergbau. 
Ägypten  eine  gewisse  Rolle  gespielt,  frühzeitig  wird  uns  von 
der  Ausbeute  äthiopischer  Gold-  und  Smaragdminen  berich- 
tet und  aus  Sethos  1.  Zeiten  stammt  die  erste  rohe  Papyrus- 
karte darüber.  Der  Topas  kam  von  der  Insel  Topasion  im 
Roten  Meere,  der  Saphir  von  der  dort  befindlichen  Insel 
Safirene  und  die  Sinai-Halbinsel  liefert  noch  heute  Türkisen. 
Zur  Belebung  des  lange  Zeit  brach  gelegenen  Bergbaus  sind 
neuerdings  eine  Anzahl  Konzessionen  verliehen  worden, 
welche  fast  das  ganze  ägyptische  Gebiet  zwischen  Nil  und 
Rotem  Meere  umfassen,  über  deren  Ausnutzung  aber  wenig 
verlautet.  So  erhielt  eine  New  Yorker  Gesellschaft  die  Kon- 
zession zur  Bearbeitung  von  Türkisgruben  auf  der  Sinai- 
Halbinsel,  eine  Berliner  eine  solche  für  Smaragd  gruben  an 
dem  südlich  von  Kosser  gelegenen  Dschebel  Sebara.  Die 
seit  dem  Mittelalter  verlassenen  Goldgruben  von  Alaxi  im 
nordöstlichen  Nubien  sollten  von  einer  Londoner  Gesell- 
schaft in  Angriff  genommen  werden,  die  sich  der  ägyptischen 
Regierung  gegenüber  verpflichtete,  in  15  Jahren  80  Millionen 
Mark  auf  Bauten  und  Bergwerksanlagen  zu  verwenden  und 
die  1901  20000  Bergarbeiter  aus  Westaustralien  einführen 
wollte;  auch  darüber  ist  es  still  geworden. 

Eine  eigentliche  Minenindustrie  gibt  es  z.  Z.  in  Ägyp- 
ten also  überhaupt  noch  nicht,  sondern  bislang  nur  eine 
Reihe  vorbereitender  V^ersuche  seitens  einer  Anzahl  von  Ge- 
sellschaften und  Finanzgruppen.  Allein  im  Jahre  1903  hat 
man  gegen  30  Goldminen-Gesellschaften  gegründet,  obgleich 
das  V^orhandensein  von  Gold  in  abbauwürdigen  Men- 
gen noch  keineswegs  feststeht  und  die  Resultate  der 
bisherigen  Nachforschungen  sehr  verschieden  ausfielen.  Der 
Unsicherheit  dieser  V^erhältnisse  entsprechend,  hat  sich  denn 
auch  die  ägyptische  Regierung  anerkennenswerter  Weise  nach 
Kräften,    wenn    auch  nicht  immer  ganz  erfolgreich,  bemüht, 


—     90     — 

das  große  Publikum  von  diesen  Unternehmungen  vorläufig 
fernzuhalten,  dadurch,  daß  sie  die  Eröffnung  öffentlicher 
Subskriptionen  verbot  und  die  Weiter-Übertragung  der  Kon- 
zessionen an  ihre  Bewilligung  band.  Am  tätigsten  sind  bis- 
lang die  Egyptian  Mines  Exploration  Co.,  sowie  die  Nile 
Valley  Co.  und  deren  verschiedene  Tochter-Gesellschaften 
gewesen. 

Eine  überraschend  günstige  Lösung  haben  dabei  bereits 
die  wichtigen  Fragen  der  Wasserversorgung,  der  Arbeiter- 
beschaffung und  des  Transports  gefunden:  Wasser  hat  man 
entweder  an  den  Betriebsstellen  selbst  oder  in  geringer  Ent- 
fernung von  diesen  in  ausreichender  Menge  angetroffen;  als 
Arbeiter  haben  sich  sowohl  die  Fellachen  des  Niltals,  wie 
die  Araber  der  Wüste  anstellig  und  dienstwillig  erwiesen; 
und  als  Kommunikationsmittel  bilden  fast  überall  die 
ausgetrockneten  Wadis  gute  Verbindungen. 

Blei  wird  am  Dschebel  Russas  ausgebeutet;  die  am 
Roten  Meere  aufgefundenen  Seh  we  fe  Ilager  und  Ste  i  n  ö  Iquellen 
haben  die  auf  sie  gesetzten  Hoffnungen  nicht  erfüllt,  dagegen 
erwartet  man  gute  Resultate  von  den  reichen  Phosphat- 
lagern  bei  Keneh  und  an  den  Küsten  des  Roten  Meeres, 
deren  Ausbeutung  in  Vorbereitung  ist.  Die  früher  von  der 
ägyptischen  Regierung  mit  Verlust  bearbeiteten  Natron - 
lager  am  Wadi  Natrun  wurden  1897  an  eine  Privatgesell- 
schaft abgetreten,  die  eine  Eisenbahn  zu  den  Natronseen 
bauen  ließ  und  dort  eine  Fabrik  errichtete.  Kochsalz 
deckt  und  durchtränkt  das  ägyptische  Schwemmland  bis  auf 
weite  Strecken  vom  Meeresstrand,  hauptsächlich  wird  es  am 
Mariut-See  gewonnen  und  die  Regierung  erzielte  1903  aus 
dem  Salzmonopol  189  000  Pfund  bei  einem  Absatz  von 
57  000  Tons.  Die  ersehnte  Kohle  ist  bislang  in  Ägypten 
noch  nicht  aufgefunden  worden,  scheint  aber  im  Sudan  vor- 
zukommen. 


—     91     — 

Der  fremde  Handel   Ägyptens  weist  folgende  Werte     Handel, 
auf  in  Tausenden  von  Pfunden : 

1885     1887      1890     1892     1894     1896     1898 
Einfuhr:     8989     8137     8081     9091      9266    9828   11033 
Ausfuhr:   11424  10876  11876   13341    11892  13232  11805 
Transit:        659       600      887       902        708      564       711 
1900     1901      1902     1903 
Einfuhr:    14112  15244  14211    16753 
Ausfuhr:  16760  15730  17617  19118 
Transit:      1022     1221      831. 
und  zwar  entfielen  davon  im  Jahre  1903   auf  die  verschie- 
denen   Herkunftsländer    der    Einfuhr:    auf    Großbritannien 
5919,  Türkei  2347,  Frankreich  und  Algerien  1647,  Österreich- 
Ungarn  1213,    Italien  893,    Deutschland  742,    Rußland    605, 
Belgien  524,  Schweden  290  und  Griechenland   216  Tausend 
Pfund,  während  sich  die 

Ausfuhr  richtete  nach  Großbritannien  mit  10084,  Frank- 
reich 1672,  Deutschland  1348,  Rußland  1246,  Österreich- 
Ungarn  885,  Italien  712,  Türkei  327  und  Belgien  145  Tau- 
send Pfund. 

Im  Jahre  1902  hatte  sich  der  fremde  Handel   auf  fol- 
gende Länder  verteilt: 

England      Türkei,     Frankreich      Österreich, 
u.  Kolonien,  u.  Algerien, 


Einfuhr  von 

45               12 

9 

8 

Ausfuhr  nach 

52                2 

8 

4 

Italien,  Rußland,  Belgien, 

Deutschland,  Amerika, 

Einfuhr  von 

6            4             3 

4                  1 

Ausfuhr  nach 

4             8           — 

Diverse 
Einfuhr  von      8  % 
Ausfuhr  nach     8  „ 

i 

7                  7 

doch    gibt   diese 

englisch-ägyptische  I 

Statistik  kein  richtiges 

—    92     — 

Bild  der  wirklichen  Lage,  da  mangels  direkter  Verbindungen 
vielfach  indirekte  Verschiffungen  stattfinden. 

Die  Einfuhr  weist  in  erster  Linie  BaumwolKvaren, 
überwiegend  englische,  auf,  sodann  Mehl,  das  namentlich 
aus  Frankreich  und  Rußland  kommt,  Konfektionen  und  ver- 
schiedene Gewebe,  Metallwaren  und  Maschinen,  Kohlen, 
Chemikalien  und  Kolonialwaren,  während  die 

Ausfuhr  im  Jahre  1903  als  Hauptposten:  Baumwolle 
mit  15676,  Baumwollsaat  1501,  Zucker  331,  Zigaretten  429 
in  1902,  Ölkuchen  209,  Bohnen  196,  arabischen  Gummi  192, 
Zwiebeln  191,  Eier  119  Tausend  Pfund  zeigte,  außerdem 
Getreide,  Felle,  Straußenfedern,  Elfenbein,  Wolle,  Büffel- 
hörner,  Datteln,  Wachs,  Kautschuk,  Henna,  Sennesblätter, 
Weihrauch,  Kaffee  usw. 

Die    Ausfuhr    des    wichtigsten    Export-Produkts,    der 
Baumwolle,  in  Ballen  ä  ca.  200  kg,    wies  folgende  Men- 
gen auf  in 
1890/1  94  5  98  9  99  1900  00  01   Ol  02  02  03 

537  634  735  850  706  859  773  Tausend  Ballen, 
und  zwar  gingen  davon  in  der  Saison  1902  3  über  die  Hälfte 
nach  England,  200000  Ballen  nach  den  Mittelmeerhäfen, 
85000  Ballen  nach  Nordamerika,  55000  Ballen  nach  Ruß- 
land und  20000  Ballen    direkt  nach  Bremen    und  Hamburg. 

Da  Ägypten  von  der  Pforte  seit  1873  das  Recht  zuge- 
standen ist,  selbständige  Handelsverträge  einzugehen,  so  schloß 
England  einen  solchen  bereits  1 889,  verschiedene  andere  Staaten 
folgten  alsdann,  so  Österreich-Ungarn  1890,  Italien  1891, 
Deutschland  1892,  und  im  November  1902  schloß  auch  Frank- 
reich einen  speziellen  Vertrag  mit  Ägypten  ab,  nachdem  es 
bis  dahin,  ebenso  wie  Rußland,  die  Ansicht  vertreten  hatte, 
daß  die  mit  der  Hohen  Pforte  abgeschlossenen  Handels- 
verträge für  alle  Teile  des  osmanischen  Reiches,  mithin 
also  auch  für  Ägypten  Geltung  haben.     Der  deutsche  Han- 


—     93     — 

delsvertrag  läuft  bis  1982,  sah  aber  für  die  Jahre  1900  und 
1907  das  gegenseitige  Recht  vor,  Abänderungen  vorzuschlagen. 
Qeiegenthch  Deutschlands  Zustimmung  zu  des  Chediven  neuem 
Finanzdekret  vom  April  1904  ist  die  Dauer  des  jetzigen 
Handelsvertrags  zwischen  Deutschland  und  Ägypten  bis  1934 
verlängert  worden. 

Bis  Ende  des  Jahres  1890  genossen  alle  aus  der  Türkei 
mit  einer  Bestätigung  über  dort  gezahlten  Einfuhrzoll  an- 
kommenden Waren  in  Ägypten  vollkommene  Abgaben- 
freiheit; das  Finanzabkommen  von  1890,  welches  der  Pforte, 
um  ihr  die  Konvertierung  ihrer  Kriegsanleihe  von  1877  zu 
ermöglichen,  den  ägyptischen  Tribut  auf  60  Jahre  garantierte, 
hob  diese  Zollfreiheit  auf. 

Was  den  Handelsverkehr  Ägyptens  mit  Deutschland 
anbetrifft,  so  ist  der  Spezialhandel  des  deutschen  Zollgebiets 
nach  amtlicher  deutschen  Statistik  in  unserer  Einfuhr  von 
Ägypten  von  13,5  Millionen  Mark  im  Jahre  1892  auf  57  Mil- 
lionen im  Jahre  1903  gestiegen  und  unsere  Ausfuhr  dahin 
von  5,5  Millionen  in  1892  auf  22,3  Millionen  in  1903.  Die 
ägyptische  Handelsstatistik  stimmt  nicht  mit  der  deutschen, 
weil  sie  einen  großen  Teil  der  mit  Deutschland  gehandelten 
Waren  Durchgangsländern,  namentlich  Belgien  und  Öster- 
reich-Ungarn zuweist.  Unsere  Einfuhr  besteht  überwiegend 
in  Baumwolle,  sodann  in  Zigaretten  und  kleineren  Beträgen 
von  Zwiebeln,  Gummi  und  Wachs,  während  unsere  Ausfuhr 
nach  Ägypten  besonders  in  Eisen-,  Kupfer-  und  Messing- 
waren und  Eisenbahnmaterialien,  Maschinen,  baumwollenen 
Stoffen  und  Wirkwaren,  Decken,  Shawls,  Wäsche,  Galan- 
terie- und  Kurzwaren,  Farben,  Steingut,  Porzellan  und  Bier 
besteht. 

Fast  90%  des  fremden  Handels  Ägyptens  gehen  über 
Alexandrien,  nämlich  fast  die  gesamte  Ausfuhr  und  ein 
großer  Teil  der  Einfuhr;    dort    ist    denn    auch    der  Sitz  der 


—     94     — 

Generaldirektion  der  Zölle.  Nur  für  die  Ausfuhrartikel  des 
Sudans:  Gummi,  Häute,  Sennesblätter,  Straußenfedern  und 
Elfenbein  ist  der  Markt  in  Kairo,  ebenso  für  einige  ägyp- 
tische Ausfuhrartikel  wie  Eier,  die  erst  in  neuerer  Zeit  in 
Aufnahme  gekommen  sind;  dagegen  werden  Baumwolle, 
Baumwollsaat,  Zucker,  Zwiebeln,  Linsen,  Bohnen  und  son- 
stige Feldfrüchte  ausschließlich  in  Alexandrien  gehandelt.  Dort 
ist  die  Warenbörse,  dort  kontrolliert  die  General  Produce  Asso- 
ciation die  Ankünfte,  Verschiffungen  und  Marktpreise,  dort 
haben  die  großen  Ausfuhrfirmen  und  die  verschiedenen  frem- 
den Handelskammern  ihren  Sitz.  Die  Einfuhrfirmen  dagegen 
haben  größtenteils  Niederlassungen  in  Alexandrien  und  in 
Kairo,  weil  von  der  Hauptstadt  aus  doch  der  größte  Teil  des 
Landes,  nämlich  etwa  60  ^^  der  Gesamtbevölkerung,  mit 
Waren  versorgt  wird,  während  Alexandrien  zwei  Drittel  von 
Unter-Ägypten,  also  etwa  4  Millionen  Einwohner,  mit  Ein- 
fuhrgütern bedient. 

Nachdem  bereits  früher  eine  französische,  eine  englische, 
eine  italienische  und  eine  österreichisch-ungarische  Handels- 
kammer in  Alexandrien  bestanden,  ist  daneben  1903  auch 
eine  internationale  Handelskammer  gebildet  worden,  die 
sich  mit  Fragen  des  allgemeinen  Interesses  für  Handel 
und  Industrie  beschäftigen  soll. 

Fast  der  ganze  Großhandel  liegt  in  den  Händen  von 
Europäern,  während  Eingeborene  den  Warenvertrieb  im  In- 
nern besorgen.  Im  Ausfuhrhandel  sind  zahlreiche  Christen 
und  Moslims  beschäftigt,  welche  den  Bauern  ihre  Produkte 
in  den  Dörfern  abnehmen  und  an  die  Exporthäuser  liefern. 
Der  wirtschaftliche  Kampf  mit  den  levantinischen  Griechen 
um  den  Vorrang  im  Handelsbetrieb   ist  überall  ein  scharfer. 

Ohne  umfangreiche  Kreditgewährung  ist  das  ägyp- 
tische Geschäft  undenkbar,  und  selbst  dann  kann  man  auf 
einen  pünktlichen    Eingang  der  Zahlungen    nur    in  seltenen 


—     95     — 

Fällen  rechnen.  Selbst  der  größte  und  reichste  einheimische 
Latifundien-Besitzer  zahlt  eigentlich  nur  nach  der  Baumwoll- 
ernte gegen  Ende  des  Jahres,  während  der  übrigen  Zeit  aber 
lebt  er  auf  Kredit,  und  seinem  Beispiel  folgt  die  übrige  ein- 
geborene Bevölkerung  bis  zum  kleinsten  Fellachen  hinunter. 
Selbst  ein  Wechselakzept  gibt  keine  größere  Gew^ähr,  als  daß 
es  eine  Schuldanerkenntnis  bedeutet.  Auch  wenn  ein  Ge- 
schäft gegen  bar  abgeschlossen  ist,  erfolgt  die  Zahlung  oft 
erst  nach  Monaten.  Bei  vielen  Einfuhr-  und  Kommissions- 
häusern hat  sich  ein  wöchentliches  Abzahlungssystem  für 
ihre  Kunden  herausgebildet.  Europäischen  Firmen  ist  unter 
diesen  Umständen  anzuraten,  mit  der  ägyptischen  Kundschaft 
nicht  direkt  zu  arbeiten,  sondern  nur  durch  einen  zuver- 
lässigen Vertreter,  in  dessen  Wahl   man  sehr  vorsichtig  sei. 

Die  Einfuhrzölle  betragen  8  "^"o  vom  ägyptischen 
iVlarktwert  am  Tage  der  Verzollung,  ein  System,  das  zeit- 
weilig Anlaß  zu  unliebsamen  Differenzen  gibt;  nur  Tabak 
und  seine  Fabrikate  und  Alkoholika  sind  höher  besteuert. 
Die  seit  1889  mit  Ägypten  abgeschlossenen  Handelsverträge 
sehen  eine  Erhöhung  des  Eingangszolls  von  8  auf  10  ^/o  vor, 
doch  soll  dieser  Zoll  erst  dann  in  Kraft  treten,  wenn  er 
sämtlichen  Mächten  gegenüber  angewandt  werden  kann. 
Der  Ausfuhrzoll  beträgt  1%  vom  Werte,  der  Durchgangs- 
handel ist  zollfrei. 

Die  ägyptische  Zollverwaltung,  deren  obere  Beamte 
durchweg  Engländer  sind,  konzentriert  sich  in  Alexandrien; 
daneben  bestehen  größere  Zollämter  in  Port  Said,  Damiette, 
Sues,  Kosser  und  El  Arisch,  letzteres  für  den  Zollverkehr 
zwischen  Ägypten  und  Syrien. 

Geld,  Maße  und  Gewichte  betreffend,  so  rechnet 
man  im  Großhandel  nach  Beuteln  von  5  ägyptischen  Pfund 
oder  500  Piastern.  Ägyptisches  Geld  nach  eigenem  Münz- 
fuß wurde  erst    ab    1834    geprägt    und    durch   Dekret   vom 


—     96     — 

14.  November  1885  die  jetzige  Währung  eingeführt.  Die  in 
Berlin  geprägten  goldnen  und  silbernen  Münzen  sind  das 
ägyptische  Pfund  von  Mk.  20,75  Wert,  das  in  100  Piaster 
oder  Grusch  ä  früher  40  Kupfer-Para,  jetzt  ä  10  Milliemes 
zerfällt.  Anfang  1904  waren  auch  382000  £*  Papiergeld  in 
Umlauf. 

Seit  1.  August  1875  ist  für  alle  Angelegenheiten  der 
Verwaltung  das  metrische  System  angenommen  worden,  da- 
neben werden  aber  auch  noch  einheimische  Maße  und  Ge- 
wichte in  wechselnden  Werten  gebraucht.  Laut  Dekret  vom 
28.  April  1891  ist  1  Feddan  jetzt  =  42  ar,  1  Kantar  ä  100 
Rottl  =  44,928  kg,  1  Okka  =   1,237  kg. 

Von  Banken  sind  vertreten  die  National  Bank  of 
Egypt,  die  Anglo-Egyptian  Banking  Co.,  die  Bank  of  Eypt, 
die  Commercial  Bank  of  Alexandria,  die  Agricultural  Bank 
of  Egypt,  die  Land  and  Mortgage  Co.,  der  Credit  Lyonnais, 
die  Banque  Imperiale  Ottomane,  die  Banque  Franco-Egyp- 
tienne,  der  Credit  foncier  egyptien  und  die  Societe  immo- 
biliere.  Ein  deutsches  Bankinstitut  besteht  z.  Z.  in  Ägypten 
noch  nicht.  Das  Gerücht,  daß  die  Deutsche  Bank  beab- 
sichtige, in  Ägypten  Filialen  zu  errichten  oder  durch  Betei- 
ligung an  einem  bereits  bestehenden  ägyptischen  Bankinstitut 
festen  Fuß  in  Ägypten  zu  fassen  suche,  wurde  im  Herbst  1904 
dementiert. 

Die  erst  im  Jahre  1901  geschaffenen  Postsparkassen 
wiesen  Ende  1903  rund  20000  Einleger  mit  zusammen 
129000  £  auf.  Zwei  Drittel  der  Sparer  waren  Eingeborene, 
in  erster  Linie  Regierungs-  und  kaufmännische  Angestellte. 
Die  Benutzung  der  Einrichtung  seitens  strenggläubiger  Mo- 
hammedaner wird  dadurch  erschwert,  bezw.  verhindert,  daß 
der  Islam  die  Annahme  von  Zinsen  verbietet. 


—     97     — 

Für  den  Verkehr  bestehen  folgende  Einrichtungen,  verkehr. 
Im  Jahre  1898  waren  1995  km  Landstraßen  vorhanden, 
und  von  wichtigeren  Karawanenstraßen  werden  noch  be- 
nutzt die  zwischen  Keneh  am  Nil  und  Kosser  am  Roten 
Meere;  zwischen  dem  Niltal  und  den  Oasen  Kargeh,  Siwah 
und  weiterhin  nach  Benghasi;  und  zwischen  Kantara  am 
Sueskanal  und  El  Arisch  im  Ostgebiet. 

Was  den  Durchgangsverkehr  anbetrifft,  so  begann 
Ägypten  seine  frühere  Bedeutung  als  Weltstraße  wieder  ein- 
zunehmen mit  der  Anwendung  von  Dampfkraft  für  die  Schiff- 
fahrt und  mit  der  Leitung  des  Cberlandweges  für  die  eng- 
lisch-indische Post  über  Ägypten.  Im  Beginn  der  30er  Jahre 
des  vorigen  Jahrhunderts  fuhren  die  ersten  englischen  Dampfer 
von  Bombay  nach  Kosser  und  von  dort  aus  gelangten  die 
Postpakete  auf  dem  Karawanenweg  nach  Keneh  und  dann 
nilabwärts  nach  Alexandrien.  V^on  1842  ab  aber  leitete  man 
die  Überlandpost  über  Sues  und  zwar  von  Alexandrien  bis 
Kairo  auf  dem  Nil  und  von  da  weiter  auf  einem  durch  die 
Wüste  angelegten  Fahrweg  nach  Sues.  Die  Eröffnung  der 
Bahnen  Alexandria — Kairo  1856  und  deren  Fortsetzung  bis 
Sues  1858  bedeuteten  bereits  eine  wesentliche  Erleichterung, 
die  Eröffnung  des  Sueskanals  1869  aber  eine  vollständige 
Umwälzung  des  Verkehrs. 

Die  Eisenbahnen  Ägyptens  wiesen  1901:  2254  km 
Staatsbahnen  und  1147  km  Privatbahnen  auf  und  zwar  wurde 
die  Hauptbahn  Alexandrien— Kairo  (208  km)  1853  begonnen 
und  1856  eröffnet,  1874  bis  nach  Siut  und  1893  bis  nach 
Girgeh  fortgesetzt,  während  eine  mit  einer  staatlichen  Zins- 
garantie von  3^j^o  ausgestattete  Privatgesellschaft,  an  der 
auch  deutsches  Kapital  stark  engagiert  ist,  die  kaum  jemals 
selbst  rentierende  Weiterführung  nach  Assuan  (900  km  von 
Kairo)  1899  beendete.  Von  Kairo  über  Ismailia  (156  km) 
am  Sueskanal  führt   die  alte  Bahn  nach  Sues  (244  km),  und 

Schanz,  Ägypten.  7 


—     98     — 

die  bisherige  Tram-Bahn  von  Ismaih'a  nach  Port  Said  (80  km) 
ist  nach  einem  Abkommen  mit  der  Sueskanal-Kompagnie 
kürzh'ch  in  eine  Voilbahn  umgebaut  worden;  als  eine  Folge 
der  nunmehr  hergestellten  direkten  Eisenbahn-Verbindung 
zwischen  Kairo  und  Port  Said  dürfte  sich  letzteres  auf  Kosten 
von  Alexandria  heben.  Die  Normalspur  der  ägyptischen 
Bahnen  beträgt  1  m.  Ein  verhältnismäßig  dichtmaschiges 
Eisenbahnnetz  überzieht  das  Delta,  und  zwar  handelt  es 
sich  hier  und  im  Fayum  vielfach  um  die  für  die  Hebung 
der  Landwirtschaft  so  außerordentlich  wichtigen  Feldbahnen, 
die  von  drei  gut  rentierenden  Privatgesellschaften  gebaut  und 
betrieben  werden  und  Anfang  1904  zusammen  1090  km  um- 
faßten, von  denen  168  km  auf  die  „Fayum  Co.",  813  km 
auf  die  „Delta  Company",  109  km  auf  die  „Cie.  des  che- 
mins  de  fer  de  la  Basse  Egypte"  entfielen. 

Von  größeren  Projekten,  die  speziell  Ägypten  betreffen, 
figuriert  in  erster  Linie  die  berühmte  „Kap  —  Kairo-Bahn", 
eine  der  Lieblingsideen  von  Cecil  Rhodes,  der  Lord  Cromer 
abersehr  kühl  gegenübersteht  und  deren  Ausführung  noch  lange 
auf  sich  warten  lassen  dürfte;  man  hat  sich  jetzt  dahin  ent- 
schieden, daß  diese  Verkehrsstrecke  nicht  eine  durchgehende 
Schienenverbindung,  sondern  einen  gemischten  Bahn-  und 
Schiffahrtsdienst  erhalten  wird.  Sodann  ist  die  Rede  gewesen 
von  einer  Bahn  Keneh— Kosser,  einer  solchen  von  El  Sadd 
nach  El  Arisch,  um  Syrien  mit  dem  ägyptischen  Schienen- 
netz in  Verbindung  zu  bringen,  einer  Linie,  die  eventuell 
über  Persien,  Beludschistan  und  Indien  nach  Shanghai 
weitergeführt  werden  soll;  und  endlich  auch  von  einer 
Verbindung  zwischen  Kairo  und  Tripolis.  Im  allgemeinen 
aber  ist  wohl  anzunehmen,  daß  eine  nennenswerte  Ausdeh- 
nung des  ägyptischen  Eisenbahnnetzes  angesichts  der  Öde 
der  Nachbarländer  unwahrscheinlich  ist.  Die  Hauptlinie  vom 
Delta  nach  Assuan  existiert,  und  es  wird  sich  also  in   der 


I 


-     99     - 

Hauptsache  nur  noch  um  kleine  Zufuhrlinien  handeln,  welche 
von  neu  unter  Bewässerung  gebrachten  Ländereien  nach  dem 
Nil  oder  zur  Hauptbahn  führen.  Dafür  und  für  V^erbesserung 
der  bereits  bestehenden  Bahnen  sollen  in  den  nächsten  Jahren 
3  Millionen  Pfund  verwandt  werden.  Der  ägyptische  Eisen- 
bahndienst läßt  bislang  nämlich  noch  viel  zu  wünschen 
übrig. 

Das  Eisenbahnmaterial  kommt  zu  zwei  Drittel  aus 
England,  aber  auch  Deutschland  hat  für  die  ägyptischen 
Bahnen  Lokomotiven,  Räder,  Achsen,  Brückenstahl,  Draht 
und  Isolatoren  geliefert. 

Elektrische  Straßenbahnen  existieren  in  Alexandrien 
und  Kairo. 

Die  Post,  deren  Beamte  meist  Italiener  sind  —  Ita- 
liener führten  1820  den  Postverkehr  im  Delta  ein  —  arbeitet 
musterhaft,  und  die  früher  in  Ägypten  bestandenen  fremden 
Postanstalten  wurden  in  den  Jahren  1875 — 1888  durch  Spezial- 
verträge  aufgehoben;  nur  Frankreich  ließ  seine  Postämter 
in  Alexandrien  und  Kairo  fortbestehen.  Der  Telegraph 
wies  1901  eine  Linienlänge  von  3800  und  eine  Drahtlänge 
von  15  600  km  auf;  eine  Landlinie  führt  auch  über  El 
Arisch  nach  Syrien  und  der  Türkei.  Das  bereits  1826 
eingeführte  System  der  optischen  Telegraphen  wurde  unter 
Said  Pascha  durch  den  elektrischen  Betrieb  ersetzt.  Be- 
treffs der  Herstellung  der  10500  km  langen  Telegraphen- 
linie vom  Kap  nach  Kairo  hat  die  englische  Regierung 
die  Teilstrecken  Alexandrien  — Faschoda  (3363  km)  und 
Kap-Mafeking  (1400  km)  übernommen,  während  von  dem 
5630  km  langen  Zwischenglied  die  Strecke  Mafeking  -  Salis- 
bury  von  der  Chartered  Company  gebaut  und  der  Rest  an 
die  African  Transcontinental  Telegraph  Co.  übertragen  ist. 
Telephon-Anlagen  bestehen  in  Alexandrien,  Kairo  und  Port 
Said,  die  beiden  ersten  Städte  sind  auch  untereinander  und 

7* 


—     100     — 

eine  ganze  Reihe  von  Dörfern  überall  in  Ägypten  durch  Te- 
lephon mit  der  nächsten  Telegraphenstation  verbunden. 

Sowohl  die  Eisenbahnen,  wie  die  Verwaltungen  von 
Post  und  Telegraph  werfen  für  den  Staat  verhältnismäßig 
gute  Überschüsse  ab. 

Alexandrien,  Port  Said  und  Sues  sind  durch  die  Eastern 
Telegraph  Co.  an  das  Welt-Kabel  netz  angeschlossen  und 
von  Sues  aus  geht  ein  Kabel  nach  Suakin  und  Dschidda. 

Der  Schiffsverkehr  Ägyptens  deckt  sich  im  wesent- 
lichen mit  demjenigen  von  Alexandrien,  da  der  von  Port 
Said  und  Sues  überwiegend  Durchgangsverkehr  des  Kanals 
und  derjenige  von  Kosser  von  wenig  Bedeutung  ist.  Im 
Jahre  1901  liefen  in  Alexandrien  2882  Schiffe  mit  zusammen 
2  561  000  Tonsein,  und  zwar  dominieren  unter  den  Dampfern 
die  englischen  und  unter  den  Seglern  die  türkischen.  Neue 
Kaianlagen  sind  mit  dem  gesteigerten  Verkehr  sowohl  in 
Alexandrien,  wie  in  Port  Said  notwendig  geworden.  Die 
eigene  Handelsmarine  Ägyptens  zählte  1901  nur  noch  neun 
Dampfer  mit  zusammen  3530  Tons  und  6  Segler  über  50 
Tous  mit  zusammen  1481  Tons;  auf  dem  Nile  verkehren 
neben  Post-  und  Touristendampfern  die  Hausboote  oder  Da- 
habiyen  und  große  Nilbarken  für  Handel  und  Personenverkehr 
der  Eingeborenen,  im  Jahre  1904  erwarb  die  mit  einem 
Kapital  von  44000  £  gegründete  Menzaleh  Canal  and  Na- 
vigation Co.,  eine  Tochtergesellschaft  der  New  Egyptian  Co., 
für  die  Dauer  von  40  Jahren  das  Monopol  für  die  Dampf- 
schiffahrt auf  dem  Mensaleh-See  und  gedenkt  einen  direkten 
Wasserweg  von  den  Docks  in  Port  Said  durch  den  See  und 
den  Nil  nach  den  wichtigsten  Handelszentren  des  Ostdeltas 
und  sogar  bis  Kairo  zu  schaffen.  Das  früher  im  Besitz  der 
ägyptischen  Regierung  gewesene  Chedivieh  -  Dampfschiffs- 
Unternehmen   ging  1898    für  12^2  Millionen  Francs  mit  elf 


-     101     — 

Passagier- und  Frachtdampfern  von  durchschnittlich  1000  Tons 
nebst  Docks,  Magazinen,  Werkstätten,  Leichtern  usw.  in  den 
Besitz  der  Khedivial  Mail  Steamship  and  Graving  Dock  Co. 
über,  welche  für  1901  2  eine  Dividende  von  4''o  gab  und 
jetzt  etwa  20  Dampfer  von  Alexandrien  nach  dem  Piräus 
und  nach  Konstantinopel  laufen  läßt. 

Von  deutschen  Dampfern,  die  das  ägyptische  Geschäft 
pflegen,  kommen  vor  allen  diejenigen  der  deutschen  Levante- 
Linie  in  Betracht,  welche  seit  Anfang  1890  einen  Dienst 
zwischen  Hamburg  und  Alexandrien  mit  Durchgangstarifen 
vom  deutschen  Binnenland  eingerichtet  hat  und  alle  20  Tage 
in  jeder  Richtung  verkehrt;  auch  die  Touristen-Dampfer  der 
Levante-Linie  laufen  Alexandrien  an,  und  seit  Herbst  1904 
hat  der  Norddeutsche  Lloyd  einen  regelmäßigen  vierzehn- 
tägigen Passagierdienst  zwischen  Barcelona,  Marseille,  Neapel 
und  Alexandrien  eingerichtet. 

Der  eigene  Handel  von  Port  Said  belief  sich  1902  im 
Import  auf  917000  Pfund  und  wies  in  erster  Linie  1  100000 
Tons  Cardiff-Kohle  auf,  die  meist  den  den  Kanal  passieren- 
den Dampfern  als  Bunkerkohle  dient:  seit  einigen  Jahren 
existiert  in  Port  Said  auch  ein  großes  deutsches  Kohlen- 
lager. Der  Export  von  Port  Said  wertete  1902  82000  £ 
und  bestand  hauptsächlich  aus  Baumwolle,  nachdem  sich  die 
Ausfuhr  von  gewissen  Teilen  des  östlichen  Deltas  jetzt  wegen 
billigerer  Transportspesen  von  Alexandrien  weg  und  nach 
Port  Said  gezogen  hat,  ein  Wechsel,  der  mit  Fertigstellung 
der  Vollbahn  ismailia — Port  Said  noch  viel  schärfer  in  Er- 
scheinung treten  dürfte.  Die  Hauptbedeutung  Port  Saids 
aber  liegt  in  seinem  immensen  Kanalverkehr,  und  zwar  wurde 
der  Sueskanal  im  Jahre  1902  regelmäßig  von  38  großen 
Dampfer-Gesellschaften,  im  ganzen  von  3708  Schiffen,  be- 
nutzt und  folgende  Flaggen  stellten  das  Hauptkontingent: 


—     102     - 

Englisch.  Deutsch.  Französisch.  Holländisch. 

Zahl  der  Schiffe:       2165  480              274                218 

Gehalt  in 

1000  Tonnen:          6772  1707             769                520 

Österreichisch.  Russisch.  Japanisch.  Italienisch. 
Zahl  der  Schiffe:  139  110  61  85 

Gehalt  in 
1000  Tonnen:  417  328  232  167 

Deutschland  steht  bei  der  Benutzung  des  Kanals  also 
in  zweiter  Linie,  und  während  die  englische  Flagge  von  dem 
Gesamt\'erkehr  58  ^'^  der  Schiffszahl  und  60 '\,  der  Tonnage 
beansprucht,  entfallen  auf  Deutschland  bereits  \3'\  der 
Schiffe  und  15  '\,  der  Tonnage. 

Die  Zahl  der  Transitpassagiere,  welche  1902  den  Kanal 
passierten,  belief  sich  auf  223000,  der  Durchschnittsraum 
der  3708  Schiffe  auf  3034  Tons  und  die  Gesamteinnahme 
der  Kanalgesellschaft  für  die  Benutzung  des  Kanals  auf 
4148000  Pfund,  eine  Einnahme,  die  auch  1903,  trotz  einer 
Ermäßigung  der  Durchgangsgebühren  um  50  Centimes  für 
die  Tonne,  erzielt  werden  konnte.  Die  Tiefe  des  160  km 
langen  Kanals  beträgt  jetzt  überall  8  Meter,  und  die  Durch- 
fahrt beansprucht  im  Durchschnitt  18  Stunden. 

Die  .Anteilscheine  der  „Compagnie  Universelle  du  Canal 
.Maritime  de  Suez"  wurden  im  Juli  1904  an  der  Pariser  Börse 
wie  folgt  notiert: 

Gewöhnl.. Aktien.  Genuß-Scheine.  Gründer-.Anteile. 
Notierung:  4155  3500  1895  Francs 

Ertrag  1902:  134  106  6P  2       „ 

5  X  Obligationen.  3  "0  Obligationen. 
Notierung:  620  480  Francs 

Ertrag  1902:  25  15       „ 

und    das    Kapital    der    Gesellschaft   wies  nach  Abschluß  für 


—     103     — 

1903  auf:  200  Millionen  Francs  Aktienkapital,  273  Millionen 
Francs  Obligationen  und  201  Millionen  Reser\'en. 

Da  die  Kompanie  ihre  Konzession  nur  auf  99  Jahre 
auszunützen  das  Recht  hat,  so  fällt  der  Kanal  1968  an  die 
ägyptische  Regierung,  welche  bis  dahin  15 '\,  vom  Reinertrag 
abzüglich  einer  Verzinsung  von  5  *^,o  des  Aktienkapitals 
erhält. 

Sues  hat,  seitdem  es  nicht  mehr  Ausgangspunkt  und 
Proviantstation  der  Großschiffahrt  nach  dem  Osten  ist,  son- 
dern nur  noch  der  Abfahrtshafen  für  die  Mekkapilger  und 
der  Hafen  für  den  Verkehr  mit  Indien,  in  seiner  Be- 
deutung ganz  wesentlich  verloren;  der  Platz  importierte  1902 
für  704000  Pfund,  meist  Textilwaren,  Indigo,  Gewürze  und 
Kaffee  und  führte  für  276000  Pfund  aus,  meist  Zucker  und 
Gummi. 

Die  Zahl  der  Leuchtfeuer  im  Roten  Meere  ist  in  den 
letzten  Jahren  wesentlich  vermehrt  worden. 

Ägypten    zählt   3700  Städte    oder  größere  Ortschaften  Ortschaften. 
und  14500  Dörfer;    mit   Ausnahme    der   für   Gelehrte    und 
Touristen  interessanten  Punkte,  die  hier  nicht  berührt  werden 
können,    kommen    für   Europäer    aber    nur    eine    sehr    be- 
schränkte Anzahl  von  Plätzen  in  Betracht. 

Des  Landes  Hauptstadt  Kairo,  im  Jahre  970  an  Stelle 
des  wiederholt  durch  Brand  zerstörten  Fostat  (Alt-Kairo) 
am  Fuße  des  Mokattam  erbaut,  liegt  an  der  Wurzel  des 
Deltas  und  am  Rande  der  Wüste,  zählt  570000  Einwohner 
und  ist  wohl  die  angenehmste  morgenländische  Stadt  über- 
haupt, da  sie  mit  einer  Fülle  von  Sehenswürdigkeiten  und 
Eigenart  den  größten  modernen  Komfort  vereinigt.  Die  Über- 
führung der  Altertümer  von  Giseh  nach  dem  neuen  Museum 
in  Kairo  ist  1902  beendet  worden,  und  damit   ist  diese  be- 


—     104     — 

rühmte  Sammlung  bequemer  zugänglich  geworden.  Kein 
zweites  Land  besitzt,  wie  Ägypten,  so  viele  Altertümer,  die  uns 
den  vielseitigsten  Einblick  in  das  tägliche  Leben  der  Größten 
wie  der  Geringsten  gestatten.  Viele  kostbare  Funde  freilich 
schmücken  ausländische  Museen;  so  birgt  z.  B.  das  bri- 
tische Museum  in  London  den  1799  gefundenen  schwarzen 
Basaltstein  von  Rosette,  der,  aus  dem  Jahre  196  v.  Chr. 
stammend,  in  Hieroglyphisch,  Demotisch  und  Griechisch  einen 
gleichlautenden  Dank  an  Ptolemäus  V.  enthält  und  der  den 
Ausgangspunkt  der  ägyptologischen  Wissenschaft  bildet.  Die 
zweitgrößte  Stadt  und  der  Haupthafenort  Ägyptens,  Alexan- 
drien,  liegt  auf  sandigem  Streifen  zwischen  dem  Meere  und 
dem  sumpfigen  Mareotis-See  und  zählt  unter  ihren  320000 
Einwohnern  etwa  60000  Ausländer,  meist  Italiener,  Griechen 
und  Franzosen  und  etwa  500  Deutsche  und  Schweizer.  Das 
ausgedehnte  Frankenviertel  im  Süden  macht  einen  ziemlich 
europäischen  Eindruck,  daneben  existieren  auch  noch  Tür- 
ken- und  Araberviertel;  von  der  einstigen  Herrlichkeit  frü- 
herer Zeiten  aber  ist  verzweifelt  wenig  übriggeblieben.  Port 
Said  zählt  42000  Einwohner,  darunter  einen  guten  Teil 
Abschaum  aus  aller  Herren  Länder;  Sues  nur  17000  Ein- 
wohner, darunter  2  700   Europäer. 

Damiette  zählt  32000  Einwohner  und  beherrscht 
noch  immer  einen  Teil  des  Küstenhandels,  wenn  auch 
seine  frühere  Bedeutung  durch  Alexandrien  und  Port 
Said  zurückgedrängt  ist.  Rosette  ist  noch  wichtig  als 
Hauptdepot  des  ägyptischen  Reises,  der  hier  enthülst 
wird. 

Sehr  bemerkenswert  ist,  wie  es  neuerdings  nach 
Angaben  von  Ronald  Roß  gelungen  ist,  die  Malaria  in 
dem  berüchtigten  Fieber -Ort  Ismail  ia  am  Timsah -See 
des  Sueskanals  durch  die  Drainage  sumpfiger  Stellen  und 
durch     die     Anwendung     von     Petroleum      bei     kleineren 


—     105     — 

Pfützen,    den    Moskitobrutstätten,    mit    großem    Erfolg    zu 
bekämpfen. 

Weitere  nennenswerte  bezw.  größere  Orte  sind  das 
durch  seine  drei  jährlichen  Messen  berühmte  Tantah  mit 
57000  Einwohnern,  Sagas  ig,  ebenso  wie  Mansurah  ein 
Hauptort  des  Getreide-  und  Baumwollhandels,  mit  36000 
Einwohnern,  Damanhur  mit  27000,  sämtlich  im  Delta  ge- 
legen. Dagegen  sind  weiter  flußauf  im  Niltal  noch  zu  nen- 
nen Minieh  im  Zentrum  der  Zuckerproduktion,  mit  20000 
Einwohnern,  das  an  der  Mündung  eines  Karawanenweges 
von  Darfur  gelegene  Siut  mit  42000  Einwohnern,  Keneh,  der 
Ausgangspunkt  der  Karawanen-  und  Pilgerstraße  nach  Kosser 
und  Sitz  einer  bedeutenden  Tonwaren-Industrie,  und  endlich 
das  am  ersten  Katarakt  gelegene  Assuan.  Theben,  der 
stärkste  Anziehungspunkt  für  alle  Reisenden,  welche  von  den 
Pyramiden  südlich  gehen,  ist  seit  Römerzeiten  her  nur  noch 
ein  von  Dorfsiedelungen  durchsetztes  Ruinenfeld  voll  riesen- 
hafter Trümmer,  in  einem  Kessel  gelegen,  befinden  sich  im 
Osten  des  Stroms  die  palmenumkränzten,  mächtigen  Tempel 
von  Karnak  und  südlich  davon,  früher  von  einer  Sphinx-Allee 
mit  ihnen  verbunden,  das  Heiligtum  von  Luxor  mit  seinem 
Obelisken.  Auf  dem  Westufer  aber  liegen  die  heutigen 
Fellachendörfer  Kurnah  und  Medinet  Habu  mit  ihren  be- 
rühmten Tempelresten  und  den  Memnonssäulen,  während 
die  Rundung  des  westlichen  Randgebirges  von  zahlreichen 
alten  Gräbern  durchhöhlt  ist  und  im  Norden  sich  die 
Schlucht  der  Königsgrüfte,  Biban  el  Moluk,  in  die  Bergkette 
hineinzieht. 

Der  einzige  Ort  des  nubischen  Niltals  zwischen  dem 
ersten  und  zweiten  Kararakt,  welcher  einige  wirtschaft- 
liche Bedeutung  hat,  ist  das  Dorf  Korosko,  weil  von 
hier  aus,  den  großen  Nilbogen  mit  seinen  drei  Katarakten 
abschneidend,     eine     Karawanenstraße     in     gerader     Linie 


-     106     — 

nach  Abu  Hammed  am  Nilknie  oberhalb  des  vierten  Katarak- 
tes führt. 

Die  Egyptian  Markets  Co.  hat  eine  30  jährige  Konzes- 
sion zur  Erbauung  und  Leitung  von  Markthallen  in  120 
Zentren  Ober-  und  Unter-Ägyptens  bekommen,  welche  an 
Stelle  der  bisher  üblichen  Märkte  unter  offenem  Himmel 
treten  sollen. 


Der  ägyptische  Sudan. 


Die  alten  Geographen  bezeichneten  das  nilaufwärts  von  Geschichte. 
Ägypten  h'egende,  von  dunkelfarbigen,  braunen  und  schwar- 
zen Menschen  bewohnte  Land  mit  dem  Namen  Äthiopien, 
hebräisch  Kusch,  d.  h.  das  „Südland".  Das  Interesse  Ägyp- 
tens für  sein  Nachbarland,  das  kein  Ackerbauland  ist,  be- 
schränkte sich  anfangs  auf  den  Handel  mit  Elfenbein  und 
schwarzen  Sklaven,  und  stieg,  als  man  in  seinen  Gebirgen 
reiche  Goldlager  entdeckte,  die  lange  Zeit  Ägypten  fast  aus- 
schließlich mit  dem  vielbegehrten  Metall  versorgten  und  auch 
dem  Lande  seinen  Namen  „Nubien"  gaben,  da  Nuba  das 
ägyptische  Wort  für  Gold  ist. 

Schon  zur  Zeit  der  6.  Dynastie  war  die  ägyptische 
Oberherrschaft  über  einen  Teil  von  Nubien  anerkannt,  die 
völlige  Unterwerfung  wurde  aber  erst  unter  der  12.  Dynastie 
durchgeführt,  und  nachdem  Usertisen  I.  in  seinen  Kämpfen 
zum  ersten  Male  mit  den  Negern  zusammengestoßen  war, 
legte  Usertisen  111.  bei  Semne,  oberhalb  des  zweiten  Kata- 
raktes, eine  ägyptische  Grenzfestung  an  und  verbot  den  jen- 
seits wohnenden  Negern,  auf  ihren  Booten  über  diesen  Punkt 
hinaus  abwärts  zu  fahren ;  dagegen  scheinen  die  Neger  zwangs- 
weise auch  besonders  in  den  Goldbergwerken  beschäftigt 
worden    zu    sein.     Nigritisches   Blut  mischte   sich  mit  ägyp- 


—     108     - 

tischem,  andrerseits  siedelten  sich  ägyptische  Ackerbauer  und 
Handwerker  im  nubischen  Niltal  an,  besonders  als  Ramses  11. 
dort  eine  Anzahl  neuer  Städte  und  eine  Reihe  Tempel  er- 
bauen ließ.  Die  Goldminen  gaben  noch  immer  reiche  Er- 
träge und  ägyptische  Kultur  drang  bis  in  den  Sudan  vor, 
besonders  nachdem  die  21.  Dynastie  (1085 — 950)  die  Ammon- 
Priesterkönige  nach  dem  Süden  verbannt  hatte  und  diese  auf  ur- 
sprünglich nigritischem  Gebiet  unterhalb  des  4.  Katarakts  das 
nach  seiner  Hauptstadt  benannte  Königreich  Napata  im 
heutigen  Dongola  begründet  hatten.  Das  ägyptische  Priester- 
tum  fand  hier  treuherzige,  beschränkte  und  opferwillige  An- 
hänger und  erlebte  eine  goldne  Zeit.  Nachdem  diese  nu- 
bische  Dynastie  schon  wiederholt  erfolgreich  in  Ägypten 
aufgetreten  war,  wurde  sie  während  der  Wirren  zu  Ende 
des  „Neuen  Reichs"  von  Tafnecht  aus  Sais  zu  HiJfe 
gerufen  und  bemächtigte  sich  zeitweilig,  etwa  von  716  bis 
671,  selbst  des  Thrones  dieses  alten  Kulturstaates,  war  aber 
zu  schwach,  um  sich  dauernd  halten  und  dem  Andringen  der 
Assyrer  widerstehen  zu  können.  Im  Jahre  668  verließen  die 
äthiopischen  Truppen  Ägypten,  das  nach  Wiedererlangung 
seiner  Selbständigkeit  seinerseits  einen  Vorstoß  gegen  Nubien 
unternahm,  aber  ohne  dauernden  Erfolg,  und  seit  dem  Jahre 
650  beginnt  der  Südstaat  sich  mehr  und  mehr  vom  Norden 
zu  isolieren  und  seinen  Verkehr  nach  Süden  und  Osten  hin  aus- 
zudehnen. Die  Geistlichkeit  bildete  sich  immer  mehr  zur 
entscheidenden  Gewalt  im  Staate  aus,  und  eine  bis  ins 
Wunderliche  gesteigerte  Frömmigkeit  blieb  auch  fernerhin 
der  hervorstechendste  Zug  der  Äthiopier,  während  andere 
Zeichen  von  Gesittung  nach  und  nach  verkamen  und  in  Ver- 
gessenheit gerieten. 

Nach  der  Trennung  von  Ägypten  verschob  sich  der 
Schwerpunkt  des  Reichs  mehr  und  mehr  nach  Süden;  Na- 
pata blieb  der  Sitz  des  Priestertums,  aber  die  Könige  erbau- 


—     109     — 

ten  sich  eine  neue  Residenz  südlich  von  der  Mündung  des 
Atbara  in  den  Nil,  die  Stadt  Meroe,  nach  der  späterhin  in 
der  Regel  das  Reich  benannt  wird;  damit  wurde  Äthiopien 
der  Gefahr,  in  die  Geschicke  Ägyptens  verflochten  zu  werden, 
noch  mehr  als  vorher  entzogen,  und  als  zur  Perserzeit  die 
Eindringlinge  einen  Teil  Nubiens  an  sich  rissen,  blieb  das 
Reich  Meroe  unerschüttert.  Die  noch  heute  erhaltenen  Py- 
ramiden von  Meroe  sind  den  ägyptischen  ähnlich,  aber  kleiner 
und  schlanker.  Der  übermächtige  und  anmaßende  Einfluß 
des  Priestertums  wurde  um  270  vor  Chr.  vorübergehend 
durch  den  König  Argamon  zerstört  und  das  Königtum  wurde 
dadurch  unabhängiger;  andrerseits  entwickelten  sich  hier  mehr 
und  mehr  mutterrechtliche  Anschauungen  und  führten  zu  einer 
bevorzugten  Stellung  der  Königinnen,  die  gewöhnlich  die 
Regentschaft  für  ihre  unmündigen  Söhne  übernahmen  und 
auch  nach  deren  Großjährigkeit  weiter  mitregierten.  Diese 
Königinnen  führten  den  Titel  Kandake. 

Auch  die  Ptolemäer  suchten,  besonders  für  Handels- 
zwecke, ihre  Herrschaft  im  Süden  zu  begründen;  so  legte 
Ptolemäus  Philadelphos  247  vor  Chr.  in  der  Gegend  des 
heutigen  Tokar  Ptolemais  Epitherion  an  und  sandte  von 
hier  aus  große  Expeditionen  ins  Innere  bis  nach  Darfur,  um 
Elfenbein,  Ebenholz  und  Negersklaven  zu  holen. 

Nach  und  nach  hatte  sich  Äthiopien  in  einen  echt  su- 
danesischen Staat  verwandelt,  dessen  Aufmerksamkeit  den 
südlichen  Negerländern  zugewandt  war,  während  die  Verbin- 
dung mit  dem  Norden  immer  loser  wurde,  im  Jahre  23  vor 
Chr.  versuchte  zwar  die  Königin  von  Meroe  noch  einmal 
Rechte  auf  das  bereits  Provinz  des  gewaltigen  Römerreichs 
gewordene  Ägypten  mit  Waffengewalt  geltend  zu  machen, 
aber  das  Unternehmen  scheiterte  kläglich  an  dem  Widerstand 
der  römischen  Grenztruppen,  welche  ihrerseits  mit  einerö 
Rachezuge    und    der  Zerstörung  des  alten  Königssitzes  Na- 


—     110     — 

pata  antworteten ;  Meroe  selbst  aber  blieb  unter  dem  Schutze 
der  Wüste  und  der  Stromschnellen  unabhängig  von  Rom. 
Im  Laufe  der  Jahrhunderte  wurde  das  Land  dann  schwach 
und  verfiel,  und  die  Verbindung  mit  dem  Norden  wurde 
gänzlich  unterbrochen,  als  der  rohe,  im  Gebirgsland  östlich 
vom  nubischen  Nil  ansässige  hamitische  Volksstamm  der 
Blemmyer  seine  verheerenden  Raubzüge  begann  und  den 
Nilweg  zuweilen  völlig  sperrte.  Immerhin  gelangten  Keime 
der  griechisch-römischen  Kultur  nach  dem  Süden  und  ver- 
hinderten, daß  der  östliche  Sudan  in  vollkommene  Barbarei 
zurückgesunken  wäre.  Im  Jahre  300  nach  Chr.  berief  Dio- 
cletian  die  „Nubier"  aus  den  Oasen  westlich  vom  Nil  in  das 
zunächst  Syene  am  1.  Katarakt  gelegene  Niltal,  um  das  Land 
gegen  die  Einfälle  der  von  da  nilaufwärts  sitzenden  Blemmyer 
und  der  Megabarer  zu  schützen. 

Es  entsprach  ganz  dem  religiösen  Charakter  der  Äthi- 
opier, daß  die  Sendboten  des  Christentums  jakobitischer 
Lehre,  die  seit  dem  6.  Jahrhundert  endlich  auch  in  Nubien 
vordrangen,  in  ihrer  Propaganda  unerwartet  erfolgreich  waren. 
Wann  sie  zum  ersten  Male  in  Meroe  erschienen  sind,  weiß 
man  nicht;  sicherlich  aber  haben  gerade  der  Zerfall  des 
Reiches  und  die  Schwächung  der  alten  Priestermacht  ihr 
Wirken  ebenso  begünstigt,  wie  dies  durch  Einsickern  der 
griechischen  Kultur  und  Sprache  unterstützt  wurde.  Die  Stadt 
Meroe  scheint  bereits  zu  Neros  Zeiten  in  Trümmern  gelegen 
zu  haben.  Das  äthiopische  Reich  selbst  spaltete  sich  in  zwei 
Hauptgebiete,  das  nördliche  nu bische,  für  welches  auch 
der  Name  Napata  wieder  auftaucht,  und  das  südöstliche,  das 
seinen  Mittelpunkt  unter  den  kräftigen  abessinischen  Berg- 
völkern zu  Axum  fand  und  in  enge  Beziehungen  zu  Arabien 
trat,  welches  das  bei  weitem  mächtigere  und  in  gewissem 
Sinne  auch  kultiviertere  Reich  war.  Als  der  Islam  im  Jahre 
638  Ägypten  unterwarf,  wurde  Nubien  der  Zufluchtsort  vieler 


—    111    — 

Christen  und  hielt  gemeinsam  mit  Axum  lange  Zeit  dem  ara- 
bischen Ansturm  als  Hort  christlichen  Glaubens  stand.  Wie 
man  annehmen  darf,  wurde  gerade  durch  die  Flüchtlinge  der 
Glaubenseifer  des  Volkes  zur  hellen  Flamme  entfacht;  zahl- 
reiche Kirchen  und  Klöster  entstanden  zwischen  dem  7.  und 
14.  Jahrhundert  im  Niltal,  besonders  in  der  heutigen  Provinz 
Dongola.  Aber  nur  im  abessinischen  Bergland  hat  sich  eine 
Art  Christentum  bis  zum  heutigen  Tage  erhalten,  während 
es  in  Nubien  allmählich  dem  Islam  erlag. 

Von  Axum  und  von  den  Negerländern  im  Süden  ab- 
geschnitten, hatte  das  christliche  Nubien  seinen  Schwerpunkt 
wieder  nach  Norden  zu  und  zwar  nach  dem  heutigen  Don- 
gola verlegt,  wo  es  noch  lange  Zeit  dem  Islam  erfolgreich 
widerstand,  im  Jahre  651  brachen  arabische  Scharen  in 
Nubien  ein  und  bedrohten  Dongola,  fanden  aber  so  ent- 
schlossenen Widerstand,  daß  sie  sich  mit  einem  jährlichen 
Tribut  von  360  Sklaven  begnügten,  wofür  sie  Getreide  zu 
spenden  versprachen;  dieses  Verhältnis  zu  Ägypten  scheint, 
wenn  auch  mit  Unterbrechungen,  lange  bestanden  zu  haben. 
im  10.  Jahrhundert  hören  wir  von  mehreren  Angriffen  der 
Nubier  auf  ägyptisches  Gebiet,  aber  im  11.  Jahrhundert  be- 
ginnt ihre  Macht  zu  sinken,  und  im  Jahre  1275  nahm  der 
ägyptische  Sultan  die  Stadt  Dongola  ein  und  vertrieb  den 
dortigen  König  David. 

Nubien  wurde  bald  darauf  Tributärstaat  Ägyptens  und 
stand  nunmehr  der  Propaganda  des  Islams  offen;  in  der  Tat 
trat  um  1350  selbst  das  Herrscherhaus  von  Dongola  zum 
Islam  über,  allerdings  nicht  die  alte  Dynastie,  sondern  ein 
aus  Assuan  stammender  Usurpator.  Nachdem  Ägypten  tür- 
kische Provinz  geworden,  ließ  Sultan  Selim  I.  Obernubien 
und  Dongola  durch  bosnische  Truppen  erobern  und  besie- 
deln. Allmählich  aber  teilte  sich  das  Land  in  verschiedene 
kleinere  Staaten  mit  eigenen  Häuptlingen,    welche   abhängig 


—     112     — 

waren  von  den  Arabern  oder  dem  Sultan  oder  dem  König 
von  Senaar.  Das  letztere  Reich  v^ar  zu  Anfang  des 
16.  Jahrhunderts  von  dem  Negerstamm  der  Fundsch  be- 
gründet worden,  welche  über  den  Weißen  Nil  vorgedrun- 
gen waren,  die  dort  wohnenden  Beduinen  unterwarfen 
und  ihrerseits  bald  zum  Islam  übertraten.  Auch  in  Dar 
Für,  dessen  einheimische  Negerbevölkerung  durch  die  jetzt 
herrschenden,  scheinbar  von  Osten  vorgedrungenen  Für 
zurückgedrängt  wurde,  führte  Suleiman  Solon  (1596—1637) 
den  Islam  ein,  dehnte  seine  Macht  in  zahlreichen  Kriegszügen 
bis  über  den  Nil  und  zum  Atbara  aus,  beherrschte  also  auch 
ganz  Kordofan  und  Teile  von  Senaar,  und  auch  Wadai 
erkannte  seine  Oberherrschaft  an.  Seine  Nachfolger  hielten 
das  Reich  unter  vielen  Kämpfen  mit  wechselndem  Glück  zu- 
sammen; Kordofan  aber  wurde  1790  zeitweilig  mit  Senaar 
vereinigt. 

Eine  nennenswerte  Unterbrechung  von  außen  her  trat 
erst  dadurch  ein,  daß  der  Rest  der  ägyptischen  Mameluken 
1811  vor  Mohammed  Ali  nach  Nubien  flüchtete  und  1814 
Neu-Dongola  gründete,  aber  auch  von  dort  1820  von  ägyp- 
tischen Truppen  unter  Ismail,  Mohammed  Alis  Sohn,  ver- 
trieben wurde;  die  Mameluken  wandten  sich  westwärts  in  die 
Wüste  und  sind  dort  spurlos  verschwunden.  Mohammed  Ali, 
hauptsächlich  durch  die  Gerüchte  von  dem  großen  Gold- 
reichtum veranlaßt,  schickte  sich  nun  an,  seinen  Einfluß  auch 
weiter  südlich  geltend  zu  machen,  wo  die  früher  bestan- 
denen christlichen  Staaten  Aloa  und  Mokra  längst  durch 
das  islamitische  Reich  Senaar  abgelöst  waren,  und  sandte  zu 
diesem  Zweck  eine  militärische  Expedition,  der  er  auch  ver- 
schiedene europäische  Forscher,  besonders  Deutsche  und 
Österreicher  beigab.  Nach  dem  Fall  von  Dongola  1820 
zog  Ismail  weiter  nach  Süden,  und  seine  Truppen  gingen 
teils  nach  Senaar,  teils  nach  Kordofan  vor,  anfangs  mit  Er- 


—     113     — 

folg.  Obgleich  dann  Ismail  1822  wegen  übertriebener  Tribut- 
forderung von  der  verzweifelten  Bevölkerung  in  Schendi  er- 
mordet wurde,  blieb  das  Land  dennoch  in  den  Händen  der 
Ägypter  und  wurde  von  diesen  ausgesogen;  besonders  hatten 
die  südlichen  freien  Negerstämme  das  neue  Joch  zu  fühlen, 
und  ihr  Land  wurde  mehr  als  jemals  das  Ziel  unternehmen- 
der Sklavenräuber.  Den  Mittelpunkt  der  neuen  Provinz  bil- 
dete seit  1830  das  am  Zusammenfluß  des  Weißen  und  des 
Blauen  Nils  gelegene  Chart  um. 

Nachdem  die  verhältnismäßig  leichte  Zugänglichkeit  des 
Weißen  Nil  festgestellt  war  und  der  Sudan  bald  darauf  in 
den  Ruf  kam,  daß  Elfenbeinhandel  und  Sklavenraub  dort 
mühelos  Reichtümer  böten,  strömten  zahlreiche  Abenteurer 
aus  Ägypten  und  Nubien  dahin,  während  gleichzeitig  auch 
die  ersten  christlichen  Missionare  eintrafen,  und  der  mittel- 
bare Einfluß  Ägyptens  breitete  sich  dadurch  von  selbst  aus. 
Die  1847  ins  Leben  gerufene  Katholische  Mission  für  Zentral- 
afrika legte  Stationen  in  Chartum,  Kanisseh  (Heilig  Kreuz) 
und  Gondokoro  an,  aber  das  mörderische  Klima  zwang  die 
österreichischen  Missionare  schon  nach  wenigen  Jahren 
zum  Verlassen  der  beiden  letzteren.  Die  Händler  hausten 
in  ihren  Raubstaaten  wie  kleine  Fürsten  und  konnten  na- 
türlich auf  die  Dauer  mit  der  Regierung  nicht  in  Frieden 
bleiben;  darunter  ist  vor  allem  der  aus  Schendi  stam- 
mende arabische  Sklavenjäger  Sobehr  (Sibehr,  Zubair) 
zu  nennen,  der  sich  später  zum  Herrscher  des  südöstlich 
von  Darfur  gelegenen  Dar  Fertit  aufschwang.  Beschwer- 
den europäischer  Missionare  und  Forschungsreisenden  er- 
regten bald  Entrüstung  über  das  unheilvolle  Treiben,  und 
da  Ägypten  damals  viel  darauf  hielt,  zu  den  „Kultur- 
staaten" gerechnet  zu  werden,  erschien  der  Vizekönig  Said 
Pascha  1855  persönlich  in  Chartum,  verbot  kurzweg  den 
Sklavenhandel  und  untersagte  seinen  Beamten  die  bisher  üb- 

Sch  anz,  Ägypten.  8 


—     114     — 

lieh  gewesenen  Sklavenjagden  in  die  Negerländer,  womit  er 
ihre  Einnahmen  auf  das  empfindlichste  schädigte;  der  Sklaven- 
handel ging  deshalb,  wenn  auch  in  anderen  Formen,  im  ge- 
heimen doch  weiter.  In  den  Jahren  1852—58  und  1861  bis 
1864  erforschte  der  Württemberger  Theodor  von  Heuglin 
den  Ostsudan,  und  1869—71  weilte  hier  auch  Georg  Schwein- 
furth,  der  berühmte  Erforscher  Ägyptens  und  seiner  Nachbar- 
länder. Der  Einfluß  der  antisklaverisch  gesinnten  Europäer 
stieg,  als  Ismail  1863  zur  Herrschaft  kam  und  sich  —  we- 
niger aus  innerer  Überzeugung,  als  aus  Eitelkeit  —  als 
Reformator  und  Begünstiger  des  Fortschritts  aufspielte.  Is- 
mail ging  auf  die  Vorschläge  Samuel  Bakers,  des  Entdeckers 
des  oberen  Nils,  ein,  den  Sklavenhändlern  entgegenzutreten, 
und  sandte  Baker  Pascha  1869  mit  einem  kleinen  Heere  in  das 
obere  Nilgebiet,  wo  er  den  Sklavenhändlern  das  Handwerk 
legte  und  1873  die  ägyptische  Herrschaft  bis  zum  Albert-See 
und  an  die  Grenzen  von  Ungoro  ausgedehnt  hatte;  um  die- 
selbe Zeit  wurde  das  Bahr  el  Ghasal-Gebiet  angegliedert  und 
Darfur  unterworfen,  sodaß  der  ägyptische  Sudan  damals  seine 
größte  Ausdehnung  erreichte. 

Darfur  war  schon  seit  1870  durch  Sobehr,  der  nach 
und  nach  eine  beträchtliche  Kriegsmacht  um  sich  versammelt 
hatte,  bedroht  und  von  seinen  heidnischen  Grenzländern  im 
Süden,  einer  Quelle  seiner  Macht,  abgeschnitten  worden, 
während  gleichzeitig  Ägypten  lüsterne  Blicke  auf  das  Land 
warf  und  Sobehr  in  sein  Interesse  zu  ziehen  suchte,  dadurch, 
daß  es  diesen  zum  Mudir  oder  Statthalter  der  Provinz  Bahr 
el  Ghasal  ernannte.  Durch  eine  Expedition  des  General- 
gouverneurs des  ägyptischen  Sudans,  Imail  Pascha,  die  von 
Chartum  aus  vordrang,  wirksam  unterstützt,  schlug  Sobehr 
den  Sultan  Ibrahim  Koko  von  Darfur  im  Herbst  1874  ent- 
scheidend und  erlangte  auch  die  Statthalterschaft  dieser  neuen 
Provinz.     Doch  erschien  er  in  dieser  einflußreichen  Stellung 


-     115     - 

den  Ägyptern  bald  zu  gefährlich,  und  sie  lockten  ihn  deshalb 
1875  nach  Kairo,  wo  er  zwar  mit  Ehren  überhäuft,  aber  bis 
zu  seinem  Tode  zurückgehalten  wurde,  während  man  seinen 
ungefährlich  erscheinenden  jungen  Sohn  Suleiman  die  Nach- 
folge des  Vaters  antreten  ließ.  Für  die  Reisenden  vom  Roten 
Meer  zum  Nil  und  bis  an  die  Grenze  Wadais  wurden  damals 
22  Rastherbergen  errichtet. 

Nachdem  Baker  Pascha  1873  nach  England  zurück- 
gekehrt, brachte  Gordon  1874—76  die  am  oberen  Nil  begon- 
nenen Unternehmungen  zu  Ende,  organisierte  die  Äquatorial- 
provinz, deren  Gouverneur  er  wurde,  und  deren  Hauptort 
zunächst  Lado.  dann  Wadelai  war,  während  das  bis  zu  Fa- 
schoda  reichende  Gebiet  des  eigentlichen  Sudans  unter 
Ismail  Pascha  stand.  Gordon  legte  eine  Reihe  von  befes- 
tigten Posten  bis  zu  den  großen  Seen  an  und  wurde  1877, 
als  er  zum  zweiten  Male  in  ägyptische  Dienste  trat,  zum 
Pascha  und  Generalgouverneur  von  Sudan,  Darfur,  der 
Äquatorialprovinz  und  der  Küste  des  Roten  Meeres  befördert. 
Aber  selbst  die  Energie  eines  Gordon  genügte  nicht,  um  ein 
so  ungeheures  Gebiet  zu  überwachen  und  zu  verwalten. 
Er  gab  deshalb  mehrere  Äquatorialstationen  auf,  zog  die 
südliche  Grenze  der  ägyptischen  Besitzungen  zum  Somerset- 
Nil  zurück  und  teilte  den  Rest  der  Äquatorialprovinzen  in 
die  eigentliche  Äquatorialprovinz  mit  dem  Hauptort  Lado 
und  in  die  Provinz  Bahr  el  Ghasal.  Gordon  setzte  seinen 
Kampf  gegen  die  Sklavenhändler  fort,  hatte  langwierige 
Unterhandlungen  mit  Abessinien  zu  führen,  dann  rief  ihn 
ein  Aufstand  nach  Darfur,  wo  Sobehrs  Sohn  Suleiman  sich 
zu  regen  begann;  aber  von  Kairo  aus  nur  lau  unterstützt  und 
an  der  Durchführbarkeit  seiner  Aufgabe  verzweifelnd,  verließ 
Gordon  1879  den  ägyptischen  Dienst.  Der  Italiener  Romolo 
Gessi,  der  1878  bereits  Dar  Fertit  unterworfen,  besiegte 
und  tötete   1880   auch  Suleiman,   der  sich    1878  als    unab- 


—     116     - 

hängiger  Herrscher  des  Bahr  el  Ghasal  erklärt  hatte,  und 
wurde  Gouverneur  dieses  Gebiets.  So  waren  die  Verhält- 
nisse im  nördlichen  Sudan,  in  Kordofan  und  Senaar 
immerhin  leidlich  geordnet.  Auch  im  Süden  hatten 
Gessi  und  später  F.  Lupton,  die  Gouverneure  der  Pro- 
vinz Bahr  el  Ghasal,  vor  allem  aber  Eduard  Schnitzler 
oder  Emin  Bei,  der  seit  1878  Gouverneur  der  Äquatorial- 
provinz war,  die  Entwicklung  in  hoffnungsvolle  Bahnen  ge- 
lenkt, als  ein  ungeheurer  Ausbruch  des  altsudanischen 
Glaubenseifers  mit  einem  Schlage  das  Werk  jahrelanger 
Mühen  zerstörte,  aber  zugleich  bewies,  wie  morsch  und  hohl 
das  äußerlich  so  glänzende  Gebäude  gewesen  war:  Mohammed 
Achmed,  der  angebliche  Mahdi,  entrollte  1881  das  Banner 
des  Aufstands  und  hatte  sich  nach  wenigen  Jahren  des  ge- 
samten Sudans  bemächtigt. 

Mohammed  Achmed  stammte  aus  dem  alten  Mittel- 
punkt christlicher  Glaubenstreue,  dem  jetzt  ebenso  eifrig 
islamitischen  Dongola,  dessen  regsame  Bewohner  im  ganzen 
Sudan  als  Sklaven-  und  Elfenbeinhändler  verbreitet  waren 
und  mit  den  Europäern  in  ägyptischen  Diensten  auf  dem 
schlechtesten  Fuße  standen.  Um  1840  geboren,  zog  er  früh- 
zeitig als  Derwisch  umher,  klagend,  daß  die  Religion  im 
Verfall  und  der  Islam  durch  die  Freundschaft  mit  den  Christen 
gefährdet  sei.  Nachdem  er  sich,  von  den  Sklavenhändlern 
unterstützt,  auf  die  Insel  Aba  im  weißen  Nil  zurückgezogen, 
wußte  er  sich  bald  den  Ruf  eines  Heiligen  und  Wundertäters 
zu  verschaffen  und  machte  seinen  Zufluchtsort  zum  Mittel- 
punkt einer  Verschwörung  gegen  die  ägyptische  Herrschaft. 
Lange  ließ  man  ihn  unbehelligt,  forderte  ihn  aber  schließlich 
auf,  nach  Chartum  zu  kommen  und  sandte,  als  er  sich 
weigerte,  eine  kleine  Truppenmacht,  die  im  Juli  1881  von 
Mohammed  Achmed  und  seinen  Anhängern  fast  bis  auf  den 
letzten  Mann  niedergemacht  wurde.    Der  Heilige  erklärte  sich 


—     117     — 

nunmehr  öffentlich  für  den  Mahdi,  den  verheißenen  Giaubens- 
erneuerer  und  Nachfolger  des  Propheten.  Statt  ihn  auf 
seiner  Insel  mit  Hülfe  der  zahlreichen  Flußdampfer  einzu- 
schließen, ließ  man  ihn  auf  die  linke  Seite  des  Nils  ent- 
kommen und  seine  Zuflucht  in  den  Takallabergen  im  süd- 
östlichen Kordofan  nehmen,  wo  er  sich  am  Fuße  des  Berges 
Gadir  niederließ.  Der  Gouverneur  von  Kordofan,  der  ihn 
vertreiben  sollte,  zog  sich  ohne  Kampf  zurück,  der  Mudir 
von  Faschoda  dagegen,  der  von  Süden  heranrückte,  wurde 
mit  samt  seinen  Truppen  vernichtet.  Massenhaft  strömten 
dem  Mahdi  die  von  Gessi  aus  dem  Bahr  el  Ghasal  verjagten 
Danagla  zu,  von  Rachsucht  und  Fanatismus  erfüllte  Menschen, 
die  zusammen  mit  zahlreichen  Araberhorden  den  Kern  des 
mahdistischen  Heeres  bildeten.  Gleichzeitig  brachen  auch 
auf  dem  rechten  Nilufer,  in  der  Provinz  Senaar  Unruhen 
aus,  die  aber  mit  Hülfe  befreundeter  Araberstämme  unter- 
drückt wurden.  Die  dort  entbehrlichen  Truppen  zogen  nun 
unter  Führung  des  unfähigen  Yussef  Pascha  Schellali  gegen 
den  Mahdi  und  wurden  am  1.  Juli  1882  bei  Gadir  fast  gänz- 
lich vernichtet;  Yussef  fiel. 

Da  Ägypten  durch  den  Aufruhr  Arabi  Paschas  und 
seine  Folgen  gelähmt  war,  gelang  es  dem  Mahdi,  dem  nach 
dem  Siege  der  Engländer  zahlreiche  Unzufriedene  zuströmten, 
in  kurzer  Zeit  die  wenigen  festen  Plätze  Kordofans,  die  noch 
nicht  abgefallen  waren,  bis  auf  Bara  und  El  Obeid  unter 
schrecklichem  Blutvergießen  zu  erstürmen,  und  im  Januar  1883 
ergaben  sich  Bara  und,  vom  Hunger  bezwungen,  auch  die 
Hauptstadt  El  Obeid.  Die  Regierungstruppen  hielten  sich 
unter  Führung  des  tapferen  Österreichers  Rudolf  Slatin 
in  Darfur,  wo  der  Genannte  seit  1878  tätig,  seit  1881  Gou- 
verneur war;  aber  ein  unter  Führung  des  anglo-indischen 
Oberst  William  Hicks  von  Chartum  heranrückendes  minder- 
wertiges  Heer  wurde    am   3.  November   1883    bei   Kaschgil 


—     118     — 

südlich  von  El  Obeid  bis  auf  Wenige  zusammengehauen. 
Nunmehr  schwand  auch  die  letzte  Aussicht  für  Slatin  in 
Darfur,  er  ergab  sich  dem  Mahdi  am  23.  Dezember  1883 
und  wurde  als  Gefangener  nach  El  Obeid,  von  da  später 
nach  Omdurman  gebracht,  wo  er  bis  zu  seiner  im  Februar 
1895  endlich  geglückten  Flucht  blieb. 

Der  Mahdi  richtete  nun  seine  Aufmerksamkeit  nach 
Chartum,  dessen  kürzeste  Verbindung  mit  der  zivilisierten 
Welt  bereits  Mitte  1883  dadurch  unterbrochen  war,  daß  der 
Renegat  und  ehemalige  Sklavenhändler  Osman  Digna,  ein 
geborener  George  Nisbet  aus  Rouen,  den  Stamm  der  Hadendoa 
zum  Aufruhr  gereizt,  die  Hafenstadt  Suakin  angegriffen  und 
die  Straße  von  Suakin  nach  Chartum  gesperrt  hatte.  Um- 
sonst versuchte  der  Ende  1883  zum  Befehlshaber  der 
ägyptischen  Truppen  im  Sudan  ernannte  Baker  Pascha  die 
südlich  und  westlich  von  Suakin  liegenden  Festungen  Tokar 
und  Singat  zu  entsetzen;  er  wurde  am  4.  Februar  1884  am 
Brunnen  El  Teb  durch  Osman  Digna  geschlagen.  Dieser 
erlitt  nun  zwar  seinerseits  bald  darauf  zwei  Niederlagen  durch 
General  Graham,  am  29.  Februar  bei  El  Teb  und  am 
13.  März  1884  bei  Tamanieb,  doch  vermochte  Graham  nicht 
weiter  vorzudringen,  der  Nilweg  über  Dongola  und  Berber 
blieb  die  einzige  noch  offene  Straße,  und  als  England  end- 
lich 16  000  Mann  unter  Lord  Wolseley  zu  Gordons  Ersatz 
aussandte,  war  es  zu  spät. 

Gordon  war  inzwischen  wieder  in  ägyptisch-englische 
Dienste  getreten  und  im  Januar  1884,  allerdings  mit  ganz 
ungenügenden  Mitteln,  als  Generalgouverneur  des  Sudans 
nach  Chartum  gesandt  worden,  um  das  aufrührerische  Land 
zu  beschwichtigen;  er  hoffte  anfangs,  sein  Ziel  auf  friedliche 
Weise  und  durch  sein  Ansehen  zu  erreichen,  erkannte  in 
einer  Proklamation  den  Mahdi  als  Herrscher  von  Kordofan 
an    und    hob    das    Verbot   des   Sklavenhandels   auf.     Aber 


—     119     — 

Gordons  Erwartungen  erfüllten  sich  nicht,  und  trotz  seiner 
eifrigen  Tätigkeit  nahm  die  mahdistische  Bewegung  zu.  im 
Juni  1884  fiel  Berber  in  die  Hand  der  Mahdisten  und  damit 
war  die  V^erbindung  mit  Ägypten  abgeschnitten,  im  August 
schloß  der  Mahdi  auch  Chartum  ein,  wohin  Gordon  an 
Truppen  zusammengezogen,  was  noch  zu  erreichen  war, 
nachdem  er  eine  Anzahl  Flüchtlinge  nach  Norden  befördert 
hatte.  Das  Kabinett  Gladstone,  welches  ja  tatsächlich  über 
Ägyptens  Geschicke  bestimmte,  war  inzwischen,  trotz  alles 
Drängens  Gordons  um  Unterstützung,  zu  dem  Entschluß 
gekommen,  den  Sudan  überhaupt  zu  räumen,  und  sandte, 
durch  die  empörte  öffentliche  Meinung  gezwungen,  Gordon 
erst  dann  Hülfe,  als  es  zu  spät  war.  Bereits  am  23.  Ok- 
tober 1884  war  der  Mahdi  selbst  mit  dem  Kern  seines  Heeres 
vor  dem  Vorwerk  Omdurman  am  linken  Nilufer,  Chartum 
gegenüber,  eingetroffen  und  hatte  es  am  5.  Januar  1885  nach 
tapferer  Gegenwehr  genommen;  am  26.  Januar  1885  fiel  durch 
Verrat  Chartum  selbst  und  wurde  unter  fürchterlichen  Greuel- 
taten zerstört,  wobei  auch  Gordon  und  fast  alle  Europäer 
und  Ägypter  getötet  wurden.  Das  ersehnte  Hülfsheer,  das 
bereits  im  September  von  Ägypten  aufgebrochen  war,  traf 
nicht  ohne  Schuld  der  englischen  Führer  zwei  Tage  zu 
spät  ein. 

Allzulangsam  war  Wolseley  durch  das  Niltal  aufwärts 
über  Dongola  bis  zu  Korti  vorgerückt  und  entsandte  von 
dort  aus  im  Januar  1885  je  eine  Kolonne  nach  Berber  und 
nach  Metämmeh.  Die  letztere  unter  General  Stewart  erreichte 
nach  harten  Kämpfen  bei  Abu  Klea  und  Gubat  den  Nil,  um 
zu  erfahren,  daß  Chartum  bereits  gefallen  und  Gordon  tot 
sei,  worauf  sie  nach  Korti  zurückmarschierte;  die  erste  hatte 
nicht  einmal  Berber  erreichen  können  und  wurde  von 
Wolseley  zurückgerufen,  worauf  das  britische  Heer  den  Rück- 
zug antrat.     Die  Mahdisten  besetzten  sofort  Dongola,  und  in 


-     120     - 

Nubien  wurden  nur  Koscheh  und  Wadi  Haifa  von  den  Eng- 
ländern gehalten.  Ein  Versuch  General  Grahams,  nach  dem 
Fall  Chartums  von  Suakin  aus  nach  Berber  vorzudringen, 
erwies  sich  als  undurchführbar. 

Nachdem  sich  der  Gouverneur  vom  Bahr  el  Ghasal, 
Lupton  Bei,  schon  im  April  1884  ohne  Kampf  ergeben  hatte, 
blieben  nunmehr  nur  noch  die  Äquatorialprovinz,  das  ständig 
von  Osman  Digna  bedrohte  und  eng  eingeschlossene,  von 
den  Engländern  gehaltene  Suakin  und  die  Plätze  Kassala, 
Matamma  und  Senaar  von  Regierungstruppen  besetzt. 
Das  seit  November  1883  eingeschlossene  Kassala  fiel  erst 
im  Herbst  1885  in  die  Hände  der  Empörer;  die  Besatzung 
von  Matamma  konnte,  nachdem  Ägypten  den  Ort  an 
Abessinien  abgetreten,  Anfang  1885  durch  ein  abessinisches 
Entsatzheer  befreit  und  über  Massaua  nach  Ägypten  einge- 
schifft werden;  das  ebenfalls  tapfer  verteidigte  Senaar  ergab 
sich  im  August  1885. 

Der  Mahdi  hatte  seine  Residenz  inOmdurman  einge- 
richtet, führte  dort  ein  ausschweifendes  Leben  und  starb  an 
Herzverfettung  bereits  am  22.  Juni  1885.  Hatte  er  haupt- 
sächlich seine  Landsleute,  die  Dongolaner  begünstigt,  so 
stützte  sich  sein  Nachfolger,  der  Khalif  Abdul  Iah  i,  auf  die 
Bagarra-Araber  und  verursachte  dadurch  Eifersucht  und  innere 
Zwietracht;  dazu  hatte  das  nunmehr  „befreite"  Land  stark 
unter  Hungersnot  und  ansteckenden  Krankheiten  zu  leiden. 
Eine  gefährliche  Erhebung  der  schwarzen  Söldner  endete  im 
Herbst  1885  mit  deren  Unterwerfung,  mehrere  aufständische 
Araberstämme  wurden  später  nahezu  vernichtet,  und  ein  neuer 
Mahdi,  der  sich  in  Darfur  erhoben  hatte,  starb  zum  Glück 
für  den  Khalifen  im  Februar  1889. 

Fehlte  es  somit  auch  keineswegs  an  inneren  Sorgen, 
so  trat  man  nach  außen  doch  unternehmend  genug  auf. 
Des  neuen  Herrschers  kühne  Absicht,  nunmehr  auch  Ägypten 


—     121     — 

zu  erobern,  wurde  zwar  vereitelt  durch  die  Niederlage,  welche 
sein  Feldherr  Mohammed  ei  Kheir  am  20.  Dezember  1885 
bei  Koscheh  durch  die  Engländer  erlitt,  doch  blieben  die 
Mahdisten,  da  die  Sieger  nach  Ägypten  zurückkehrten,  im 
Besitz  von  Dongola  und  Nubien.  Auch  der  Äquatorial- 
provinz wandte  man  seine  Aufmerksamkeit  zu.  Dort  waltete 
als  Gouverneur  seit  1878  Dr.  Eduard  Schnitzler  aus  Neiße 
unter  dem  Namen  Emin  Bei,  entwickelte  die  Hülfskräfte  des 
Landes,  reorganisierte  die  V^erwaltung  und  mußte  1881  auch 
die  völlig  in  Anarchie  verfallene  Provinz  Rohl  und  den  von 
der  Provinz  Bahr  el  Ghasal  abgetrennten  Bezirk  Mangbattu 
am  oberen  Uelle  mit  übernehmen.  Seit  Anfang  1883  ohne 
Verbindung  mit  Chartum  und  von  dort  bedroht,  sah  sich  Emin 
mit  seiner  kleinen  Truppe  bald  auf  den  Nilstreifen  beschränkt, 
und  nur  die  Rückzugslinie  über  Uganda  nach  Sansibar  blieb 
offen.  Diesen  Weg  nahm  1886  Wilhelm  Junker,  und  Gaetano 
Casati  ging  kurz  darauf  nach  Unyoro,  um  mit  dem  Kabrega 
zu  unterhandeln,  hatte  aber  keinen  Erfolg  und  kehrte  An- 
fang 1888  zu  Emin  zurück.  Nachdem  die  Mahdisten  schon 
1884  bis  Bor  und  Rumbeck  am  Bahr  el  Dschebel  vorge- 
drungen waren,  lenkten  die  Wirren,  die  sich  an  den  Tod  des 
Mahdi  knüpften,  ihre  Aufmerksamkeit  von  Äquatoria  ab,  und 
Emin  konnte  etwas  aufatmen.  Das  eine  seiner  Bataillone 
stand  im  Norden,  besonders  bei  Lado  und  Redschaf,  das 
andere  hatte  seine  wichtigsten  Stationen  in  Dufile  und 
Wadelai,  und  die  Negertruppen  zeigten  wenig  Lust,  sich  mit 
Emin  nach  dem  Süden  zurückzuziehen,  sondern  gedachten 
die  Provinz  aus  eigener  Kraft  zu  halten,  wobei  es  allerdings 
mehr  und  mehr  zur  Lockerung  der  Disziplin  unter  den 
Soldaten  kam.  Schon  1884  empörte  sich  ein  Teil  derselben 
gegen  ihren  Gouverneur,  und  Emin  sah  sich  gezwungen,  eine 
Reihe  von  Stationen  an  der  Grenze  aufzugeben,  und  nach 
dem  Fall  von  Chartum,  einer  Revolte  seiner  Truppen  in  Lado 


-     122     — 

1886  und  der  Einnahme  von  Lado  und  Redschaf  durch  die 
Mahdisten  im  gleichen  Jahre  den  Sitz  des  Gouvernements 
von  Lado  nach  Wadelai  zu  verlegen.  Nachdem  er  eine 
Station  nach  der  andern  hatte  räumen  müssen,  war  die 
ganze  „Äquatorialprovinz"  1887  auf  7  Stationen  zusammen- 
geschmolzen. Inzwischen  sandte  man  von  Europa,  wo 
damals  die  Kolonialbegeisterung  in  höchster  Blüte  stand, 
zwei  Hülfsexpeditionen  aus,  die  allerdings  keine  rein  idealen 
Zwecke  verfolgten,  sondern  auch  den  Gewinn  der  begehrens- 
wert erscheinenden  Äquatorialprovinz  anstrebten:  Eine  deutsche 
unter  Peters  und  eine  englisch  -  ägyptische  unter  Stanley. 
Vom  oberen  Aruwimi  her  gelang  es  Stanley,  sich  am 
29.  April  1888  mit  Emin  in  Verbindung  zu  setzen,  dem  freilich 
die  ausgehungerte  „Retterschar"  mehr  Verlegenheit  als  Hülfe 
brachte,  und  Emin  verweigerte  die  Heimkehr.  Kurz  darauf 
wurde  er  auf  einer  Inspektionsreise  von  den  Soldaten  in 
Dufile  gefangen  genommen;  angesichts  neuer  Einfälle  der 
Mahdisten  ließ  man  Emin  aber  frei  und  nach  Wadelai  ziehen, 
und  Stanley,  der  im  Januar  1889  wieder  am  Albert-See 
erschien,  erzwang  nun  den  Rückzug  Emins,  dem  sich  ein 
Teil  seiner  Truppen  anschloß.  Am  8.  Mai  1889  erfolgte 
der  Abmarsch  nach  Süden,  am  6.  Dezember  1889  die 
Ankunft  der  Karawane  in  Bagamoyo.  Auch  Wadelai  wurde 
nun  von  den  Mahdisten  besetzt,  deren  südlichsten  Posten 
es  bildete. 

Ein  Teil  der  Soldaten  Emins  war  in  Äquatoria  zurück- 
geblieben; einige  Abteilungen  setzten  sich  in  Stanleys  Lager 
Kavalli  am  Albertsee  fest,  während  die  übrigen  zunächst  neue 
Stationen  am  Nil  errichteten;  von  den  Offizieren,  die  mit 
den  Mahdisten  Beziehungen  angeknüpft  hatten,  wurden  viele 
durch  die  eigenen  Soldaten  getötet,  ebenso  fast  alle  Dongo- 
laner.  Nach  einiger  Zeit  vereinigten  sich  aber  sämtliche 
Sudanesentruppen   in  Kavalli,    und  dort   nahm  sie   im  Sep- 


—     123     — 

tember  1891  Lugard  in  den  Dienst  derBritisch-Ostafrikanisciien 
Gesellschaft  und  besetzte  damit  Uganda. 

inzwischen  waren  die  Mahdisten  aber  auch  mit  Ab  es- 
sin ien  in  Kämpfe  geraten.  Von  England  gedrängt,  hatte 
Negus  Johannes  zwar  schon  1885  Matamma  entsetzt,  aber 
die  Stadt  damals  wieder  geräumt,  und  erst  im  Januar  1887 
erfolgte  ein  neuer  Angriff  der  Abessinier  unter  dem  ehemaligen 
Befehlshaber  von  Matamma,  Ras  Adal  von  Amhara,  welcher 
die  Mahdisten  bis  zur  Vernichtung  schlug,  sich  aber  mit 
seiner  Beute  zurückzog,  sodaß  Matamma  aufs  neue  von  den 
Mahdisten  besetzt  wurde,  welche  nun  ihrerseits  einen  Rache- 
zug nach  Abessinien  hinein  unternahmen.  Im  November  1887 
erfocht  der  Emir  Abu  Angar  einen  Sieg  bei  Debra  Din,  die 
altehrwürdige  Kaiserstadt  Gondar  wurde  geplündert  und 
zerstört,  das  Land  ringsumher  verwüstet,  und  dann  kehrte 
man  nach  Matamma  zurück.  Negus  Johannes  war  damals 
zu  einer  Verständigung  mit  den  Mahdisten  bereit,  wurde 
indessen  abgewiesen  und  rüstete  sich  nun  seinerseits  zum 
Angriff.  Im  März  1889  stürmten  die  Abessinier  heran,  durch- 
brachen am  9.  März  den  Dornverhau  Matammas  und  schienen 
bereits  den  Sieg  in  der  Hand  zu  haben,  als  der  Tod  des 
Negus  das  Zeichen  zum  fluchtartigen  Rückzug  gab.  Abessinien 
aber  konnte  sich  wegen  innerer  Wirren  und  durch  sein  Ver- 
hältnis zu  Italien  beschäftigt  in  der  Nächstzeit  nicht  weiter 
um  die  Mahdisten  kümmern. 

Durch  die  Erfolge  gegen  Abessinien  ermutigt,  glaubten 
die  Mahdisten,  daß  nunmehr  endlich  auch  die  Eroberung 
Ägyptens  möglich  sei,  nachdem  der  erste  Vorstoß  1885  ge- 
scheitert war.  Aber  Oberst  Grenfell,  der  am  20.  Dezember 
1888  schon  Osman  Digna  bei  Suakin  entscheidend  geschlagen 
hatte,  vernichtete  im  August  1889  bei  dem  nubischen  Dorfe 
Toski  auch  die  Mahdistenschar  fast  völlig,  ein  Erfolg,  der 
allerdings  von  den  Engländern  wieder  nicht  ausgenutzt  wurde. 


—     124     - 

Weit  gefährlicher  als  die  Niederlage  dieses  Heeres  wurden 
Abdullahi  eine  bald  darauf  hereinbrechende  Hungersnot,  die 
den  Sudan  grauenhaft  entvölkerte,  und  ein  Aufstand  seiner 
Rivalen.  Am  10.  Februar  1891  erlitt  Osman  Digna  mit 
seinem  7000  Mann  starken  Heere  eine  neue  Niederlage  bei 
Suakin.  Auch  die  Italiener  erschienen  nun  auf  dem  Schau- 
platz, schlugen  die  von  Kassala  aus  gegen  das  Rote  Meer 
vorrückenden  Mahdistentruppen  am  21.  Dezember  1893  bei 
Agordat,  und  Barratieri  nahm  einige  Monate  später  fast  ohne 
Kampf  Kassala,  wodurch  die  Absperrung  der  Mahdisten, 
welche  gegen  die  Italiener  keine  Angriffe  mehr  wagten,  nach 
dem  Roten  Meere  zu  vollendet  wurde. 

Auch  der  Kongostaat  einigte  sich  betr.  Bekämpfung 
der  Mahdisten  mit  der  anglo-ägyptischen  Regierung,  van 
Kerkhoven  drang  1892  vom  oberen  Ubangi  aus  nach  Wadelai 
vor,  und  durch  Nachschübe  besetzte  man  weitere  Stationen, 
worauf  England  durch  Vertrag  vom  12.  Mai  1894  den  west- 
lichen Teil  der  ehemaligen  Äquatorialprovinz  mit  Lado  und 
Wadelai  und  einem  Teile  des  Bahr  el  Ghasal-Gebiets  an  den 
Kohgostaat  verpachtete. 

Da  die  mahdistischen  Streitscharen  den  Verkehr  auf 
dem  Nil  aber  beständig  gefährdeten  und  selbst  über  die 
nubische  Südgrenze  des  nun  so  beschränkten  Gebiets  vor- 
drangen, beschloß  England  endlich,  den  Sudan  wieder  zu 
erobern.  Anfang  1896  drang  von  Wadi  Haifa  aus  das  von 
Kitchener  reorganisierte  ägyptische  Heer  unter  dessen  Führung 
und  gemeinsam  mit  englischen  Truppenteilen  langsam  und 
vorsichtig  nach  Süden  in  Feindesland  vor,  während  gleich- 
zeitig eine  Abteilung  der  kongostaatlichen  Armee  von  Süden 
her  vorging  und  die  Italiener  die  Stellungen  an  der 
abessinischen  Grenze  hielten.  Kitchener  betrieb  zunächst 
den  Bau  einer  Militärbahn  von  Wadi  Haifa  nach  Berber  zur 
Umgehung  der  Katarakte;  mit  der  Anlage  einer  projektierten 


—     125     — 

Linie  Wadi  Haifa— Schendi  hatte  man  zwar  schon  1875  be- 
gonnen, aber  bei  Ausbruch  des  Krieges  waren  erst  120  i\m 
bis  Akascheh  fertig;  sodann  brachte  er  Kanonenboote-  auf 
die  schiffbaren  Strecl<en  des  Nils  und  ordnete  die  Truppen- 
verpflegung aufs  beste.  Die  vordringenden  Derwische  wurden 
am  7.  Juni  1896  bei  Firkeh  besiegt  und  die  Landschaft 
Dongola  im  Sommer  1896  besetzt,  nachdem  man  weiter 
nilaufwärts  gedrungen  war,  im  August  1897  Abu  Hammed 
gestürmt  und  am  13.  September  1897  auch  Berber  einge- 
nommen. Kitchner  erlaubte  nun  den  Kaufleuten  in  Suakin 
auf  ihre  eigene  Gefahr  Waren  nach  Berber  zu  schicken, 
worauf  sich  bald  ungestört  der  alte  Karawanenverkehr  wieder 
entwickelte,  und  auch  die  Straße  nach  Kassala  wurde  Ende 
1897  für  offen  erklärt.  Nachdem  man  am  7.  April  1898  die 
Vorhut  der  Mahdisten  bei  Nakheila  am  Atbara  geschlagen, 
drang  man  weiter,  gegen  Omdurman  selbst  vor  und  besiegte 
hier  am  2.  September  1898  den  Khalifen  und  seine  35000 
Mann  todesmutiger  Truppen  vollständig;  mehrere  male 
stürmten  die  Derwische  mit  Todesverachtung  heran,  wurden 
aber  immer  wieder  unter  ungeheuren  Verlusten,  hauptsäch- 
lich durch  die  überlegene  englisch-ägyptische  Artillerie,  be- 
sonders die  Maximkanonen,  zurückgeworfen;  es  sollen  nicht 
weniger  als  15000  Derwische  auf  dem  Schlachtfelde  geblieben 
sein,  während  die  ägyptisch-englische  Armee  nur  46  Mann 
verlor,  ein  Beweis  dafür,  daß  hier  lediglich  die  moderne 
Waffe  die  Arbeit  getan  hat.  Der  Khalif  entkam  nur  mit 
geringem  Gefolge  und  Kitchener  besetzte  Omdurman,  wo  er 
sich  dazu  hinreißen  ließ,  das  Grab  des  Mahdi  zu  schänden 
und  den  Leichnam  von  diesem  und  vieler  frommen  Moslims 
in  den  Fluß  zu  werfen. 

England  erhob  nun  im  Namen  Ägyptens  auch  auf  alle 
früheren  Besitzungen  desselben  bis  zu  den  großen  Seen 
Anspruch,   Kitchener  fand   aber,    als   er  mit  seinen  Truppen 


—     126     — 

den  Weißen  Nil  hinauffuhr,  am  21.  September  in  Faschoda 
die  französiche  Flagge,  gehißt  vom  Kapitän  Marchand,  der 
vom  Westen  her  vorgedrungen  war,  sich  infolge  sehr 
energischen  Auftretens  Englands  und  diplomatischer  Ver- 
handlungen allerdings  bald  zurückziehen  mußte;  der  englisch- 
französische  Vertrag  vom  21.  März  1899  über  die  Aufteilung 
des  Sudans  machte  dann  dem  französischen  Traum  eines 
großen  Kolonialreichs  quer  durch  Afrika  vom  Senegal  bis 
zum  Roten  Meer  offiziell  ein  Ende. 

Auch  aus  dem  Gebiet  nördlich  von  Abessinien  zwischen 
dem  Weißen  und  Blauen  Nil  wurden  die  Derwische  durch 
den  Sieg  des  englisch-ägyptischen  Heeres  vom  26.  Dezember 
1898  vertrieben. 

Der  geflohene  Khalif  Abdullahi  hatte  sich  nach  Kordofan 
gewandt  und  drang,  mit  dort  und  in  Darfur  gesammelten 
Anhängern,  neuerdings  nach  Omdurman  vor,  wurde  aber  am 
24.  November  1899  bei  Om  Debrikat  südlich  von  Dschedid 
durch  den  Oberst  Reginald  Wingate  geschlagen  und  mit 
seiner  Leibwache  und  fast  allen  seinen  Emiren  getötet;  der 
allein  entkommene  Osman  Digna  wurde  am  19.  Januar  1900 
durch  Verrat  gefangen  genommen  und  unschädlich  gemacht. 
Der  inzwischen  als  Sir  Rudolf  von  Slatin  wieder  in  englische 
Dienste  getretene  Slatin  Pascha  ging  nach  El  Fascher,  der 
Hauptstadt  von  Darfur,  um  mit  dem  Sultan  Ali  Dinar  An- 
fang 1901  einen  Vertrag  über  die  Anerkennung  der  anglo- 
ägyptischen  Oberhoheit  abzuschließen,  und  Menelik  traf  in 
Faschoda  mit  einem  von  Kairo  abgesandten  englischen  Be- 
amten zusammen,  um  Qrenzfragen  zu  regeln. 

Inzwischen  war  am  19.  Januar  1899  auch  bereits  ein 
Abkommen  zwischen  England  und  Ägypten  betreffs  des 
Sudans  geschlossen  worden,  wonach  unter  dem  „Ägyptischen 
Sudan"  alle  diejenigen  Gebiete  südlich  vom  22.  Breitengrade 
zu   verstehen    sind,    die  seit   1882   niemals  von  ägyptischen 


—     127     — 

Truppen  geräumt  wurden,  ferner  solche,  die  vorübergehend 
verloren  gegangen,  aber  später  durch  britische  und  ägyp- 
tische Truppen  zurückerobert  wurden,  und  endhch  solche, 
die  daselbst  später  noch  durch  gemeinsames  Vorgehen  der 
Regierungen  beider  Länder  erobert  werden  würden.  Dem 
britischen  Fiskus  wurde  vor  allem  die  Verzinsung  der  800000 
Pfund  betragenden  Sudan-Anleihe  garantiert,  mit  deren  Hülfe 
der  Krieg  geführt  worden  war.  Die  britische  und  die  ägyp- 
tische Flagge  werden  gemeinsam  geführt,  mit  Ausnahme  der 
Stadt  Suakin,  wo  nur  die  ägyptische  Flagge  wehen  soll.  Die 
oberste  militärische  und  zivile  Gewalt  liegt  in  den  Händen 
eines  Generalgouverneurs  des  Sudans,  der  nur  mit  Überein- 
stimmung der  englischen  Regierung  vom  Chediven  ernannt 
und  abgesetzt  werden  kann.  Kein  ägyptisches  Gesetz,  kein 
Ministerialerlaß  oder  sonstige  Verfügung  soll  für  den  Sudan 
Gültigkeit  haben  ohne  eine  entsprechende  Kundmachung  des 
Generalgouverneurs;  Gesetze,  Verfügungen  usw.  für  den 
Sudan  können  von  dem  Generalgouverneur  geändert  und 
außer  Kraft  gesetzt  werden.  Die  für  Ägypten  zuständigen 
gemischten  Gerichte  haben  für  den  Sudan,  mit  Ausnahme 
der  Stadt  Suakin,  keine  Gültigkeit,  vielmehr  bleibt  dort  bis 
auf  weiteres  das  Kriegsgericht  in  Geltung.  Konsuln,  Vize- 
konsuln und  Konsularagenten  fremder  Mächte  dürfen  ohne 
Zustimmung  der  englischen  Regierung  ihren  Wohnsitz  nicht 
im  Sudan  nehmen.  In  Summa:  Eine  Erklärung  der  eng- 
lischen Schutzherrschaft  über  den  Sudan,  eine  völlige  Bei- 
seiteschiebung Ägyptens  und  eine  Ausschaltung  der  in 
Ägypten  so  unangenehm  empfundenen,  internationalen 
Kontrolle. 

Und  wer  darüber  etwa  noch  im  Zweifel  sein  konnte, 
wurde  über  die  Auffassung  der  englischen  Regierung  betreffs 
der  zukünftigen  Stellung  des  Sudans  durch  eine  Rede  von 
Lord  Cromer  belehrt,  die  dieser  am  6.  Januar  1899  gelegent- 


—     128     — 

lieh  der  Grundsteinlegung  der  Gordon-Qedächtnis-Schule  in 
Chartum  und  in  Anwesenheit  des  zum  Besuche  anwesenden 
Herzogpaars  von  Connaught  hielt;  er  erklärte  nämlich,  daß 
der  als  erster  Qeneralgouverneur  ernannte  Sirdar  Lord  Kit- 
chener  das  Land  selbständig  im  Namen  der  Königin  und  des 
Chediven  regieren  werde,  wobei  des  letzteren  Einfluß  nichts 
zu  bedeuten   habe. 

Ende  1899  wurde  der  Sudan,  allerdings  noch  immer  unter 
Kriegsrecht,  dem  allgemeinen  Verkehr  freigegeben,  und  man 
begann  nun  mit  dem  Wiederaufbau  des  gänzlich  zerrütteten 
Staatswesens.  Kitchener,  nach  der  Abberufung  des  Lord 
Roberts  im  November  1900  zum  Oberbefehlshaber  gegen  die 
Buren  ernannt,  fand  als  Generalgouverneur  des  Sudans  seinen 
Nachfolger  in  dem  Sirdar  Wingate.  Die  Verhandlungen  mit 
dem  Kongostaat  über  das  Gebiet  des  Bahr  el  Ghasai 
wurden  im  Juli  1901  durch  ein  Übereinkommen  beendet, 
wonach  der  Teil  zwischen  Mahagi  am  Albert-See  bis  Kero 
nördlich  von  Lado  an  den  Kongostaat  überlassen  wird,  aller- 
dings nur  während  der  Lebzeit  König  Leopolds  11.,  später 
sollen  diese  Gebiete  wieder  in  englisch-ägyptischen  Besitz 
zurückkommen.  Der  nördliche  Teil  des  Bahr  el  Ghasal-Ge- 
biets  wurde  1901  von  englisch-ägyptischen  Truppen  besetzt, 
und  am  15.  Mai  1902  erfolgte  die  Abgrenzung  zwischen  dem 
Ägyptischen  Sudan  einerseits,  mit  Erythräa  und  Abessinien 
andrerseits,  im  Dezember  1902  besuchte  auch  der  Chedive 
Chartum.  Ein  im  Herbst  1903  unter  den  Berg-Takalla  in 
Kordofan  aufgetretener  neuer  Mahdi,  der  aus  Tunesien  stam- 
mende Hadschi  Mohammed  el  Amin,  wurde  durch  schnelles 
Vorgehen  des  Oberst  Mahon  gefangen  und  in  El  Obeid  auf- 
geknüpft, und  die  kriegerischen  Ereignisse  im  Somaliland 
blieben  ohne  Rückwirkung  auf  den  Sudan.  Ein  anderer 
„Mahdi",  der  im  Sommer  1904  in  Wad  Medani  am  Blauen 
Nil  erschien  und  sich  Jesus  nannte,  wurde  von  einem  ägyp- 


-     129     — 

tischen  Offizier  erschossen,   der  seinerseits  allerdings  sofort 
darauf  als  Opfer  der  fanatischen  Umgebung  fiel. 

Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  Land  und  Leute.  ^Y'elity^** 
Der  Ägyptische  Sudan,  der  östliche  Teil  des  großen, 
sich  von  den  Senegal-  und  Niger-Ländern  quer  durch  Afrika 
bis  an  den  Fuß  der  abessinischen  Berge  ziehenden  „Land 
der  Schwarzen",  bildet  im  Gegensatz  zu  dem  westlichen 
Hochsudan  den  Flachsudan,  wird  auch  mit  Belad  el  Te- 
krur,  d.  h.  „Land  der  zum  Islam  Bekehrten"  bezeichnet  und 
umfaßt  die  Landschaften  Nubien,  Senaar,  Kordofan,  Darfur, 
das  Bahr  el  Ghasal-  und  das  Obere  Nil-Gebiet.  Seine  Nord- 
grenze ist  der  22.  ^  seine  Südgrenze  der  5. "  nördl.  Br.  Von 
dem  im  großen  Ganzen  verwandten  westlichen  Sudan  unterschei- 
det sich  der  Ostsudan  hauptsächlich  durch  den  Nil,  der  in  einem 
vorwiegend  steppenhaften  Gebiet  auf  lange  Strecken  einen 
schmalen  Streifen  fruchtbaren  Landes  schafft,  und  durch  die 
Nähe  des  Meeres  und  Arabiens,  welche  frühzeitig  kriegerischen 
Einfluß  der  arabischen  Steppenvölker  ermöglichte,  während 
das  alte  Kulturland  Ägypten  im  Norden  nur  zeitweilig  zu 
fürchten  war. 

Der  Grund  des  Landes  besteht  in  einem  Granitgebirge, 
das  in  zahlreichen  Kuppen  an  die  Oberfläche  tritt,  und  über 
welches  sedimentäre  Bildungen  gelagert  sind.  Im  Dschebel 
Marra  in  Dar  Für  erheben  sich  diese  Berge  bis  zu  einer 
Höhe  von  1830  m,  im  allgemeinen  aber  ist  das  durchschnitt- 
lich 400 — 570  m  hohe  Land  teils  Ebene,  teils  wellenförmiges 
Hügelland  und  trägt  überwiegend  Steppencharakter;  nur  im 
Niltal  und  im  Bahr  el  Ghasal  steigert  sich  die  Vegetation  bis 
zur  tropischen  Fülle. 

Das  zwischen  Assuan  und  Chartum  gelegene,  743000qkm 
große  Nubien,  welches  zwischen  dem  22.**  und  dem  an 
Erythräa  grenzenden  Ras  Kasar  an  das  Rote  Meer  stößt,  ist 

Schanz    Ägypten.  9 


—     130     — 

fast  durchweg  Wüste,  die  von  kleinen  Regenbetten  durch- 
schnitten wird  und  im  Nordosten  der  S-förmigen  Nükrüm- 
mung  die  große  Nubische  Wüste,  im  Südwesten  die  Wüste 
El  Dschesirah  bildet,  welche  in  die  Bajudasteppe  übergeht. 
Kulturfähiges  Land  findet  sich  nur  in  einzelnen  Oasen  und 
im  Niltal,  das  oft  äußerst  schmal  ist,  sich  aber  bei  Berber 
und  Dongola  beträchtlich  erweitert;  besonders  das  260  km 
lange  Dar  Dongola  ist  fruchtbar  und  teilweise  gut  bebaut, 
noch  üppiger  aber  sind  die  zahlreichen,  vom  Nile  einge- 
schlossenen Inseln.  Der  Süden  weist  Übergang  zur  tropischen 
Savanne  auf.  Weitverbreitet  ist  der  nubische  Sandstein,  zu- 
mal am  linken  Ufer,  das  er  von  Assuan  bis  Chartum  in 
einem  ununterbrochenen  Zuge  begleitet;  darunter  tritt  stellen- 
weise das  kristallinische  Grundgebirge  zutage,  welches  auch 
die  von  den  Pharaonen  bearbeiteten,  jetzt  scheinbar  erschöpf- 
ten Goldminen  in  der  nubisch-arabischen  Wüste  barg,  die  dem 
Lande  den  Namen  Nub=- Goldland  gaben.  Bei  Okma  ent- 
strömen dem  Schiefer  heiße  alkalische  Quellen,  die  zu  Bädern 
benutzt  werden. 

Das  etwa  250000  qkm  umfassende  Kordofan  ist  ein 
Steppenplateau  von  600  -800m  Höhe  und  weist  einzelne  Berg- 
länder auf,  während  der  Kern  des  500000  qkm  umfassenden 
Dar  Für  und  gleichzeitig  die  Wiege  seiner  Bevölkerung  das 
wild  zerrissene  Marra-Gebirge  ist,  dessen  quellenreiche  und 
fruchtbare  Täler  am  meisten  angebaut  und  bewohnt  sind, 
während  der  dürre  Nordosten  fast  menschenleer  ist. 
Nil.  Die  Lebensader  des  Gebiets   bildet  in   erster  Linie  der 

Nil  und  seine  Zuflüsse.  Dieser  nach  Willcocks  rund  7000  km 
lange  Strom  entsteht  bekanntlich  aus  den  Abflüssen  großer 
Seen  in  Äquatorialafrika,  und  seine  lange  Zeit  vergeblich 
gesuchten  Quellen  wurden  erst  im  vorigen  Jahrhundert  von 
Speke,  Stanley  und  Oskar  Baumann  entdeckt.  Der  südlichste 
Quellsee,    der    1129  m  über  dem  Meere  liegende  Viktoria 


—     131     — 

Nyanza,  das  größte  Süßwasserbecken  der  alten  Welt,  weist 
eine  ganze  Anzahl  Zuflüsse  auf,  deren  bedeutendster,  der  1892 
von  Baumann  erforschte  Kagera  oder  Alexandra-Nil,  seine 
Quelle  nahe  dem  Nordrand  des  Tanganyika  hat.  Als  Vik- 
toria- oder  Somerset-Nil,  408  km  lang,  mit  dem  ein- 
heimischen Namen  Kivira,  verläßt  der  Strom  den  See  als 
dessen  alleiniger  Abfluß,  bildet  zunächst  die  5  m  hohen 
Riponfälle,  durchfließt  zwei  kleinere  Seen  und  fällt  dann  in 
12  Stromschnellen  und  Fällen,  darunter  den  mächtigen,  in 
drei  Stufen  44  m  herabstürzenden  Murchisonfällen,  zur 
zweiten  Hochlandstufe  des  Albert  Nyanza  (680  m  ü.  M.) 
ab,  den  er  bei  Magungo  erreicht,  und  der  durch  den  260  km 
langen  Semliki  auch  den  Abfluß  des  dritten  Quellsees,  des 
südlicheren  Albert  Eduard  Sees  (965  m  ü.  AI)  empfängt. 
Als  Bahr  el  Dschebel  oder  „Strom  der  Berge"  verläßt  der 
Fluß  den  Albert-See  und  fließt,  ^  - — 2  km  breit,  tief  und  lang- 
sam zwischen  sumpfigen  Ufern,  bis  bei  Dufile'-Nimule  von 
beiden  Seiten  herantretende  Gebirgsketten  den  Strom  auf 
80  m  Breite  zusammenpressen;  oberhalb  Redschaf  bildet  er 
zahlreiche  Schnellen  und  Fälle  und  ist  bisGondokoro(465  m 
ü.  M.,  395  km  vom  Albert-See),  der  seit  1901  wieder  er- 
freulich aufblühenden  Grenzstation  des  britischen  Uganda- 
Gebietes,  für  die  Schiffahrt  unmöglich.  Bei  km  407  liegt 
am  linken  Ufer  das  belgische  Lado,  welches  lange  Zeit 
Hauptstadt  der  ägyptischen  Äquatorialprovinz  und  Residenz 
Emin  Paschas  war.  Die  Grenzlinie  zwischen  Uganda  und 
Sudan  überschreitet  den  Nil  420  km  vom  Albert-See  entfernt. 
Von  der  belgischen  Station  Redschaf  (378  km)  ab,  die  nicht 
selten  Erdbeben  erlebt,  beginnt  die  sich  bis  zum  No-See 
(km  1146)  hinziehende,  fieberhauchende  Sumpfregion,  durch 
welche  der  Nil  zu  keiner  Jahreszeit  in  einem  Kanäle  zu- 
sammengefaßt, sondern  in  verschiedenen  Armen  fließt.  Der 
Ambatschstrauch,  hohe  Papyrus  und  Schilfe  bilden  hier  un- 

9» 


—     132     — 

durchdringliche  Pflanzenwirrtiisse,  und  auch  schwimmende 
Wasserpflanzen  fangen  hier  bereits  an  aufzutreten,  weiter 
flußabwärts  den  berüchtigten  „Sedd"  bildend,  schwimmende, 
zuweilen  in'  ungeheuren  Massen  zusammengeballte  Pflanzen- 
massen, die  P/s  bis  7  m  dick  und  bis  zu  2  km  lang  sind 
und  die  Flußläufe  oft  auf  Jahre  verstopfen  und  sie  zwingen, 
sich  ein  anderes  Bett  zu  suchen.  Nördlich  von  Bor  (570  km) 
beginnt  die  eigentliche  Sedd-Gegend.  Bei  km  687  liegt  Ka- 
nisseh  oder  „Heiligen  Kreuz",  eine  frühere  österreichische 
Missionsstation,  die  aber  1864  wegen  ihres  mörderischen 
Klimas  verlassen  wurde.  Bei  km  773  zweigt  rechts  der  Bahr 
el  Seraf  vom  Bahr  el  Dschebel  nach  dem  Weißen  Nile  ab 
und  von  Ghaba  Schambi  (km  766)  an  bis  zum  No-See,  auf 
eine  400  km  lange,  von  „Mayyehs"  oder  flachen  Seen  mit 
offenem  Wasser  unterbrochene  Sumpfgegend  folgt  nun  die 
störendste  Sedd-Formation.  Handelte  es  sich  im  Süden  mehr 
um  Gräser,  so  bilden  hier  zwei  Schilfarten,  Papyrus,  Am- 
batsch  und  die  mit  den  Wurzeln  fortgerissenen  Erdmassen 
die  Hauptbestandteile  der  schwimmenden  Pflanzenblöcke. 

Schon  die  von  Nero  ausgesandten  Forschungsreisenden 
wurden  von  dem  großen  No-See  aufgehalten,  der  sich  an 
der  Mündung  des  von  Westen  her  in  den  Nil  strömenden 
Bahr  el  Ghasal  oder  „Gazellenstroms"  gebildet  hat  und 
eine  seeartige,  aber  flache  Erweiterung  von  sehr  schwanken- 
der Größe,  20—100  qkm,  darstellt.  Über  die  Hälfte  des  Lado 
erreichenden  Nilwassers  geht  auf  der  Strecke  zwischen  die- 
sem Ort  und  dem  No-See  direkt  und  indirekt  verloren,  teils 
in  Ufersümpfen,  teils  durch  die  starke  Verdunstung  der  gewaltig 
verbreiterten  Oberfläche,  und  so  entfällt  die  Wasserzufuhr  des 
großen  Stromgebiets  während  der  wasserarmen  Zeit  haupt- 
sächlich auf  den  Sobat,  den  Blauen  Nil  und  den  Atbara.  Man 
schätzt  das  mit  Schilfgras  und  Papyrusstauden  dichtbewachsene 
Sumpfgebiet  des  oberen  Nils  auf  40000  engl.  Quadratmeilen. 


—     133     — 

Im  Dezember  1899  gelang  es  Major  Peake  mit  fünf 
Dampfern  und  700  von  den  Derwischen  rekrutierten  Arbei- 
tern zum  ersten  Male,  den  Sedd  in  viereckige  Blocks  zu 
durchschneiden,  die,  von  den  Dampfern  losgerissen,  flußab- 
wärts trieben,  und  auf  einem  Kanonenboot  bis  Kero  vorzu- 
dringen. Dagegen  versuchte  man  1902  vergebens,  den  Sedd 
im  Bahr  el  Dschebel  zu  entfernen,  wo  schwimmende  Pflanzen- 
inseln bis  zu  36  km  Gesamtlänge  den  Verkehr  hemmten  und 
mangels  genügenden  Stromes  nicht  weggetrieben  wurden; 
man  hoffte  aber,  hier  im  Laufe  des  Jahres  1904  wieder  eine 
ununterbrochene  offene  Wasserstraße  nach  dem  oberen  Nil 
herstellen    zu  können 

Der  Bahr  el  G basal  ist  die  Fortsetzung  des  aus 
zahllosen  Flußläufen  entstehenden  Bahr  el  Arab,  von  dessen 
Zuflüssen  der  wasserreichste  der  Dschur  mit  dem  Wau 
und  Dembo  ist,  und  auch  dieses  Stromsystem  leidet  unter 
starken  Ansammlungen  von  Sedd,  dessen  aus  kleine- 
ren schwimmenden  Pflanzen  bestehende  Barren  im  allge- 
meinen aber  leichter  zu  entfernen  sind,  als  diejenigen  im 
Bahr  Dschebel.  Im  Jahre  1903  gelang  es,  den  Sedd  auf  dem 
Dschur  soweit  zu  durchschneiden,  daß  Dampfer  bis  Wau 
hinauffahren  konnten,  und  der  gewonnene  Kanal  wird  jetzt 
verbreitert  und  vertieft.  Kurz  nach  der  Vereinigung  von 
Bahr  el  Dschebel  und  Bahr  el  Ghasal  fließen  von  rechts  der 
Bahr  el  Seraf  und  sodann  bei  km  1280  fast  direkt  entgegen 
der  Sobat  dem  Strome  zu  und  letzterer  bewirkt  dadurch 
oft  gewaltige  Flußanstauungen.  Bei  km  1288  liegt  die  Sta- 
tion Taufikia.  Der  vom  Einfluß  des  Sobat  —  zuweilen  auch 
schon  vom  No-See  —  ab  Bahr  el  Abi  ad,  d.  h.  der  „Weiße, 
Klare"  genannte  Nil  wendet  sich  nun  nach  Norden,  erreicht  bei 
Goz  Abu  Goma  (km  1807,  immer  vom  Albert-See  an  ge- 
rechnet) das  Nordende  der  Sedd-Region,  passiert  bei  km  1917 
die  für  den  Handel  mit  Kordofan  wichtige  Station  El  Duem, 


—     134     - 

und  nimmt  bei  Chart  um  (km  2118)  den  1350  km  langen 
Bahr  ei  Asrak,  den  „Blauen"  d.h.  „Trüben"  Nil  auf,  der 
in  Abessinien  auf  einer  Höhe  von  2800  m  entspringt, 
dann  den  1760  m  hoch  gelegenen  Tsana-See  durchfließt  und 
von  Rosaires  ab  (685  km  von  seiner  Mündung)  keine  Kata- 
rakte mehr  aufweist.  Das  vom  Weißen  und  Blauen  Nil  um- 
schlossene Land  wird  nach  einem  korrumpierten  nubischen 
Wort  für  Flußinsel  Senaar  genannt.  Von  nun  ab  empfängt 
der  Nil  auf  einer  Strecke  von  etwa  3000  km  bis  zu  seiner 
Mündung  nur  noch  einen  einzigen  Nebenfluß,  den  ebenfalls 
aus  Abessinien  kommenden  Atbara,  der  südlich  von  Berber 
mündet.  Zwischen  Chartum  (378  m  ü.  M.)  und  Assuan  hat 
sich  der  Strom  aber  mehrfach  durch  Granitriegel  hindurch- 
zuarbeiten, und  dadurch  wurden  sechs  die  Schiffahrt  unter- 
brechende Katarakte  gebildet.  Die  Nilschwellung  beginnt  in 
Gondokoro  schon  im  Februar,  in  Chartum  Ende  März  und 
in  Dongola  Ende  Mai. 

Der  auf  Seite  43  erwähnte  Bericht  von  Sir  William  Gar- 
stin  betrachtet  an  und  für  sich  als  die  beste  Regulierung  der 
Wasserverhältnisse  des  Nils  eine  Stauanlage  am  Tsana-See. 
Wenn  nun  auch  Kaiser  Menelik  in  der  Konvention  vom 
15.  Mai  1902  die  Benutzung  dieses  Sees  zugestanden  hat, 
so  wünscht  man  doch  mit  Abessinien  sehr  vorsichtig  um- 
zugehen, um  bei  Menelik  kein  Mißtrauen  aufkommen  zu 
lassen,  und  so  werden  vorläufig  andere  Anlagen  vorgeschlagen. 
Der  Weiße  Nil  wäre  zu  regulieren  einerseits  durch  Er- 
richtung von  Staudämmen  an  den  Abflüssen  der  Quellseen, 
und  zwar  für  den  Viktoria  Nyanza  an  den  Ripon-Fällen,  für 
den  Albert-See  15  km  unterhalb  von  dessen  Abfluß;  Kosten- 
anschlag 2  Millionen  Pfund;  anderseits  durch  Regulierung 
des  Bahr  el  Dschebel  in  der  Sedd-  und  Sumpf-Gegend,  indem 
man  dem  Strome  dort  durch  Anlage  bepflanzter  Dämme 
feste    Ufer   schafft   und   die   schwimmenden    Pflanzenmassen 


-     135    — 

durchschneidet  und  entfernt.  Garstin  schlägt  dafür  zwei 
verschiedene  Wege  vor,  nämh'ch  den  empfehlenswerteren  der 
Ausgrabung  eines  ganz  neuen,  340  km  langen  Schiffahrt- 
kanals zwischen  Bor  und  der  Sobatmündung,  Kostenpunkt 
5^2  Millionen  Pfund;  oder  die  Schaffung  einer  650  km 
langen  Schiffahrtsstraße  zwischen  den  gleichen  Punkten  mit 
Zuhülfenahme  und  Verbesserung  des  Bahr  el  Seraf,  Kosten- 
punkt 3,4  Millionen  Pfund. 

Das  Wasser  des  Blauen  Nils  aber  soll  vorläufig 
nutzbarer  gemacht  werden  durch  Anlage  eines  Reservoirs 
bei  Rosaires  (2  Millionen),  einer  Barrage  in  der  Nähe  von 
Wad  Medani  (1  Million)  und  durch  ein  Kanalsystem  in  der 
Gesireh- Provinz  (2  Millionen)  =  Summa  5  Millionen  Pfund 
Anlagekosten. 

Die  Ausführung  des  weiterhin  erwähnten  Gasc.h- 
Projekts  würde  eine  halbe  Million  £  beanspruchen. 

Garstin  nimmt  an,  daß  seine  Sudan-Projekte,  deren 
allmähliche  Realisierung  von  Finanz-  und  anderen  Fragen 
abhängen  wirdT  1  Million  Acres  neues  Kulturland,  nämlich 
700000  Acres  in  den  Gesireh-Ländereien,  200000  im  Niltal 
nördlich  von  Chartum  und  100000  Acres  am  Gasch  schaffen 
und  sich  wohl  bezahlt  machen  würden.  Dabei  ist  freilich  noch 
ganz  unsicher,  ob  und  wo  die  für  Bestellung  der  so  gewon- 
nenen Ländereien  nötigen  Arbeitskräfte  beschafft  werden 
können. 

Inzwischen  sorgt  man  für  gründliche  Vorstudien. 

Das  Klima   des  Sudans   ist   im  allgemeinen   trockenes      ^^'^ma. 
Wüstenklima,   heißer    als    in    Oberägypten,    und    im    Süden 
tropisch.     Vom   Oktober  bis   März   wehen   kühlende   Nord- 
winde;  während   der   Regenzeit  von   Juni   bis  Oktober,    die 
meist    in    der  Form    von  Gewitterschauern    auftritt    und   ihr 


—     136     - 

Maximum  im  August  erreicht,  fällt  das  Thermometer  an 
manchen  Orten  bis  zum  Nullpunkt,  und  die  Flußniederungen 
verwandeln  sich  dann  in  fieberhauchende  Sümpfe.  Die  jähr- 
lichen Regenmengen  betragen  am  Victoria-  und  Albert-See 
und  im  abessinischen  Hochland  150  cm,  in  der  östlichen 
Hälfte  des  Bahr  el  Ghasal-Gebiets  und  am  Mittellauf  des 
Sobat  und  des  Atbara  100  cm,  in  der  Westhälfte  des  Bahr 
el  Ghasal  50  cm,  übersteigen  aber  am  Unterlauf  des  Weißen 
und  des  Blauen  Nils,  sowie  des  Atbaras  nicht  25  cm,  und 
nördlich  von  Berber  ist  das  ganze  Gebiet  so  arm  an  Nieder- 
schlägen, daß  es  fast  als  regenlos  gelten  kann.  In  Kordofan 
dienen  die  im  Innern  teilweise  ausgehöhlten  und  dann  ge- 
teerten Riesenstämme  der  Affenbrotbäume  als  Zisternen. 
Die  Durchschnittstemperatur  von  Chartum  beträgt  28,6°  im 
Jahre,  22,7°  im  Januar,  34,5°  im  Juni  und  übersteigt  Nach- 
mitttags  häufig  45  ". 
Flora.  Die  Vegetation   ist  im  nördlichen  Teile  sehr  ärmlich 

und  weist  nur  längst  des  Nils  ausgedehntere  Waldungen  von 
Dum-  und  Deleb-Palmen  auf;  vorherrschend  sind  Mimosen- 
arten wie  Sunt-  und  andere  Gummi-Akazien  und  der  aus  der 
Sahara  eingewanderte  Dornstrauch  Tragacantha  Alhagi,  weit 
verbreitet  sind  auch  Kreuzdorn  (Nabak),  Tamarinde,  Tama- 
riske und  Sykomore.  Dem  Savannenklima  angepaßt  sind 
große  Euphorbia-  und  Aloe-Arten,  Gräser  sind  reich  ent- 
wickelt, auch  die  Haifa  ist  vertreten,  dagegen  ist  Bauholz 
von  Wert  selten.  Im  Überschwemmungsgebiet  des  oberen 
Weißen  Nils  gedeihen  üppig  Papyrus,  die  eine  Höhe  von 
5  Meter  über  dem  Wasserspiegel  erreichen,  Schilfrohre, 
Elefantengras  und  der  eigenartige  Ambatsch-Strauch,  dessen 
Stämme  ungemein  schnell  etwa  4  Meter  über  den  höchsten 
Wasserstand  emporschießen  und  nach  dem  Falle  des  Wassers 
bis  auf  die  Wurzel  wieder  absterben.  Im  ungesunden  Süden 
wird  die  Flora  tropisch,  wir  finden  hier  Wälder  mit  allerdings 


-     137     — 

meist  nicht  sonderlich  hohen  Bäumen,  aber  reichem  Unter- 
holz und  üppigen  Schlingpflanzen,  Baobab  und  Ebenholz 
treten  auf  und  auch  zahlreiche  Kautschukpflanzen  sind  hier 
vertreten.  Es  kommen  von  diesen  mehrere  Landolphia- 
und  eine  Ficus-Art  in  Betracht,  die  alle  am  oberen  Nil,  in 
den  Gebieten  des  Bahr  el  Ghasal  und  Bahr  ei  Dschebel  und 
auch  im  südwestlichen  Kordofan,  stellenweise  in  nennens- 
werten Beständen,  vorkommen.  Verschiedene  Holzarten  und 
gerbstoffhaltige  Pflanzen  dürften  auch  noch  Exportwerte  lie- 
fern können,  und  die  Regierung  hat  zur  rationellen  Behand- 
lung dieser  Fragen  im  Jahre  1900  einen  Forstbeamten  aus 
Indien  herangezogen.  Bislang  leiden  die  Wälder  vielfach 
durch  Brände  und  durch  die  Holzentnahme  für  die  Feuerung 
der  Nil-Dampfer. 

Mit  Ausnahme  vielleicht  der  südlichsten  Distrikte  mit 
ihrem  verhältnismäßig  reichlichem  Regenfall  dürften  die 
Kulturen  auf  die  vom  Blauen  und  Weißen  Nil,  dem  At- 
bara  und  dem  Qasch  bewässerbaren  Ländereien  beschränkt 
bleiben. 

Die  Tierwelt  ist  durch  die  meisten  afrikanischen  Arten  Fauna, 
überhaupt  vertreten  und  weist  u.  a.  zahlreiche  Nilpferde, 
Antilopen,  Elefanten,  Giraffen,  Krokodile,  Strauße  und  allerlei 
Wasservögel  auf.  Eine  Wildschutzverordnung  von  1903 
scheint  erfolgreich  das  wertvolle  Wild  zu  schützen.  Bienen 
bauen  ihre  Stöcke  in  hohle  Bäume  und  liefern  dem  Handel 
Wachs,  sehr  lästig  dagegen  sind  die  zahlreichen  Fliegen, 
Moskitos,  weißen  und  anderen  Ameisen.  Der  Nil  ist  auch 
hier  sehr  fischreich.  Als  Haustiere  werden  Buckelrinder, 
Schafe,  Ziegen,  Pferde,  Esel,  Kamele,  Hühner  und  Tauben 
gehalten.  In  einigen  südlichen  Distrikten  ist  der  Viehstand 
stark  durch  Seuchen  vermindert  worden  und  dadurch  Not 
eingetreten;  teilweise  ist  dieser  Übelstand  wohl  auf  die 
Wirkung  der  Tsetsefliege  zurückzuführen,  deren  Vorkommen 


—     138     — 

im  Bahr  e!  Ghasal-Gebiet  jüngst  festgestellt  wurde  und  die 
auch  den  Transport  mit  Zugtieren  unmöglich  macht. 

Bodenschätze.  Von  M i u er alschätzcu   sind  Eisen   und  Kupfer   häufig, 

auch  Gold,  Blei,  Zinn,  Kohle,  Salpeter  und  Schwefel  werden 
gefunden,  dagegen  fehlt  Salz  gänzlich  und  muß  in  großen 
Mengen  eingeführt  werden. 

Bevölkerung.  Die    Bevölkcrung    repräsentiert   ein    großes   Völker- 

gemisch, dessen  drei  Hauptgruppen  im  Norden  die  Nubier, 
im  Süden  die  Neger  und  in  der  Wüste  die  Beduinen  sind, 
letztere  teils  echte  Araber,  teils  hamitische  Urvölker,  Nach- 
kommen der  alten  Äthiopier.  Zwischen  den  einheimischen 
Negerstämmen  haben  sich,  immer  mehr  als  Herren  über  jene 
auftretend,  von  Osten  her  kommend  die  Araber,  von  Norden 
die  Tuaregs  und  von  Westen  die  Fulbe  festgesetzt,  und  diese 
drei  Volksstämme  haben  den  Islam  mehr  und  mehr  unter 
der  immer  noch  überwiegend  heidnischen  Bevölkerung  ver- 
breitet. 

Die  seßhaften  Bewohner  des  nördlichen  Nubiens, 
die  Barabra,  Scheikieh,  Robatat  und  Dschaalin,  treiben  im 
Niltal  Ackerbau,  züchten  Kamele,  und  hängeohrige  Ziegen  in 
Dongola  edle  Pferde  und  sind  als  Schiffer  in  eigentümlichen, 
für  die  Überwindung  der  Katarakte  gebauten  Booten  tätig. 
In  der  gebirgigen  Wüste  zwischen  Nil  und  Rotem  Meere 
wohnen  die  Bischarin,  die  Nachkommen  der  vom  Osten  ein- 
gewanderten alten  Blemmyer,  zwischen  Nil  und  Atbara  die 
Hadendoa,  gegenüber  in  der  Bajuda-Steppe  die  Kababisch. 
Alle  diese  Völker  sind  dunkelbraun,  ja  selbst  schwarz,  aber 
ohne  den  eigentlichen  Negertypus.  Die  Sprachen  Nubiens 
sind  jetzt  teilweise  hamitisch,  wie  namentlich  das  weitver- 
breitete Bedscha,  teils  herrscht  das  Arabische,  die  eigentliche 
Nuba-Sprache  aber  ist  eine  durchaus  selbständige  und 
zerfällt  in  die  drei  Hauptidiome  des  Kenu,  Maha  und 
Dongola. 


—     139     — 

Unter  den  Negerstämmen  des  eigentlichen  Sudans  treten 
besonders  die  Dinkas  im  Norden  und  Osten  und  die  Schilluks 
und  die  Niam-Niam  im  Süden  hervor.  Roh  betriebener 
Ackerbau  —  der  Pflug  ist  nur  im  nördlichen  Dar  Für  be- 
kannt —  bildet  die  feste  Grundlage  der  nicht  unbedeutenden 
Kultur  des  Sudans,  und  zwar  wird  die  Feldarbeit  fast  durch- 
gehend von  den  Frauen  besorgt,  ebenso  wie  das  Spinnen 
und  Weben  der  Baumwolle  und  die  Färberei.  Die  Kultur 
umfaßt  verschiedene  Hirsearten,  besonders  Durra,  Mais, 
Weizen,  Gerste,  Zwiebeln  und  andere  Gemüse,  Sesam,  Rizinus 
und  Tabak,  doch  ist  die  weitere  Ausdehnung  des  Tabakbaus 
im  Sudan  1904  verboten  worden,  ebenso  wie  die  Tabak- 
ausfuhr nach  Ägypten.  Auch  die  Tabakeinfuhr  aus  anderen 
Ländern  als  Ägypten  ist  nur  unter  den  gleichen  Einfuhrein- 
schränkungen wie  in  Ägypten  erlaubt.  Rinder,  Schafe, 
Ziegen  und  Hühner  werden  fast  überall  von  den  Eingeborenen 
gehalten  und  bilden  stellenweise  deren  einzigen  Besitz  und 
Reichtum.  Auch  Jagd  und  Fischfang  dienen  ihrem  Lebens- 
unterhalt. Der  Handel  ist  nicht  bedeutend,  da  die  Bedürf- 
nisse des  Volkes  nur  gering  sind,  und  als  Geld  dienen 
Mariatheresiataler,  Salzstangen,  Baumwollstoffe,  Eisenplatten 
und  auch  Goldstaub. 

Die  Einwohnerzahl  ist,  da  ein  Zensus  nie  stattgefunden, 
natürlich  nur  schätzungsweise  anzugeben,  sicher  aber  ist,  daß 
sie  während  des  Mahdi-Aufstandes  in  geradezu  entsetzlicher 
Weise  abgenommen  hat;  vor  Beginn  der  Derwisch-Herrschaft 
nahm  man  eine  Bevölkerung  von  8' j  Millionen  an;  davon 
sind  angeblich  3  200  000  im  Kriege  gefallen,  an  Krankheiten 
—  besonders  an  den  stets  grassierenden  Pocken  —  3^2 
Millionen  gestorben,  und  so  schätzt  man  die  Gesamtzahl  der 
Übriggebliebenen  jetzt  auf  1870000.  Man  hofft,  daß  sich 
späterhin  der  Überschuß  der  ägyptischen  Bevölkerung  ent- 
schließen wird,  sich  dauernd  im  Sudan  anzusiedeln,  während 


—     140     — 

die  Ägypter  bislang  nur  in  kleiner  Zahl  und  überwiegend 
nur  als  zeitweilige  Arbeiter  ins  Land  gekommen  sind.  Auch 
ist  davon  die  Rede  gewesen,  Neger  aus  den  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika,  Inder  oder  Chinesen  nach  dem 
ägyptischen  Sudan  zu  überführen.  Die  Eingeborenen  selbst 
sind  im  Gegensatz  zu  den  fleißigen  Ägyptern  im  allgemeinen 
faul,  kommen  angesichts  ihrer  geringen  Bedürfnisse  mit  sehr 
wenig  Arbeit  aus  und  sind  deshalb  als  Mithelfer  an  der  Ent- 
wicklung des  Sudans  einstweilen  von  geringem  Werte.  Sehr 
wünschenswert  wäre  es,  wenn  es  durch  ein  Abkommen  mit 
Abessinien  gelänge,  die  im  Südwesten  dieses  Reiches 
lebende,  intelligente  Ackerbaubevölkerung  der  Gallas  heran- 
zuziehen. 

Der  Sklavenhandel,    der  besonders  an  den  Grenzen 
Abessiniens  und  Kordofans  betrieben  wird,  ist  dank  der  von 
der  neuen  Verwaltung  ergriffenen  Maßnahmen  im  Abnehmen 
begriffen. 
Verwaltung.  Der  ägyptische  Sudan  steht   nominell    unter  einer  ge- 

meinsamen englisch-ägyptischen  Verwaltung,  d.  h.  der  General- 
gouverneur, der  in  Chartum  residiert  und  gleichzeitig  Ober- 
befehlshaber der  Sudan-Truppen  ist,  ist  ein  Engländer,  z.  Z.  Sir 
Reginald  Wingate;  ebenso  sind  die  an  der  Spitze  der  ein- 
zelnen Provinzen  stehenden  Mudire  englische  Offiziere;  da- 
gegen hat  Ägypten  das  Vergnügen,  für  alle  Kosten  der  Militär- 
und  Zivilverwaltung  aufzukommen,  und  nur  die  kleine  eng- 
lische Besatzung  von  Chartum  in  der  Stärke  von  einem 
Bataillon  wird  von  England  bezahlt.  Generalinspektor  ist 
der  wieder  in  englisch-ägyptische  Dienste  getretene  Sir  Rudolf 
von  Slatin,  „resident  adviser"  des  Sultans  von  Kordofan  in 
El  Obeid  Oberst  B.  T.  Mahon. 

Administrativ  zerfällt  das  Land  in  die  11  Provinzen 
oder  Mudiriehs:  Wadi  Haifa,  Dongola,  Berber,  Chartum, 
Suakin,  Kassala,  Gesireh,  Senaar,  Bahr  el  Ghasal,  Kordofan 


—     141     — 

und  obere  Nil-Provinz.     Jede  Mudirieh   umfaßt  verschiedene 
Bezirke  oder  Mamurias. 

Das  Heer  besteht  nur  aus  9  ägyptischen,  teilweise  von 
englischen  Offizieren  befehligten  Bataillonen  und  scheint,  wie 
eine  Meuterei  beweist,  die  Anfang  1901  unter  der  aus 
sudanesischen  Bataillonen  des  ägyptischen  Heeres  bestehenden 
Besatzung  Chartums  ausbrach,  nicht  absolut  zuverlässig  zu 
sein;  es  ist  dies  um  so  bedenklicher,  als  nur  während  der 
günstigen  Jahreszeit  ein  paar  Kompanien  weißer  Truppen 
dort  stehen,  die  von  April  bis  September  aus  Gesundheits- 
rücksichten ganz  zurückgezogen  werden. 

Das  Rechtswesen  ist  bislang  nur  durch  einen  Justiz- 
sekretär und  vier  englische  Zivil-Richter  vertreten,  sonst  steht 
das  Land  im  allgemeinen  noch  unter  Kriegsrecht.  Zivil-  und 
Kriminal-Justiz  in  den  einzelnen  Provinzen  stehen  dem  Mudir 
zu  und  werden  überwiegend  nach  indischem  Muster  ausgeübt. 
Daneben  bestehen  auch  im  Sudan  mohammedanische,  von 
Kadis  geleitete  Rechtshöfe.  Die  Landkommission  zur 
Festsetzung  der  Grundbesitzrechte  hat  ihre  Arbeiten  schon 
im  Jahre  1900  beendet. 

In  seinen  Finanzen  ist  der  Sudan  noch  ganz  von  den  Finanzen. 
Zuschüssen  Ägyptens  abhängig,  und  es  wird  auch  noch  ge- 
raume Zeit  dauern,  bis  er  sich  selbst  erhalten  können  wird. 
Seine  eigenen  Einnahmen  fließen  aus  den  Tributen  der 
unterworfenen  Völkerstämme,  den  auf  Ausfuhrprodukten, 
einer  Anzahl  von  Lebensmitteln,  Häusern,  Nilbarken  und 
Dattelpalmen  liegenden  Steuern,  und  den  in  ägyptischen 
Häfen  erhobenen,  aber  dem  Sudan-Budget  gutgeschriebenen 
Einfuhrzöllen  —  etwa  60000  Pfund  im  Jahre  -  auf 
Waren,  die  schließlich  nach  dem  Sudan  gehen.  Den 
Steuersätzen  auf  Ausfuhrprodukte  (20  "o)  und  auf  Lebens- 
mittel (10"  o)  wurde  die  von  den  Mahdisten  geübte  Taxieruug 
zugrunde  gelegt. 


—     142     — 

Die  Abschlüsse    für   1902   und    1903   und    der  Voran- 
schlag für  1904  weisen  folgende  Zahlen  auf  für  die  Zivil- 


Verwaltung  in 

1902 

1903 

1904 

in  Einnahmen 

270 

462 

469 

Tausend  Pfund 

in  Ausgaben 

517 

618 

665 

??                      1? 

Defizit 

247 

156 

196 

«                      « 

Die  gesamten  von  Ägypten  zu  tragenden  Lasten  der 
Zivil-  und  Militärverwaltung  des  Sudans  aber  beliefen  sich 
1903  auf  390  000  Pfund,  wovon  etwa  60  000  Pfund  für  in 
Alexandrien  und  Suakin  eingenommene  und  das  Sudangebiet 
betreffende  Einfuhr-  und  Ausfuhrzölle  in  Abzug  zu  bringen  sind. 
Schulen.'  Christliche    Propaganda    unter    der    mohamme- 

danischen Bevölkerung  ist  durch  Kitcheners  Zusagen  und 
Verfügungen  ausgeschlossen,  und  der  Vorstoß  der  Church 
Missionary  Society  um  Zulassung  ist  bislang  vergeblich 
■  gewesen.  Dagegen  hat  man  den  Bau  einer  griechischen 
Kirche  in  Chartum  gestattet,  und  unter  den  Heiden  wirken, 
vorläufig  mehr  informatorisch,  eine  amerikanische  Mission 
unter  den  Schilluks  am  Sobat  und  eine  österreichische  süd- 
lich von  Faschoda.  Neben  den  bereits  1894  von  der 
ägyptischen  Regierung  eingerichteten  Schulen  in  Wadi  Haifa 
und  Suakin  existieren  Regierungsschulen  in  Omdurman  und 
Chartum,  welche  im  Jahre  1902  215  bezw.  115  Schüler 
zählten,  und  deren  Unterricht  teilweise  in  englischer  Sprache 
erfolgt,  während  die  Regierungsschule  in  Berber  nur  in 
arabischer  Sprache  lehrt.  Eine  kleine  Handwerkerschule 
arbeitet  recht  erfolgreich  in  Omdurman,  während  die  von  der 
Regierung  jährlich  nur  mit  1000  Pfund  unterstützten  Dorf- 
schulen bislang  nach  jeder  Richtung  hin  ungenügend  sind. 

Handel.  Der    Handelsverkehr    mit    dem    Sudan    vor    dem 

Mahdistenaufstand   belief  sich   jährlich  auf  2  bis  3  Millionen 
E.  £.,  wovon   -  :i  auf  die  Ausfuhr  und   ^':!  auf  die   Einfuhr 


—     143     — 

entfielen,  und  zwar  gingen  etwa  -'4  der  Gesamtausfuhr  über 
Kairo,  ^  4  über  Suakin,  während  bei  der  Einfuhr  das  umge- 
kehrte Verhältnis  bestand. 

Die  Ausfuhrprodukte  des  Sudans  sind  Gummi,  Elfen- 
bein, Straußenfedern,  Häute,  Wolle,  Sennesblätter,  Kautschuk, 
Wachs,  Vieh,  Tamarinden,  Datteln,  Durra,  Korn,  roter  Pfeffer, 
Ebenholz  usw.,  während  in  der  Einfuhr  ganz  überwiegend 
Baumwollstoffe  die  erste  Rolle  spielen,  daneben  Zucker, 
Gewürze,  Tabak,  Kurzwaren,  weiches  Schmiedeeisen,  Messing- 
und  Kupferdraht,  Baumaterialien,  Werkzeuge,  emaillierte 
Waren,  Teekannen  und  Tassen,  Militärspiegel,  Rasiermesser, 
Schmuckperlen  aus  Glas,  Achat,  Onyx,  Korallen  und  Bern- 
steinnachahmung, Kerzen,  Seife,  Parfümerien  usw. 

Für  die  Ausfuhr  kamen  früher  jährlich  folgende  Haupt- 
posten in  Betracht:  4500  Kantar  ä  45  kg  Elfenbein,  da- 
von 3000  vom  Bahr  el  Dschebel,  der  Rest  vom  Bahr  el 
Ghasal  und  Kordofan;  Straußenfedern  im  Werte  von 
^  2  Million  Pfund  aus  Kordofan  und  auch  Dar  Für;  200  bis 
250  000  Kantar  Gummi  aus  Kordofan,  hauptsächlich  von 
Acacia  Verek  stammend,  daneben  auch  noch  einige  andere 
Varietäten  aus  dem  Sudan;  Kamele,  deren  Zucht  besonders 
in  den  trockenen  Gegenden  nördlich  des  13.  Breitengrads 
erfolgreich  betrieben  wird,  und  Rinder  der  zahlreichen 
Bagarrastämme;  Häute  von  Rindern  und  wilden  Tieren; 
Bienenwachs  aus  Grenzländern  gegen  Abessinien;  Datteln, 
von  denen  besonders  die  von  Berber  und  Dongola  berühmt 
sind,  und  Goldstaub  aus  Senaar  und  Dar  Für. 

Die  Handelszahlen  von  Suakin,  welche  überwiegend 
den  Sudan  betreffen,  waren  kurz  vor  und  während  der 
Wiedereroberung  des  Sudans  die  folgenden  in 

1895  1896        1897  1898 

Einfuhr       121  99  79  160      Tausend  Pfund 

Ausfuhr        83  50  62  38 


—     144     — 

Um  die  wucherische  Ausbeutung  der  Sudanesen  durch 
die  Levantiner  zu  verhindern,  wurden  Gummi,  Straußenfedern, 
Elfenbein,  Natron  und  Salpeter  vor  Beginn  des  Sudanfeld- 
zugs als  Staatsmonopole  erklärt,  und  europäischen  Kaufleuten 
wurde  nicht  gestattet,  über  Wadi  Haifa  hinaus  in  den  Sudan  vor- 
zudringen; doch  sandten  die  Sudanhändler  ihre  eingeborenen 
Käufer  nach  Kairo,   um  sich  dort  mit  Waren  zu  versorgen. 

Nach  der  Einnahme  Omdurmans  fand  man  ein  ziem- 
liches Chaos  vor.  Eine  14  jährige  Tyrannei  und  Mißwirt- 
schaft hatte  die  einst  blühenden  und  reichen  Länderstrecken 
entvölkert  und  verwüstet;  die  Städte  waren  zerstört  und  ver- 
lassen und  die  spärlichen  Überbleibsel  der  Bevölkerung  hatten 
unter  dem  langjährigen  Drucke  die  Energie  verloren,  durch 
Arbeit  ihre  Lage  zu  verbessern.  Um  dem  Khalifen  die 
Möglichkeit  abzuschneiden,  durch  Ausplünderung  von  Handels- 
karawanen seine  eigenen  Bedürfnisse  zu  befriedigen,  wurde 
Kaufleuten  aus  Ägypten  vorerst  jeder  Handelsverkehr  mit 
den  Gebieten  westlich  von  Chartum  untersagt  und  eine  Aus- 
nahme nur  zugunsten  eines  Sudanerforschungs  -  Syndikats 
gemacht,  das  sich  Anfang  1899  in  Kairo  mit  einem  Kapital 
von  20  000  Pfund  gebildet  hatte.  Auch  in  London  gründete 
man  nach  der  Wiedereroberung  des  Sudans  mit  sehr  hoch- 
gespannten Erwartungen  und  Hoffnungen  auf  die  handels- 
politische und  wirtschaftliche  Neugestaltung  dieses  lange  ver- 
schlossenen Gebiets  ein  „London  and  Soudan  Development 
Syndicate",  dessen  Erfahrungen  jedoch  durchaus  negativer 
Art  waren.  Die  reichen  Bestände  von  Elfenbein,  Gummi 
und  Straußenfedern,  die  man  in  Omdurman  zu  finden  gehofft 
hatte,  waren  nicht  vorhanden,  und  da  die  Nachfrage  nach 
Kordofan-Gummi  und  Straußenfedern  infolge  des,  Ersatzes 
des  ersteren  durch  Senegalgummi  und  der  anderen  durch 
Entstehung  von  Straußenfarmen  am  Kap  und  in  Ägypten  viel 
geringer  geworden  war,  der  Elfenbeinhandel  aber  während  der 


-     145     — 

mahdistischen  Unruhen  seinen  Weg  über  Lado  durch  den 
Kongostaat  nach  dem  Atlantischen  Ozean  genommen  hat, 
so  war  auch  für  die  nächste  Zukunft  keine  große  Besserung 
zu  erwarten.  Die  Aufnahmefähigkeit  und  Produktion  des 
Sudans  sind  auch  gegenwärtig  noch  und  wohl  für  längere  Zeit 
sehr  unbedeutend. 

Ende  1899  erfolgte  die  Eröffnung  des  Sudans  für  den 
freien  Handel  und  Verkehr,  und  es  bildeten  sich  mehrere 
kapitalkräftige  englische  Gesellschaften  zur  wirtschaftlichen 
und  besonders  bergmännischen  Ausbeutung  des  Landes,  wie 
die  Victoria  Investment  Corporation,  die  Soudan  Development 
Exploration  Company  und  das  bereits  genannte  London  and 
Soudan  Development  Syndicate;  auch  sind  jetzt  fast  in  jeder 
Stadt  griechische  Händler  etabliert,  aber  der  Aufschwung  ist 
doch  ein  sehr  langsamer;  die  Aussichten  für  Kolonisten  sind 
noch  keineswegs  günstig,  und  so  werden  denn  seit  I.Juni 
1902  nur  noch  solche  Fremde  im  Sudan  zugelassen,  welche 
sich  auf  Grund  einer  Konsularempfehlung  bei  den  Agenten 
der  Sudan-Regierung  in  Kairo,  Wadi  Haifa  oder  Suakin  einen 
Reisepaß  besorgen.  In  den  ersten  7  Monaten  nach  diesem 
Erlaß  gingen  von  Wadi  Haifa  nur  240  Personen  nach  dem 
Süden,  meist  nach  Chartum,  darunter  175  Griechen,  43 
Levantiner  und  16  Italiener.  Im  Frühjahr  1904  hat  man  die 
Paßvorschriften  für  den  Sudan  dahin  weiter  verschärft,  daß 
die  Regierung  sich  das  Recht  vorbehält,  mittellosen  oder 
unliebsamen  Fremden,  wenn  sie  keinen  Paß  besitzen,  den 
Eintritt  in  ihr  Gebiet  zu  verweigern,  oder,  wenn  sie  sich 
schon  im  Lande  befinden,  sie  auszuweisen. 

Der  Warenvertrieb  erfolgt  durch  eingeborene  Kleinhändler 
und  wandernde  Krämer,  und  die  Gewährung  längerer  Kredite 
ist  auch  im  Sudan  unerläßlich. 

Die  Ausfuhr  des  wichtigsten  Sudan  -  Produkts,  des 
Gummis,  hat  bereits  wieder  ihre  frühere  Höhe  erreicht;  sie 

Schanz,  Ägypten.  ]() 


—     146     — 

betrug      1881     1899     1900     1901     1902 

150  42  61  171  220  Tausend  Kantars 
und  der  Wert  der  Hauptausfuhrwaren  in  1902  betrug  für 
Gummi  230000,  Elfenbein  30400,  Straußenfedern  20600  und 
Bienenwachs  11300  Pfund.  Laut  Dekret  vom  I.Mai  1903 
sind  Kautschuk  und  Guttapercha,  mit  Ausnahme  von 
Kordofan,  im  ganzen  ägyptischen  Sudan,  Elfenbein  im  Bahr 
el  Ghasal  und  im  Faschoda-Bezirk  Regierungsmonopol.  Auch 
der  Gummihandel  von  Kordofan  liegt  meist  in  den  Händen 
griechischer  Kaufleute,  die  den  Artikel,  in  Mattenballen  ver- 
packt, zunächst  auf  Kamelen  nach  El  Duem  und  von  da  zu 
Schiff  nach  Omdurman  schicken,  wo  die  Regierungskontrolle 
und  Versteuerung  stattfindet.  Unter  den  Waren  -  Einfuhr- 
händlern des  Sudans  sind  alle  möglichen  Nationen  vertreten, 
nur  keine  Engländer,  dagegen  sind  die  Konzessionsgesell- 
schaften sämtlich  englisch. 
Bergbau.  Auch  die  Schürferlaubuissc,  die  in  ziemlicher  Zahl  erteilt 

wurden,  sind  alle  an  Engländer  vergeben,  und  Überraschungen 
auf  geologischem  Gebiet  sind  nicht  ausgeschlossen.  Der 
schon  von  Herodot  erwähnte  Metallreichtum  ist  von  Slatin 
bestätigt  und  auf  seine  Veranlassung  hin  eine  Gesellschaft 
gegründet  worden,  um  die  Nuba-Berge  im  Süden  von  Kordofan 
und  die  Abhänge  des  abessinischen  Berglands  am  oberen 
Blauen  Nil  zu  untersuchen.  Bei  Abu  Haras  und  bei 
Rosaires  am  Blauen  Nil  sollen  1902  größere  Kohlenlager 
entdeckt  worden  sein,  ein  dünnes  Flöz  1903  auch  bei 
Dongola,  Funde,  die  gegenüber  dem  •  bisherigen  Mangel  an 
Brennstoffen  für  die  Entwicklung  des  Sudans  recht  wesentlich 
werden  könnten:  kostete  die  Tonne  englischer  Kohlen  1902 
in  Chartum  doch  120  Mark. 
Baumwollbau.  Ejpe    besondere    Beachtung    hat    man,    angesichts   des 

immer  mehr   zutage  tretenden  Mangels  an  Baumwolle  im 
Weltmarkt,  auch  im  Sudan  diesem  Produkt  zugewandt,  und 


—     147     — 

man  glaubt,  hier  große,  für  diese  Kultur  geeignete  Gebiete 
zu  besitzen.  Bereits  1899  verteilte  Kitchener  Baumwollsaat 
in  Berber  und  Chartum,  und  die  Regierung  hat  eine  Versuchs- 
farm in  Schendi  angelegt,  die  sehr  befriedigende  Resultate 
ergab;  freilich  ist  vor  Schaffung  billiger  und  leistungsfähiger 
Transportmittel  nicht  an  eine  größere  Anpflanzung  für  Aus- 
fuhrzwecke zu  denken.  Berichte  aus  Suakin  melden,  daß  in 
den  Jahren  1902  und  1903  23  000  Feddan  mit  Baumwolle 
aus  bester  ägyptischer  Saat  bestellt  waren  und  der  Ertrag 
trotz  primitiver,  unvollkommener  Kultur  auf  den  Feddan 
11  Kantar  roher  --  3  bis  3^4  Kantar  entkernter  Baumwolle 
ergab.  Nach  der  Eindeichung  des  Khor  Barraka  und  mit 
Benutzung  des  Gasch-Flusses  hofft  man,  zwischen  Tokar  und 
Kassala  2  Millionen  Feddan  sehr  fruchtbaren  Landes,  welche 
die  Regierung  zu  20—50  Piaster  für  den  Feddan  verpachtet, 
für  Baumwollkultur  gewinnen  zu  können.  Neuere  Berichte 
sprechen  sich  allerdings  wegen  der  Unsicherheit  der  Wasser- 
verhältnisse sehr  skeptisch  betreffs  der  Anbaufähigkeit  der 
Tokar-Ebene  aus  und  empfehlen  jedenfalls  sehr  eingehende 
Vorstudien,  ehe  man  irgendwie  nennenswerte  Summen  dort 
investiert.  Dagegen  glaubt  man,  mit  Hülfe  von  Nil-Bewässerung 
zunächst  im  Berber-Distrikt  Baumwollkultur  erfolgreich  betrei- 
ben zu  können  und  sodann  vielleicht  auch  in  einigen  anderen 
Teilen  des  Sudans  ohne  Inanspruchnahme  des  Nilwassers,  nur 
auf  Grund  entsprechenden  Regenfalls,  z.  B.  im  Bahr  el  Ghasal- 
Gebiet.  Der  amerikanische  Kapitalist  Leigh  Hunt  hat  eine 
Konzession  zur  Anlage  von  Baumwollpflanzungen  zwischen 
Nil  und  Atbara  erlangt  und  1904  begonnen,  dieselbe  mit 
Hülfe  schwarzer  Baumwollpflanzer  aus  Carolina  und  Louisiana 
in  Angriff  zu  nehmen.  Ein  1904  mit  dem  bekannten  Alfred 
Beit  an  der  Spitze  gebildetes  Syndikat  mit  vorläufig  80000 
Pfund  Kapital  beabsichtigt  gleichfalls  die  Pflege  des  Baum- 
wollbaus im  Sudan. 

10» 


—     148     — 

Verkehr.  [)jg  landesüblichen  Verkehrsmittel  sind  zu  Wasser  meist 

unbequeme  Holzbarken  mit  zwei  Masten  und  lateinischen  Se- 
geln, auf  dem  Lande  Kamele  und  Esel.  Eine  recht  strapaziöse 
Karawanenstraße  schneidet  den  westlichen  Nilbogen  von 
Korosko  nach  Abu  Hammed,  eine  andere  den  östlichen  Bogen 
von  Ed  Debbeh  nach  Omdurman  ab,  und  eine  wichtige 
Straße  führt  von  Suakin  nach  Berber.  Man  bestrebt  sich, 
die  Karawanenwege  zu  verbessern  und  Brunnen  an  ihnen 
anzulegen,  aber  dieses  ganze  Verkehrswesen  bleibt  natürlich 
überaus  mangelhaft,  und  so  konnte  es  z.  B.  kommen,  daß 
1898  in  Gedaref  Getreide  in  Überfluß  vorhanden  war,  während 
in  Omdurman  Hungersnotpreise  herrschten. 

Nach  der  Besitzergreifung  des  Sudans  nahm  denn  auch 
die  englisch-ägyptische  Verwaltung  sofort  die  Verbesserung 
des  Verkehrswesens  in  die  Hand,  borgte  aus  den  Reserve- 
fonds der  Staatsschuldenkasse  in  Kairo  300000  Pfund  zum 
Ausbau  der  Eisenbahn  von  Atbara,  dem  Endpunkt  der 
während  des  Sudanfeldzugs  hergestellten  Militärbahn,  nach 
Chartum  und  konnte  diese  300  km  lange  Linie  im  Januar 
1900  dem  Verkehr  übergeben.  Dagegen  ließ  man  den  Plan, 
diese  Bahn  über  Chartum  nach  Faschoda  fortzusetzen,  fallen, 
wegen  der  ungeheuren  Schwierigkeiten  des  Geländes  und 
der  während  des  ganzen  Jahres  vorhandenen  Möglichkeit  der 
Schiffahrt,  welche  den  vorläufigen  Bedürfnissen  völlig  genügt. 
Der  Eisenbahnbau  im  Sudan  hat  an  und  für  sich  zwar  ein 
weiteres  natürliches  Feld  als  in  Egypten,  wird  aber  wegen 
der  dünnen  Bevölkerung  und  aus  finanziellen  Gründen  nur 
recht  langsam  vorangehen  können. 

Der  Verkehr  mit  dem  Sudan  spielt  sich  nun  folgender- 
maßen ab.  Die  900  km  lange  Eisenbahnstrecke  von  Kairo 
nach  Schellal-Philä  oberhalb  des  ersten  Katarakts  wird  in 
23  Stunden  zurückgelegt.  Der  Verkehr  zwischen  Schellal 
und  Wadi  Haifa  (344  km)    ist   vorläufig   noch    auf    Dampf- 


—     149     — 

Schiffahrt  beschränkt,  wenn  auch  der  Bahnbau  geplant  ist, 
und  zwar  verkehren  auf  dieser  Strecke  wöchentlich  zwei 
Postdampfer  in  2—3  Tagen.  In  Wadi  Haifa  beginnt  die  925 
km  lange  Sudan-Militärbahn,  welche  wöchentlich  3  Güterzüge 
und  während  der  Touristenzeit  2  Luxuszüge  nach  dem, 
Chartum  gegenüber  am  Nordufer  des  Blauen  Nils  liegenden 
Halfaia  expediert;  die  Bahn  geht  zunächst  durch  die  Nubische 
Wüste  nach  Abu  Hammed  und  von  da  aus  aufwärts  am  rechten 
Ufer  des  fruchtbaren  Niltales.  Wenngleich  der  Verkehr  auf 
dieser  Bahn  im  Zunehmen  begriffen  ist  und  im  Jahre  1903 
auch  zum  ersten  Male  die  Export-Mengen  die  Import-Mengen 
überstiegen,  so  werden  Güter  und  Passagiere  bislang  doch 
noch  immer  unter  Selbstkosten  befördert.  Man  geht  dabei 
von  dem  Gedanken  aus,  die  Entwicklung  des  Landes  zu 
erleichtern,  dürfte  dies  System  nach  Fertigstellung  der  Bahn 
Berber    Suakin  aber  kaum  weiter  aufrechterhalten. 

Der  Post-Dampferdienst  auf  dem  oberen  Nil  ist  folgender- 
maßen organisiert.  Die  Hauptlinie  bildet  die  1750  km  lange 
Strecke  Chartum — Gondokoro,  welche  mit  allen  Zwischen- 
häfen monatlich  einmal  angelaufen  wird,  wobei  in  Kanisseh 
Umladung  von  den  größeren  in  kleinere  Dampfer  und  vom 
Endpunkt  aus  Anschluß  nach  dem  Victoria  Nyanza  und  der 
Uganda-Bahn  erfolgt.  Die  Strecke  Chartum  Gondokoro 
wird  flußaufwärts  in  14,  flußabwärts  in  12  Tagen  befahren; 
der  Verkehr  mit  Faschoda  ist  aber  noch  sehr  unbedeutend. 
Für  den  Bahr  el  Ghasal  besteht  von  Faschoda  ab  eine 
Zweiglinie  mit  monatlichem  Postdienst  bis  Meschra-er-Rek 
am  Einfluß  des  Dschur,  und  diesen  aufwärts  bis  Wau.  Der 
Güterverkehr  umfaßt  hauptsächlich  Einfuhrwaren  vom 
Norden,  besonders  Baumwollstoffe,  Zucker  und  Tabak, 
während  die  Ausfuhrwaren,  außer  etwas  Elfenbein,  bislang 
hauptsächlich  aus  Kordofan  und  Darfur  über  die  aufblühende 
Station  Duem   am  Weißen  Nile  kommen.     Die  Reisenden 


—     150     — 

hier  sind  überwiegend  ägyptische  Beamte  und  Angestellte  des 
Kongostaats  und  Ugandas,  da  für  diese  der  Nil  die  schnellste 
Verbindung  mit  Europa  bietet. 

Auch  der  Blaue  Nil  ist  vom  Juli  bis  Dezember  für 
Dampfer  schiffbar,  und  zwar  ist  alsdann  die  Postverbindung 
bis  Abu  Haras  wöchentlich,  Htägig  bis  Rosaires,  wo  der 
Anschluß  zu  Land  nach  Abessinien  erfolgt;  während  des 
niedrigen  Nilstandes  befördern  Segelboote  einmal  monatlich 
Reisende  und  Postpakete,  während  Briefe  alsdann  durch 
Kamelpost  gesandt  werden.  Das  Hauptfrachtgut  des  Blauen 
Nils  bildet  Getreide,  das  von  den  Eingeborenen  in  Barken 
stromab  gebracht  wird,  und  um  diese  einheimische  Schiffahrt 
nicht  zu  vernichten,  befördern  die  Regierungsdampfer  nur  das 
als  Naturalsteuer  gelieferte  Getreide  zu  Tal,  wo  es  für  die 
Truppen  verwandt  wird.  Außer  den  Regierungsdampfern  ver- 
kehren auf  dem  Weißen  Nil  bis  Lado  hinauf,  auf  dem 
Blauen  Nil  und  auf  dem  So  bat  auch  noch  eine  Anzahl  Dampfer 
und  Barkassen  der  Soudan  Development  and  Exploration 
Co.,  welche  für  diesen  Dienst  eine  Zinsgarantie  von  3'^,, 
seitens  der  Regierung  genießt,  und  im  Jahre  1903  haben 
einige  Segelbarken  auch  auf  dem  Sobat  bis  Itang  hinauf  den 
Handelsverkehr  mit  Abessinien  eröffnet.  Dieser  Schiffsbetrieb 
der  Soudan  Development  Co.  wurde  1903  von  der  New 
Egyptian  Co.  übernommen. 

Von  Chartum  nordwärts  bis  zum  sechsten  Katarakt 
ist  so  gut  wie  gar  kein  Schiffsverkehr;  doch  sind  stets 
Kanonenboote  bereit,  um  im  Falle  einer  Unterbrechung  des 
Bahnbetriebs  die  Verbindung  aufrecht  zu  erhalten.  Auch 
von  Dongola  stromab  ist  der  Frachtverkehr  außer  in 
Datteln  und  Getreide  gering;  übrigens  besteht  zwischen  Kerma 
bei  Dongola  und  Wadi  Haifa  auch  eine  Eisenbahn,  die  s.  Z. 
aus  strategischen  Gründen  schnell  und  schlecht  gebaut  wurde, 
ungenügend    unterhalten    und    in    ihrem  Betrieb   so  verlust- 


—     151     — 

bringend  ist,  daß  man  ihr  gänzliches  Aufgeben  ins  Auge  ge- 
faßt hat.  Dagegen  wird  möghcherweise  später  eine  Bahn 
zwischen  Dongola  und  Abu  Hammed  dem  rechten  Nilufer 
entlang  gebaut  werden. 

Um  dem  Sudan  eine  schnellere,  bequemere  und  leistungs- 
fähigere Verbindung  mit  der  Außenwelt  zu  schaffen,  hatte 
man  von  Anfang  an  den  Bau  einer  Bahn  zwischen  dem  Nil- 
tal und  dem  Roten  Meere  in  Aussicht  genommen,  aber  man 
schwankte  lange  zwischen  verschiedenen  Linien.  Die  kürzeste 
Strecke  Berber— Suakin  hatte  den  Übelstand  gegen  sich,  daß 
sie  nur  auf  dem  kleinen  Teile  den  Atbara  entlang  durch 
einigermaßen  entwicklungsfähige,  sonst  aber  durch  wüste 
Gegenden  führen  würde;  man  schlug  deshalb  eine  andere 
Bahn  vor,  welche  von  Chartum  dem  Blauen  Nil  entlang  über 
Abu  Haras  (226  km),  Gedaref  und  Kassala  führen  sollte,  und 
ein  Vermittlungsvorschlag  sprach  von  einer  Linie  Chartum— 
Berber— Suakin.  Nach  Vermessung  der  verschiedenen 
Strecken  hat  man  sich  Ende  1903  aber  doch  definitiv  für 
die  kürzeste  Strecke  Berber -Suakin  entschieden,  und  diese 
soll  im  Herbst  1904  in  Angriff  und  nach  3  Jahren  in 
Betrieb  genommen  werden.  Für  den  Bau  der  547  km 
langen  Bahn  sollen  den  angesammelten  ägyptischen  Reserve- 
fonds 1  770000  Pfund  entnommen  werden.  Die  Bahn  hat 
von  Suakin  aus  ein  etwa  1000  m  hohes  Plateau  zu  über- 
schreiten, trifft  bei  der  Atbara-Brücke  auf  die  sudanesische 
Nord-Südbahn  und  wird  als  Hauptschwierigkeit  während  des 
Baus  mit  dem  fast  vollständigen  Mangel  natürlicher  Wasser- 
zufuhr fast  längs  der  ganzen  Linie  zu  rechnen  haben. 

Man  hat  allerdings  vom  rein  ägyptischen  Standpunkt 
aus  den  Einwand  erhoben,  daß  der  Bau  dieser  Bahn  Ägypten 
eines  Durchgangshandels  berauben  werde,  der  in  der  Zukunft 
eine  große  Bedeutung  erhalten  könnte.  .Aber  es  ist  meist 
unerwünscht  und  auf  die  Dauer  undurchführbar,  den  Handel 


—     152     — 

in  unnatürliche  Kanäle  zu  drängen,  und  die  natürlichen  Ein- 
gangspforten für  den  Sudan  sind  eben  die  Häfen  des  Roten 
Meeres.  Im  übrigen  ist  der  Bahnbau  aber  auch  insofern  im 
ägyptischen  Interesse,  als  er  wesentlich  dazu  helfen  wird, 
den  Sudan  finanziell  selbständig  zu  machen;  wünscht  Ägypten 
von  der  Last,  die  es  für  den  Sudan  zu  tragen  hat,  befreit 
zu  sein,  so  muß  es  diesem  Gebiet  mit  allen  zustehenden 
Mitteln  eine  wirtschaftliche  Entwicklung  sichern.  Die  Bahn 
aber  wird  einen  jetzt  gar  nicht  existierenden  und  überhaupt 
bislang  unmöglichen  Handel  schaffen  und  die  Anlage  von 
großen  Ausfuhrkulturen,  besonders  in  Baumwolle,  erlauben. 
Im  Einfuhrgeschäft  wird  die  neue  Bahn  in  erster  Linie  eine 
Erhebung  des  Handelsverkehrs  mit  Indien  bedeuten,  da  diesem 
ein  näherer  und  billigerer  Weg  nach  dem  Sudan  zur  Ver- 
fügung stehen  wird,  als  den  europäischen  Produzenten,  die 
auf  die  Benutzung  der  teuren  Kanalstraße  von  Sues  ange- 
wiesen sind. 

Nach  Fertigstellung  der  Linie  Berber — Suakin  sind  nach 
Lord  Cromers  Ansicht  zunächst  folgende  weitere  drei  Bahnen 
nötig:  Eine  solche  von  Chartum  den  Blauen  Nil  aufwärts 
bis  mindestens  nach  Wad  Medani;  ferner  eine  solche  von 
Dongola  nach  Abu  Hammed;  und  schließlich,  aus  strategischen 
wie  aus  wirtschaftlichen  Gründen,  eine  Bahn  von  El  Obeid 
in  Kordofan  zum  Nil.  Dagegen  werden  die  großen  tech- 
nischen Schwierigkeiten  eines  Bahnbaus  zwischen  dem  Sudan 
und  Uganda  ein  solches  Unternehmen  wohl  noch  für  lange  Zeit 
zurückstellen,  obgleich  Menelik  in  dem  Vertrag  vom  15.  Mai 
1902  den  eventuellen  Bau  durch  abessinisches  Gebiet  hin- 
durch zugestanden  hat. 

Übrigens  eignet  sich  das  Land  vielfach  sehr  gut  für 
Motorwagen,  und  es  sind  mit  solchen  bereits  Versuche  im 
Gange,  nachdem  die  Belgier  schon  früher  einen  Automobil- 
Dienst   von  Lado    aus   eingerichtet    haben;    man    hat  einen 


—     153     — 

regelmäßigen  Betrieb  mit  Automobilen  zwischen  dem  Weißen 
Nil  und  Obeid  und  zwischen  dem  Blauen  Nil  und  Senaar 
vorgeschlagen. 

Post  und  Telegraph  arbeiten  natürlich  noch  mit  De- 
fizit im  Jahre  1903  5000  Pfund  —  doch  stehen  bereits 
alle  Hauptorte  und  mehrere  kleinere  des  ägyptischen  Sudans 
mit  Chartum  in  telegraphischer  Verbindung,  der  Draht  - 
hin  und  wieder  durch  Elefanten  und  Giraffen  unterbrochen  — 
reicht  bis  Galabat  am  Atbara,  Rosaires  am  Blauen  Nil  und 
Taufikieh  am  Zusammenfluß  von  Sobat  und  Weißem  Nil  und 
wird  z.  Z.  nach  Ghaba  Schambi  und  nach  Wau  weiter- 
geführt; auch  Suakin  ist  mit  Berber,  wie  mit  Kassala  ver- 
bunden. Versuche  mit  drahtloser  Telegraphie  zwischen  Wadi 
Haifa  und  Chartum  sind  so  erfolgreich  gewesen,  daß  man  sie 
1901  südlich  von  Chartum  fortsetzte  und  schließlich  so  mit 
Uganda  in  Verbindung  zu  treten  hofft;  auch  die  Dampfer 
des  oberen  Nils  erhielten  entsprechende  Apparate. 

Der  regelmäßige  Postdienst  zwischen  Chartum  und 
Kairo  beansprucht  nur  noch  3  Tage  und  21  Stunden. 

Werfen  wir  zum  Schlüsse  einen  Blick  auf  die  Haupt-  Hauptorte  und 

"^  Provinzen. 

orte  und  einzelnen  Provinzen.  Des  Landes  Hauptstadt,  das 
inmitten  einer  kahlen  Ebene  am  südlichen  Ufer  des  Blauen 
Nils  und  an  dessen  Zusammenfluß  mit  dem  Weißen  Nil  belegene 
Chartum  hatte  sich  aus  dem  von  den  Generalen  Mo- 
hammed Alis  1820  hier  aufgeschlagenen  Lager  entwickelt, 
um  das  sich  die  Eingeborenen  des  Handels  wegen  bald  an- 
siedelten, und  nach  dem  Sturze  von  Schendi  vereinigte  sich 
hier  der  ganze  Handel  des  Ostsudans  in  Elfenbein,  Straußen- 
federn, Gummi  und  Sklaven  nach  dem  Roten  Meere  und 
nach  Kairo.  Unter  Ismail  wurde  Chartum  Hauptstadt  des 
Sudans  und  Sitz  des  Generalgouverneurs,  von  den  Mahdisten 
aber  Anfang  1885  in  Trümmer   gelegt    und    durch    das   auf 


—     154     — 

dem  linken  Ufer  des  Weißen  Nils,  Chartum  gegenüber  ge- 
legene Omdurman  ersetzt,  welches  erst  1883/4  als  Heer- 
lager des  Mahdi  entstanden  war  und  sich  nun  zu  einer  Stadt 
mit  über  100000  Einwohnern  entwickelte.  1898  erstand  nach 
der  furchtbaren  Niederlage  der  Derwische  aber  auch  Char- 
tum wieder  aus  seinen  Trümmern,  und  die  neue  Stadt,  welche 
die  doppelte  Fläche  der  alten  bedeckt,  weist  eine  Reihe  statt- 
licher Bauten  in  europäisch-indischem  Stile  auf,  darunter  den 
Palast  des  Generalgouverneurs,  Regierungsgebäude,  das  Gor- 
don-Memorial College,  ein  Hospital,  zwei  Banken  und  zwei 
Hotels.  Das  zu  Gordons  Gedächtnis  erbaute  und  im  No- 
vember 1902  von  Kitchener  eingeweihte  College  soll  der 
höheren  Erziehung  von  Eingeborenen  dienen,  und  zwar  sind 
als  Zöglinge  in  erster  Linie  die  Söhne  der  wohlhabenden 
Familien  des  Landes  und  der  früheren  selbständigen  Fürsten 
in  Aussicht  genommen,  welche  bislang  die  Erziehung  ihrer 
Kinder  zum  Teil  in  auswärtigen  Schulen  vollenden  lassen. 
Chartum  gegenüber,  auf  der  rechten  Seite  des  Blauen  Nils, 
liegt  Halfaia  mit  der  Eisenbahnstation,  Magazinen  und  Ka- 
sernen. Das  Hauptzentrum  des  Handels  ist  noch  Om- 
durman, wo  besonders  Griechen,  daneben  auch  Syrier, 
Armenier  und  Juden  den  ganzen  Handel  in  den  Händen 
haben.  Die  Gesamtbevölkerung  der  Provinz  Chartum  be- 
trägt heute  nur  90000  Köpfe. 

Von  den  Städten  des  Niltals  zwischen  Chartum  und  der 
ägyptischen  Grenze,  dessen  zahlreiche  Ruinen  aus  dem  Zeit- 
alter der  altägyptischen  Könige,  der  Ptolemäer  und  der  rö- 
mischen Imperatoren  die  hohe  Kultur  im  Altertum  beweisen, 
sind  die  ansehnlichsten  heute Wadi  Haifa,  Neu-Dongola 
und  Berber,  im  allgemeinen  bestehen  die  „Städte"  meist 
aus  ärmlichen  Lehmhäusern  mit  platten  Strohdächern,  und 
weisen  zahlreiche,  von  Griechen  und  Juden  gehaltene  Brannt- 
weinschänken  auf. 


—     155     — 

Die  nördlichste  Provinz  Wadi  Haifa  zählt  nur  30000 
Einwohner  und  ist  in  geordneten  Verhältnissen,  leidet  aber 
darunter,  daß  viele  ihrer  jüngeren  Männer  sich  als  Diener, 
Torhüter  und  Dragomane  nach  Ägypten  verdingen,  wo  sie 
leicht  bequemen  Verdienst  finden. 

Die  Provinz  Dongola  mit  einer  Kulturfläche  von 
320  qkm  und  einer  Bevölkerung  von  110000  Seelen  ist  eins 
der  fruchtbarsten  Gebiete  des  nördlichen  Sudans  und  weist 
besonders  eine  starke  Dattelausfuhr  auf.  Da  die  Eingebo- 
renen auch  Neigung  für  Ackerbau  zeigen,  so  lieferte  ihnen 
die  Regierung  die  nötigen  Geräte  und  beauftragte  ackerbau- 
kundige Soldaten  mit  der  Unterweisung  der  Leute,  wodurch 
sich  die  Provinzeinkünfte  bereits  wesentlich  gehoben  haben. 
Die  Hauptstadt  Neu-Dongola  zählt  10000  Einwohner. 

Die  Provinz  Berber  ist  zum  großen  Teil  nicht  kultur- 
fähig, auch  sind  die  etwa  100000  Bewohner  vielfach  arbeits- 
scheu, nur  während  der  Regenzeit  zur  Arbeit  geneigt  und 
daher  auch  meist  sehr  arm;  aber  auch  hier  sind  in  der  Letzt- 
zeit Fortschritte  zu  verzeichnen  gewesen.  Die  Hauptstadt 
Berber  zählt  10000,  Schendi,  die  früher  blühende  Handels- 
stadt des  Fundsch-Reiches,  heute  6000  Einwohner,  und  in 
der  Nachbarschaft  des  letzteren  Orts  hat  die  Regierung  mit 
Baumwoll-Anbauversuchen  begonnen. 

Die  10000  Seelen  zählende  Bevölkerung  des  Hafen- 
platzes Suakin  war  während  der  Mahdisten-Unruhen  gegen 
früher  sehr  verarmt,  doch  hat  der  jetzt  in  Angriff  genom- 
mene Bahnbau  wieder  einen  nennenswerten  Aufschwung  mit 
sich  gebracht  und  für  Hafenverbesserungen  und  Wasser- 
kondensieranlagen —  Vorarbeiten  des  Bahnbaus  wurden 
hier  bereits  im  Jahre  1903  64000  Pfund  ausgegeben.  Ganz 
neuerdings  hat  man  übrigens  ausgefunden,  daß  das  nördlich 
von  Suakin  gelegene  Schech  Barghut  als  Hafen  wohl 
noch    bessere   Vorbedingungen    biete.      Die    in    der    Nach- 


—     156     — 

barschaft    Suakins    nomadisierenden    Araber    zählen    50000 
Köpfe. 

Die  Provinz  Senaar  am  Blauen  Nil,  die  Kornkammer 
des  Sudans,  erstreckt  sich  bis  zur  Grenze  Abessiniens  und 
ist  bei  regenreichem  Klima  sehr  fruchtbar,  zu  Baumwollbau 
geeignet  und  streckenweise  mit  wertvollen,  dichten  Wal- 
dungen bedeckt,  allerdings  auch  sehr  ungesund.  Gebaut 
wird  besonders  Mais,  daneben  Hirse,  Kaffee  und  bei 
Wad  Medani  Baumwolle.  Die  150000  Köpfe  starke  Bevöl- 
kerung hat  ausgesprochenen  Hang  zu  kriegerischen  Unter- 
nehmungen. 

Die  Provinz  Kassala  mit  80000  Einwohnern  umfaßt 
die  wichtigen  Zentren  von  Gedaref  und  Gallabat,  ist  frucht- 
bar und  treibt  auch  lebhaften  Handel,  doch  mußten  der  ver- 
armten Bevölkerung  zunächst  Vorschüsse  gemacht  werden, 
damit  sie  die  Kulturen  fortsetzen  konnte.  Der  Bezirk  besitzt 
weite  und  fruchtbare,  zur  Baumwollkultur  vorzüglich  geeig- 
nete Ebenen,  denen  nur  regelmäßige  Bewässerung  fehlt.  Man 
hat  zu  diesem  Zwecke  bereits  die  Anlage  eines  Reservoirs 
für  die  Wasser  des  Gasch  an  der  Stelle  geplant,  wo  er  seine 
Delta-Bildung  beginnt.  Dieser  in  den  nordwestlichen  Bergen 
Abessiniens  entspringende  und  9  Monate  im  Jahre  trocken 
liegende  Fluß  fließt  nur  vom  Juli  bis  September,  bewässert 
die  Ebene  von  Kassala,  verbreitet  sich  dort  über  das  Land 
und  verliert  sich  schließlich  nach  Norden  zu  im  Sande;  den 
Atbara  erreicht  er,  wenn  überhaupt,  wohl  nur  in  besonders 
regenreichen  Jahren.  Seine  künstliche  Aufstauung  nach 
Garstins  Plan  würde  ^2  Million  Pfund  kosten  und  etwa 
100000  Acres  Kulturland  schaffen.  In  Kassala  werden  die 
Zölle  für  die  aus  Abessinien  kommenden  Waren  erhoben, 
ebenso  für  diejenigen  aus  Massaua,  welche  allerdings  seit 
Eintritt  normaler  Zeiten  zugunsten  Suakins  sehr  zurück- 
gegangen sind. 


—     157     — 

Die  Provinz  Qesireh,  früher  Ei  Gesireli  es  Senaar 
genannt,  umfaßt  den  nördlichen  Teil  des  zwischen  dem  Blauen 
und  Weißen  Nil  gelegenen  Landes,  zählt  150000  Einwohner 
und  scheint  sich  regelmäßig  zu  entwickeln.  Verwaltungssitz 
und  der  bedeutendste  Platz  am  Strome  ist  das  etwa  20000 
Einwohner  zählende  und  237  km  von  Chartum  entfernte 
Wad  Medani,  der  zweitwichtigste  Ort  Rufaa,  187  km  von 
Chartum  flußaufwärts  am  Blauen  Nil. 

Die  Provinz  des  Oberen  Nils  mit  der  jetzt  Kodok, 
früher  Fascho  da  genannten  Hauptstadt  dehnt  sich  am  Weißen 
Nil  bis  zur  Südgrenze  gegen  Uganda  aus,  wird  von  zahl- 
reichen Negerstämmen  bewohnt,  deren  gesamte  Kopfzahl 
man  auf  150000  schätzt  und  ist  reich  an  Vieh.  An  Stelle  des 
früher  alleinigen  Tauschmittels  der  Eisenstücke  tritt  auch 
hier  schon  mehr  und  mehr  das  Geld.  Der  südlichste  Sudan- 
posten am  Nil  ist  Mongalla,  42  km  nördlich  von  der  äußeren 
Uganda-Station  Gondokoro  gelegen. 

Die  gut  bewässerte  und  an  Kautschukpflanzen  reiche, 
aber  ungesunde  Provinz  Bahr  el  Ghasal  zählt  etwa  400000 
Einwohner,  und  ihre  Hauptplätze  sind  der  Verwaltungssitz 
Wau,  sodann  Meschra  er  Rek  und  am  Nil  Ghaba  Schambi, 
Stationen  sollen  aber  auch  in  Dem  Ibris  und  Dem  Siber 
längs  der  Dar  Fur-Grenze  und  später  weiter  nördlich  in  Liffi 
unä  in  Hofrat  en  Nahaß,  in  dessen  Nähe  sich  Kupfer- 
gruben befinden,  errichtet  werden,  im  Südosten  verfügen 
die  Niam-Niam-Häuptlinge  Tambura  und  Yambio  noch  über 
gut  disziplinierte  Heere,  doch  haben  auch  diese  Herr- 
scher neuerdings  den  Schutz  der  Sudan-Regierung  nach- 
gesucht. 

Die  Provinz  Kordofan  mit  der  Hauptstadt  El  Obeid 
zählt  etwa  550000  Einwohner,  darunter  ein  Drittel  Nomaden, 
und  hatte    in  verschiedenen   Distrikten   auch    in    den  letzten 


—     158     — 

Jahren  noch  Unruhen  aufzuweisen,  welche  durch  das  reorga- 
nisierte ägyptische  Kamelkorps  niedergehalten  werden  sollen. 
Auch  inzwischen  schon  haben  Bevölkerung  und  Gummi- 
handel seit  der  Niederwerfung  der  Mahdisten  wesentlich  zu- 
genommen. 

Die  Beziehungen  der  Sudan-Verwaltung  zu  dem  Sultan 
Ali  Dinar  von  Dar  Für  sind  andauernd  freundliche. 

So  herrscht  in  dem  Ägyptischen  Sudan  nunmehr  im 
allgemeinen  überall  Ruhe,  und  die  Bewohner  bemühen 
sich  offenbar,  sich  in  die  neuen  Verhältnisse  einzuleben, 
aber  es  fehlt  an  Mitteln  und  Menschen,  und  vor  allen 
Dingen  erfordert  das  Land  zunächst  größere  Kapital- 
anlagen, um  die  bislang  so  ungenügenden  Verkehrsverhältnisse 
zu  bessern. 

Für  Englands  großzügige  und  weitsichtige  Kolonial- 
politik aber  bietet  der  Besitz  des  Sudans  besonders  folgende 
drei  Vorteile.  Erstens  bildet  das  Land  ein  wichtiges  Glied 
in  der  angestrebten,  ununterbrochenen  Landverbindung  zwi- 
schen Kap  und  Kairo  unter  britischer  Flagge;  zweitens  han- 
delt es  sich  dabei  um  die  wassertechnische  Herrschaft  über 
den  Nil  und  dessen  Regulierung  durch  die  Entfernung  der 
berüchtigten  Grasbarren  und  die  Aufführung  von  Stauwerken, 
welche  der  Förderung  und  Ausdehnung  der  ägyptischen  Land- 
wirtschaft dienen  sollen;  und  drittens  galt  es  endlich,  durch 
die  Okkupation  des  ägyptischen  Hinterlands  einen  festeren 
Halt  über  das  Protektoratsland  Ägypten  selbst  zu  bekommen. 
Außerdem  bildet  die  Nillinie  in  Verbindung  mit  der  Uganda- 
Bahn  einen  eventuellen  Ersatz  für  den  Sueskanal,  dessen 
Schließungsmöglichkeit  von  den  Briten  nicht  außer  acht  ge- 
lassen wird. 


—     15Q     — 

Im  Jahre  1884  schrieb  Gordon:  „Der  Sudan  ist  eine 
nutzlose  Besitzung,  war  es  immer  und  wird  es  immer  bleiben." 
Heute  sieht  man  die  Zukunft  des  Landes  bereits  etwas  we- 
niger trübe  an. 


Hauptsächlich  benutzte  Quellen 

Lord  Cromers  reports  on  Egypt  and  Soudan. 

Helmolt's  Weltgeschichte. 

A.  von  Fircks:  Ägypten. 

Theodor  N'eumann:  Das  moderne  Ägypten. 

Handelsberichte  des  Reichsamts  des  Innern. 


PLEASE  CXD  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


CT  Schanz,  Moritz 

190  /ilgerien,  Tunesien, 

S3  Tripolitenien